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Full text of "Elektrophysiologie"

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ELEKTROPHYSIOLOGIE 


VON 


W.  BIEDERMANN. 


ELEKTROPHYSIOLOGIE 


VON 


W.  BIEDERMANN, 

PROFESSOR  Dp]R  PHYSIOLOGIE    IN  JENA. 


MIT    385    ABBILD  UNOEN. 


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JENA, 

VERLAG  VON  GUSTAV  FISCHER. 

1895. 


Inhaltsverzeicliniss. 


Seite 

Vorrede VIII 

Einleitung 1 

A.  Bau   und    Structur  der  Muskeln 2 

a)  Die  Muskeln  der  Protisten  (Zelleiumiskelu) 2 

b)  Die  Muskeln  der  Metazoen  (Muskelzellen) 7 

Literaturübersiclit 44 

B.  Die   Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit     ...  46 

1.     Abhängigkeit  des  Contractiousverlaufs  von  der  Natur  des  Muskels  49 

II.     Abhängigkeit  der  Muskelcontraction  von  der  Stärke  der  Reizung  59 

III.  Einfluss  der  Belastung  (Spannung)  auf  Grösse,  Dauer  und  Form 

der  Muskelcontraction 65 

IV.  Einfluss   der  Ermüdung   auf  den  Verlauf  der  Muskelcontraction  71 
V.    Einfluss  der  Temperatur  auf  die  Muskelcontraction 82 

VI.    Einfluss  chemischer  Substanzen  auf  die  Muskelcontraction     .     .  89 

Literaturübersicht 94 

VII.     Reizsummation  und  Tetanus 97 

Literaturübersicht 122 

VIII.     Das  Leituugs vermögen  der  Muskeln 123 

Literaturübersicht 147 

C.  Die    elektrische  Reizung  der  Muskeln 149 

a)  Die  elektrische  Reizung  des  nicht  fibrillär  differenzirten  Plasmas  255 

b)  Uebersicht  der  Ergebnisse 266 

Literaturübersicht 271 

D.  Die  elektromotorischen  Wirkungen   der  Muskeln      ....  273 

I.     Der  „Ruhestrom"  der  Muskeln 274 

IL    Die  Actionsströme  der  Muskeln 307 

III.  Die  positive  Schwankung  des  Muskelstromes 368 

IV.  Die  secundär-elektromotorischen  Erscheinungen  an  Muskeln      .  376 

E.  Die    elektromotorischen   Wirkungen    von  Epithel-    und 
Drüsenzellen 392 

Literaturübersicht 438 

F.  Die   elektromotorischen  Wirkungen   pflanzlicher  Zellen    .  441 

Literaturübersicht 467 

G.  Die  Nerven  und   ihre   physiologische  Function. 

I.     Bau  und  Structur  der  Nervenfasern 468 

II.    Erregungsleitung  und  Erregbarkeit  der  Nerven 494 

Literaturübersicht 537 

H.    Die  elektrische  Erregung  der  Nerven 540 

Literaturübersicht 634 


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VI  Inhaltsverzeichniss. 

Seite 
J.     Die   elektromotorischen   Wirkungen  der   Nerven 

I.     Der  ßuhestrom 637 

II.     Die  Actionsströme 650 

III.    Die  galvanischen  Erscheinungen  im  Elektrotonus 670 

Secundär-elektromotorische  Erscheinungen  an  Nerven    ....  707 

Theoretisches '^13 

Die  Einwirkung  des  Nerven  auf  den  Muskel '^32 

Literaturübersicht 745 

K.    Die  elektrischen  Tische 748 

I.     Bau  und  Structur  der  elektrischen  Organe    ...,...•  748 

II,    Die  allgemeinen  Wirkungen  des  Zitterfischschlages 790 

III.    Der  Schlag  bei  künstlicher  Reizung  der  elektrischen  Nerven  und 

der  Centralorgane 803 

VI.     Die  zeitlichen  Verhältnisse  des  Zitterfischschlages 810 

V.     Die  Frage  der  Immunität  der  Zitterfische  gegen  den  eigenen  Schlag  818 

VI.    Der  angebliche  „Ruhestrom"  der  elektrischen  Organe    ....  820 
VII.     Die    secundär-elektromotorischen  Erscheinungen  an  elektrischen 

Organen 823 

VIII.     Zur  Theorie  des  Zitterfischschlages 835 

Literaturübersicht 840 

L.     Elektrische   Vorgänge   im   Auge 843 

Literaturübersicht 851 

Sacliregister 852 


/ , 


ELEKTROPHYSIOLOGIE 


VON 


W.  BIEDERMANN, 

PROFESSOR  DER  PHYSIOLOGIE  IN  JENA. 


ERSTE  ABTHEILUNG. 


MIT    136    ABBILDUNGEN. 


>I^ 


JENA, 

VERLAG  VON   GUSTAV  FISCHER. 

1895. 


leeKO 


Pierer'sche  Hofbuchdruckerei.    Stephan  Geibel  &  Co.  iu  Altenburg. 


SEINEM  HOCHVEREHRTEN  LEHRER 


PROF.  DR  EWALD  HERING 


IN  DANKBARKEIT  ZUGEEIGNET. 


Inhaltsverzeichniss. 


Seite 

Vorrede VIII 

Einleitung- 1 

A.  Bau  und  Structur  der  Muskeln. 2 

a)  Die  Muskeln  der  Protisten  (Zellenmuskeln) 2 

b)  Die  Muskeln  der  Metazoen  (Muskelzellen) 7 

Literaturübersicht 44 

B.  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit 46 

I.    Abhängigkeit    des    Contractionsverlaufes    von    der    Natur    des 

Muskels 49 

II.    Abhängigkeit  der  Muskelcontraction  von  der  Stärke  der  Reizung  59 

III.  Einfluss  der  Belastung  (Spannung)  auf  Grösse,  Dauer  und  Form 

der  Muskelcontraction 65 

IV.  Einfluss  der  Ermüdung  auf  den  Verlauf  der  Muskelcontraction  71 
V.    Einfluss  der  Temperatur  auf  die  Muskelcontraction 82 

VI.    Einfluss  chemischer  Substanzen  auf  die  Muskelcontraction    .    .  89 

Literaturübersicht 94 

VII.    Reizsummation  und  Tetanus 97 

Literaturübersicht 122 

VIII.    Das  Leitungsvermögen  der  Muskeln 123 

Literaturübersicht 147 

C.  Die  elektrische  Reizung  der  Muskeln 149 

a)  Die  elektrische  Reizung  des  nicht  fibrillär  diff"erenzirten  Plasmas  255 

b)  Uebersicht  der  Ergebnisse 266 

Literaturübersicht 271 

D.  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln 273 

I.    Der  „Ruhestrom"  der  Muskeln 274 

II.    Die  Actionsströme  der  Muskeln 307 

III.  Die  positive  Schwankung  des  Muskelstromes 368 

IV.  Die  secundär-elektromotorischen  Erscheinungen  an  Muskeln    .  376 

E.  Die     elektromotorischen    Wirkungen     von    Epithel-    und 
Drüsenzellen 392 

Literaturübersicht 438 


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Vor  r  e  de. 


Seit  den  frühesten  Zeiten  der  Entwicklung  der  Experimental- 
physiologie  waren  es  die  wunderbaren  Wirkungen  des  elektrischen 
Stromes  auf  die  reizbaren  thierischen  Theile,  sowie  die  elektrischen 
Kräfte,  welche  unter  Umständen  von  diesen  selbst  ausgehen,  welche 
immer  wieder  aufs  Neue  die  Aufmerksamkeit  der  Forscher  auf  sich  zogen 
und  zu  einer  Fülle  von  Untersuchungen  Anlass  gaben,  die  zu  ver- 
mehren auch  heute  noch  zahlreiche  Forscher  unablässig  bemüht  sind. 
Es  erklärt  sich  dies  leicht  aus  der  grossen  Bedeutung,  welche  man 
Anfangs  dem  Wirken  elektrischer  Kräfte  im  lebendigen  Organismus 
zuzuschreiben  geneigt  war.  Später,  als  diese  Erwartungen  sich  nicht 
in  dem  erhofften  Maasse  erfüllt  hatten,  und  das  erstrebte  Ziel  einer 
„physikalischen"  Erklärung  der  Muskelcontraction ,  der  Nervenleitung 
u.  s.  w,  weiter  denn  je  hinausgerückt  schien,  da  war  es  die  Fülle  der 
inzwischen  bekannt  gewordenen  Thatsachen,  sowie  die  Exactheit  der 
Untersuchungsmethoden  und  die  Ueberzeugung ,  dass  es  schliesslich 
bei  consequentem  Verfolgen  des  einmal  betretenen  Weges  doch  wohl 
gelingen  müsste,  auch  von  dieser  Seite  her  der  Lösung  einiger  der 
zahllosen  Räthsel  der  lebendigen  Substanzen  sich  zu  nähern,  wodurch 
der  Forschungseifer  immer  aufs  Neue  angespornt  wurde.  Dazu  kam 
ferner  das  Bestreben ,  die  inzwischen  viel  und  mit  Erfolg  geübte  An- 
wendung der  Elektricität  in  der  praktischen  Heilkunde  auf  eine  sichere, 
feste  Basis  zu  stellen  und  eine  exacte,  wissenschaftliche  Elektrotherapie 
zu  begründen.  So  ist  es  gekommen,  dass  die  Litteratur  der  Elektro- 
physiologie  im  weiteren  Sinne  zu  einem  Umfang  angeschwollen  ist, 
der  es  dem  Einzelnen,  nicht  gerade  specieller  mit  dem  Gebiete  Ver- 
trauten schwer,  ja  kaum  möglich  macht,  zu  einer  Uebersicht  und  Be- 
urtheilung  des  bisher  Geleisteten  zu  gelangen. 

Seit  der  letzten,  zusammenfassenden  Darstellung  von  Hermann 
in  dem  von  ihm  herausgegebenen  Handbuche  der  Physiologie  sind 
15  Jahre  vergangen,  ein  Zeitraum,  lange  genug,  um  bei  den  raschen 
Fortschritten,  gerade  auf  dem  in  Betracht  kommenden  Gebiete,  eine 
Neubearbeitung  erwünscht  zu  machen.  Die  einzelnen  Arbeiten  sind 
so  zerstreut  und  zum  Theil  so  wenig  zugänglich,  dass  eine  Uebersicht 
nur  sehr  schwer  zu  gewinnen  ist. 

Seit  lange  und  mit  Vorliebe  auf  diesem  speciellen  Arbeitsgebiete 
thätig,   hatte  ich   ausserdem  oft  Veranlassung,    zum  Zwecke  von  Vor- 


Vm  Vorrede. 

lesungen  mich  näher,  als  es  vielleicht  sonst  der  Fall  gewesen  wäre, 
mit  der  einschlägigen  Literatur  zu  beschäftigen,  so  dass  ich  schliesslich 
glauben  durfte,  hinlänglich  vorbereitet  zu  sein,  um  den  Versuch  zu 
wagen,  die  Elektrophysiologie  in  einer  zusammenfassenden  Darstellung 
zu  behandeln,  eine  Aufgabe,  von  der  ich  mir  wohl  bewusst  bin,  sie  nur 
in  unvollkommener  Weise  gelöst  zu  haben.  Nichtsdestoweniger  gebe 
ich  mich  aber  doch  der  Hoffnung  hin,  nicht  nur  manchem  Fach- 
genossen, sondern  vielleicht  auch  einem  Theile  des  ärztlichen  Publieums 
einen  Dienst  geleistet  zu  haben,  indem  ich  mich  vor  Allem  bestrebte, 
die  grundlegenden  T  h  a  t  s  a  c  h  e  n  übersichtlich  und  im  Zusammenhang 
darzustellen,  wobei  Einzelheiten  der  Versuchsmethodik  und  rein  theo- 
retische Speculationen  nur  insoweit  berücksichtigt  wurden,  als  es  zum 
Verständniss  unbedingt  erforderlich  schien.  Besonders  nachsichtiger 
Beurtheilung  von  Fachgenossen  sei  insbesondere  das  Capitel  über  die 
elektrischen  Fische  empfohlen,  indem  ich  hier  nur  compilatorisch  ver- 
fahren konnte,  da  mir  eigene  Erfahrungen  nicht  zu  Gebote  stehen. 
Wer  indessen  die  weitzerstreute  Literatur  hierüber  kennt,  wird  unter 
Berücksichtigung  des  gänzlichen  Mangels  einer  zusammenfassenden 
Darstellung  dieses  so  interessanten  und  wichtigen  Gebietes  über  die 
Mängel  des  vorliegenden  Versuches  hinwegsehen.  Für  die  vielleicht 
zu  grosse  Breite  der  Darstellung  möge  der  Umstand  als  Entschuldigung 
dienen,  dass  das  Buch  aus  Vorlesungen  hervorgegangen  ist,  und  dass 
ich  nur  so  eine  gewisse  lehrbuchmässige  Trockenheit  zu  vermeiden 
hoffen  durfte.  Zur  Rechtfertigung  der  histologischen  und  allgemein 
physiologischen  Abschnitte  sei  dagegen  einerseits  auf  die  innigen 
Wechselbeziehungen  zwischen  Bau  und  Function  der  Muskeln,  Nerven 
und  elektrischen  Organe,  sowie  andererseits  auf  die  Nothwendigkeit 
hingewiesen,  die  allgemeinen  Bedingungen  und  die  Erscheinungsformen 
der  Thätigkeitsäusserungen  irritabler  Gebilde  der  Erörterung  specieller 
Fragen  vorauszuschicken.  Es  schien  mir  daher  nicht  nur  erwünscht, 
sondern  dringend  geboten,  die  betreffenden  Verhältnisse  mit  grösserer 
Ausführlichkeit,  als  es  sonst  wohl  in  physiologischen  Schriften  üblich 
ist,  zu  behandeln.  Dadurch  ist  es  freilich  gekommen,  dass  das  Buch 
über  seinen  naturgemäss  enger  gezogenen  Rahmen  vielleicht  allzusehr 
herausgewachsen  ist.  Man  wird  es  ferner  wohl  auch  als  einen  Fehler 
bezeichnen  wollen,  dass  die  ganze  Darstellung  von  einem  bestimmten 
Standpunkte  aus  gegeben  ist,  wodurch  einzelne  Capitel  eine  vielleicht 
zu  einseitige  Behandlung  erfahren.  Es  kam  mir  aber  gerade  weniger 
darauf  an,  eine  subjective  Färbung  durch  Aufgeben  jedes  bestimmten 
Parteistandpunktes  ängstlich  zu  vermeiden,  als  vielmehr  zu  zeigen, 
wie  die  Erscheinungen  unter  jenen  Gesichtspunkten  sich  darstellen, 
unter  denen  ich  sie  seiner  Zeit  durch  meinen  hochverehrten  Lehrer 
Hering  habe  beurtheilen  lernen.  Indem  ich  ihm  dieses  Buch  als 
geringes  Zeichen  meiner  Dankbarkeit  und  Verehrung  widme,  bin  ich 
mir  wohl  bewusst,  nur  das  wiederzugeben,  was  ich  seiner  Zeit  von 
ihm  empfangen  habe. 

Jena,  im  November  1894. 


Einleitung. 


In  dem  Umfange,  in  welchem  die  Elektrophysiologie  hier  ab- 
gehandelt werden  soll,  umtasst  dieselbe  einerseits  die  Lehre  von  der 
elektrischen  Erregung  der  reizbaren  Theile  und  anderseits  die  elektro- 
motorischen Wirkungen  der  letzteren.  Da  zum  Verständniss  dieser 
eine  möglichst  genaue  Kenntniss  der  Erregungserscheinungen  und  ins- 
besondere der  Wirkungsweise  des  Stromes  auf  die  lebendige  Substanz 
die  nothwendige  Vorbedingung  bildet,  so  soll  dieses  Gebiet  hier  auch 
zunächst  behandelt  werden. 

Während  es  in  der  Morphologie  als  selbstverständlich  gilt,  dass 
die  Betrachtung  vom  Einfachen  zum  Complicirteren  fortschreiten  müsse, 
lehrt  sowohl  die  Erfahrung  wie  einfache  Ueberlegung,  dass  in  der 
Physiologie  vielfach  der  umgekehrte  Weg  erfolgreicher  ist  und  rascher 
zum  Ziele  führt,  was  theils  auf  der  Eigenart  der  anzuwendenden 
Untersuchungs-Methoden  beruht,  anderntheils  aber  in  der  physiolo- 
gischen DifFerenzirung  der  einzelnen  Elementarbestandtheile  be- 
gründet liegt.  Nicht  immer  ist  das  morphologisch  Einfachere  auch 
physiologisch  am  durchsichtigsten,  ja  man  könnte  in  gewissem  Sinne 
eher  das  Gegentheil  behaupten.  Wenn  es  richtig  ist,  dass  im  nicht 
weiter  differenzirten  Plasma  etwa  einer  Amoebe  alle  Functionen  höher 
entwickelter,  vielzelliger  Organismen  so  zu  sagen  potentia  schlummern, 
so  verbirgt  sich  unter  der  scheinbaren  Einfachheit  eine  Mannigfaltigkeit 
der  physiologischen  Leistungen,  die  nicht  zu  vergleichen  ist  mit  dem 
Falle,  wo  eine  Zellenart  nur  einer  ganz  bestimmten  Function  angepasst 
erscheint,  wie  etwa  eine  Muskelzelle  der  Contraction,  eine  Drüsenzelle 
der  Secretion  u.  s.  w.  Offenbar  ist  aber  mehr  Aussicht  vorhanden, 
in  einem  solchen  Falle  etwas  Genaueres  über  das  eigentliche  Wesen 
der  betreffenden  physiologischen  Function  zu  erfahren,  als  wenn  man 
sich  an  Elementarorganismen  wendet,  deren  Plasma  noch  in  gleicher 
Weise  den  verschiedensten  Leistungen  dient.  So  verspricht  sicher  das 
Studium  der  Drüsenzellen  und  Drüsen  besseren  Aufschluss  über  den 
Absonderungsvorgang,  als  etwa  die  Untersuchung  derartiger  Processe 
an  einzelligen  Organismen,  und  die  Muskelphysiologie  hat  unsere 
Kenntnisse  über  den  Contractionsvorgang  und  die  sich  dabei  abspielen- 
den Vorgänge  unendlich  mehr  gefördert,  als  es  jemals  die  mikrosko- 
pische Untersuchung  niederer  Organismen  allein  würde  haben  erreichen 
können.  Dies  mag  zur  Rechtfertigung  dienen ,  wenn  auch  in  dem 
vorliegenden  Versuch  einer  zusammenfassenden  Darstellung  der  Elektro- 
physiologie die  höchstdifferenzirte  Form  contractilen  Gewebes,  die 
Muskeln,  den  Ausgangspunkt  bilden. 


s  d  e  r m  a n  n ,  Elektrophysiologie. 


A.    Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


Schon  auf  einer  niederen  Stufe  der  Differenzirung  contractilen 
Plasmas  begegnet  man  vielfach  und  in  weiter  Verbreitung  fibrillärer 
Structur,  und  das  Beispiel  der  FHmmerzellen  und  besonders  der  Sper- 
matozoon beweist  unzweifelhaft  die  grosse  Bedeutung  derartiger  Structur- 
verhältnisse  für  den  Contractionsvorgang  und  die  Bewegungserschei- 
nungen plasmatischer  Gebilde.  Ohne  nun  der  neuerdings  besonders 
von  Ballowitz  (1)  vertretenen  Anschauung  beizupflichten,  „dass  alle 
regelmässigen,  in  bestimmten  Bahnen  verlaufenden  Contractionen  con- 
tractiler  Substanzen  an  das  Vorhandensein  regelmässiger,  parallel  oder 
annähernd  parallel  nebeneinanderliegender  Fibrillen  gebunden  ist," 
gegen  welche  viele  Thatsachen  sprechen,  bleibt  es  doch  bemerkens- 
werth,  dass  fast  in  allen  Fällen  von  energischer  und  be- 
sonders von  rasch  verlaufender  Contraction  auch  ein 
fibrillärer  Bau  des  Plasmas  mehr  oder  weniger  deutlich 
nachweisbar  ist.  Dies  zeigt  sich  besonders  klar  an  den  am  höch- 
sten differenzirten  Formen  contractilen  thierischen  Plasmas,  welche 
man  als  Muskeif ib rillen,  Muskelzellen  und  Muskelfasern 
bezeichnet. 

Hier  erscheint  es  vor  Allem  wesentlich  und  für  die  morphologische 
wie  physiologische  Auffassung  des  „Muskels"  bedeutungsvoll,  dass  Ge- 
bilde, welche  man  ihrem  Bau  und  ihrer  Function  entsprechend  als 
Muskeln  bezeichnen  muss,  stets  zuerst  in  Form  von  einzeln  verlaufen- 
den oder  in  Bündeln  geordneten  Fibrillen  auftreten.  Dies  gilt 
ebensowohl  für  die  ontogenetische  wie  für  die  phylogenetische  Ent- 
wicklung. Werfen  wir  zunächst  einen  Blick  auf  die  letztere,  so  treten 
uns  zweifellose  Muskeln  zuerst  bei  gewissen  ciliaten  Infusorien  ent- 
gegen; denn  ob  man  das  Recht  hat,  die  blitzschnell  zusammenzuckenden 
feinen  Protoplasmastrahlen  gewisser  SüssAvasserheliozoen  (Acanthocys- 
tiden),  welche  Engelmann  (2)  als  „Myopodien"  beschrieb,  sowie  die 
von  Haeckel  als  Myophrysken  bezeichneten  ähnlichen  Gebilde 
mancher  Radiolarien  als  Avirkliche  Muskelfibrillen  anzusprechen,  er- 
scheint wenigstens  zweifelhaft.  Jedenfalls  darf  man  aber  mit  Engel - 
mann  in  diesen  Gebilden  so  zu  sagen  Uebergangsstufen  zMnschen 
Pseudopodien  und  echten  Muskelfibrillen  erblicken. 

Untersucht  man  grössere  möglichst  durchsichtige  Vorticellen 
mit  starken  Vergrösserungen ,    so   bemerkt  man  leicht  dicht  unter  der 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


Oberfläche  hinziehende,  zarte  Fibrillen,  welche  der  Längsaxe  des  Körpers 
parallel  verlaufend,  oft  fein  varicös  erscheinen.  Ob  man  dieselben  nun 
mit  Büts  chli  (3)  lediglich  als  Längsreihen  von  Waben  innerhalb  des 
übrigen,  gleichmässig  alveolären  Plasmas  auffasst  oder  als  besondere 
Einlagerungen  betrachtet,  unter  allen  Umständen  handelt  es  sich  um 
Producte  einer  Differenzirung  des  Ectoplasmas.     (Fig.  1.) 

Nach  der  Ansatzstelle  des  Stieles  hin  convergiren  sämmtliche  Fi- 
brillen (Myoneme)  und  vereinigen  sich  endlich  bei  vielen  zu  einem 
cylindrischen  Strang,  der  im  optischen 
Querschnitt  durchaus  fibrillär  zu  sein 
scheint.  Durch  viel  stärker  entwickelte 
Muskelfibrillen  zeichnen  sich  gCAvisse  He- 
terotricha(Stentor,  Spirostomum) 
und  Holotricha  (Holophrya,  Pro- 
rodon,  Opalin iden)  aus.  Bei  Sten- 
tor,  wo  es  Engelmann  gelang,  die 
Fibrillen  zu  isoliren,  beträgt  die  Dicke 
derselben  etwa  1  fx.  Hier  lässt  sich  auch 
selbst  die  Andeutung  einer  feineren  Struc- 
tur erkennen,  nämlich  einer  Art  von  Q.uer- 
streifung  (3.  p.  1300). 

Schon  Lieberkühn  erklärte  die 
Fibrillen  von  S  t  e  n  t  o  r  für  contractile  Ele- 
mente, und  zwar  auf  Grund  der  Beobach- 
tung, dass  sie  bei  contrahirten  Stentoren 
durchaus  gerade  sind,  jedoch  einen  wellig 
geschlängelten  Verlauf  annehmen ,  sobald 
das  Infusor  sich  wieder  zu  strecken  beginnt, 
indem  sie  sich,  anscheinend  erschlaffend, 
verlängern.  Je  weiter  das  Thier  sich  ausdehnt,  desto  flacher  werden  die 
Wellen.  Endlich  sind  die  Fibrillen  wieder  ganz  gerade  und  werden  nun 
bei  fortschreitender  Ausdehnung  des  Thieres  immer  dünner.  Im  Fuss, 
der  sich  am  meisten  verlängert,  sind  sie  bald  nicht  mehr  einzeln  zu 
erkennen,  im  übrigen  Körper  erscheinen  sie  als  äusserst  feine  Linien. 
„Ziehen  die  Thiere  sich  nicht  zuckend,  sondern,  wie  auch  häufig  ge- 
schieht, langsam,  im  Laufe  einiger  Sekunden  zusammen,  dann  sind 
auch  im  maximal  verkürzten  Zustande  die  Fibrillen  nicht  gerade, 
kurz  und  dick,  sondern  stark  wellig  gebogen  und  nicht  merklich 
dicker  als  sonst  im  massig  ausgedehnten  Zustande  des  Thieres.  Die 
Wellen  sind  oft  so  steil,  kurz  und  hoch,  dass  die  Fasern  einander 
seitlich  berühren:  im  ersten  Augenblicke  scheint  dann  die  corticale 
Schichte  wie  aus  einem  Labyrinth  von  gekräuselten  Fäserchen  zu  be- 
sj^hen.  Wenn  die  Thiere  in  Folge  langsamer  Zusammenziehung 
schon  beinahe  kugelig  geworden  sind,  können  sie  noch  etwas  weiter 
zusammenzucken.  Dabei  nun  sieht  man  auf  einmal  alle 
Fibrillen  gerade,  kurz  und  dick  werden:  an  Stelle  des 
Labyrinthes  von  kleinen  Wellen  zeigen  sich  plötzlich  wieder  dicke, 
gerade  und  parallel  verlaufende,  stark  glänzende  Längsstreifen." 

Das  Zusammenzucken  der  Stentoren  kann,  wie  es  scheint,  ganz 
spontan,  ohne  nachweisbaren  äusseren  Reiz  erfolgen.  Engelmann 
(2.  p.  447)  sah  bei  Zutritt  verdünnter  Essigsäure  (0,1  o/o)  HCl  (0,1  <>/o), 
H2SO4  (4  ^/o)  u.  a.  anfangs  häufig  einzelne  Fibrillen  zucken,  mitunter 
selbst  noch,   wenn   sie  sich  mit   dem  schrumpfenden  Endoplasma  von 

1* 


Fig.    1.       Carchesium     poly- 
pinum.     (Nach  Büts  chli.) 


4  Bau  und  Structur  der  Muskeln. 

der  Pellicula  losgelöst  hatten.  Auch  Aether  und  Chloroform  be- 
wirken zunächst  immer  eine  plötzliche  Contraction  der  Myoide, 
ebenso  äussert  sich  ferner  die  Wirkung  des  elektrischen  Stromes. 
Dabei  ist  der  Werth  der  unteren  Reizschwelle  für  die  verschiedenen 
Formen  verschieden.  So  z.  B.  reagirt  Stentor  schon  auf  viel  schwä- 
chere Ströme  als  Carchesium.  Während  der  Dauer  des  Stromes 
bleiben  die  Protisten  in  der  Regel  im  Zustande  der  Contraction,  nur 
wenn  der  Strom  schAvach  ist,  findet  meist  während  der  Dauer  desselben 
nach  einiger  Zeit  wieder  eine  vollständige  Streckung  statt  (so  bei 
Stentor  nach  Verworn  4.  p.  114). 

Es  ist  nach  alledem  kein  Zweifel,  dass  man  es  bei  den  Myoiden 
(Myonemen)  der  genannten  Infusorien  mit  reizbaren,  echter  Zuckungen 
fähigen  Fibrillen  zu  thun  hat  und  ebensowenig  Zweifel,  dass  diese 
Fibrillen  es  sind,  auf  deren  rascher  Verkürzung  die  Zuckungen  des 
Leibes  von  Stentor  und  anderen  Infusorien  beruhen.  Neben  diesen 
kommen  aber,  wie  schon  erwähnt,  auch  langsamere  Contractionen 
vor,  welche  daraufhinweisen,  dass  auch  dem  übrigen,  nicht  weiter 
differenzirten  Ectoplasma  Contractilität,  und  zwar  in 
einer  bestimmten  Richtung,  zukommt.  Bei  diesen  Contrac- 
tionen krümmen  sich  die  Muskel-Fibrillen  passiv  wellenförmig  zusammen, 
bleiben  also  erschlafft.  Das  Endoplasma  kann  dabei  keine  active  Rolle 
spielen,  da  es,  obschon  contractu,  doch  stets  in  einer  nach  den  ver- 
schiedensten Richtungen  hin  strömenden  Bewegung  begriffen  ist,  die 
auch  während  der  langsamen  Contractionen  des  Thieres  anhält.  Die 
Thatsache,  dass  es  zahlreiche  sehr  contractile  Ciliaten  (Hypotricha) 
giebt,  die  demungeachtet  nichts  von  Fibrillen  erkennen  lassen,  beweist 
klar,  dass  die  Di f f e r e n z i r u n g  d e r  1  e t z t e r e n  mit  einem  ganz 
bestimmtenBewegungsmodus  in  ursächlichem  Zusam- 
menhang steht,  indem  nur  rasche  energische  Zuckungen 
durch  Muskel-Fibrillen  vermittelt  werden.  Das  bekann- 
teste Beispiel  hierfür  liefert  der  sogenannte  Stielmuskel  der  Vor- 
ticellen. 

Es  wurde  schon  oben  erwähnt,  dass  die  Fibrillen  im  hinteren  Theil 
des  Vorticellenkörpers  sämmtlich  der  Ansatzstelle  am  Stiel  zustreben. 
Bei  den  Contractilia  mit  schnellenden  Stielen  endigen  nun  die  Fibrillen 
nicht  an  der  Ansatzstelle,  sondern  vereinigen  sich  zu  einem  faden- 
förmigen Organe,  das  in  das  Stielinnere  eintritt  und  es  gewöhnlich  der 
ganzen  Länge  nach  durchzieht.  Fast  ausnahmslos  verläuft  dieser 
Stielfaden  oder  -muskel  innerhalb  der  Stielscheide  in  einer  sehr 
steilen  Schraubenlinie.  Die  Scheide  ist  ein  cylindrisches  Rohr  von 
massigem  Durchmesser,  welches  an  dem  vom  Thier  abgewendeten 
Ende  fremden  Körpern  angewachsen  ist.  Sie  besitzt  eine  dünne  ela- 
stische Wand  von  chitinartiger  Beschaffenheit.  Das  Innere  des  scheinbar 
hohlen  Stieles  wird  ausgefüllt  von  einer  homogenen,  glasartig  durch- 
sichtigen Masse  von  wahrscheinlich  gallertartiger  Consistenz.  Bei 
Vorticella  und  Carchesium  durchzieht  der  Faden  die  Stielröhre 
in  sehr  hohen  Schraubenwindungen,  deren  Zahl  mit  der  Länge  des 
Stieles  zunimmt.  Nach  Czermak  (5)  schwankt  die  Zahl  der  Umgänge 
zwischen  0  und  12.  Bei  sehr  kurz  gestielten  Vorticellen  findet  man 
oft  nur  V2 — 1  Umgang.  Bei  Zoothamnium  zieht  der  Muskelfaden 
nicht  peripher  an  der  Stielscheide  hin  wie  bei  Vor tic  eil a  und  Car- 
chesium, sondern  ohne  deutliche  Schraubenwindungen  nahezu  in  der 
Axe,  allseitig  von  der  homogenen  Marksubstanz  umgeben. 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  5 

Da  der  Muskelfaden  durch  Zusammentritt  der  Körpermyoneme  ent- 
steht, so  lässt  sich  a  priori  vermuthen,  dass  er  eine  fibrilläre  Struc- 
tur  besitzen  wird.  Bei  den  meisten  Formen  hat  es  den  Anschein,  als 
wenn  sich  die  Fibrillen  im  Faden  selbst  nicht  mehr  erhielten,  sondern 
zu  einer  homogenen  Masse  zusammenfliessen.  Doch  dürfte  dies  nur 
scheinbar  sein,  da  der  dicke  Muskelfaden  gewisser  Zoothamnien 
sehr  deutlich  fibrillär  erscheint.  Voraussichtlich  wird  sich  dies  durch 
Methoden,  denen  ähnlich,  welche  Ballowitz  zur  Entdeckung  der 
hbrillären  Structur  der  Spermatosomengeissel  führten,  als  allgemein 
herausstellen. 

In  Bezug  auf  die  C  o  n  t r a c t i o n s e r  s c h e i  n  u n g e n  am  V o  r  t i - 
c  eilen  stiel  ist  zu  bemerken,  dass  dieselben  unter  normalen 
Verhältnissen  immer  sehr  rasch  und  plötzlich  („zuckend") 
erfolgen.  Gewöhnlich  ergreift  die  Contraction  den  gesammten  Stiel, 
der  sich  dabei  zu  einer  niedrigen  und  eng  gewundenen  Schraube  (Heli- 
coide)  zusammenzieht,  deren  Windungen  sich  meist  dicht  berühren. 
Der  Thierkörper  contrahirt  sich  gewöhnlich  synchronisch  mit  dem  Stiel. 
Es  ist  bemerkenswerth ,  dass  sich  der  Stiel  bisweilen  nur  theilweise 
contrahirt,  und  zwar  scheint  sowohl  der  obere  wie  der  untere  Stieltheil 
local  und  ohne  Betheiligung  des  übrigen  sich  contrahiren  zu  können 
(Czermak,  Kühne).  Viel  langsamer  rollt  sich  der  zusammen- 
geschnellte Stiel  wieder  auf;  auch  dieser  Vorgang  kann  verschieden 
verlaufen,  d.  h.  bald  oben,  bald  unten  beginnen  und  gelegentlich  un- 
vollendet eine  Zeit  lang  persistiren. 

Dass  in  Uebereinstimmung  mit  der  Funktion  der  Fibrillen  des 
Körperplasmas  nur  der  Stielfaden  Sitz  der  Contractilität  ist,  wurde 
zuerst  durch  Czermaks  Untersuchungen  (1.  c.)  sicher  festgestellt, 
während  früher  vielfach  die  Stielscheide  als  das  eigentlich  Contractile 
angesehen  wurde.  Den  klarsten  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  ersteren 
Ansicht  liefern  V  o  r  t  i  c  e  1 1  e  n  mit  ganz  oder  theilweise  zerstörtem  Faden, 
da  eine  gänzliche  Vernichtung  desselben  das  Contractionsvermögen  stets 
völlig  aufhebt,  eine  theilweise  aber  nur  soweit  als  die  Zerstörung  geht. 
Von  Interesse  ist  in  dieser  Beziehung  auch  das  Verhalten  abge- 
storbener Stiele.  Dieselben  sind  zunächst  stets  contrahirt  (Todten- 
starre),  und  ebenso  bewirken  alle  Reagenzien,  welche  den  Faden  unter 
Gerinnung  tödten  (auch  Hitze),  eine  Aufrollung,  die  so  lange  an- 
dauert, als  noch  der  Faden  vorhanden  ist.  Wird  er 
durch  Fäulni SS  oder  Reagenzien  zerstört,  so  streckt  sich 
der  Stiel  wieder.  Diese  Erfahrungen  beweisen  also,  dass  die 
K5t reckung  auf  der  Elasticität  der  Stielsc beide  beruht. 
Engel  mann  (1.  c.  p.  438  f.)  konnte  übrigens  bei  Zoothamnium 
A  r  b  u  s  c  u  1  a  direct  beobachten,  dass  die  hier  gut  sichtbaren  Fibrillen 
des  Stielmuskels  im  Momente  der  Contraction  kürzer, 
dicker  und  gerade  werden;  beginnt  dann  di e  Erschlaffung ,  so 
strecken  sie  sich  sehr  rasch  wieder  und  nehmen  dabei,  wenn  die  Stiel- 
scheide, durch  zufällige  äussere  Widerstände  aufgehalten,  sich  nur 
langsam  wieder  streckt,  anfangs  einen  stark  geschlängelten  Verlauf  an. 
Unzweifelhaft  besteht  demnach  der  Stiel  faden  der  Vorti- 
cellen  aus  contractilen  Fibrillen.  Durch  diese  letzteren  Beob- 
achtungen scheint  mir  auch,  ganz  abgesehen  von  anderen  später  zu  er- 
örternden Gründen ,  die  von  K  ü  h  n  e  (6)  ausgesprochene  Vermuthung 
widerlegt,  dass  nicht  der  Faden  selbst,  sondern  die  Fadenscheide, 
welche   er   dem  von  ihm  „Glia"  e-enannten  Bestandtheil  der  Muskel- 


ß  Bau  und  Structur  der  Muskeln. 

Zellen  höherer  Thiere  vergleicht,  das  Contractile,  der  Faden  (d.  i.  die 
Fibrillen)  dagegen  ein  elastisches  Gebilde  sei,  das  mit  der  Stielscheide 
zusammen  die  Streckung  bewirke. 

Auf  Grund  der  Auffassung  des  Stiel  fad  ens  als  contractiles  Ele- 
ment lässt  sich  auch  die  Thatsache  der  schraubigen  Aufrollung  und 
Wiederstreckung  des  Stieles  leicht  erklären,  wie  dies  zuerst  von  Seite 
Czermaks  versucht  wurde.  Der  Stiel  der  Contractilia  ist  ein 
Cylinder  mit  dünner  elastischer  Wand,  auf  deren  Innenfläche  ein  in 
steilen  Schraubenwindungen  herabziehender  contractiler  Faden  befestigt 
ist.  Wenn  sich  aber  ein  Cylinder  längs  einer  an  seiner  Oberfläche 
hinziehenden  Schraubenlinie  contrahirt,  so  geht  er  in  die  Gestalt  einer 
Schraube  über. 

Die  Erfahrungen  über  künstliche  Reizung  des  Stielmus- 
kels der  Vorticellen  sind  bisher  äusserst  spärlich.  K ü h n e  (7)  sah 
Vorticellen-Bäumchen  bei  tetanisirender  Reizung  mit  Inductionsströmen 
plötzlich  zusammenzucken;  sämmtliche  Stiele  blieben  dann  während 
der  Dauer  der  Reizung  contrahirt,  und  nur  wenn  die  Ströme  längere 
Zeit  durch  das  Präparat  gingen,  rollten  sich  die  Fäden  auch  während 
des  Tetanisirens  wieder  auseinander,  und  die  Thiere  zuckten  nur  von 
Zeit  zu  Zeit  ein  wenig  zusammen,  konnten  aber  wieder  ganz  an  ihren 
Anheftungspunkt  mit  der  Glocke  herangezogen  werden,  wenn  die 
Reizung  etwas  verstärkt  wurde.  In  ähnlicher  Weise  reagirten 
auch  isolirte  kopflose  Stiele.  Auch  durch  chemische  Reiz- 
mittel (HCl  1  °/o,  NHs)  lassen  sich  Vorticellen- Stiele  zur  Contraction 
bringen  (Kühne  1.  c.  p.  828).  In  einem  wässrigen  Aufguss  von 
Veratrin  ziehen  sich  die  Stiele  langsam  zusammen  und  werden 
exquisit  starr,  wobei  der  innere  Muskelfaden  stärker  lichtbrechend 
und  in  Folge  dessen  viel  deutlicher  wird.  Wässrige  (höchst  ver- 
dünnte) S try chnin-Lösungen  tödten  die  Vorticellen  ebenfalls,  aber 
unter  ganz  anderen  Erscheinungen.  Die  Thiere  verlieren  ihre  Erreg- 
barkeit und  liegen  gerade  gestreckt,  aber  mit  fortdauernder  Wimper- 
bewegung ruhig  da.  In  diesem  Zustande  bewirken  auch  die  stärksten 
Inductionsschläge  keine  Bewegung  mehr.  Curare  zeigt  sich  auch  in 
stärksten  Lösungen  gänzlich  wirkungslos  (Kühne  1.  c). 

Einer  genaueren  Untersuchung  bedarf  auch  noch  die  Leitung 
der  Erregung  im  Stiel muskel.  Dass  unter  normalen  Verhält- 
nissen die  spontane  Erregung  sowohl  wie  die  auf  äussere  Reize  er- 
folgende Contraction  vom  Körper  der  Vorticellen  ausgeht,  kann  wohl 
nicht  bezweifelt  werden.  Direct  lässt  sich  allerdings  in  Folge  der  grossen 
Schnelligkeit  der  Verkürzung  des  Muskelfadens  nicht  sehen,  wo  der 
Process  seinen  Anfang  nimmt,  der  gleichmässig  in  allen  Punkten  zu- 
gleich einzutreten  scheint.  Dies  ist  selbst  dann  der  Fall,  wenn  bei 
den  verzweigten  Colonien  von  Zoothamnium  oder  Carchesium 
durch  mechanischen  Reiz  eines  Individuums  die  ganze  Colonie  zurück- 
schnellt. Bei  Zoothamnium  kann  es  sich  um  eine  directe  Reiz- 
leitung handeln,  da  alle  Individuen  unter  einander  durch  die  Stiel- 
myoide  in  reizleitender  Verbindung  stehen;  bei  Carchesium  jedoch, 
wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  wirkt  offenbar  nur  die  Erschütterung,  die 
sich  von  jedem  zuckenden  Individuum  auf  die  benachbarten  überträgt 
als  Reiz  (Verworn  4).  Um  die  Erscheinungen  des  Zusammenzuckens 
nicht  nur  der  Vorticellen,  sondern  aller  mit  Myoiden  ausgestatteten 
Ciliaten  zu  erklären,  muss  man  nothwendig  annehmen,  dass  von 
jeder    Stelle    des    Körperplasmas    aus    die   Erregung    auf 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  7 

sämmtliche  demselben  eingelagerte  oder  mit  ihm  in 
directemZusammenhangstehendeMuskelfibrillen  über- 
tragen werden  kann;  und  zwar  niuss  die  Leitungs- 
geschwindigkeit d  er  Erregung  eine  sehr  beträchtliche 
sein,  unter  allen  Umständen  viel  schneller  als  bei  den 
Rhizopoden.  Denn  reizt  man  z.  B.  ein  Spiro stom um,  einen  Sten- 
tor,  die  sieh  ihrer  langestreckten  Form  wegen  nächst  den  Vorti- 
c  e  1 1  e  n  am  besten  zu  solchen  Versuchen  eignen ,  nur  local  an  einem 
Ende,  so  tritt  sofort  ohne  merkliches  Latenzstadium  Contraction  des 
ganzen  Körpers  ein,  ohne  dass  man  die  zweifellos  vorhandene  zeitliche 
Differenz  in  der  Contraction  des  vorderen  und  hinteren  Endes  be- 
merken könnte  (Verworn). 


Die  Muskeln  der  Metazoen. 

Nicht  nur  bei  einzelligen  Thieren,  sondern  auch  bei  Metazoen 
sehen  wir  typische  „Muskeln"  immer  zunächst  in  Form  von  Fibrillen 
oder  Fibrillenbündeln  im  Protoplasma  gewisser  Zellen  auftreten,  wobei 
in  Bezug  auf  das  Massenverhältniss  und  die  relative  Lage  und  An- 
ordnung der  contractilen  Fibrillen  und  des  Bildungsplasmas  („Sarko- 
plasma"),  dessen  Differenzirungsproducte  jene  darstellen,  eine  ausser- 
ordentliche Mannigfaltigkeit  in  der  Thierreihe  herrscht.  Da  es  zum 
Verständniss  des  Baues  und  der  Functionen  der  hochdifferenzirten 
Muskeln  ebenso  wichtig  erscheint,  ihre  phylogenetische  Entwicklung, 
wie  ihre  ontogenetische  Ausbildung  zu  berücksichtigen,  so  sollen  im 
Folgenden  in  Bezug  auf  den  ersteren  Punkt  einige  besonders  instruc- 
tive  Beispiele  näher  erörtert  werden. 

In  einfachster  Form  treten  uns  M  u  s  k  e  1  z  e  1 1  e  n  (M  y  o  p  1  a  s  t  e  n)  *) 
entgegen  in  den  Epithelmuskeln  („Neuro -Muskelzellen")  niederer 
Coelenteraten. 

So  besteht  bei  Hydra  das  Ektoderm  zum  grossen  Theil  aus 
grossen  stumpf-  kegelförmigen  Epithelzellen ,  deren  nach  innen  ge- 
richtete Spitze  sich  in  einen  oder  mehrere  Fortsätze  auszieht,  die  sich 
dichotomisch  verzweigen,  und  rechtwinklig  umbiegend,  Fibrillen  dar- 
stellen, welche  parallel  der  Körperaxe  verlaufend,  in  ihrer  Gesammt- 
heit  eine  subepitheliale  contractile  Schicht  („Muskellamelle")  bilden. 
Auf  dem  Querschnitt  erscheint  daher  zwischen  dem  Ektoderm  und 
Entoderm  eine  schmale  Zone,  in  welcher  die  querdurchschnittenen 
Fibrillen  als  eine  Reihe  stark  lichtbrechender  Punkte  hervortreten. 

Die  Zellkörper  nehmen  also  in  diesem  Falle  an  der  Begrenzung 
der  Körperoberfläche  Theil  und  vermitteln  in  ähnlicher  Weise  wie 
das  Plasma  des  Ciliatenkörpers  die  Beziehungen  zur  Aussenwelt, 
indem  sie  zur  Aufnahme  äusserer  Eindrücke  befähigt,  d.  h.  reizbar 
sind.  Die  Erregung  wird  in  beiden  Fällen  durch  das  Zellplasma 
(Sarkoplasma)  auf  die  contractilen  Fibrillen  übertragen  und  dürfte 
sich  wohl  durch  Leitung  von  Zelle  zu  Zelle  über  grössere  Gebiete 
des  Körpers    verbreiten   können  (falls  Nerven  wirklich  fehlen  sollten). 


*)  Bei  den  oben  erwähnten,  als  freilebende  Einzelzellen  zu  betrachtenden 
ciliaten  Infusorien  kann  man  unter  gleichen  Verhältnissen  ganz  wohl  von  ,,Z  eilen - 
muskeln"  sprechen. 


ig  Bau  und  Structur  der  Muskeln. 

Auch  in  den  grossen  vacuoHsirten ,  mit  je  einer  Geissei  versehenen 
Entodermzellen  von  Hydra  finden  sich  basal  gelegene  Muskelfibrillen. 
Aehnliche,  aber  schon  mannigfaltigere  Verhältnisse  finden  wir  bei  den 
A  c  t  i  n  i  e  n. 

Durchwegs  handelt  es  sich  auch  hier  um  Muskeln  epithelialen 
Ursprungs,    um  „Epithelmuskelzellen",  welche  an  der  äusseren 
oder  inneren  Begrenzung  des  Körpers  theilnehmen  oder,    in    die  Tiefe 
gerückt,    dort    unverkennbar  noch  ihre  Abstammung  aus  dem  Epithel 
verrathen.      Im    einfachsten    Falle    zeigt 
ein  durch  das  Entoderm  geführter  Quer- 
,  schnitt ,    ähnlich   wie  bei  Hydra,    unter 

;J'  '  einer   einfachen  Lage    cylindrischer  Epi- 

thelzellen, der  Grenzlinie  zwischen  diesen 
"  und  dem  Mesenchym  entsprechend,   eine 

einfache  Reihe  von  glänzenden  Körn- 
chen (Fig.  2  a).  Wie  Isolationspräpa- 
rate lehren,  handelt  es  sich  wieder  um 
Querschnitte  von  Muskelfibrillen  (Fibril- 
lenbündeln  ?) ,  welche  als  das  Differen- 
ß^  zirungsproduct    der    Epithelzellen    anzu- 

^    Ä'  sehen    sind.     Je    nach  dem  Contractions- 

/•\^  zustand  der  Leibeswand  erhält  man  bald 

"""^^^^^^-^^^ kubische,    bald  cylindrische,  bald  faden- 

Fig.  2.  a  Querschnitt  durch  die  förmige  Zellkörper,  die  an  ihren  freien 
Muskulatur  eines  Septums  von  Sa-      Enden  entweder  Flimmerhaare  oder  eine 

» V-,V^  J'^'"^'''t*\^^  ,®^'^]i}'f^.^*  einzige  Geissei  tragen,  während  an  ihrer 
am  die  Lanffsaxe  der  basalen  ribril-  ,        ^  -,       •.      ,-!->•      TXTiii«i-ii 

len.  b  Epithelmuskelzelle  (isolirt)  ©twas  verbreiterten  Basis  Muskelfibrillen 
voneinerActinie.(NachHertwig.)      ausgeschieden  Sind  (Fig.  2  h).    Aus  dieser 

ursprünglichsten  Form  lassen  sich  leicht 
die  von  Hertwig  (9)  als  „intraepitheliale"  Muskeln  bezeichneten 
Formen  ableiten,  bei  welchen  die  spindelförmigen  Zellkörper  sich  nur 
noch  theilweise  zwischen  die  eigentlichen  Epithelzellen  einschieben,  an 
der  Oberflächenbegrenzung  selbst  aber  keinen  Antheil  mehr  nehmen. 
An  diese  Formen  schliessen  sich  unmittelbar  die  „subepi  theli  alen" 
Muskeln  an,  welche  lange,  schmale  Bänder  (Fibrillenbündel)  darstellen, 
die  auf  ihrer,  dem  Epithel  zugewendeten  Seite  nur  mehr  eine  dünne 
Lage  von  Bildungsplasma  besitzen. 

Es  kann  nicht  fraglich  sein,  dass  hier  die  kernführende  Plasma- 
masse dem  Körper  einer  echten  Epithelmuskelzelle  entspricht. 

Lediglich  durch  die  Anordnung  von  den  zuletzt  erwähnten 
Muskeln  verschieden  sind  die  gänzlich  vom  Mesenchym  umschlossenen 
Bündel  von  Muskelfibrillen,  welche  einer  der  Zahl  der  letzteren  ent- 
sprechenden Vielheit  von  Myoplasten  ihre  Entstehung  verdanken.  Die 
einzelnen  Elemente  sind  auch  hier  Fasern  (Fibrillen)  mit  Plasma 
und  Kern;  sie  liegen  aber  nicht  einzeln  neben  einander,  sondern 
sind  zu  Gruppen  vereinigt,  deren  Peripherie  von  den  contractilen 
Fibrillen,  deren  Axe  von  den  zugehörigen  Kernen  und  Plasma  erfüllt 
wird  (9). 

Zwischen  dieser  und  der  ursprünglichen,  flächenhaften  Anordnung 
der  Muskelfibrillen  giebt  es  alle  nur  denkbaren  Uebergänge,  die  durch 
Faltung  der  Muskellamelle  vermittelt  werden,  deren  Bedeutung 
offenbar  in    einer  Vermehrung    der  Muskelmasse    bei    gleichbleibender 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  9 

Körperoberfläclie    zu    suchen    ist.      So    lange    die    Faltenbildung    der 
Muskellamelle  nicht  eine  übermässige  ist,    werden  die  nach  der  freien 
Oberfläche  zu  entstehenden  Berge    und  Thäler  durch  die  verschiedene 
Länge    der  Epithelzellen    ausgeglichen.     Ebenso  dringt  von  innen  her 
das   stützende   Mesenchym    in   alle   Falten   ein.     Wie   schon   erwähnt, 
kann    die  Einfaltung   sehr  verschiedene  Grade   erreichen.     Oft  kommt 
es  zur  Bildung  von  „Muskelblättern",    die  senkrecht  zur  Körper- 
oberfläche gestellt,  wie  die  Blätter  eines  Buches  neben 
einander  gelagert   sind    (Fig.  3).     Jedes    Blatt  enthält 
eine  dünne  Stützlamelle  vom  Mesenchym,    die  beider- 
seits mit  Muskelzellen  besetzt  ist.    Es  ist  leicht  ersicht- 
lich, wie  durch  einen  solchen  noch  einen  Schritt  weiter 
gehenden  Einfaltungs-    und  Abschnür ungsprocess  jene 
gänzlich     vom    Mesenchym     umhüllten     cylindrischen 
Muskel bündel  entstehen,  welche  bereits  oben  erwähnt 
wurden. 

Ganz  analogen  Verhältnissen,  wie  bei  den  Ac- 
tinien,  begegnen  wir  auch  bei  den  Medusen,  deren 
oft  quergestreifte  Muskelfibrillen  überall  basal  gelegene 
DifFerenzirungen  ektodermaler  Epithelzellen  darstellen, 
welche  letztere  in  v^ielen  Fällen  noch  an  der  Ober- 
flächenbegrenzung des  Körpers  theinehmen. 

Bau   und    Entwicklungsverhältnisse    der  Muskeln, 
welche   mit  den  bei  Cnidariern    geschilderten    viel-      Fig.    3.      Quer- 
fach Aehnlichkeit  besitzen,  flnden  sich  dann  vor  Allem      schnitt  durch  die 
bei    vielen  Würmern  (Annulaten),    wo    in    den    ein-      MuskuLatur    der 
fachsten  Fällen  der  epitheliale  oder  wenigstens  epithe-        c e r i a nUi iis°" 
loide  Charakter  der  Muskeln  noch  unmittelbar  hervor-        membrana- 
tritt.      Oft   bestehen    hier    die   Längsmuskelfasern    aus        ceus.    (Nach 
einkernigen,    langgestreckten    Zellen,    die    nach    Art  Hertwig.) 

eines  einschichtigen  Epithels  angeordnet  sind.  Jede 
Muskelzelle  lässt  isolirt  oder  im  Querschnitt  zwei  deutlich  von  einander 
gesonderte  Substanzen  erkennen,  einen  nach  innen  gekehrten  plasma- 
tischen Theil  und  die  nach  aussen  liegende  contractile  Substanz, 
welche  sich  wieder  als  aus  zahlreichen,  glatten  Fibrillen  zusammen- 
gesetzt erweist,  die  parallel  der  Längsaxe  der  Zelle  verlaufen  und, 
wie  Querschnitte  zeigen,  in  Form  von  nebeneinander  liegenden  Platten 
angeordnet  sind,  wodurch  die  contractile  Schicht  zart  radiär  gestreift 
erscheint.  Jeder  einzelne  Streifen  entspricht  einer  Reihe  hinter  ein- 
ander liegender  Fibrillen  von  punktförmigem  Querschnitt  (Fig.  4  B). 

Sehr  wechselnd  gestaltet  sich  bei  verschiedenen  Wurmmuskeln 
die  gegenseitige  Anordnung  der  contractilen  Schicht  und  des  Bildungs- 
plasmas (Sarkoplasma).  Im  einfachsten  Falle  bildet  jene  eine  ebene 
Platte,  welcher  das  kern  führende  Plasma  wie  eine  Kappe  aufsitzt 
(Fig.  4:  B).  Es  entspricht  dieses  Verhalten,  wobei  die  Fibrillen  der 
Längsmuskeln  in  ihrer  Gesammtheit  einen  unter  der  Hypodermis 
gelegenen  Cylindermantel  bilden,  offenbar  der  einfachen,  ebenen,  nicht 
gefalteten  Muskellamelle  vieler  Cnidarier.  Hier  wie  dort  macht 
sich  dann  bei  weiterer  Massenzunahme  der  contractilen  Substanz  eine 
Faltenbildung  und  zwar  bei  den  Nematodenmuskeln  an  jeder  einzelnen 
Zelle  bemerkbar,  indem  sich  die  ursprünglich  ebene  flache  Fibrillen- 
schichte  zu  einer  Rinne  einkrümmt,  deren  nach  dem  Coelom  geöftnete 
Höhlung    von    dem  Bildungsplasma    erfüllt  wird.     So  lassen  sich  nach 


10 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


Rhode  (8)  besonders  schön  in  der  Längsmuskelschichte  von  B  r  a  n  c  h  i  - 
obdella   parasitica    alle    Uebergangsformen    zwischen  dem    schon 


Fig.  4.     A  Branchiobdella    parasidica;    Quei-schnitt   durch    die    Muskulatur    der 

Körperwand,     a  coelomyare,    b  holomyare  Muskelzellen.      £  Querschnitt    einer    platy- 

myaren  Muskelzelle  von  Ascaris  lumbricoides.     (Nach  Rhode.) 


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Fig.  5.  A  Querschnitt  eines  Theiles 
der  Muskelschichte  von  Ascaris 
lumbricoides;  «  blasig  sich  vor- 
wölbendes Sarkoplasma,  ß  contrac- 
tile  Substanz,  y  Zellkern.  (Nach  R. 
Leukart.)  —  B  Isolirte  Muskel- 
zelle einer  Ascaride  des.  Aales. 
(Nach  Hertwig.) 


Fig.  5  J. 

geschilderten  „platymyaren"  Zustand  der  Muskelzellen, 
wobei  die  contractile  Fibrillenschichte  eine  ebene  Platte 
bildet  und  dem  „coelomy ar en"  mit  rinnenförmiger  Fi- 
brillenschichte finden.     (Fig.  4  Ä  a.) 

Von  diesen  letzteren  bis  zu  völlig  geschlossenen,  röhren- 
förmigen Muskelzellen,  bei  welchen  das  Bildungsplasma 
einen  axialen,  von  den  contractilen  Fibrillen  allseitig  um- 
hüllten Strang  bildet,   ist   wieder  nur    ein   kleiner  Schritt. 

Unter  den  coelomyaren  Muskelzellen  beanspruchen 
die  Längsfasern  des  Hautmuskelschlauches  der  A  s  c  a  r  i  d  e  n 
besonderes  Interesse.  Hier  ist  der  Process  der  Umwallung 
des  Sarkoplasmas  von  Seite  der  contractilen  Substanz  an 
den  Enden  vieler  Muskelzellen  bereits  vollzogen,  während 
in  der  Mitte  das  (von  einem  Sarkolemm  umhiülte)  Bildungs- 
plasma mit  dem  Kern  bruchsackförmig  sich  vorwölbt  und 
im  Vergleich  zur  Fibrillenschichte  oft  riesige  Dimensionen 
erreicht  ( Fig.  5  A,  B).  Legt  man  durch  die  Mitte  einer  solchen 
Zelle  einen  Querschnitt,  so  bildet  die  contractile  Substanz 
eine  hufeisenförmige  Figur,  aus  deren  Innerem  das  Sarko- 
plasma hervorquillt;    Querschnitte   unweit    der  Enden   der 


Fiff.  5  £. 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  W 

Faser  zeigen  dagegen  nur  einen  Ring  aus  contractiler  Substanz,  der 
einen  spaltförmigen ,  mit  Plasma  erfüllten  Raum  umschliesst.  In 
manchen  Fällen  ist  die  Aehnlichkeit  in  der  Anordnung  der  Fibrillen 
auf  dem  Querschnitt  der  Längsmuskelschichte  der  Würmer  und  der 
gefalteten  Muskellamelle  gewisser  Cnidarier  ausserordentlich  auffallend. 

Die  Muskelzellen  der  meisten  übrigen  Würmer  stimmen  in  Bezug 
auf  ihren  feineren  Bau  mit  den  eben  geschilderten  Formen  überein 
und  zeigen  entweder  platymyaren ,  coelomyaren  oder  am  häufigsten 
röhrenförmigen  Typus.  Unterschiede  machen  sich  nur  hinsichtlich 
der  Grösse  und  Anordnung  der  einzelnen  Muskelelemente,  sowie  in 
Bezug  auf  die  relative  Massenentwicklung  des  Sarkoplasmas  und  der 
contractilen  Substanz  geltend.  Der  iibrilläre  Bau  der  Letzteren  ist  nicht 
in  allen  Fällen  leicht  zu  erkennen,  scheint  aber,  wie  insbesondere  die 
Untersuchungen  von  Rhode  (1.  c.)  über  die  Muskulatur  der  Chaeto- 
poden  gezeigt  haben,  ganz  allgemein  verbreitet  zu  sein.  Die  einzelnen 
Primitivfibrillen  werden  von  dem  Bildungsplasma  der  Muskelzelle  nur 
selten  in  einfacher  Schichte,  sondern  meist  in  grosser  Zahl  ausgeschieden 
und  liegen  dann  zu  Platten  angeordnet,  welche,  wie  schon  erwähnt 
wurde,  die  contractile  Schichte  auf  dem  Querschnitt  radiär  gestreift 
erscheinen  lassen. 

Während  auf  einer  höheren  Stufe  der  Entwicklung  der  feinere 
Bau  der  einzelnen  Muskelzelle  bei  den  Annulaten  keine  wesentliche 
Veränderung  erleidet,  herrscht  andererseits  eine  grosse  Mannigfaltig- 
keit in  Bezug  auf  die  Anordnung  der  Muskelelemente  zu  Bündeln  und 
Strängen.  Durchwegs  finden  wir  auch  hier  wieder  das  Princip  der 
Oberflächenvergrösserung  durch  Faltenbildung  vertreten,  und  wie  bei 
der  einzelnen  Muskelzelle  durch  Einkrümmung  der  ursprünglich  ebenen 
Fibrillenplatte  zu  grösserer  Massenentwicklung  der  contractilen  Sub- 
stanz Raum  geschaffen  wird,  so  sehen  wir  den  gleichen  Process  sich 
wiederholen  bei  der  Gruppirung  einer  Vielheit  von  Muskelzellen  in 
der  Längsmuskelschichte  zahlreicher  Annulaten.  So  zerfällt  dieselbe 
bei  Lumbricus  agricola  durch  secundäre  Einfaltung  in  Bündel, 
welche  so  zu  sagen  im  Groben  den  Bau  der  coelomyaren  Muskel- 
zellen wiederholen.  Wie  hier  die  Gesammtheit  der  Fibrillen,  so 
umschliesst  bei  den  Längsmuskel  bündeln  von  Lumbricus  die 
Gesammtheit  der  Muskelzellen  einen  centralen  Hohlraum,  so  dass, 
da  die  einzelnen  Falten  durch  bindegewebige  Scheidewände  von 
einander  getrennt  sind,  gesonderte  jMuskel s t r ä n g e  („Muskel- 
kästchen")  entstehen.  Bei  anderen  Lumbriciden  ist  die  Anordnung 
der  Muskelzellen  innerhalb  eines  „Kästchens"  eine  noch  viel  regel- 
mässigere,  indem  dieselben  in  einfacher  Schichte  den  centralen  Spalt- 
raum umgeben,  wodurch  der  Querschnitt  federförraig  erscheint.  Die 
dem  Federschaft  entsprechende  Axe  ist  beiderseits  besetzt  von  den 
schief  gestellten  Querschnitten  der  Myoplasten,  welche  die  einander 
zugekehrten  Flächen  je  zweier  Kästchen  bedecken  (Fig.  6).  Im 
Gegensatze  hierzu  bilden  die  Längsmuskelfasern  bei  Lumbricus 
olidus  und  vielen  Oligochneten  eine  regellos  geschichtete  oder  durch 
bindegewebige  Septen  in  kleinere  Gruppen  getheilte  Masse,  wie  dies 
auch  bei  den  Hirudineen  der  Fall  ist.  Der  ursprüngliche,  epitheliale 
Charakter  der  Längsmuskeln  erscheint  daher  in  diesen  und  anderen 
Fällen  nicht  mehr  deutlich  in  der  Anordnung  der  einzelnen  Elemente 
ausgeprägt;  im  Uebrigen  stimmt  der  Bau  der  einzelnen  Zelle  in  allen 
Fällen   überein.      Stets   lässt    sich    eine    contractile,    fibrillär    gebaute 


12  ßa^i  und  Structur  der  Muskeln. 

Rindenschichte  und  eine  ganz  oder  theilweise  von  jener  umschlossene 
Marksubstanz  (Sarkoplasma)  unterscheiden.  Der  meist  in  Einzahl  vor- 
handene Kern  liegt  entweder  seitlich  an  der  Kante  oder  Fläche  der 
einzelnen  Faser  oder  (wie  besonders  bei  den  Hirudineen)  im  Innern 
des  centralen  Plasmaraumes. 

Wie  bei  den  Cnidariern  die  Faltenbildung  der  Muskellamelle  eine 
oft  ganz   ungemeine  Entwicklung    erreicht  und  sehr  complicirte  Quer- 
schnittsbilder bedingt,    so    ist  dasselbe  auch  bei  vielen  Annulaten  der 
Fall,  und  es  zeigen  insbesondere  manche  Polychaeten  bei  geringer 
Grösse  der  einzelnen  platt  bandförmigen  Mus- 
,-  '  :---<^-*  |v'  kelzellen  eine  ausserordentlich  verwickelte  An- 

;  '  Ordnung  derselben,  so  dass  der  Querschnitt  der 

V  Längsmuskelschicht   nicht  selten  geradezu  ein 

dendritisches  Aussehen  gewinnt  (Fig.  7). 


^J 


Fig.  6.  Querschnitt  durch  die 
Körpermuskulatur  von  Liim- 
bricus     maximus.       (Nach  Fig.   7.      Querschnitt   der   Körpermuskulatur  von 

Rhode.)  Protula  protensa.     (Nach  Ehode.) 

Als  ein  in  mehrfacher  Hinsicht  besonders  bemerkenswerthes  Bei- 
spiel von  Muskelzellen  wirbelloser  Thiere  sollen  hier  noch  die  Muskel- 
fasern der  Cephalopoden  genannt  werden,  deren  eigenthümlicher 
Bau  in  neuester  Zeit  von  Bai lowitz  eingehend  untersucht  wurde (10). 

Isolirt  stellen  die  Elemente  der  Cephalopodenmuskeln  1 — 2  mm 
lange  schmale,  etwas  platte  Spindelfasern  dar,  in  deren  Mitte  ein  läng- 
lich ovaler  Kern  liegt.  Stets  Lässt  sich  bei  stärkerer  Vergrösserung 
leicht  wieder  die  rings  geschlossene  Rindensubstanz  und  ein  axialer 
Sarkoplasmastrang  nachweisen.  Die  erstere  zeigt  eine  sehr  zierliche 
Structur,  indem  bei  hoher  wie  bei  tiefer  Einstellung  je  ein  System 
paralleler  und  in  entgegengesetzter  Richtung  schräg  verlaufender 
Linien  erscheint,  welche,  wie  eine  mittlere  Einstellung  zeigt,  direct 
in  einander  übergehen  (Fig.    8).     Dass  es  sich  hier  um  den  optischen 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  13 

Ausdruck  von  Fasern  handelt,  welche  „in  continuirlichen  Spiraltouren 
in  der  Rinde  um  die  Marksubstanz  herumlaufen",  ergiebt  sich  besonders 
aus  der  Untersuchung*  theilweise  zerrissener  Muskelzellen.  Je  nach 
dem  Contractionszustande  ist  die  Steilheit  der  Windungen  eine  sehr 
wechselnde.  Bei  sehr  flachen  Muskelzellen  scheinen  beide  Streifen- 
systeme fast  in  derselben  Ebene  zu  liegen,  und  es  entsteht  so  das 
Bild  der  „doppelschräggestreiften"  Muskelfasern,  wie  sie 
zuerst  von  Schwalbe  (11)  bei  mehreren  Evertebraten  beschrieben 
wurden. 

Schwalbe  deutete  diese  Bilder  in  der  Weise,  dass  er  eine  Zu- 
sammensetzung der  Fasern  aus  rhombischen  „Fleischtheilchen"  an- 
nahm,  während   später  Engel  mann  (12)   die   fibrilläre    Structur 


V/%''.'ffh  ^"^^'tll^Jk 


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Fig.  8.     Segment  einer  isolirten  Muskelzelle  Fig.  9.     Querschnitte  durch  Muskel- 

von   Sepiola   Kondeletii   bei  hoher  (a),  zellen   aus   dem   Mantel   von  Ele- 

mittlerer  (ä)  imd  tiefer  (c)  Einstellung.    (Nach  done  moschata.     (Nach  Ballo- 

Ballowitz.)  witz.) 

nachwies  und  annahm,  dass  „jede  doppelschräggestreifte  Faser  aus 
zwei  Systemen  von  Fibrillen  besteht,  welche  in  zur  Faseroberfläche 
parallelen,  concentrischen  Lagen  entgegengesetzt  gewundene  Schrauben- 
linien um  die  Faseraxe  beschreiben."  Weitere  Aufschlüsse  über  den 
feineren  Bau  dieser  Muskelzellen  geben  Querschnitte ,  die  zunächst 
erkennen  lassen,  dass  das  Verhältniss  zwischen  Rinden-  und  Mark- 
substanz bei  verschiedenen  Elementen  eines  und  desselben  Schnittes 
ein  ausserordentlich  wechselndes  ist.  „Die  Rinde  kann  schmal  sein 
und  dann  einen  grösseren  axialen  Hohlraum  umschliessen ;  andere  oft 
unmittelbar  daneben  liegende  Querschnitte  zeigen  einen  breiten  Ring 
mit  engem  centralen  Lumen"  (verschiedene  Contractionszustande).  Fast 
bei  allen  Muskelzellen  macht  sich,  besonders  an  gefärbten  Querschnitten, 
eine  radiäre  Streifung  der  Rindensubstanz  ganz  ähnlicher  Art  bemerk- 
bar, wie  sie  bereits  oben  an  den  Muskelzellen  der  Nematoden  und 
Annulaten  geschildert   und   als  Ausdruck   fibrillärer  Structur  gedeutet 


14  Bau  und  Structur  der  Muskeln. 

wurde  (Fig.  9).  Dunkle  und  helle  Querlinien  wechseln  in  regel- 
mässigster  Weise  ab ,  und  es  lässt  sich  nun  leicht  zeigen ,  dass  die 
ersteren  den  Querschnitten  durch  die  Spiralfasern  entsprechen,  welche 
demzufolge  eine  platt  bandförmige  Gestalt  haben  müssen,  während  die 
ungefärbten  Hadien  eine  Zwischensubstanz  darstellen.  Es  ergiebt  sich 
dies  unter  Anderem  aus  dem  Umstände,  dass  sich  bei  Einstellung  auf 
einen  dickeren  Querschnitt  einer  Muskelfaser  „die  dunklen  Linien  alle 
gleichzeitig  in  derselben  Richtung  gleich  den  Speichen  eines  Rades 
verschieben",  wenn  man  den  Tubus  des  Mikroskopes  allmählich  senkt. 
Es  bilden  demnach  die  Spiralfasern  der  Rinde  platte  Bänder,  welche 
in  einfacher  Lage  die  ganze  Dicke  der  Rinde  durchsetzen.  Wie 
man  ohne  Weiteres  sieht,  entsprechen  diese  Spirallamellen  den  radiären 
„Fibrillenplatten"  der  oben  beschriebenen  Muskelformen  und  zeigen 
demgemäss  auch  noch  eine  weitere  Zusammensetzung  aus  ganz  homo- 
genen, feinen  Fibrillen,  den  eigentlichen  Elementarbestandtheilen  der 
Rinde.  Von  grossem  Interesse,  besonders  mit  Rücksicht  auf  später 
noch  zu  erwähnende  Thatsachen,  ist  das  Verhalten  der  in  Rede 
stehenden  Muskelfasern  gegen  Goldchlorid.  Es  färbt  sich  dabei  unter 
gewissen  Umständen  nur  das  axiale  Sarkoplasma,  sowie  die  durch 
andere  Farbstoffe  nicht  tingirbare,  die  Windungen  der  Spirallamelle 
von  einander  trennende  Zwischensubstanz.  Jene  selbst  bleibt  völlig 
ungefärbt.  Wie  aus  den  noch  folgenden  Mittheilungen  hervorgehen 
wird,  handelt  es  sich  dabei  um  eine  ganz  allgemein  bei  allen  Muskeln 
nachweisbare  Reaction  der  plasmatischen  Grundsubstanz  (des  Sarko- 
plasmas)  einerseits,  der  contractilen  Fibrillen  andererseits,  welche  ein 
werthvolles  Mittel  für  das  Studium  der  Vertheilung  beider  innerhalb 
einer  Faser  an  die  Hand  giebt.  Man  wird  auf  Grund  dieser  Reaction 
nicht  fehlgehen,  wenn  man  die  natürlich  ebenfalls  in  Form  einer 
Spirallamelle  angeordnete  interfibrilläre  Zwischensubstanz  als  identisch 
mit  dem  axialen  Sarkoplasma  bezeichnet,  so  dass  die  Rindensubstanz 
wohl  auch  in  anderen  Fällen  nebst  den  contractilen  Fibrillen  noch 
Bildungsplasma  enthalten  dürfte,  worauf  ja  die  radiäre  Streifung  am 
Querschnitt  unmittelbar  hinweist.  Leider  fehlt  es  aber  noch  sehr  an 
ausgedehnteren,  vergleichenden  und  mit  den  neueren  Hülfsmitteln  an- 
gestellten Untersuchungen  über  den  feineren  Bau  der  Evertebraten- 
muskeln. 

In  seiner  Abhandlung  über  protoplasmaarme  und  protoplasma- 
reiche Muskelfasern  theilt  KnoU  (13)  zahlreiche  Beobachtungen  mit, 
welche  sich  allerdings  weniger  auf  den  feineren  Bau  der  Rinden- 
substanz als  auf  das  Verhältniss  zwischen  Sarkoplasma  und  contractiler 
Substanz  sowohl  der  Muskeln  von  Wirbellosen  wie  auch  von  Wirbel- 
thieren  beziehen.  Es  lässt  sich  aus  denselben  unschwer  erkennen, 
dass  ein  ähnlicher  Bau ,  wie  er  eben  von  den  Cephalopodenmuskeln 
geschildert  wurde ,  auch  den  Muskelzellen  der  L  a m  e  1 1  i  b  r  a  n  c  h  i  e  r 
und  Gas trop öden  in  sehr  vielen  Fällen  zukommt,  wie  dies  ja  auch 
aus  Angaben  früherer  Forscher  (H.  Fol.  14)  gefolgert  werden  durfte. 
Von  besonderem  Interesse  erscheint  das  Vorkommen  doppelschräg- 
gestreifter  (in  manchen  Fällen  auch  quergestreifter)  Muskelzellen  im 
Schliessmuskel  der  Lamellibranchier.  Hier  hatte  bereits 
vor  BalloAvitz  Fol  eine  ganz  analoge  Auffassung  der  betreffenden 
Structui'verhältnisse  geltend  gemacht,  indem  er  die  contractile  Hülle 
der  Spindelzellen  als  aus  Fibrillen  bestehend  beschrieb,  welche  um  die 
plasmatische  Axe  spiralig  verlaufen.    Das  Bild  der  quadratischen  oder 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


15 


rhombischen  Feldchen ^  welches  Schwalbe  zuerst  beschrieb,  führt 
Fol  wie  Ballowitz  einfach  auf  die  Kreuzung  der  beiden  Hälften 
der  Spiraltouren  und  zwar  der  oberhalb  und  unterhalb  der  Axe  ge- 
legenen zurück.  Auch  Rhode  (1.  c.)  vertritt  die  gleiche  Anschauung 
hinsichtlich  der  doppelschräggestreiften  Muskelzellen  mancher  Würmer 
(Arenicola,  Nephthys).  In  sehr  vielen  Fällen  lässt  der  Schliess- 
muskel  der  Muscheln  auf  dem  Durchschnitt  schon  makroskopisch  zwei 
deutlich  durch  ihre  Färbung  und  ihr  sonstiges  Aussehen  von  einander 
gesonderte  Theile  erkennen ,  deren  einer  meist  weisslich,  sehnenartig, 
der  andere  glasig  durchscheinend,  grau  oder  gelblich  erscheint.  Die 
spindelförmigen    Muskelzellen 

des  ersteren  zeigen  meist  eine  ,    -  _  ,- 

sehr  ausgeprägte  Längsstrei- 
fung  als  Ausdruck  librillärer 
Structur,  während  die  gestreck- 
teren platten  Fasern  des  grauen 
Antheiles  sehr  häufig  doppel- 
schräggestreift  sind  (O  s  t  r  e  a , 
Anodonta  etc.)  und  in  man- 
chen Fällen  sogar  eine  sehr 
deutliche  Querstreifung  erken- 
nen lassen  (Lima,  Pecten). 
Wie  später  gezeigt  werden  soll, 
hängen  diese  Unterschiede  der 
Structur  mit  Verschiedenheiten 
der  Function  eng  zusammen, 
und  es  darf  wenigstens  für 
Pecten  und  Lima  als  sicher- 
gestellt betrachtet  werden,  dass 
die  raschen  klappenden  Bewe- 
gungen, welche  diese  Thiere 
auszuführen  im  Stande  sind, 
durch  den  quergestreiften  An- 
theil  des  Schliessmuskels  be- 
werkstelligt werden,  während 
die  glatten  Fasern  die  dauernde, 
anhaltende  Schliessung  vermit- 
teln. Die  Beziehung  der  Quer- 
streifung der  Muskeltibrillen 
zur  Raschheit  der  auszuführen- 
den Bewegung  zeigt  sich  auch 
schon  bei  den  Epithelmuskeln 
die     verhältnissmässig     raschen 


m 


Fig.  10.  Querschnitte  durch  Muskelzelleii  von 
Mollusken.  (Nach  Knoll.)  a  Herz  von  Aply- 
sia  punctata;  b  Herz  von  A  p  1  y  s i a  1  i m a - 
cina;  c  Buccalmasse  von  Carinaria;  d 
Längsansicht  von  Muskelzellen  aus  der  Buccal- 
masse von  Aplysia  punctata. 


der  C  n  i  d  a  r  i  e  r ,  wo ,  Avie  erwähnt, 
Schwimmbewegungen  der  Medusen 
durch  quergestreifte  Fibrillen  vermittelt  werden.  Von  dem  gleichen 
Gesichtspunkte  aus  erklärt  sich  dann  auch  die  fast  ausnahmslos 
vorhandene  Querstreifung  der  Muskelzellen  des  Herzens  und  des 
Kauapparates  der  Mollusken,  die  sich  im  Uebrigen  hinsichtlich  des 
feineren  Baues  der  einzelnen  Elemente  den  bereits  geschilderten 
Muskelzellformen  unmittelbar  anschliessen.  Immer  handelt  es  sich  um 
spindelförmige,  oft  verzweigte,  geflechtbildende  Faserzellen,  welche, 
wie  besonders  Querschnitte  zeigen,  meist  sehr  reich  an  axial  gelegenem 
Sarkoplasma  sind,  das  von  der  schmalen  fibrillären  Rindenschichte  in 
der  Regel  vollkommen,  bisweilen  aber  auch  nur  theilweise  umschlossen 


IQ  Bau  und  Struetur  der  Muskeln. 

wird ;  diese  letztere  zeigt  am  Querschnitt  wieder  sehr  häufig  eine  deut- 
liche radiäre  Streifung  als  Ausdruck  einer  regelmässigen  Abwechslung 
von  Schichten  iibrillärer  Substanz  und  Sarkoplasma.  Bisweilen  um- 
geben die  Fibrillen-(bündel  ?)  nur  wie  ein  einfacher  Kranz  von  Punkten 
den  Plasmakörper  der  Zelle  (Fig.  10,  «);  in  anderen  Fällen  wieder 
scheint  die  Rindenschichte  einer  zusammenhängenden  Lage  contractiler 
Substanz  zu  entsprechen  (Fig.  10,  c). 

Wie  eine  auch  nur  oberflächliche  Vergleichung  von  Querschnitten 
durch  die  Herz-  oder  Kaumuskulatur  einerseits,  den  Schliess-  beziehungs- 
weise Fussmuskel  der  Lamellibranchier  und  Gastropoden  andererseits 
zeigt,  gestaltet  sich  das  Massenverhältniss  zwischen  dem  Sarkoplasma 
und  den  von  diesem  ausgeschiedenen  contractilen  Fibrillen  in  beiden 
Fällen  sehr  verschieden.  Während  bei  den  Zellen  des  Schliess-  und 
Fussmuskels  das  Bildungsplasma  gegenüber  der  contractilen  Substanz 
vergleichsweise  sehr  in  den  Hintergrund  tritt,  überwiegt  dasselbe  um- 
gekehrt bei  den  Herz-  und  Kaumuskeln  sehr  beträchtlich.  Man  kann 
mit  Knoll,  der  diese  Unterschiede  zuerst  systematisch  untersuchte, 
die  ersteren  als  plasmaarme  (helle)  den  plasmareichen  Herz- 
und  Kaumuskelzellen  gegenüberstellen,  welche  deshalb  auch  viel  weniger 
durchsichtig,  „trüb"  erscheinen.  Fragen  wir,  ob  auch  diesem  Structur- 
verhältniss,  wie  der  Querstreifung  eine  functionelle  Bedeutung  zu- 
kommt, so  kann  die  Antwort  nach  den  vergleichenden  Untersuchungen 
von  Knoll  nicht  zweifelhaft  sein ,  besonders  wenn  man  später  noch 
zu  erwähnende  Beobachtungen  an  den  Muskeln  höherer  Thiere  mit 
berücksichtigt.  Es  ist  von  vornherein  klar,  dass  die  Herz-  und  Buccal- 
muskulatur  eine  viel  grössere  und  vor  Allem  eine  viel  anhaltendere 
Arbeitsleistung  zu  vollbringen  hat,  als  der  nur  zeitweise  thätige 
Schliessmuskel  der  Muscheln  oder  die  Fussmuskulatur  der  Schnecken, 
und  da  nun,  wie  noch  gezeigt  werden  soll,  das  Bildungsplasma  zur 
Ernährung  der  contractilen  Substanz  in  nächster  Beziehung  steht,  so 
erscheint  das  erwähnte  Verhalten  leicht  begreiflich.  Eine  wesentliche 
Unterstützung  erhält  diese  Anschauung  durch  die  Thatsache,  dass  die 
Muskeln  des  zur  Flosse  umgestalteten  und  in  fortdauernder  Bewegung 
begriffenen  Fusstheiles  von  Carinaria  sowohl  hinsichtlich  der  Quer- 
streifung der  Fibrillen  wie  bezüglich  des  grossen  Sarkoplasmareich- 
thumes  dem  Typus  der  trüben,  plasmareichen  Muskelzellen  entsprechen, 
welcher  für  die  Buccal-  und  Herzmuskeln  der  Mollusken  charakte- 
ristisch ist.  Hand  in  Hand  mit  dem  grösseren  Sarkoplasmareichthum 
geht  oft  eine  mehr  oder  weniger  ausgeprägte  Färbung  der  be- 
treffenden Muskelelemente.  So  erscheint  der  Herzmuskel  wie  auch 
die  Kaumuskeln  vieler  Mollusken  gelblich,  röthlich  oder  selbst  tiefroth 
gefärbt. 

Ein  besonders  interessantes  Beispiel  plasmareicher  Muskelzellen 
bieten  unter  den  Wirbellosen  nach  den  Untersuchungen  von  Knoll  die 
dünnen  Muskelbänder  des  Mantels  der  Salpen  (S.  maxima,  afri- 
cana,  Pelesii).  Die  quergestreiften,  cylindrischen  Fasern  sind  sehr 
lang  und  an  den  Enden  kegelförmig  zugespitzt.  Sie  lassen  sich  der 
Länge  nach  sehr  leicht  in  feinere  Bündel  und  Fibrillen  spalten,  was 
durch  das  ausserordentlich  reichlich  vorhandene,  die  Fibrillenkomplexe 
trennende  Sarkoplasma  bedingt  wird,  welches,  wie  Querschnitte  zeigen, 
nicht  nur  in  der  Axe  jeder  Faser  eine  mächtige  Ansammlung  bildet, 
sondern  sich  auch  in  breiten,  radiären  Zügen  nach  der  Peripherie  er- 
streckt und    so    die    contractile,    deutlich    fibrilläre    Rindenschichte    in 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  17 

einzelne  Blätter  sondert  (Fig.  11).  Es  Aviederholt  sich  hier  gewisser- 
maassen  im  Groben  dasselbe  Structurverhältniss  wie  bei  der  nur  sehr 
viel  feiner  radiär  gestreiften  Rindenzone  der  Muskelzellen  vieler 
Würmer  und  Mollusken.  Ein  sehr  wesentlicher  Unterschied  zeigt  sich 
aber  darin,  dass  hier  die  contractile  Substanz  nicht  wie  in  allen  bisher 
besprochenen  Fällen  ausschliesslich  an  der  Peripherie  der  Bildungs- 
zelle zur  Ausscheidung  gelangt,  sondern  auch  innerhalb  des  centralen 
Sarkoplasma  in  Form  von  grösseren  und  kleineren  Bündeln  („Muskel- 
säulchen").  Es  bilden  in  Folge  dessen,  wie  KnoU  richtig  hervor- 
hebt, die  Salpenrauskeln  gewissermaassen  einen  Uebergang  zu  gewissen 
Arthropoden  und  Wirbelthiermuskeln,  bei  welchen  ähnliche  Structur- 
verhältnisse  vorkommen.  So  zeigen  beispielsweise  Querschnitte  durch 
die  H  e  r  z  m  u  s  k  u  1  a  t  u  r  von  C  r  u  s  t  a  c  e  e  n  in  Bezug  auf  die  An- 
ordnung des  Sarkoplasmas  und  der  contractilen  Substanz  oft  eine  un- 
verkennbare Aehnlichkeit  mit  den  eben  beschriebenen  Salpenmuskeln ; 
nur  ist   das    Sarkoplasma   womöglich    noch    reichlicher  entwickelt  und 


Fi^.  11.     Querschnitte  durch  zwei  Mus-  Fig.  12.     Querschnitt  durch  eine  Muskel- 

kelzellen   von    Salpa    Pelesii.      (Nach  zelle    aus    dem    Herzen    vom    Hummer. 

Knoll.)  (Nach  Knoll.) 

liegen  alle  „M  u  s  k  e  1  s  ä  u  1  c  h  e  n"  im  Innern  der  Bildungszelle  (Fig.  12). 
Der  ungewöhnliche  Plasmareichthum  erklärt  sich  in  beiden  Fällen 
wieder  durch  die  fortdauernde,  angestrengte  Arbeitsleistung,  welcher 
diese  Muskeln  genügen  müssen. 

Aus  dem  Vorstehenden  ergiebt  sich  mit  völliger  Bestimmtheit, 
dass  zwischen  den  verschiedenen  Muskelzellen  bei  Wirbellosen  (von  den 
Muskelfasern  der  Arthropoden  abgesehen)  keine  sehr  durchgreifenden 
Unterschiede  in  Bezug  auf  den  Bau  bestehen,  ein  Satz,  der,  wie  die 
folgenden  Mittheilungen  zeigen  av erden,  für  die  Muskeln  der  Wirbel- 
tliiere  nicht  in  gleicher  Weise  gilt,  indem  hier  die  Muskeln  der  vege- 
tativen ( Irgane  sich  in  der  Regel  sehr  auffallend,  sowohl  in  Bezug  auf 
die  morphologischen  wie  physiologischen  Eigenschaften  von  den  Ele- 
menten der  animalen  Muskeln  unterscheiden.  Hiermit  deckt  sich  im  All- 
gemeinen die  gewöhnliche  Eintheilung  der  Wii'belthiermuskeln  in  zwei 
Hauptgruppen,  die  der  glatten  und  quergestreiften.  Die  letzteren 
werden  ihrer  grösseren  Länge  wegen  gewöhnlich  als  Muskelfasern  im 
engeren  Wortsinne  den  einkernigen  Muskel z eilen   gegenübergestellt. 

Den  glatten  und  quergestreiften  einkernigen  Muskelzellen  der 
Evertebraten  schliessen  sich  naturgemäss  die  glatten  Muskeln  und  die 
quergestreiften  Zellen  des  Herzmuskels  der  Wirbelthiere  an,  mit  jenen 
darin  übereinstimmend,  dass  es  sich  meist  um  kürzere,  fast  immer 
einkernige  Elemente  von  mehr  oder  weniger  deutlich  fibrillärer  Structur 
handelt,  welche,  von  der  Fläche  gesehen,  in  der  Mehrzahl  der  E^älle 
gestreckt  spindelförmig  erscheinen.  Was  speciell  die  glatten  Muskel- 
Biedermann,  Elektrophysiologie.  2 


18 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


Zellen  anlangt,  so  sind  dieselben  nicht  selten  faserartig  in  die  Länge 
gezogen,  ohne  dass  damit  jedoch  eine  Kei-nvermehrung  verbunden 
wäre. 

Im  Querschnitt   erscheinen    die  contractilen  Faserzellen    entweder 
rundlich    (wenn    einzeln    verlaufend) ,     oder    durch    gegenseitige    Ab- 
plattung   der    dicht   gedrängten  Elemente  polygonal    und    nicht  selten 
bandförmig  abgeflacht.     Der  länglich-ovale,  oft  „stäbchen- 
'  iT'fi  förmige"  Kern    liegt   stets    in    der  Mitte   der  Zelle,    um- 

•  ,.'|.l'|l  geben  von    einer    etwas    reichlicheren    Ansammlung    von 

Bildungsplasma.  Sofern  die  bereits  erwähnte  fibrilläre 
Structur  gut  zu  erkennen  ist,  was  nicht  immer  zutrifft, 
erscheinen  die  Fibrillen  als  eine  sehr  grofse  Zahl  feiner, 
der  Längsaxe  der  Zellen  parallel  verlaufender  glatter 
cylindrischer  Fasern,  welche,  wie  besonders  Querschnitte 
zeigen,  in  eine  homogen  erscheinende  Masse  (Sarkoplasma) 
eingebettet  liegen  (Fig.  13).  Während  aber  in  fast  allen 
bisher  betrachteten  Fällen  (bei  Wirbellosen)  die  Fibrillen 
nur  einen  Theil  des  Querschnittes  ausfüllen,  das  Sarko- 
plama  ringförmig  oder  segmental  umfassend,  erscheinen 
die  Fibrillen  auf  dem  Querschnitt  der  glatten  Muskel- 
zellen der  Vertebraten  in  der  Regel  gleichmässig  über 
die  ganze  Fläche  vertheilt.  Es  muss  als  im  höchsten 
Grade  wahrscheinlich  bezeichnet  werden,  dass  Fibrillen 
auch  in  den  Fällen  vorhanden  sind,  wo  sie  bisher  nicht 
dargestellt  werden  konnten.  Bisweilen  sind  sie  aber  aus- 
serordentlich deutlich  und  erscheinen  beispielsweise  an 
Fasern  des  Froschmagens  nach  Engelmann  (12)  auf  dem 
Querschnitt  bei  scharfer  Einstellung  als  kleine  kreisrunde 
Punkte  oder  Felder,  die  beim  Heben  und  Senken  des 
Focus  nicht  verschwinden.  Die  Zahl  der  Fibrillen  am 
Querschnitt  nimmt  nach  dem  Ende  jeder  Zelle  hin  ab, 
was  durch  die  ungleiche  Länge  derselben  bedingt  wird 
(Engelmann).  Da  die  Fibrillen  sehr  stark  licht- 
brechend sind ,  so  lassen  sich  die  Grenzen  benachbarter 
Zellen  bisweilen  kaum  erkennen,  so  dass  stellenweise  eine 
solche  Muskelschichte  eine  einzige  ungegliederte  Fibrillen- 
masse zu  sein  scheint. 

In  der  Mehrzahl  der  Fälle  kommen  glatte  Muskel- 
fasern nicht  vereinzelt,  sondern  in  der  mannigfaltigsten 
Weise  zu  Strängen,  Bündeln,  Häuten  oder  auch  umfang- 
reichen Massen  verbunden  vor.  Oft  findet  man  dünnere 
und  lockere  Muskel-Zellenbündel  zu  einem  Muskel- 
netze mit  engeren  oder  weiteren  Maschen  vereinigt ,  indem  benach- 
barte Züge  sich  durch  Aeste  mit  einander  verbinden.  Als  Beispiel 
eines  solchen  schönen  und  weitmaschigen  Netzes  kann  die  Blase  der 
Amphibien  dienen.  Bei  W^irbellosen  findet  man  ähnliche  Geflechte 
einkerniger  Muskelzellen  beispielsweise  i  m  H  e  r  z  e  n  v  o  n  M  o  1 1  u  s  k  e  n , 
in  den  Saugfüsschen  der  Echinodermen  u.  a.  a.  O. 

Als  Beispiel  des  Baues  einer  aus  glatten  Muskelzellen  bestehenden 
Haut  kann  am  besten  der  Darm  d  e  r  W  i  r  b  e  1 1  h  i  e  r  e  dienen,  avo  die 
Anordnung  der  Faserzellen  in  zwei  sich  rechtwinklig  überkreuzende 
Schichten,  die  für  die  meisten  Hohlorgane,  in  deren  Wand  glatte 
Muskelfasern  eingelagert  sind,  charakteristisch  ist,    besonders  deutlich 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  19 

hervortritt.  Aehnliche  Verhältnisse,  cl.  i,  eine  Längs-  und  Ringmuskel- 
schichte, innerhalb  deren  die  Faseraxen  senkrecht  zu  einander  stehen, 
£ndet  man  z.  B.  auch  am  Ureter  und  unter  den  Wirbellosen  im 
Hautmuskelschlauch  der  Würmer. 

Eine  Frage,  welche  physiologisch  von  grösstem  Interesse  ist,  be- 
trifft die  anatomischen  Beziehungen  benachbarter  Muskel- 
zelle n  zu  einander. 

Eine  Reihe  physiologischer  Thatsachen  schien  auf  das  Vor- 
handensein einer  directen  Leitung  von  Zelle  zu  Zelle  innerhalb  ge- 
wisser glattmuskeliger  Theile  hinzuweisen,  lange  bevor  von  Seite  der 
Histologen  dieser  Vermuthung  eine  begründete  Unterlage  gegeben 
wurde.  Der  Gedanke  eines  directen,  durch  Plasmabrücken  vermittelten 
Zusammenhanges  benachbarter  zelliger  Elemente,  der  ja  keineswegs 
neu  ist,  hat  bekanntlich  auf  botanischem  Gebiete  in  neuerer  Zeit  in 
-ausgedehntester  Weise  Bestätigung  gefunden,  und  auch  in  der  thierischen 
Histologie  sind  solche  Zellbrücken  an  gewissen 
Objecten  seit  langem  bekannt  (Stachel-  oder 
Riffzellen  im  Epithel).     Ganz  analoge  Structur-  '  '" 

Verhältnisse  wurden    in  neuerer  Zeit  auch    an  ^ 

glatten    Muskelzellen  beschrieben.     Auf  Quer-  '^ 

schnitten  durch  dichtere  Anhäufungen  derselben  ^^^^        »v        .,, 

scheinen    die    einzelneu    Elemente    durch    eine  ''^-  ^,,_ 

homogene  Kittsubstanz  mit  einander  verbunden 

zu  sein,  die  sich  ihren  Reactionen  zufolge  pig-.  14  oiRi-^c-hnitt  durch 
ähnlich  der  Kittsubstanz  der  Endothelien  ver-  die  Blasenmuskulatur  der 
hält.  Unter  Anwendung  bestimmter,  sehr  Ratte  (Zellbrücken).  (Nach 
schonender  Härtungsmethoden  lässt  sich  jedoch  C.  de  Bruyne,  Arch  de  Biol. 
1     •      ,      1  -TT  ..  1  1    r     j-  par  van  Beneden.  Tom. XII. 

bei  starker  Vergrosserung  erkennen,    dals  die      '■  1892.) 

einzelnen   Zellen    in   der  Querrichtung   mittels 

zarter    protoplasmatischer  Brücken  zusammenhängen,    zwischen    denen 

kleine   Intercellularräume  übrig  bleiben  (Fig.  14), 

So  häufig  eine  starke  Pigmentirung  einkerniger  Evertebraten- 
muskeln  vorkommt,  so  selten  findet  sich  eine  ausgeprägtere  Färbung 
bei  glatten  Muskelzellen  der  Wirbelthiere.  Zu  erwähnen  wären  etwa  die 
lebhaft  rothen  Muskeln  im  Muskelmagen  vieler  Vögel,  sowie 
auf  der  anderen  Seite  die  dicht  mit  schwarzbraunen  Pigraentkörnchen 
erfüllten  contractilen  Faserzellen  in  der  Iris  vieler  Fische 
und  Amphibien,  welchen  diese  nach  Steinach  ihre  directe  Reiz- 
barkeit durch  Licht  verdankt  (15). 

Einer  besonderen  Erwähnung  bedürfen  gewisse  sehr  eigenthüm- 
liche  Bilder ,  welche  man  von  glatten  Muskelfasern  erhält,  die  im  Zu- 
stande der  Contraction  fixirt  wurden.  Es  zeigt  sich  dann  oft  eine  sehr 
regelmässige  Querstreifung,  welche  offenbar  durch  Contractionswülste 
bedingt  wird,  die  in  regelmässigen  Abständen  einander  folgen. 

Nachdem  Heidenhain  schon  1861  (16)  auf  derartige  Bilder 
aufmerksam  gemacht  hatte,  wurde  neuerdings  auf  diese  leider  nicht 
genügend    untersuchten  Verhältnisse  von  Dräsche  hingewiesen  (17). 

Er  beobachtete  an  der  contrahirten  Muskelhülle  der  Giftdrüsen 
des  Salamanders  eine  sehr  regelmässige  Querstreifung  der  einzelnen 
Faserzellen,  welche  dadurch  bedingt  war,  dass  durch  die  Contraction 
an  der  unteren  Fläche  der  Muskeln  sehr  zierliche  Querleistchen,  ja 
grosse,  quergestellte  Flügel  auftreten !  Ich  selbst  habe  ähnliche,  sehr 
zierliche  Bilder  an  den  Muskelzelleu  eines  Katzendarmes,    der   in  Al- 

9* 


20 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


koliol  gehärtet  worden  Avar,  beobachtet.  Mir  machten  die  überaus 
scharf  begrenzten,  stark  lichtbrechenden  Querwülste  durchaus  den 
Eindruck  von  lokalen  (fixirten)  Contractionswellen,  wie  solche  auch  an 
gewissen  quergestreiften  Muskeln  unter  Umständen  hervortreten. 

Wenn  man  von  den  Arthropoden  absieht,  welchen  einkernige 
Muskelzellen  überhaupt  gänzlich  zu  fehlen  scheinen,  so  bildet,  wie  die 
oben  gegebene  Uebersicht  lehrt,  der  Befund  echter  Querstreifung,  d.  i, 
eine  Abgliederung  jeder  einzelnen  Fibrille  in  Schichten  von  verschie- 
denem optischen  Verhalten  bei  Muskelzellen  eine  relativ  seltene  Aus- 
nahme, auf  deren  physiologische  Bedeutung  schon  oben  hingewiesen 
wurde. 

Die  viel  häufigere  Schrägstreifung  steht  nach  dem  bereits  hierüber 
Bemerkten  mit  der  Querstreifung  in  keinerlei  Beziehung,  indem  hier- 
bei die  einzelne  Fibrille  keine  weitere  Differenzirung  erkennen  lässt 
und  nur  durch  Richtung  und  Verlauf  von  dem  gewöhnlichen  Verhalten 

abweicht.  Den  von 
Knoll(18)  neuerdings 
vertretenen  Anschau- 
ungen ,  wonach  zwi- 
schen Schrägstreifung 
und  echter  Querstrei- 
fung keine  scharfen 
Grenzen  bestehen  wür- 
den, so  dass  eine  und 
dieselbe  Zelle  in  ver- 
schiedenen Zuständen 
bald  schräg,  bald  quer- 
gestreift erscheinen 
kann ,  vermag  ich 
mich  zunächst  nicht 
anzuschliessen,  glaube 
vielmehr,  dass  es  sich 
hierbei  theils  um  ver- 
schiedene Contrac- 
tionszustände  benach- 
barter Fibrillen,  theils 
um  Verschiebungen  derselben  in  der  Längsrichtung  (Verwerfungen) 
handelt. 

Auch  bei  den  Wirbelthieren  kommen  im  entwickelten  Zustande 
quergestreifte,  ein-  oder  zweikernige  Muskelzellen  nur  ausnahmsweise 
vor,  so  insbesondere  im  Herzmuskel  und  in  einer  sehr  eigenthümlichen 
Entwickelung  im  Endocard  der  Wiederkäuer,  des  Pferdes, 
Schweines  und  anderer  Säugethiere,  sowie  gewisser 
Vögel.  In  Bezug  auf  die  Form  stimmen  die  Elemente  des  Herzmuskels 
entweder  im  Allgemeinen  mit  den  spindelförmigen,  glatten  Faserzellen 
überein  (Fische,  Amphibien),  obschon  sie  vielfach  Unregelmässigkeiten 
(Verzweigung  und  Ausläufer)  zeigen,  oder  sie  bilden  ziemlich  unregel- 
mässige, cylindrische  oder  abgeplattete  Zellkörper,  welche  an  ihren 
Enden  durch  kurze,  breite,  mit  ebenen  Flächen  aneinanderstossende 
Fortsätze  mit  benachbarten  Zellelementen  zu  netzförmig  anastomosiren- 
den  Balken  verbunden  sind  (Säuger,  Vögel,  Reptilien)  (Fig.  15).  In 
manchen  Fällen  lassen  diese  letzteren  noch  deutlich  die  sie  zusammen- 
setzenden Zellen  erkennen  (Fische,  Amphibien),  während  dieselben  an- 


Fig.   15.     Isolirte   Herzmuskelzellen.     A   vom  Menschen, 
B  von  Kana  temporaria.     (Nach  Schiefferdecker.) 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


21 


dere  Male  kaum  mehr  oder  nur  schwer  zu  erkennen  sind.  Die  er- 
wähnten Haupttypen  der  Herzmuskelzellen  sind  durch  zahlreiche  Ueber- 
gangsformen  mit  einander  verbunden.  Wie  in  vielen  Fällen  die  glatten 
Muskelelemente,  so  bilden  auch  die  Herzmuskelzellen  unter  einander 
nicht  nur  im  anatomischen,  sondern  auch  im  physiologischen  Sinne 
ein  Continuum,  indem  sie  ähnlich  wie  viele  Epithelien  und  Endo- 
thelien  durch  eine  mit  AgNOg  sich  schwärzende  Kittsubstanz  mit 
einander  verbunden  sind,  durch  welche  hindurch  die  Leitung  des 
Erregungsvorganges  möglich  scheint.  Ob  es  sich  auch  hier  um  ein 
ähnliches  Anastomosiren  benachbarter  Zellkörper  durch  Plasma- 
brücken handelt,  wie  bei  manchen  glatten  Muskeln,  ist  nicht  sicher 
festgestellt. 

Sehr  bemerkenswerth  ist  die  Gruppirung  der  quergestreiften 
Fibrillen  innerhalb  des  Bildungsplasmas  (Sarkoplasraas),  welches  stets 
sowohl  bei  Wirbellosen,  wie  bei  Wirbelthieren  in  reichlicher  Menge 
vorhanden  ist,  so  dass  die  übrigens  membranlosen  Herzmuskelzellen 
zu  den  ausgeprägt  „trüben"  Muskeln  zu  rechnen  sind,  womit  ihre 
leichte  Spaltbarkeit  in  Fibrillen  und  Fibrillenbündel  im  Einklang  steht. 
In  Bezug  auf  das  Querschnittbild  schliessen  sich  die  Herzmuskelzellen 
der  Fische  und  Amphibien  denen  der  Cephalopoden  und 
Gastropoden  unmittelbar  an,  indem  jede  Spindelzelle  eine  reich 
entwickelte  centrale,  den  Kern  einschliessende  Marksubstanz  erkennen 
lässt,  welche  von  der  aus  quergestreiften,  oft  in  radiären  Blättern  an- 
geordneten Fibrillen  bestehenden  Rindensubstanz  rings  umschlossen 
wird. 

Aehnlich  verhält  es  sich  auch  bei  dem  Herzen  der  Reptilien 
und  Vögel,  und  erscheint  insbesondere  die  contractile  Rinde  bei  den 
letzteren  oft  sehr  deutlich  radiär 
gestreift.  Auch  bei  den  Säuge - 
thieren  gehören  die  Elemente  des 
Herzmuskels,  der,  wie  auch  bei  den 
anderen  Wirbelthieren,  immer  tief- 
roth  gefärbt  ist,  zu  den  protoplasma- 
reichsten des  Körpers.  In  Bezug 
auf  die  Vertheilung  von  Sarkoplasma 
und  Fibrillen  gleichen  dieselben  sehr 
den  oben  beschriebenen  Spindelzellen 
der  Salpen,  indem  die  Fibrillenbündel 
(„Muskelsä  ulchen"  Kölliker's) 
nicht  nur  eine  periphere  Rindenzone 
bilden,  sondern  auch  innerhalb  des  centralen,  kernführenden  Axenplasmas 
zur  Entwickelung  gelangen  (Fig.  16).  Das  letztere  bildet  um  den 
etwa  in  der  Mitte  der  einzelnen  Zelle  gelegenen  Kern  in  der  Regel 
eine  etwas  grössere  Anhäufung.  Die  Fibrillenbündel  (Muskelsäulchen) 
zeigen  bei  verschiedenen  Säugethieren  eine  ziemlich  wechselnde  Form 
und  Anordnung.  Sehr  häufig  sind  auch  hier  wieder  radiär  gestellte 
bandförmige,  im  Querschnitt  streifenförmige  Fibrillenbündel,  wie  solche 
zwar  häutig  bei  Evertebraten ,  sowie  gewissen  Muskeln  niederer 
Wirbelthiere  vorkommen,  bei  Säugethieren  aber  nur  im  Herzen  ge- 
funden werden  (Meerschweinchen,  Hund).  Oft  findet  man  neben  diesen 
bandförmigen  Muskelsäulchen,  welche  eine  im  Querschnitt  radiär  ge- 
streifte blättrige  Rindenzone  bilden,  auch  noch  prismatische  von  rund- 
lichem   oder    polygonalem    Querschnitt    im  Centrum    der   Muskelzelle 


Fig.  16.     Querschnitte  einiger  Muskel- 
zellen    des    Herzens     vom    Menschen. 
(Nach  Kölliker.) 


22  Bau  und  Structur  der  Muskeln. 

(Pferd,  Mensch)  (Fig.  16).  In  manchen  Fällen  endlich  (Schwein) 
kommen  überhaupt  nur  solche  vor. 

Im  Allgemeinen  wird  man  daher  sagen  müssen,  dass  mit  Rück- 
sicht auf  ihre  histologische  Structur  die  Herzmuskelzellen  eine  grosse 
Aehnlichkeit  mit  gewissen  Muskeln  niederer  Thiere,  bezüglich  Ent- 
wickelungsstadien  quergestreifter,  vielkerniger  Muskelfasern  zeigen 
und  daher  in  gewissem  Sinne  einen  embryonalen  Charakter  behalten 
haben.  Dies  gilt  nicht  nur  hinsichtlich  des  so  sehr  in  die  Augen 
fallenden  Reich thums  an  Sarkoplasma,  sondern  auch  in  Bezug  auf 
Form  und  Anordnung  der  „Muskelsäulchen"  und  die  centrale  Lage 
des  Zellkernes. 

Mit  den  quergestreiften  einkernigen  Muskelzellen  der  Evertebraten 
bilden  die  Elemente  des  Herzmuskels  der  Wirbelthiere  und  besonders 
der  Säuger  den  Uebergang  zu  der  in  anatomischer  und  physiologischer 
Beziehung  höchststehenden  Form  der  Muskeln,  den 


(Quergestreiften  yielkernigen  Muskelfasern, 

welche  unter  den  Wirbellosen  nur  den  Arthropoden  zukommen,, 
bei  den  sämmtlichen  Wirbelthieren  dagegen  die  Hauptmasse  der 
Muskeln  bilden. 

Man  nahm  früher ,  hauptsächlich  gestützt  auf  die  Vielkernigkeit 
der  quergestreiften  Muskelfasern,  vielfach  an,  dass  dieselben  einer  ver- 
schmolzenen Reihe  mehrerer  Zellen  (einem  „Syncytium")  entsprechen,, 
doch  ist  es  gegenwärtig  als  sichergestellt  anzusehen ,  dass  j  e  d  e  r 
quergestreiften  Muskelfaser  der  Werth  einer  einfachen 
Zelle  zukommt,  indem  sie  sich  aus  einer  solchen  entwickelt.  Ur- 
sprünglich handelt  es  sich  um  einkernige,  spindelförmige  Zellen,  die 
sich  ungemein  verlängern,   während  der  Kern    sich  durch  wiederholte 

Theilung  rasch  vermehrt.  In  der 
Folge  wachsen  dann  die  langen 
vielkernigen  Spindeln  nicht  nur 
noch  weiter  in  die  Länge,  son- 
dern sie  Averden  auch  viel  breiter, 
während  sich  aus  dem  an  Masse 
zunehmenden  Protoplasma  (Sar- 
koplasma) allmählich  querge- 
streifte Fibrillen  differenziren, 
Fig.  17.  Embryonale  Muskelfasern;  a  vom  welche,  wie  sich  Schon  in  der 
Menschen,  *  vom  Frosch.     (Nach  Kölliker.)       Längsansicht,     besser     nOch     auf 

Querschnitten  erkennen  lässt,  zu- 
nächst nicht  die  ganze  Dicke  der  Fasern  durchsetzen ,  sondern  stets 
oberflächlich  als  eine  röhrenförmige  Scheide  oder  (wie  bei  manchen 
niederen  Wirbelthieren)  in  Gestalt  eines  seitlich  gelegenen  Segmentes 
angeordnet  sind,  so  dass  das  kernführende  Bildungs(Sarko-)plasma  wie 
in  einem  Canal  oder  in  einer  Rinne  eingeschlossen  liegt  (Fig.  17).  E& 
besteht  somit  ein  ganz  ähnliches  Verhältniss  zwischen 
dem  letzteren  und  den  ausgeschiedenen  Fibrillen  vorüber- 
gehend, wie  es  bei  den  zeitlebens  einkernigen  Myo  plasten 
der  Mehrzahl  der  Evertebrate  n  dauernd  gefunden  wird. 
Im  Verlaufe  der  Entwickelung  nimmt  die  Anfangs  ausserordentlich 
dünne   periphere  Schicht  von  Fibrillen   auf  Kosten    des  Sarkoplasmas 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  23 

mehr  und  mehr  an  Masse  zu,  so  dass  schliesslich  in  der  Regel  das 
umgekehrte  Verhältniss  wie  im  Beginn  besteht,  indem  die  Fibrillen 
die  Hauptmasse  der  völlig  entwickelten  Muskelfaser  bilden,  während 
Reste  des  Bildungsplasmas  nebst  zahlreichen  Kernen  in  wechselnder 
Menge  und  Anordnung  die  Fibrillenmasse  durchsetzen.  Jede  Faser 
stellt  dann  ein  langes ,  cylindrisch-prismatisches  Gebilde  mit  conisch 
zulaufenden  oder  abgestumpften  Enden  dar.  In  der  Regel  ungetheilt, 
kommen  auch  mehr  oder  weniger  reich  verzweigte  vielkernige  Muskel- 
fasern, ja  selbst  Netze  von  solchen  vor. 

Die  vielkernigen  quergestreiften  Muskelfasern  gehören  zu  den 
grössten  Zellen,  welche  überhaupt  vorkommen.  Schon  die  noch  ein- 
kernigen spindelförmigen  Myoplasten  menschlicher  Embryonen  von 
7 — 8  Wochen  erreichen  nach  KöUiker  eine  Länge  von  132 — 176  u 
und  wenig  später  von  mehr  als  300  {.i. 

Nach  Felix  finden  sich  unter  den  voll  entwickelten  Muskel- 
fasern solche,  die  sicher  länger  sind  als  12  cm,  wobei  zu  berück- 
sichtigen ist,  dass  die  Faser  dabei  nicht  einmal  in  ihrer  ganzen 
Länge  erhalten  war.  Die  Dicke  ist  im  Verhältniss  hierzu  sehr  gering, 
am  grössten  in  einem  früheren  Entwickelungsstadium.  So  erreichen 
nach  Felix  beim  Menschen  schon  im  dritten  Monat  die  Muskelfasern 
den  erheblichen  Durchmesser  von  13 — 19  ^w,  was  bei  älteren  Embryonen 
nur  selten  und  erst  wieder  bei  Neugeborenen  beobachtet  wird. 

Die  Länge  der  einzelnen  Primitivfasern  steht  in  keinem  regel- 
mässigen Verhältniss  zu  der  Länge  der  aus  ihnen  bestehenden  Muskeln. 
Während  man  früher  der  Meinung  war,  dass  die  Muskelfasern  in 
ihrer  Länge  im  Allgemeinen  den  gröberen  Muskelbündeln,  bezw.  dem 
ganzen  Muskel  entsprechen,  ist  es  gegenwärtig  als  sichergestellt  zu 
betrachten,  dass  besonders  in  länger en  Muskeln  zahlreiche 
Fasern  frei  enden,  also  kürzer  sind,  als  der  Gesammt- 
ni  u  s  k  e  1.  Dabei  sind  entweder  beide  freien  Enden  zugespitzt ,  die 
ganze  Faser  daher  spindelförmig,  oder  es  ist  nur  ein  Ende  frei, 
während  das  andere  abgestumpfte  mit  der  Sehne  in  Verbindung  steht. 
In  kleinen  Muskeln  besitzen  dagegen  nach  Kölliker  alle  Muskel- 
fasern die  Länge  des  Gesammtmuskels  und  enden  meist  beiderseits 
abgerundet. 

Fast  alle  quergestreiften  vielkernigen  Muskelfasern  (eine  Aus- 
nahme bilden  nur  gewisse  Arthropodenmuskeln)  besitzen  eine  deutlich 
nachweisbare  Hülle ,  das  Sarkolemma,  welches  eine  dünne  durch- 
sichtige, völlig  structurlose  Membran  darstellt,  die  den  Inhalt  des 
Primitivbündels  (Sarkoplasma  mit  den  Kernen  und  Fibrillen)  un- 
mittelbar und  dicht  umschliesst;  es  ist  daher  auch  nur  an  Stellen  gut 
sichtbar,  wo  entweder  in  Folge  von  Verletzungen  der  Faser  oder 
sonstigen  Einwirkungen  der  Inhalt  des  Muskelschlauches  sich  von 
der  Wand  zurückgezogen  oder  umgekehrt  die  letztere  sich  blasig  ab- 
gehoben hat  (durch  eingedrungenes  Wasser). 

Das  Sarkolemma,  welchem  nach  K  ö  1 1  i  k  e  r  bei  den  Wirbelthieren 
die  Bedeutung  einer  echten  Zellmembran  zukommt,  ist  schon  in 
frühen  Entwickelungstadien  der  Muskelfasern  als  ein  äusserst  zartes 
Häutchen  nachweisbar,  welches  von  Anderen  als  ein  Product  des  die 
Muskelzelle  umgebenden  Bindegewebes  angesehen  wird. 

Der  gewöhnlich  üblichen  Bezeichnung  entsprechend,  erscheinen 
die  vielkernigen  Muskelfasern  in  der  Regel  mehr  oder  weniger  deutlich 
quer,    d.  i.    senkrecht   zur  Faseraxe  gestreift,    eine  Eigenthümlichkeit, 


24  ßäii  und  Structiir  der  Muskeln. 

welche  sie  mit  manchen  einkernigen  Muskelzellen  der  Evertebraten  und 
Wirbelthiere  teilen,  und  die  auch  in  beiden  Fällen,  wie  gezeigt  werden 
wird,  auf  dieselben  Ursachen  zurückzuführen  ist. 

Fast  in  allen  Fällen  bemerkt  man  nebst  der  Querstreifung 
auch  noch  eine  auf  den  fibrillären  Bau  zurückzuführende  Längs- 
streifung,  welche  bald  sehr  fein  ist,  bald  wieder  den  Faserinhalt 
in  relativ  grobe  Bündel  theilt.  Auch  ist  das  Verhältnis«  der  Deutlich- 
keit, mit  welcher  die  Quer-  und  Längsstreifen  gleichzeitig  ausgeprägt 
erscheinen ,  bei  verschiedenen  Muskelfasern  ein  ausserordentlich 
wechselndes.  Während  in  manchen  Fällen  die  Querstreifung  kaum 
merklich,  dagegen  die  Längsstreifung  sehr  ausgeprägt  hervortritt,  be- 
obachtet man  in  anderen  Fällen  ein  gerade  gegentheiliges  Verhalten. 
Selbst  verschiedene  Stellen  einer  und  derselben  Faser  können  in  dieser 
Beziehung  ein  sehr  wechselndes  Aussehen  darbieten. 

Es  hängt  dies  im  Wesentlichen  ab  von  dem  Verhältniss 
zwischen  den  contractilen  Fibrillen  und  dem  zwisclien 
ihnen  befindlichen  Sarkoplasma,  welches,  wie  insbesondere 
neuere  Untersuchungen  gezeigt  haben,  sich  sowohl  bei  den  Muskeln 
verschiedener  Thiere,  wie  auch  bei  verschiedenen  Muskeln  einer 
Thierspecies  ausserordentlich  wechselnd  gestalten  kann.  Wie  schon 
erwähnt,  giebt  hierüber  die  Untersuchung  des  Querschnittes  den  besten 
und  sichersten  Aufsehluss.  Was  an  einem  solchen  unter  allen  Um- 
ständen auffällt,  ist  die  auch  in  der  völlig  entwickelten  Faser  un- 
gleichmässige  Vertheilung  der  Fibrillen  über  den  Querschnitt.  Es 
sind  dieselben  zu  kleinei-en  oder  grösseren  Bündeln  (Muskel- 
säulchen)  zusammengeordnet,  welche  durch  mehr  oder  Aveniger 
dicke  Scheiden  (in  der  Längsansicht  Streifen)  von  Sarkoplasma 
(Zwischensubstanz,  interfibrilläre  Substanz,  Sarkoglia) 
von  einander  getrennt  sind,  wie  dies  auch  bekanntlich  bei  vielen 
glatten  und  quergestreiften  einkernigen  Muskelzellen  der  Fall  ist.  Je 
reichlicher  das  Sarkoplasma  vorhanden  ist,  um  so  leichter  zerfällt  bei 
dem  Versuche  der  Zerfaserung  ein  Primitivbündel  in  „Muskelsäulchen'' 
d.  i.  Fibrillen b und el,  die  durch  geeignete  Mittel  noch  weiter  in 
die  eigentlichen  elementaren  Fibrillen  gespalten  werden  können. 
Wie  bei  den  einkernigen  Muskel  zellen ,  so  lassen  sich  auch  bei  den 
vielkernigen  Muskel  f a  s  e  r  n  im  Allgemeinen  zwei  verschiedene  Formen 
oder  Typen  von  „Muskelsäulchen"  unterscheiden.  Entweder  bilden 
dieselben,  wie  bei  vielen  Evertebratenmuskeln,  plattbandförmige  Bündel, 
welche  nur  aus  einer  oder  wenigen  Reihen  von  Fibrillen  zusammen- 
gesetzt sind  oder  (und  es  ist  dies  der  häufigere  Fall)  die  Bündel  er- 
scheinen cylindrisch  oder  prismatisch,  auf  dem  Querschnitt  also  kreis- 
rund oder  polygonal. 

Wenn,  wie  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  prismatische  Muskel- 
säulchen durch  eine  verhältnissmässig  geringe  Menge  von  „Zwischen- 
substanz" von  einander  getrennt  sind,  entsteht  auf  dem  Querschnitt 
das  Bild  einer  Mosaik  polygonaler  Feldchen,  welches  zuerst  von 
Cohnheim  beschrieben  wurde;  man  bezeichnet  daher  wohl  auch 
diese  Querschnitte  der  Muskelsäulchen  als  „  C  o  h  n  h  e  i  m  s  c  h  e 
Felder"  (Fig.  18  a,  h).  Ob  das  die  Muskelsäulchen  rings  einscheidende 
Sarkoplasma  auch  zwischen  die  einzelnen  Fibrillen  selbst  eindringt, 
ist  fraglich;  Rollett  bestreitet  dies,  während  Kölliker  ein  in 
äusserst  geringer  Menge  vorhandenes,  mit  dem  Sarkoplasma  identi- 
sches   Querbindemittel    annimmt,     das   jedoch    nur    bei   ganz    starken 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  25 

Vergrösserungen    erkannt  wird    und  jede  Fibrille  ihrer  ganzen  Länge 
nach  umhüllt  und  bekleidet. 

Von  diesem  letzteren  Gesichtspunkte  aus  lässt  sich  daher  jede 
Muskelfjiser  auffassen  als  ein  Bündel  von  Fibrillen,  die  durch  eine 
stellenweise  reichlicher  angehäufte  Zwischensubstanz  zusammen- 
gehalten werden,  „Je  nachdem  diese  Ansammlungen  zahlreicher  oder 
minder  häufig  sind,  sind  auch  die  Muskelsäulchen  grösser  oder  kleiner, 
schärfer  oder  schwächer  ausgeprägt."     (Kölliker.) 

Das  Mengenverhältniss  zwischen  den  beiden  Hauptbestandtheilen  des 
Inhalts  einer  Muskelfaser,  den  Fibrillen  (der  „Rhabdia"  Kühne's) 
und  dem  Sarkoplasma,  ist,  wie  schon  erwähnt  wurde,  bei  ver- 
schiedenen Thieren  und  bei  verschiedenen  Muskeln  desselben  Thieres 
ein  äusserst  verschiedenes,  und  das  Gleiche  gilt  auch  hinsichtlich  der 
Lage  der  Kerne.  Man  kann  in  dieser  Beziehung  wieder  zwei  Gruppen 
von  quergestreiften  Fasern  der  Wirbelthiere  unterscheiden,  solche 
mit   reichlich    vorhandenem    und    solche   mit   spärlichem 


^;^ 


Fig.  18.      a  Querschnitt   durch   eine  Muskelfaser  vom  Kaninchen   (Fibrillenbündel 

dunkel,     Sarkoplasma    hell).     (Nach    Kölliker.)     —     b   Querschnitt    durch    eine 

Muskelfaser  vom  Frosch;    links  sind  die  Querschnitte  der  Fibrillen  eingezeichnet. 

(Nach  Schiefferdecker.) 

Sarkoplasma.  Die  ersteren  erscheinen  in  Folge  der  gewöhnlich 
reichlich  im  Sarkoplasma  eingebetteten  „insterstiti eilen  Körnchen"  bei 
mikroskopischer  Betrachtung  in  der  Regel  ziemlich  trübe,  mit  un- 
deutlicher Quer-,  dagegen  sehr  ausgeprägter  Längsstreifung. 

Demgegenüber  erscheinen  die  plasmaarmen  Fasern  heller  durch- 
scheinend und  gewöhnlich  sehr  scharf  quergestreift.  In  ganz  dem- 
selben Sinne  haben  wir  bereits  oben  bei  Ei'örterung  des  Baues  der 
einkernigen  Muskelzellen  der  Evertebraten  und  Wirbelthiere  helle 
und  trübe,  plasmaarme  und  plasmareiche  Elemente  zu  unterscheiden 
Veranlassung  gehabt  und  insbesondere  die  Herzmuskelzellen  als  durch- 
weg „trübe"  und  plasmareich  kennen  gelernt.  Ein  besonders  typi- 
sches Beispiel  plasmareicher,  vielkerniger  Muskelfasern  von  Wirbel- 
thieren  bieten  die  Flossenmuskeln  des  Seepferdchens  (Hippo- 
campus).  Auf  dem  Querschnitt  sieht  man  ähnlich  wie  bei  den  oben 
beschriebenen  Muskeln  der  Salpen  oder  der  Muskulatur  des  Herzens 
von  Crustaceen  bandförmige  und  platte  Fibrillenbündel  (Muskel- 
säulchen) in  ziemlich  unregelmässig  verschlungenen  Gruppen  und 
Säulen  in  das  überaus  reichlich  entwickelte  Sarkoplasma  eingebettet, 
das  auch  eine  dicke  Rindenschicht  bildet,    innerhalb  deren  die  Kerne 


26 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


gelegen  sind  (Fig.  19).  Aehnliche  bandförmige  Muskelsäulchen  linden 
sich  in  den  Muskeln  der  Seitenlinie  des  Karpfens,  die  sich 
ebenso  auch  durch  eine  mächtige  Ansammlung  von  kernführendem 
Sarkoplasma    dicht    unter    dem    Sarkolemma    auszeichnen    (Fig.    20). 


Fig.  19.     Querschnitte  durch  zwei  Flossen- 
muskelfasern    von     H  i  p  p  o  c  a  ra  p  u  s ;      Ms 
Fibrillenbündel  (Muskelsäulchen),    Sp  Sarko- 
plasma.    (Nach  Eollett.) 


Fig.  20.     Querschnitte  von  Muskel- 
fasern der  Seitenlinie  des  Karpfens. 
(Nach  Kölliker.) 


-ife 


M^' 


g^^<,ieä«=>' 


Fig.  21.  a  aus  einem  Querschnitt  durch 
den  grossen  Brustmuskel  vom  Falken; 
b  aus  einem  'Querschnitt  durch  den 
grossen  Brustmuskel  der  Gans;  c  aus 
einem  Querschnitt  durch  den  grossen 
Brustmuskel  des  Haushuhns.  (Nach 
Knoll.) 


Bei  demselben  Fisch  finden  sich  ferner  auch  Muskelfasern  (Seiten- 
rumpfmuskeln),  welche  wie  manche  Herzrauskelzellen  (Mensch,  Pferd) 
eine  periphere  Schicht  von  platten ,  bandförmigen  Fibrillenbündeln 
aufweisen,  Avährend  das  Innere  von  polygonalen  erfüllt  ist;  auch  hier 
liegen  die  Kerne    in    der    die   ganze  Faser  umhüllenden  Sarkoplasma- 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  27 

schichte.    Einen  analogen  Bau  zeigen  auch  die  entsprechenden  Muskehi 
vieler  anderer  Fische. 

Bei  höheren  Wirbelthieren  zeigt  der  Querschnitt  der  Stanimes- 
muskeln  in  der  Regel  polygonale  Felder,  welche  nur  durch  geringe 
Mengen  von  Sarkoplasma  getrennt  sind  (Cohnheimsche  Felder,  Fig. 
18  a).  Doch  giebt  es  auch  hier  noch  Unterschiede,  entsprechend  den 
trüben  und  hellen  Muskeln,  der  reichlicheren  oder  spärlichen  Ent- 
wickelung  des  Sarkoplasmas.  Bei  den  Amphibien  herrschen  im  All- 
gemeinen die  hellen  Fasern  vor;  eine  Ausnahme  bildet  jedoch  die 
Kehlmuskulatur  der  Batrachier;  einen  erheblichen  Reichthum  an  Sar- 
koplasma fand  K  n  0 1 1  auch  in  den  Fasern  der  Kiefermuskeln  der 
Reptilien,  sowie  in  den  Extremitätenmuskeln  von  Lacerta  und 
Cistudo.  Umgekehrt  überwiegen  bei  den  Vögeln  bei  weitem  trübe, 
protoplasmareiche  Fasern,  die  insbesondere  die  beim  Fluge  betheiligten 
Muskeln    (Brustmuskeln) 

zusammensetzen.  Bei  dem  j  Sfjs-j:  i--  s  s  s  s  a-  s 

Haushuhn    enthalten   je-  öfffll;  Bfil  lf|j 

doch    gerade    die   Brust-  »-4'<K?*r>-\  "  °^:'^';  llr  z //ll| 

und  Rückenmuskeln  aus-  «    /5*^'"^^'^^S»  '"-IIHI//| 

schliesslich  helle  Fasern,  jMvSSl^'rOX  ^ 

die    bei    der    Gans    und 

Taube  an  gleicher  Stelle  ^  «»»••' ^- '»'-»»— .--w« 
nur  spärlich  vorkommen  »»V^<*Vm*«w5'ä»*^* 
und   beim   Falken,    dem      V^*k«  *^%*k"vi1o^ 


und   beim   Falken,    dem      V''V^"^':\ 

Sperling,  der  Dohle  ganz-        *%t^^?S^fF^ 
lieh  fehlen  (Fig.  21).  Von  >-^-  >  "^* 

den  Vögeln  aufwärts  herr- 
schen    im     Allgemeinen 

die     trüben     Fasern     vor.       y-^^  22.     Quer-  und  Längsschnitt  durch  eine  Muskel- 
Besonders    ausgezeichnet       faser   der  Fledermaus.     Sarkoplasma    hell,    Fibrillen- 
durch     ihren     Reichthum         bündel  (Muskelsäulchen)  dunkel.     (Nach  Rollett.) 
an      Sarkoplasma      fand 

Rollett  die  Elemente  der  Stammesmuskulatur  der  Fledermäuse. 
Hier  bildet  das  Sarkoplasma  auf  dem  Querschnitt  zahlreiche  grobe, 
unregelmässig  gestaltete,  nach  der  einen  oder  anderen  Richtung 
ausgezogene  Knoten ,  welche  durch  dünne ,  zarte  Plasmabalken  mit 
einander  verbunden  sind;  in  den  Zwischenräumen  liegen  die 
Muskelsäulchen  (Fig.  22  a).  Von  der  Fläche  gesehen,  erscheinen  die 
Fasern  dementsprechend  grob,  längsgestreift,  bedingt  durch  den 
Wechsel  der  Sarkoplasmaschichten  und  der  Muskelsäulchen  (Fig.  22  b). 
Bei  den  meisten  anderen  Säugethieren  finden  sich  trübe,  relativ 
plasmareiche  Fasern  vielfach  mit  hellen  untermischt  als  Bestand- 
theile  der  Stammesmuskulatur.  Durch  ihren  Reichthum  an  „trüben" 
Fasern  ausgezeichnet  fand  K  n  o  1 1  besonders  die  Augen-,  Kau-  und 
Athmungsmuskeln  (besonders  das  Zwerchfell).  Fast  in  allen  Fällen 
erscheinen  bei  Wirbelthieren  die  trüben  Fasern  schmaler  als  die 
hellen.  Dies  macht  sich  besonders  auf  Querschnitten  von  Muskeln 
bemerkbar,  welche  beide  Faserarten  gemischt  enthalten  (Brustmuskel 
der  Taube,  die  meisten  Amphibien-  und  Säugethiermuskeln)  (Fig.  21). 
Ausserdem  zeichnen  sich  in  sehrvielenFällen  die  „trüben" 
Muskelfasern  zugleich  auch  durch  eine  intensiv  rothe 
Färbung  aus,  av ä h r e n d  die  „hellen"  mehr  weiss  er- 
scheinen.    So    ist   bei    vielen  Fischen    die    „trübe"    Muskulatur    an 


28  i^au  und  Stnictur  der  Muskeln. 

den  Seitenlinien,  sowie  auch  die  Flossenmuskulatur  (und  das  Herz) 
zugleich  intensiv  roth  gefärbt,  ebenso  sind  bei  Rana  escul.  und  temp. 
die  Muskeln  der  Kehlhaut  (und  das  Herz)  trüb  und  roth. 

Die  quergestreifte  Muskulatur  der  Säugethiere  ist  bekanntlich 
zumeist  roth  und  enthält,  abgesehen  von  den  durchweg  trüben  Herz- 
muskelzellen und  den  Muskeln  der  Fledei 
und  helle  Fasern  unter  einander  vermengt. 

Sehr  auffallend  ist  der  Farbenunterschied  verschiedener  Muskeln 
besonders  bei  domesticirten  Thieren,  So  ist  die  weisse  Farbe  der  aus- 
schliesslich aus  hellen  Fasern  bestehenden  Brust-  und  Rückenmuskeln 
des  Huhnes  allbekannt  (Fig.  21  c),  während  die  Extremitätenmuskeln 
roth  und  trübe  erscheinen;  auch  beim  zahmen  Kaninchen  und  Meer- 
schweinchen finden  sich  neben  rein  rothen  (Herz ,  Zwerchfell  u.  a.) 
auch  weisse,  blasse  Muskeln;  erstere  enthalten  wieder  vorAviegend 
trübe,  letztere  vorwaltend  helle  Fasern,  doch  steht  die  Intensität  der 
Färbung  und  der  Trübung  nicht  durchweg  im  Verhältniss  zu  ein- 
ander. So  sind  bei  der  Taube  die  rothen  Flugmuskeln  vorwiegend 
aus  trüben,  die  ebenfalls  rothen  Beinmuskeln  dagegen  aus  hellen 
Fasern  zusammengesetzt,  und  auch  beim  Kaninchen  unterscheidet  sich 
in  Bezug  auf  den  Plasmareichthum  der  intensiv  rothe  Soleus  nur 
wenig  von  dem  weissen  Adductor  magnus.  Auch  bei  Triton  und 
Salamandra  ist  die  Muskulatur  der  Extremitäten  röthlich;  jedoch 
nur  in  einzelnen  Fasern  ausgeprägt  trüb;  die  übrigen  Muskeln  sind 
dagegen  wieder  weiss  und  hell.  Auch  in  Bezug  auf  Zahl  und  Ver- 
theilung  der  Kerne  würden  sich  nach  Ran  vi  er  Unterschiede  zwischen 
rothen  und  blassen  Muskelfasern  ergeben,  doch  scheint  es  sich  hier 
nach  Knoll  nicht  um  eine  durchgreifende  Regel  zu  handeln.  Er 
fand  in  allen  untersuchten  Säugethiermuskeln  „ganz  vorwaltend" 
randständige,  in  einzelnen  Fasern  aber  stets  auch  innenständige  Kerne, 
und  zwar  nicht  nur  in  rothen  Muskeln,  wie  Ran  vi  er  angiebt,  sondern 
auch  in  ausgeprägt  weissen  Fasern  (wie  z.  B.  dem  Adductor  magnus 
des  Kaninchens).  Im  Allgemeinen  entspricht  die  centrale  Lage  der 
Kerne  einem  niedrigeren  Entwickelungsgrad  der  Muskelfasern  und  man 
findet  sie  demgemäss  auch  als  Regel  nur  bei  Fischen  und  Amphibien, 
bei  welch  letzteren  sich  zahlreiche  Kerne  oft  zu  Längsreihen  ver- 
bunden finden,  Avährend  bei  den  Muskelfasern  der  Vögel  und  Säuger 
die  Kerne  meist  nur  peripher  dicht  unter  dem  Sarkolemma  liegen; 
doch  kommen,  wie  erwähnt,  auch  hier  Ausnahmen  vor. 

Innerhalb  des  Sarkoplasmas,  welches,  wie  aus  seiner  Entwickelung 
sich  ergiebt,  als  Rest  des  ursprünglichen  Bildungsplasmas  zu  denken 
ist,  liegen  die  von  K  ö  1 1  i  k  e  r  als  „interstitielle  Körner"  be- 
zeichneten Gebilde,  durch  deren  starkes  Lichtbrechungsvermögen, 
hauptsächlich ,  wenn  sie  in  grösserer  Menge  zwischen  den  Fibrillen- 
bündeln  angehäuft  sind,  die  „trübe"  undurchsichtige  Beschaffenheit 
gewisser  Muskelfasern  bedingt  wird. 

Die  grösste  Mannigfaltigkeit  in  Bezug  auf  die  Massenentwickelung 
und  das  gegenseitige  Verhältniss  zwischen  Sarkoplasma  und  Fibrillen 
bieten  die  anatomisch  und  functionell  höchststehenden  quergestreiften 
Muskelfasern  der  Arthropode  n  dar.  Mit  Rücksicht  auf  gewisse 
sehr  grosse  Unterschiede  des  Baues,  denen  zweifellos  nicht  minder 
bedeutende  funktionelle  Verschiedenheiten  entsprechen  dürften,  kann 
man  hier  zwei  Haupttypen  quergestreifter  Fasern  unterscheiden,  die 
allerdings  nur   bei  gewissen  Arthropoden,    dann    aber    stets    räumlich 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


29 


gesondert,  vorkommen.  Es  sind  dies  die  von  Kölliker  als  „typische" 
und  „atypische"  bezeichneten  Fasern,  von  denen  die  ersteren 
wesentlich  denselben  Bau  wie  diejenigen  der  Wirbelthiere  zeigen, 
während  die  letzteren,  welche  einzig  und  allein  die  Thoraxmuskeln 
der  fliegenden  Insecten  bilden,  eine  sehr  abweichende  Structur 
zeigen.  Was  zuächst  die  ersteren  anlangt,  so  kann  man  wie  bei  den 
Wirbelthieren ,  Fasern  mit  prismatischen,  im  Querschnitt 
polygonalen  Muskelsäulchen  und  andererseits  solche 
mit  bandförmigen,  platten  Fibrillenbündeln  unterscheiden. 
Ein  typisches  Beispiel  für  den  ersteren  Fall  bieten  die  Muskeln  der 
Crustaceen  (Astacus),  welche  im  Querschnitt  ein  ganz  ähnliches 
Bild  einer  Mosaik  polygonaler  Cohnheimscher  Felder  darbieten,  wie 
die  meisten  Wirbelthiermuskelfasern  (Fig.  18  h).  Immerhin  ist  jedoch  das 
Sarkoplasma  reichlicher  vorhanden  ;  es  werden  durch  dasselbe  nicht  nur 
jedes  einzelne,    sondern   auch   grössere  Gruppen    von  Muskelsäulchen 


Fig.  23.  Theil  eines  Querschnittes 
durch  eine  Muskelfaser  von  M  a j  a 
squinado;  S  .Sarkoplasma,  M 
Muskelsäulchen.  (Nach  Scliief- 
ferdecker.) 


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'■^*»35^,«*^_ 


Fig.   24.     Querschnitt  durch    eine  Muskelfaser 
von  Hydrophilus;  Sarkoplasma  hell,  Muskel- 
säulchen dunkel.     (Nach   Rolle tt.) 


eingescheidet,  indem  (ähnlich  wie  auch  bei  Muskelfasern  von  Amphi- 
bien) dickere,  meist  kernführende  Lamellen  das  Muskelinnere  durch- 
ziehen; ausserdem  bildet  das  Sarkoplasma  (wie  bei  gewissen  Muskel- 
fasern der  Fische)  auch  direct  unter  dem  Sarkolemma  eine  zusammen- 
hängende, mehr  oder  weniger  dicke  Schicht.  Sehr  schön  lässt  sich  dieser 
Bau  der  Fasern  an  den  Muskeln  von  M  a  j  a  Squinado  erkennen 
(Fig.  23).  Bei  Käfern  kommen  polygonal- prismatische  Muskel- 
säulchen sehr  häufig  vor;  dabei  kann  die  Vertheilung  des  Sarko- 
plasmas  entweder  eine  gleichmässige  sein,  oder  man  sieht  auf  dem 
Querschnitt  stellenweise  stärkere  knotige  Anhäufungen  derselben. 
Bisweilen  findet  sich  auch  ein  Strang  von  Sarkoplasma  innerhalb 
jedes  einzelnen,  in  diesem  Falle  hohlen  prismatischen  Muskelsäulchens, 
so  z.B.  bei  Hydrophilus  (Fig.  24).  Die  Kerne  liegen  bei  Käfer- 
muskeln mit  polygonalen  Cohnheimschen  Feldern  entweder  peripher 
dicht  unter  dem  Sarkoplasma  oder  (seltener)  im  Innern  eines  oder 
mehrerer,  das  Innere  der  Faser  der  Länge  nach  durchziehender  Sarko- 
plasmastränge. 


30  Bji^i  und  Structur  der  Muskeln. 

Bisweilen  findet  sich  das  Sarkoplasma  nur  in  der  Mitte  der  Faser 
innerhalb  eines  rundlichen  oder  spaltförmigen  Raumes  in  grösserer 
Menge  angehäuft,  während  die  in  diesem  Falle  sehr  breiten,  band- 
förmigen Muskelsäulchen  radiär,  wie  die  Blätter  eines  Buches  die 
centrale  kernfuhrende  Plasmamasse  umstellen  und  nur  durch  ganz 
dünne  Lamellen  von  Sarkoplasma  von  einander  getrennt  wei'den,  ein 
Verhalten ,  wie  es  auch  in  ähnlicher  Weise  von  einkernigen  Muskel- 
zellen vieler  Evertebraten  bekannt  ist.  Directe  Uebergänge  zu  diesem 
für  die  Dy ticidenmuskeln  charakteristischen  Bau  liefern  nach 
Rollett  zahlreiche  kleinere  Carabiden,  z.  B.  Brach inus  und 
Wespen,  deren  Muskelfasern  im  Querschnitt  mehr  oder  weniger 
langgestreckte  und  mit  ihren  langen  Durchmessern  radiär  gestellte 
Cohnheimsche  Felder  aufweisen.  Retzius(19)  gebührt  das  Verdienst, 
das  erwähnte  äusserst  zierliche  Querschnittbild  der  Muskelfasern  von 
Dyticus   marg.  auf  Grund    von  Goldpräparaten,    auf  die  wir  noch 

zu  sprechen  kommen,  zuerst  be- 
schrieben zu  haben  (Fig.  25). 
Seine  Deutung  der  Bilder,  der 
sich  später  Bremer,  v.  Ge- 
buchten und  R  a  m  0  n  y  C  a  j  a  1 
anschlössen,  muss  jedoch  haupt- 
sächlich auf  Grund  der  classi- 
schen  Untersuchungen  R  o  1 1  e  1 1 '  s 
entschieden  als  eine  irrthümliche 
bezeichnet  -werden.  Retzius 
fasste  die  centralen  Muskelkerne 
mit  dem  sie  umhüllenden  Sarko- 


Fig.  25.      a  Querschnitte    durch   zwei  Mus 
kelfasern  (Extremitäten)  von  D  y  t  i  c  u  s  m  ;i 


ginalis;  *  Theil  des  Quersehnittbildes  im  plasma  als  wirkliche  Zellen  (analog 
Moment  der  Einwirkung  verdünnter  Säure.  Schultze's  „Muskelkörperchen") 
Zwischen  den  primären  Sarkoplasmaleisten  ^^j^  feinsten  Fortsätzen  auf  und 
sieht  man  kieme  secundare  Leistcnen,  welche  ^      ^  ,        -\  i   i        •        i        tvt 

die     Querschnitte     einzelner    Fibrillen    ah-       ghiubte,    dass    SOlche   m   der  Mus- 
grenzen.    (Nach  v.  Lim  heck.)  kelfascr    horizontal   ausgespannte 

Fadennetze  in  regelmässigen  Ab- 
ständen über  einander  angeordnet  wären,  in  deren  Maschen  die 
Fibrillen  zu  liegen  kommen.  Dieser  Auffassung  zufolge  würden 
daher  die  Grenzen  der  Cohnheimschen  Felder,  wie  dieselben  auch 
immer  im  Einzelnen  gestaltet  sein  mögen,  nicht  als  optischer 
Ausdruck  des  an  den  Grenzen  der  Muskelsäulchen  stärker  an- 
gehäuften Sarkoplasmas  anzusehen  sein,  welches  als  ein  Netz  von 
Scheidewänden  die  ganze  Länge  der  Muskelfasern  durchsetzt,  sondern 
als  das  Flächenbild  der  über  einander  gelagerten  Fadennetze,  welche 
von  den  Zellfortsätzen  der  Muskelkörperchen  gebildet  werden  und 
in  der  Längsrichtung  nur  durch  feine  Fäserchen  mit  einander  ver- 
bunden sein  sollten.  Abgesehen  davon,  dass  das  Aussehen  optischer 
Querschnitte  einer  Muskelfaser  dann  in  verschiedenen  Tiefen  ein 
wechselndes  sein  müsste,  je  nachdem  auf  ein  Querfadennetz  oder 
zwischen  je  zwei  solche  eingestellt  wird,  indem  im  ersten  Falle 
Cohnheimsche  Felder,  im  anderen  nur  ein  System  von  Punkten,  den 
Querschnitten  der  verbindenden  Längsfasern  entsprechend,  hervor- 
treten müsste,  was  keineswegs  der  Fall  ist,  spricht,  wie  mir  scheint, 
vor  Allem  auch  eine  vergleichende  Betrachtung  der  Entwickelung 
und  des  Baues  der  entwickelten  Muskelfasern  und  -Zellen  verschiedener 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  31 

Thiere  ganz  entschieden  gegen  die  erwähnte  Auffassung.  Im  Uebrigen 
darf  auf  die  ausführliche  Kritik  von  Rollett  verwiesen  werden  (20). 

Sehr  eigenthümliche  Verhältnisse  findet  man  bei  den  Mukeln  der 
Fliegen  (Fig.  26).  Wie  der  Querschnitt  zeigt,  sind  auch  hier  die 
Fibrillenbündel  platt  bandförmig,  durchschnittlich  nur  aus  einer  Lage 
von  Fibrillen  bestehend ;  dabei  liegen  aber  dieselben  derartig  in 
Reihen  zusammengeordnet,  dass  gewissermaassen  zwei,  mitunter  auch 
drei  Röhren  entstehen,  die  in  einander  stecken  und  durch  Schichten  von 
Sarkoplasma  aussen  umgeben ,  von  einander  getrennt  und  innen  er- 
füllt werden.  In  dem  innersten  axialen  Plasmacylinder  liegen  die 
Kerne;  dementsprechend  gestaltet  sich  auch  das  Bild  des  Längen- 
schnitts einer  solchen  Faser.  Diese  wenigen  Beispiele  dürften  ge- 
nügen, um  von  der  Mannigfaltigkeit  der  Querschnittsbilder  dieser 
„typischen"  Athropodenmus- 
keln  eine  annähernde  Vorstellung 
zu  geben.  Ehe  wir  zur  Be- 
sprechung des  Baues  der  „aty- 
pische n"  Flugmuskeln  (Thorax- 
hbrillen)  der  Insecten  übergehen, 
soll  noch  kurz  die  Frage  der 
Zusammensetzung  der  „Muskel- 
säulchen"  aus  „Fibrillen"  erörtert 
werden. 

Der     directe    Nachweis     ist 
hier,    wie    bei    den    Wirbel thier-  ^  '^yZ2- 

muskeln,    vielfach    schwerer    zu 

führen,  als  bei  manchen  Muskeln  ^^S'- ^6  Querschuitte  durch  quergestreifte 
1         TH        i-  1       X  t^<    n     i.  j.  Muskelfasern     von     Musca     domestica. 

der  Evertebraten.  Selbst  unter  ^^  schwach,  B  stark  vergrössert,  Ms  band- 
den  günstigsten  Bedingungen,  wie  förmige  Muskelsäuich en  (Fibrillenbündel), 
z.B.  nach  Behandlung  mit  Gold-  »Sp  Sarkoplasma.  (NachSchiefferdecker.) 
chlorid,  wodurch  das  Sarkoplasma 

intensiv  roth  oder  schwärzlieh  gefärbt  wird,  während  die  Substanz  der 
Fibrillen  ungefärbt  bleibt,  so  dass  die  Cohnheimschen  Felder  sich  auf  das 
Schärfste  von  einander  abgrenzen,  lässt  sich  innerhalb  derselben  auch  bei 
den  stärksten  Vergrösserungen  in  der  Regel  keine  weitere  Differenzirung 
wahrnehmen;  sie  erscheinen  vielmehr  vollkommen  homogen.  Nichts- 
destoweniger gelingt  es  bei  Anwendung  geeigneter  Mittel  (Alkohol, 
Säuren),  welche  den  Zerfall  der  Muskelfasern  in  Fibrillen  begünstigen 
oder  eine  Quellung  derselben  bewirken,  diese  letzteren  auch  auf  dem 
Querschnitt  zu  sehen.  Es  erscheinen  dann  die  Cohnheimschen  Felder 
selbst  wieder  in  dicht  neben  einander  liegende  rundliche  Feldchen  ge- 
theilt  (Fig.  25  b  und  26  B).  Auch  auf  dem  Längsschnitt  lässt  sich 
unter  diesen  Umständen  die  fibrilläre  Structur  der  Muskelsäulchen 
wenigstens  stellenweise  deutlich  erkennen.  Immerhin  wird  man  aber 
zugeben  müssen,  dass  im  Vergleich  zu  der  Sicherheit,  mit  welcher  der 
Nachweis  der  Muskelsäulchen  gelingt,  die  Natur  derselben  als  Fi- 
brillenbündel ausserordentlich  viel  schwerer  zu  erweisen  ist. 

Wenn  der  Reichthum  an  Sarkoplasma  schon  bei  den  „typischen" 
Arthropodenmuskeln  gegenüber  den  meisten  Skelettmuskeln  der 
Wirbelthiere  deutlich  hervortritt,  ist  dies  doch  in  einem  noch  unver- 
hältnissmässig  höheren  Grade  der  Fall  bei  den  „atypischen" 
Thoraxmuskeln  der  Insecten,  die  man  jenen  gegenüber  als  „trübe" 
Muskeln  bezeichnen  müsste,  was  um  so  gerechtfertigter  erscheint,  als 


32  Bau  und  Structur  der  Muskeln. 

sich  dieselben  gerade  wie  die  plasraareichen  Muskelzellen  und  -fasern 
der  Wirbelthiere  und  vieler  Evertebraten ,  in  der  Eegel  auch  durch 
eine  dunklere  (röthliche  oder  bräunlich-gelbe)  Färbung  vor  den  hellen 
weisslichen  Extremitätenmuskeln  auszeichnen.  Vor  Allem  aber  sind 
die  von  Siebold  entdeckten  und  von  Kölliker  zuerst  näher  be- 
schriebenen Flugmuskeln  der  Insecten  (Thoraxiibrillen)  dadurch  aus- 
gezeichnet, dass  sie  ausserordentlich  leicht  in  sehr  breite  (1 — 4  /.i) 
Fibrillen  zerfallen,  welche  in  Lücken  des  aussergewöhnlich  reich  ent- 
wickelten Sarkoplasmas  stecken.  Dieses  letztere  ist  in  der  Regel 
reichlich  durchsetzt  von  „interstitiellen  Körnern" ,  die  oft  eine  un- 
gewöhnliche Grösse  erreichen  und  in  regelmässigen  Längsreihen 
zAvischen  den  Fibrillen  angeordnet  sind. 

Vielfach  fällt  ferner  bei  der  Untersuchung  frischer  Präparate  der 
Reichthum  an  Tracheen  auf,  welche  die  Fibrillenbündel  nicht  nur  von 
Aussen  umspinnen,  sondern,  wie  man  sich  besonders  an  Querschnitten 
zu  überzeugen  Gelegenheit  hat,  auch  ins  Innere  der  einzelnen 
Fasern  eindringen  und  sich  im  Sarkoplasma  aufs  Reichste  verzweigen. 
Innerhalb  der  Maschen  des  Tracheennetzwerkes  erkennt  man  am 
Querschnitt  leicht  eine  Mosaik  von  Kreisen,  welche  den  einzelnen 
Fibrillen  entsprechen,  deren  Durchmesser  im  Vergleich  zu  den  so 
überaus  feinen  Elementarfibrillen  der  Extremitätenmuskeln  ausser- 
ordentlich gross  ist. 

In  der  Regel  fehlt  den  als  Muskelfasern  anzusprechenden 
grösseren  Fibrillenbündeln  der  Flugmuskulatur  der  Insecten  ein 
Sarkolemma,  und  sie  werden  nur  durch  die  umgebende  lockere  Binde- 
substanz begrenzt  und  im  Innern  gestützt  durch  das  System  ver- 
zweigter Tracheen.  Die  Tracheenäste  bilden  so  gleichsam  das  Skelett 
eines  Fibrillenbündels ,  während  das  Sarkoplasma  die  Lücken  aus- 
füllt, welche  noch  zwischen  den  Fibrillen  und  den  Tracheenästen  frei 
bleiben. 

Ueberblickt  man  die  Reihe  der  mitgetheilten  Thatsachen  betreffs 
der  Massenentwickelung  des  Sarkoplasmas  im  Verhältniss  zur  eigent- 
lichen contractilen  Substanz  der  Fibrillen,  bei  einkernigen  sowohl  wie 
vielkernigen  Muskelzellen,  so  scheint  sich  im  Allgemeinen  zu  ergeben, 
dass  durch  die  sarkoplasma  reichsten  Elemente  sich 
stets  jene  Muskeln  auszeichnen,  welche  am  anhaltend- 
sten oder  am  stärksten  in  Anspruch  genommen  sind. 
(Herz-  und  Kaumuskeln  der  Evertebraten  und  Wirbelthiere,  Flossen- 
muskeln von  Hippocampus  und  anderen  Fischen,  ein  Theil  der  Seiten- 
rumpfmuskeln  der  Fische  besonders  in  der  für  die  Ortsbewegung 
wesentlicheren  Schwanzgegend.) 

Auf  einen  hierher  gehörigen  bemerkenswerthen  Fall  von  Ver- 
schiedenheit der  Schwanzmuskulatur  bei  Torpedo  und  Raja  hat 
Knoll  (13.  pag.  47)  aufmerksam  gemacht;  während  bei  ersterer 
beiderseits  je  ein  starker  Streif  rother,  trüber  Muskulatur  sich  findet, 
fehlt  dieselbe  hei  R  a  j  a  vollkommen ;  dem  entsprechen  Verschieden- 
heiten der  Schwimmbewegungen  beider  Thiere,  indem  bei  Torpedo 
der  geschmeidige  Schwanz  hierbei  heftige,  seitlich  schnellende  Be- 
wegungen ausführt,  während  dies  bei  der  Raja  nicht  der  Fall  ist.  Bei- 
spielsAveise  sind  hier  noch  zu  erwähnen  die  Flugmuskeln  der  Insecten 
und  Vögel;  die  besten  Flieger  haben  im  grossen  Brustmuskel  aus- 
schliesslich oder  fast  ausschliesslich  plasmareiche,  die  schlecht- 
fliegenden   Hühnervögel    ganz    vorwaltend    plasma  arme    Fasern  •,    in 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  33 

den  der  Ortsbewegung  dienenden  Muskeln  der  Amphibien,  Reptilien 
und  Säuger  finden  sich  plasmaarme  und  plasmareiche  Fasern  ver- 
mengt; letztere  sind  bei  den  wild  lebenden  Arten  der  Säugethiere 
hier  zahlreicher,  als  bei  den  domesticirten ,  wo  sie  bei  den 
Nagern  (Kaninchen)  in  gewissen  Abschnitten  der  Extremitäten- 
muskulatur gar  nicht  oder  nur  äusserst  spärlich  zu  finden  sind ;  bei 
den  Fledermäusen  andererseits  sind  die  Fasern  der  gesammten 
Muskeln  durchaus  plasmareich. 

So  gewinnt  es  den  Anschein ,  dass  eine  ganz  directe  Be- 
ziehung besteht  zwischen  der  Ausdauer  und  Kraft  der 
contra  etilen  Fibrillen  und  der  Menge  des  sie  umgeben- 
den Sarkoplasmas  (Knoll). 

Vermittelt  dieses,  wie  schon  Sachs  vermuthete,  wesentlich  die 
Ernährung  und  den  Stoffwechsel  der  Muskelfibrillen  (d.  i.  der  con- 
tractilen  Substanz),  so  würde  eine  solche  Beziehung  leicht  verständlich 
sein.  In  der  That  kann  nicht  bezweifelt  werden,  dass  im  Sarkoplasma 
lebhafte  chemische  Umsetzungen  stattfinden,  was  sich  unter  Anderem 
aus  dem  so  häufigen  Auftreten  von  Fetttröpfchen  in  demselben  ergibt, 
die  zu  den  obenerwähnten  interstitiellen  Körnchen  in  naher  genetischer 
Beziehung  zu  stehen  scheinen  (Knoll);  ferner  wurde  auch  gezeigt, 
dass  gewisse  Stoffe ,  welche  in  die  Muskelfasern  eindringen ,  sich  im 
Sarkoplasma  weiter  verbreiten;  so  fand  Leo  Gerlach  (21)  an 
Muskelfasern  von  Fröschen,  welche  mehrere  Tage  mit  Indigocarmin 
behandelt  worden  wanm,  eine  blaue  Sprenkelung,  besonders  nach 
dem  Sehnenende  der  Fasern  zu,  welche  durch  die  Aufnahme  von 
Indigo  bedingt  wird  und  oft  deutlich  eine  reihenweise  Anordnung 
zeigte.  Die  Reihen  blauer  Körnchen  liegen,  wie  in  anderen  Fällen 
die  Fetttröpfchen,  zwischen  den  Fibrillen  im  Sarkoplasma;  es  musste 
sonach  das  Indigocarmin  von  diesem  in  gelöster  Form  aufgenommen 
worden  sein.  Wenn  somit  dem  interfibrillären  Plasma  wahrscheinlich 
die  Rolle  zufällt,  die  Ernährung  der  contractilen  Substanz  zu  ver- 
mitteln, so  erscheint  der  grössere  Reichthum  der  am  stärksten  und 
ausdauernd  arbeitenden  Muskeln  an  Sarkoplasma  wohl  verständlich. 
In  einem  nahen  Zusammenhang  hiermit  scheint  dann  auch  die  so 
häufige  Pigmentirung  der  „trüben"  plasmareichen  Muskelfasern  zu 
stehen,  für  welche  im  Vorstehenden  genügend  Beispiele  genannt 
wurden.  Es  sei  hier  nur  erinnert  an  die  im  Gegensatz  zur  Leibes- 
muskulatur tief  purpurroth  gefärbten  Buccalmuskeln  mancher  Schnecken 
(Chiton,  Haliotis,  Limnäus,  Trochus,  Paludina,  Littorina,  Patella), 
die  Herzmuskeln  vieler  Wirbellosen  und  aller  Wirbelthiere,  sowie  die 
haemoglobinhaltigen  trüben  rothen  Muskeln. 

Zu  einer  ganz  anderen  Eigenschaft  der  Muskelelemente,  nämlich 
der  Schnelligkeit  der  Contraction,  scheint  dagegen  die  im 
Folgenden  noch  näher  zu  erörternde  feinere  Structur  der  ein- 
zelnen Elementarfib  rillen  in  Beziehung  zu  stehen.  Es  Avurde 
schon  früher  hervorgehoben,  dass  eine  deutlich  ausgeprägte  Quer- 
streifung  der  Fibrillen  bei  den  einkernigen  Muskelzellen  der 
Evertebraten  nur  ausnahmsweise  vorkommt,  und  stets  handelt  es  sich 
dann  (wie  z.  B.  bei  den  Medusen,  bei  dem  Schliessmuskel  von 
Pecten  u.  s.  w.)  um  relativ  rasch  sich  zusammenziehende  Muskeln. 
So  bemerken  auch  O.  und  R.  Hertwig  (22),  dass  das  Einzelthier  des 
Hydroidstöckchens  glatte  Muskelfibrillen  hat,  so  lange  es  als  träger 
Hydroidpolyp    am  Stocke   sitzen   bleibt;    „es    erhält   dagegen   querge- 

Biedormaun ,  Elektroijhysiologie.  3  , 


34  ^^^  ^^^  Structui-  der  Muskeln. 

streifte  Fibrillen,  wenn  es  sich  als  behende  Meduse  zu  einem  frei  be- 
weglichen Dasein  ablöst."  Es  sind  ferner  die  Muskeln  des  Tentakel- 
apparates der  Ctenop hören  für  gewöhnlich  glatt,  und  nur  die 
Seitenfäden  von  Euplocamis,  die  sich  besonders  kräftig  und  rasch 
zusammenziehen  können,  enthalten  quergestreifte  Muskeln.  Bei  den 
Wirbelthieren  besteht  dagegen  die  Hauptmasse  der  Muskulatur  aus 
quergestreiften  Fasern,  und  nur  die  träge  reagirenden  Muskeln  des 
Darmtractus,  des  Urogenitalapparates,  der  Gefässe  sind  „glatt",  d.  i. 
die  Fibrillen  lassen  keine  weitere  Differenzirung  erkennen.  Bei  den 
im  Allgemeinen  durch  die  Schnelligkeit  ihrer  Bewegungen  ausgezeich- 
neten Arthropoden  endlich  sind  sämmtliche  Muskeln  quergestreift, 
und  gerade  bei  ihnen  findet  man  auch  die  am  raschesten  zuckenden 
Fasern  (Thoraxlibrillen  der  Insecten). 

Wie  leicht  zu  zeigen  ist,  beruht  die  Querstreifung  einer  Muskel- 
zelle oder  Faser  auf  der  Querstreifung  der  einzelnen 
Fibrillen.  Jede  derselben  erscheint  der  Länge  nach  in  der  regel- 
mässigsten  Weise  gegliedert  oder  richtiger  aus  einzelnen  Schichten 
aufgebaut,  welche  nicht  nur  in  Bezug  auf  ihre  optischen  Eigenschaften, 
sondern  auch  in  ihrem  Färbungsvermögen,  sowie  überhaupt  in  ihrem 
chemischen  und  physikalischen  Verhalten  wesentliche  Untei'schiede 
zeigen.  Am  leichtesten  lässt  sich  dieser  Bau  an  den  dicken  Thorax- 
fibrillen  der  Insecten  erkennen,  sowie  an  den  als  „Muskelsäulchen" 
bezeichneten  Fibrillenbündeln ,  welche  in  Folge  der  regelmässigen 
Nebeneinanderlagerung  der  einzelnen,  oft  äusserst  feinen  Fibrillen 
genau  dieselbe  quere  Bänderung  zeigen  müssen,  wie  wir  sie  in  diesem 
Falle  jeder  Elementarfibrille  zuschreiben.  Optisch  charakterisirt  sich 
die  Querstreifung  im  Allgemeinen  als  eine  regelmässige  Aufeinander- 
folge von  hellen  und  dunklen  Schichten,  die  wie  die  Münzen  in  einer 
Geldrolle  übereinanderliegen.  Im  Einzelnen  kann  diese  Schichtenfolge 
eine  sehr  complicirte  werden,  indem  vielfach  eine  ganze  Folge  heller 
und  dunkler  Lagen  gewissermaassen  zu  einer  Einheit  höherer  Ordnung 
zusammengefasst  erscheint;  immer  jedoch  ist  der  regelmässige  perio- 
dische Wechsel  der  einzelnen  Glieder  charakteristisch.  Da,  wie  später 
gezeigt  werden  soll,  die  einzelnen  Schichten  sich  im  Zustande  der 
Ruhe  und  der  Contraction  ganz  wesentlich  verschieden  verhalten,  so 
soll  hier  zunächst  nur  die  Schichtung  im  Ruhezustande  be- 
sprochen werden. 

An  einer  erschlafften  quergestreiften  Muskelfaser  oder  einem 
Fibrillenbündel  fallen  sowohl  bei  Evertebraten ,  wie  bei  Wirbelthieren 
bei  einer  gewissen  Einstellung  breite  dunkle  Querstreifen  auf,  welche 
durch  schmälere  helle  von  einander  getrennt  werden,  die,  wie  sich  an  ge- 
eigneten Präparaten  unmittelbar  erkennen  lässt,  durch  das  regelmässige 
Aufeinandertreffen  gleichartiger  Glieder  der  die  Muskelfaser  bezw,  die 
Muskelsäulchen  zusammensetzenden  Fibrillen  zwischen  zwei  Querschnitt- 
ebenen der  Faser  entstehen.  Jedes  dunkle  Querband  erscheint  in  den 
einfachsten  Fällen  durch  eine  helle,  verwaschene,  jedes  helle  durch  eine 
dunkle  Querlinie  in  zwei  Hälften  getheilt  (Fig.  27,  I,  h  u.  Z),  in  vielen 
Fällen,  besonders  deutlich,  bei  Arthropodenmuskeln  ist  die  Gliederung 
jedoch  eine  viel  complicirtere  (Fig.  27,  II  u.  HI).  Es  empfiehlt  sich,  mit 
Rollett  eine  Buchstabenbezeichnung  für  die  einzelnen  Glieder  der  Fi- 
brillen bezw.  für  die  durch  sie  erzeugten  Querbänder  oder  Querscheiben 
der  ganzen  Faser  zu  wählen.  Die  grossen,  bei  tiefer  Einstellung  dunklen 
Abschnitte  (Q)  zerfallen  durch  das  unter  gleichen  Umständen  helle,  in 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


35 


seiner  Breite  sehr  Avechselnde  und  meist  nicht  sehr  scharf  begrenzte 
Band  (h)  in  je  drei  Abtheilungen,  die  beiden  „Quer schichten" 
und  die  schwächer  lichtbrechende  „Hensensche"  Mittelscheibe 
(h),  die  übrigens  bisweilen  überhaupt  nicht  wahrnehmbar  ist.  Als 
„Mittelschicht"  (M)  bezeichnet  S  ch  i  e f  f e  r  d  e  c k e  r  eine  sehr  schmale 
vonHeusen  zuerst  genauer  gesehene  dunkle  Linie,  welche  bisweilen 
die  vorhin  erwähnte  „Mittelscheibe"  (h)  durchsetzt,  aber  auch  nicht 
immer  sichtbar  ist.  Die  Glieder  (Q)  sind  bei  den  Arthropodenmuskeln 
in  der  Regel  länger  als  bei  den  Wirbelthieren ,  so  dass  bei  gleich- 
zeitig sichtbarer  fibrillärer  Längsstreifung  die  Muskelfassern  das  Bild 
gewähren,  als  beständen  sie  aus  langen  dunklen  Stäbchen  und  Körner- 
reihen (Fig.31).  Mit  (Z)  „Zwischenschicht"  (Zwischenscheibe 
Engelmann)  ist  der  dunkle  Streifen  bezeichnet,  welcher  die  bei  tiefer 
Einstellung   hellen   Segmente   halbirt   und   schon  von  Amici  gesehen 


III 


Fig.  27.     Schematische   Darstellung   der   Querstreifung   bei 
Käfermuskeln.     (Nach  Rollett.) 


wurde;  Krause  beschrieb  diesen  Streifen  als  „Querlinie"  und 
„Grundmembran"  seiner  noch  zu  erwähnenden  „Muskelkästchen". 
Zwischen  (Z)  und  die  beiden,  im  einfachsten  Falle  (Fig.  27,  I)  nur 
durch  diese  Schicht  getrennten  hellen  Segmente  (J)  schieben  sich 
nun  bisweilen  zwei  dunkle  Schichten  ein,  welche,  in  ihrem  Vorkommen 
sehr  inconstant,  von  Rollett  mit  dem  Buchstaben  (N)  bezeichnet 
werden  und  Engel  mann' s  „Nebenscheiben"  entsprechen  (Schema  II, 
Fig.  27). 

Endlich  kann  (Schema  III)  die  dunkle  Schicht  (N)  inmitten 
der  hellen  Segmente  (J)  auftreten,  so  dass  die  Zwischenscheibe  (Z) 
beiderseits  zunächst  von  einer  hellen  Linie  (E)  begrenzt  wird,  worauf 
(N)  und  dann  wieder  eine  helle  Linie  (J)  folgt,  so  dass  die  ganze 
Schichtenfolge  (Periode)  eines  zwischen  zwei  (Z)  eingeschlossenen 
Fasersegmentes  aus  folgenden  Lagen  besteht:  Z,  E,  N,  J,  Q,  J,  N, 
E,  Z;  der  nächst  einfachere  Fall  wäre :  Z,  N,  J,  Q,  J,  iV,  Z;  der  ein- 
fachste endlich :  Z,  J,  Q,  J,  Z.  Es  muss  vor  Allem  bemerkt  werden,  dass 
die  eine  oder  andere  der  eben  erwähnten  verschiedenen  Schichtenfolgen 
keineswegs  als  eine  charakteristische  Eigenthümlichkeit  aller  Muskel- 
fasern  einer   bestimmten  Thierart   betrachtet    werden    darf;    vielmehr 


36  Bau  uud  Structur  der  Muskeln. 

können  die  in  den  beistehenden  schematischen  Figuren  dargestellten 
drei  Zustände  der  Querstreifung  an  einer  und  derselben  Faser 
vorkommen  und  in  einander  übergehen,  wie  dies  insbesondere  an  In- 
sectenmuskeln  von  Engelmann  constatirt  wurde.  Es  handelt  sich 
dabei  in  erster  Linie  um  verschiedene  Contractionszustände  der  Fasern, 
und  zwar  entspricht  die  complicirteste  Art  der  Querstreifung  stets 
dem  Zustand  der  grössten  Erschlaffung  der  Faser.  Damit  soll  jedoch 
keineswegs  gesagt  sein ,  dass  es  specihsche  Verschiedenheiten  der 
Querstreifung  überhaupt  nicht  gäbe;  vielmehr  weisen  alle  Beobach- 
tungen darauf  hin,  dass  man,  wenn  es  möglich  wäre,  Muskelfasern 
verschiedener  Thiere  oder  verschiedene  Muskelfasern  desselben  Thieres 
in  vollkommen  erschlafftem  Zustande  oder  bei  dem  gleichen  Grade  der 
Dehnung  zu  untersuchen,  sehr  verschiedene  Bilder  erhalten  würde. 

Von  allergrösstem  Interesse  sowohl  in  morphologischer  wie  in 
physiologischer  Hinsicht  ist  das  Verhalten  der  quergestreiften  Muskel- 
fasern ,  bezw.  der  einzelnen  Fibrillenschichten  und  des  Sarkoplasmas 
gegen  verschiedene  Reagentien ,  und  es  zeigen  sich  hier  nicht  minder 
grosse  Unterschiede,  wie  in  Bezug  auf  die  optischen  Eigenschaften 
derselben.  Dies  prägt  sich  schon  sehr  deutlich  in  der  verschiedenen 
Färbbarkeit  der  einzelnen  Glieder  aus.  Behandelt  man  Querschnitte 
oder  ganze  Muskelfasern  in  geeigneter  Weise  mit  Hämatoxylin,  so 
überzeugt  man  sich  ersteren  Falls  leicht,  dass  nur  die  contractile 
fibrilläre  Substanz  der  Muskelsäulchen,  nicht  aber  das  zwischenliegende 
Sarkoplasma  gefärbt  wird.  Vergleicht  man  damit  gelungene  Häma- 
toxylintinctionen  von  Muskelfasern  in  der  Längsansicht,  so  erkennt 
man  leicht,  dass  nur  die  Glieder  Q,  N  und  Z  den  Farbstoff  aufnehmen, 
während  die  Zwischenräume  zwischen  denselben  (d.  i.  das  Sarkoplasma) 
und  die  Streifen  h,  J  und  E  nicht  oder  nur  sehr  wenig  gefärbt  er- 
scheinen. 

Es  wurde  schon  früher  erwähnt,  dass  durch  Behandlung  mit 
Goldchlorid  unter  Umständen  ein  entgegengesetztes  Resultat  erzielt 
wird,  indem  nur  das  Sarkoplasma  sich  färbt,  während  die  darin  ein- 
gebetteten contractilen  Fibrillen  gänzlich  ungefärbt  bleiben.  So 
kommt  es,  dass  auf  dem  Querschnitt,  wie  Thin,  ich  selbst, 
Ger  lach,  Retzius  u.  A.  gezeigt  haben,  die  Cohnheimschen  Felder 
farblos  innerhalb  des  bekanntlich  sehr  verschieden  gestalteten  rothen 
Netzwerkes  von  Sarkoplasma  erscheinen.  Auf  dem  Längsschnitt  ist 
das  Bild,  welches  vergoldete  Muskelfasern  gewähren,  ein  kaum  minder 
wechselndes.  Ger  lach,  welcher  blos  Wirbelthiermuskeln  untersuchte, 
beschreibt  dasselbe  als  „Sprenkelung"  ;  jede  Faser  erscheint  in  ihrer 
ganzen  Dicke  durchsetzt  von  einer  Unzahl  dunkler,  rother  bis 
schwarzer  Punkte  und  Striche,  die,  Avie  Gerlach  richtig  hervorhebt, 
stellenweise  ganz  den  Eindruck  continuirlicher,  oft  varicöser  Fasern 
machen,  so  dass  eine  Verwechselung  mit  feinsten  Nervenfibrillen  nur 
zu  nahe  liegt  (Fig.  28).  Viel  regelmässiger  gestaltet  sich  das  Goldbild 
im  Allgemeinen  bei  Arthropodenmuskeln ,  wo  man  auch  hinsichtlich 
der  Auffassung  desselben  leichter  unzweideutigen  Aufschluss   gewinnt. 

Vor  Erörterung  der  betreffenden  Thatsachen  scheint  es  jedoch 
erforderlich,  die  einfache  Säure  Wirkung  an  sich  in  Kürze  zu  be- 
sprechen, da  dieselbe  mit  der  Goldbehandlung  stets  combinirt  ist. 

Die  erste  Wirkung  einer  Behandlung  mit  ganz  schwachen  Säuren 
(Essigsäure,  Ameisensäure,  Salzsäure  u.  s.  w.)  lässt  sich  am  besten  an 
Muskelfasern    studiren,    welche    vorher    einige    Zeit  (24  Stunden)    in 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  37 

starkem  (93*^  o)  Alkohol  verweilten ;  man  sieht  dann  stets  die  ersten  und 
auffallendsten  Veränderungen  innerhalb  der  Schichtenfolge  (Q  h  Q) 
hervortreten ;  dieselbe  quillt  und  erscheint  in  Folge  dessen  am  Rande 
der  Faser  (bezw.  des  Muskelsäulchens)  hervorgewölbt;  dies  kann  bei 
Anwendung  einer  etwas  stärkeren  Säure  so  weit  gehen,  dass  die 
Schichten  N  Z  wesentliche  Veränderungen  erleiden  und  zwischen  den 
stark  verbreiterten  und  vollkommen  homogen  gewordenen  Q  in  sehr 
eigenthümlicher  Weise  gewissermaassen  eingezwängt  liegen  (Fig.  29). 
Es  kann  anderseits  in  Folge  der  raschen  Quellung  der  Schichtenfolge 
{Q  ^^  Q)  "^  einem  weiter  vorgeschrittenen  Stadium  der  Säurewirkung  auch 
bisweilen  zu  einem  geradezu  explosionsartig  eintretenden  S  chei  ben- 
zer fall  der  Muskelfasern  kommen,    indem  innerhalb  {Q)  eine  Conti- 


M     \\%        ,  f 


N 


^^   Z 


y  if    •  .;  ■  ■ 

Fig.  28.     Flächenbild   einer   vergoldeten  ^i^^fs^i«"»"""""""" 

Muskelfaser  vom  Frosch  mit  der  Gerlach-  pig.  29.    In  Scheiben  zerfallende  Muskel- 

schen  „Sprenkelung-.      (Nach    Bieder-  faser  von  Aphodius  rufipes  (Alkohol) 

mann.)  nach  schwacher  Säurewirkung;  Quellung 

der  Schichten  Q.     (Nach  Rollett.) 

nuitätstrennung  erfolgt,  wodurch  eventuell  die  Schichten  J  N  E, 
Z,  E  N  J  auseinanderweichen  und  in  Form  von  Scheiben  isolirt 
werden.  Die  Veränderungen,  welche  das  Längsschnitt-Bild  der  Muskel- 
faser unter  dem  Einfluss  stärkerer  Säureeinwirkung  erleidet,  sind  dem 
Gesagten  zufolge  theils  auf  die  durch  eine  verschiedene  Quellbarkeit 
der  einzelnen  Fibrillenglieder  bedingten  Formänderungen  der  Muskel- 
säulchen  (bezw.  Fibrillen)  zurückzuführen,  mit  welchen  Veränderungen 
des  Lichtbrechungsvermögens  Hand  in  Hand  gehen;  anderentheils 
nimmt  über  auch  das  Sarkoplasma  an  denselben  Theil,  indem  es 
seinerseits  ebenfalls  Veränderungen,  sowohl  in  Bezug  auf  seine  räum- 
liche Vertheilung,  wie  auch  hinsichtlich  seines  Lichtbrechungsver- 
mögens, erleidet. 

Da  die  einzelnen  Schichten  der  Fibrillen  bezw,  Muskelsäulchen 
in  verschiedenem  Grade  quellen,  so  dass  jedes  Element  abwechselnd 
verdickt  und  wieder  halsartig  eingeschnürt  erscheint  (eine  Form ,    die 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


Fig.  30.  Muskelfaser 
von  Opatrum  sa- 
bulosum  in  Schei- 
ben zerfallen  (Alko- 
holbehandlung). 
(Nach  Rollett.) 


übrigens  Rollett  oft  auch  noch  an  sich  contrahirenden  frischen 
Muskelfasern  beobachtete),  so  ist  leicht  ersichtlich,  dass  das  die  Muskel- 
säulchen  einscheidende  Sarkoplasma  aus  den  Zwischenräumen  der 
bauchig  anschwellenden  Abschnitte  theilweise  verdrängt  werden  muss, 
Avährend  es  sich  in  den  Zwischenräumen  der  verengten  Abschnitte  an- 
sammelt. Nimmt  man  noch  hinzu,  dass  am  gesäuerten,  gequollenen 
Muskel  die  Substanz  der  Fibrillen  (Muskelsäulchen)  hell,  das  Sarko- 
plasma aber  (wie  bei  hoher  Einstellung  auf  eine  normale  Faser)  dunkel 
erscheint,  so  erklärt  sich  das  ganze  Säurebild  sehr  einfach. 

Den  eben  geschilderten  einfachen  Säurebildern  entsprechen,  wie 
insbesondere  wieder  Rollett  gezeigt  hat,  in  allen  wesentlichen  Punkten 
die  Goldbilder,  nur  dass  bei  diesen  letzteren  die  dunkleren  Sarko- 
plasma-Knoten,  sowie  die  verbindenden  Linien  in  Folge  der  Metall- 
imprägnation  zugleich  mehr  oder  weniger   intensiv  gefärbt  erscheinen, 

während  die  Fibrillensubstanz 
ungefärbt  bleibt,  wodurch  das 
Längsschnittbild  der  Faser  natür- 
lich noch  wesentlich  an  Ueber- 
sichtlichkeit  und  Schärfe  gewinnt. 
Eine  von  der  geschilderten 
wesentlich  verschiedene  Art  des 
Scheibenzerfalls  quergestreifter 
Muskelfasern  wurde  seinerzeit 
von  B  o  w  m  a  n  n  beschrieben  und 
neuerdings  von  Rollett  an 
Insectenmuskeln  genauer  unter- 
sucht. Es  handelt  sich  dabei  um 
eine  eigen  thümliche  Wirkung 
starken  Alkohols  (93  ^lo),  in  wel- 
chem die  Muskeln  längere  Zeit 
(24  Stunden  bis  14  Tage)  ver- 
weilen müssen. 

Die  Bilder,  welche  man  au 
diese  Weise  gewinnt,  sind  sehr 
charakteristisch  (Fig.  30).  Han- 
delt es  sich  um  Fasern ,  deren 
Querstreifung  dem  einfachsten  Schema  {Z  J  Q  li  Q  J  Z)  entspricht, 
so  findet  man  als  Querscheiben  die  Schichten  {Q  h  Q)  entweder  voll- 
kommen isolirt  oder  noch  innerhalb  des  Sarkoplasmas  liegend,  das  mehr 
oder  weniger  aufgebläht,  durch  zarte,  den  Schichten  Z  entsprechende 
Scheidewände  in  einzelne,  der  Länge  nach  aneinander  gereihte  Käst- 
chen oder  Fächer  getheilt  wird,  deren  jedes  eine  Querscheibe  enthält, 
die  in  anderen  Fällen  der  Schichtenfolge  (N  J  Q  h  Q  J  N)  entspricht. 
Bemerkenswerth  ist  hierbei ,  dass  die  Schichten  (Q  h  Q)  keineswegs 
wie  bei  Säurebehandlung  gequollen,  sondern  nur  durch  Veränderungen 
innerhalb  der  Schicht  Z  von  einander  getrennt  sind.  Wo  sich  die 
Querwände  ansetzen,  erscheint  das  Sarkoplasma  eingezogen,  während 
dazwischen  die  Wände  des  Kästchens  ausgebaucht  sind. 

Bowmann  erklärte  diese  Hervorwölbungen,  die  schon  vor  dem 
endgültigen  Scheibenzerfall  sichtbar  Averden,  durch  Abheben  des  Sarko- 
plasmas von  der  Mantelfläche  seiner  „Discs",  zwischen  welchen  das- 
selbe fester  adhärire. 

Rollett  macht  dagegen  mit  Recht  darauf  aufmerksam,  dass  sich 


«iid«" 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  39 

nicht  allein  das  Sarkolemma,  sondern  mit  diesem  auch  ein  Theil  des 
Sarkoplasmas  ablöst,  welches  in  mehr  oder  weniger  dicker  Schicht  die 
Innenseite  des  ersteren  überzieht,  so  dass  man  es  vielmehr  mit  einer 
localen  Vacuolisirung  der  Muskelsubstanz  zu  thun  hat. 

Mit  RoUett,  dessen  Darstellung  des  Alkoholscheibenzerfalls  ich 
nach  eigenen  Erfahrungen  als  eine  durchaus  zutreffende  bezeichnen 
muss,  könnte  man  sich  vorstellen,  dass  der  endosmotische  Druck  der 
Flüssigkeit  in  den  anfänglich  um  den  Muskel  entstandenen,  ring- 
förmigen Canälen  sehr  stark  zunehme,  dabei  aber  die  Schicht  (Z) 
eine  besondere  Festigkeit  und  Resistenz  besitze,  während  die  daran 
stossende  Schicht  E  (bezw.  J)  besonders  weich  und  darum  auch  einer 
Maceration  durch  die  Flüssigkeit  besonders  zugänglich  ist.  Das  Re- 
sultat wird  dann  das  Freiwerden  der  zwischenliegenden  Schichten  in 
Form  einer  Scheibe  innerhalb  eines  Faches  sein,  dessen  Wände  oben 
und  unten  von  einer  Schicht  Z,  an  den  Seiten  von  der  gewölbten 
Wand  des  zuerst  entstandenen  Canales  gebildet  werden.  Eine  besondere 
Resistenz  der  Schicht  Z  ergab  sich  übrigens  schon  aus  den  Unter- 
suchungen von  Engelmann. 

Die  Bilder,  welche  durch  den  eben  geschilderten  Scheibenzerfall 
der  Muskelfasern  entstehen,  könnten,  wie  man  leicht  sieht,  zu  Gunsten 
der  von  W.  Krause  vertretenen  Anschauung  gedeutet  werden,  der 
zufolge  jedes  Muskelsäulchen  sich  aus  über  einander  geschichteten 
„Muskelkästchen"  aufbaut,  durch  deren  Nebeneinanderlagerung 
die  „Muskelfächer"  der  ganzen  Faser  entstehen;  jedes  Muskelkästchen, 
unten  von  Z,  der  „Grundmembran",  begrenzt,  enthält  in  seinem  Innern 
ausser  Flüssigkeit,  (J)  entsprechend,  ein  „Muskelprisma",  welches 
wie  die  Bo wmann-„Discs"  durch  die  Schichtenfolge  (Q  h  Q)  reprä- 
sentirt  wird;  der  librillären  Structur  der  Muskelfaser  trägt  Krause 
nur  insofern  Rechnung,  als  er  eine  Zusammensetzung  des  Muskel- 
prismas aus  „Muskelstäbchen"  (Bowmann's  „Sarcous  elements") 
annimmt,  welche  im  Sinne  der  oben  gegebenen  Darstellung  nur  den 
Fibrillenab schnitten  (Q  h  Q)  entsprechen.  Die  Unhaltbarkeit  dieser 
Theorie,  nach  welcher  nicht  die  Fibrille,  sondern  die  Muskelkästchen 
Elementarbestandtheil  der  Muskelfaser  sein  würden,  ergiebt  sich  aus 
den  bisher  mitgetheilten  Thatsachen  ganz  von  selbst,  und  ist  insbe- 
sondere auch  der  durch  Säuren  bewirkte  Scheibenzerfall  innerhall) 
der  Schicht  Q  selbst  sehr  beweisend  dagegen.  Ebensowenig  Be- 
rechtigung haben  auch  die  Muskelelemente  Merkels,  welche  von 
je  zwei  Z,  die  natürlich  als  theilbar  angenommen  werden  mussten, 
begrenzt  wären. 

Auf  zahlreiche  andere  im  Laufe  der  Zeit  geäusserte  Ansichten 
über  die  viel  umstrittene  feinere  und  feinste  Structur  quergestreifter 
Muskeln,  insbesondere  auch  auf  Bütschli's  „Wabentheorie",  hier 
näher  einzugehen,  würde  wohl  kaum  am  Platze  sein. 

Von  den  optischen  Eigenschaften  der  Muskellibrillen  und 
speciell  der  quergestreiften  war  schon  mehrfach  die  Rede.  Schon  durch 
die  Untersuchung  im  gewöhnlichen  Lichte  stellt  sich  heraus,  dass  die 
verschiedenen  Schichten  der  quergestreiften  Fibrillen  sich  durch  ein 
sehr  verschiedenes  Lichtbrechungsvermögen  auszeichnen,  und  zwar 
kann  man  mit  Bezug  auf  die  Rollett'sche  Buchstabenbezeichnung 
der  einzelnen  Glieder  sagen,  dass  alle  mit  Consonanten  bezeichneten 
Schichten  stärker  lichtbrechend  und  zugleich  doppelbrechend  (aniso- 
trop) sind,  wenngleich  in  sehr  verschiedenem  Grade. 


40  liau  und  Structur  der  Muskeln. 

Wie  schon  früher  bemerkt  wurde,  erscheinen  bei  einer  gewissen 
(tiefen)  Einstellung  die  Streifen  Z  und  iV  viel  dunkler  als  Q^  und  es 
verdankt  insbesondere  Z  seinem  sehr  starken  Lichtbrechungsver- 
mögen die  leichte  Wahrnehmbarkeit  selbst  an  sonst  wenig  günstigen 
Präparaten.  Die  mit  Vocalen  J  und  ^  bezeichneten  Schichten  sowie 
(/i)  sind  dagegen  schwächer  lichtbrechend  und  zugleich  einfachbrechend 
(isotrop);  sie  erscheinen  unter  denselben  Bedingungen,  wie  die  mit 
Consonanten  bezeichneten  Streifen  dunkel  aussehen,  hell  und  umge- 
kehrt. Die  doppelbrechende  Eigenschaft  der  quergestreiften  Muskel- 
fasern wurde  1839  von  Boeck  entdeckt,  aber  erst  von  Brücke 
1857  genauer  untersucht. 

Unter  dem  Polarisations- Mikroskop  erscheinen  bei  gekreuzten 
Nicols  die  im  gewöhnlichen  Lichte  (bei  tiefer  Einstellung)  dunklen 
anisotropen  Schichten  Z  N  und  Q  hell  glänzend,  im  dunklen  Gesichts- 
felde scharf  sich  abhebend,  während  die  isotropen  Schichten  JE  und 
h  unter  gleichen  Umständen  dunkel  bleiben.  Besonders  schöne  Bilder 
liefern  Muskelfasern  im  polarisirten  Lichte,  wenn  das  Gesichtsfeld 
durch  eine  Glimmer-  oder  Gypsplatte  von  entsprechender  Dicke  ge- 
färbt ist.  Je  nach  der  Lage  der  Faser  erscheinen  dann  die  anisotropen 
Schichten  lebhaft  complementär  gefärbt.  Licht,  welches  parallel  der 
Längsaxe  der  Fibrillen  einfällt,  wird  einfach  gebrochen.  Ein  genau 
senkrecht  zur  Faseraxe  geführter  Querschnitt  bleibt  daher  zwischen  ge- 
kreuzten Nicols  in  allen  seinen  Theilen  und  in  allen  Azimuten  dunkel 
und  ändert  ebensowenig  auf  Gypsgrund  irgendwo  die  Farbe. 

Die  anisotropen  T heile  sind  also  einaxig.  Dass  sie 
positiv  sind,  stellte  Brücke  mittels  verschiebbarer  Quarzkeile  fest; 
jede  Muskelfaser  wirkt  wie  die  Verdickung  eines  Quarzkeiles,  dessen 
Axe  sie  parallel  liegt,  ist  also  positiv  wie  Quarz. 

Neuerdings  hat  Rollett  spectral  zerlegtes,  polarisirtes  Licht  zur 
Untersuchung  verwendet  und  konnte  mittels  des  „Spectropolarisators" 
zunächst  die  schon  von  E  n  g  e  1  m  a  n  n  gemachte  Beobachtung  bestätigen, 
dass  Z  und  N  schwächer  doppelbrechend  sind,  als  die  schwächer 
lichtbrechenden  Schichten  Q.  Doch  lassen  die  ausserordentlich  klaren 
und  scharfen  Bilder,  welche  dieses  Verfahren  liefert,  keinen  Zweifel 
übrig,  dass  die  Nebenscheiben  N  ganz  ebenso  durch  doppelbrechende 
Glieder  der  Fibrillen  erzeugt  werden,  wie  Q  oder  Z.  Alle  Sarkoplasma- 
Durchgänge  erscheinen  dagegen  im  polarisirten  Licht  vollkommen 
dunkel,  so  dass  die  doppelbrechenden  Glieder  der  Muskelsäulchen  in 
der  Längsansicht  der  Faser  „wie  vollständig  isolirt  auf  schwarzem 
Grunde  in  regelmässiger  Anordnung  nebeneinanderliegen". 

Engel  mann  (2)  hat  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  Doppel- 
brechung eine  sehr  weit  verbreitete  Eigenthümlichkeit  contractilen 
Plasmas  ist  und  schon  bei  den  Protisten  wahrgenommen  werden  kann. 
So  zeigt  der  Stielmuskel  der  Vorticellen  starke  Doppel- 
brechung, und  zwar  verhalten  sich  die  Fibrillen  gerade  wie  die  Fibrillen 
quergestreifter  Muskeln  einaxig  mit  einer  der  Längsrichtung  der 
Fasern  parallelen  Axe.  Bei  Stentor  erwies  sich  übrigens  nebst  den 
Muskelfibrillen  auch  die  corticale  Plasmaschicht  in  ihrer  ganzen  Dicke 
als  doppelbrechend;  sehr  deutlich  ist  die  Doppelbrechung  auch  an  den 
Strahlen  von  Actin  o  spha  er  i  um,  und  auch  hier  wirkt  wieder  jeder 
Plasmastrahl  wie  eine  doppelbrechende  Faser  mit  einer  optischen 
Axe,  die  der  Längrichtung  der  Faser,  also  auch  im  Allgemeinen  der 
Verkürzungsrichtung    ihres    Plasmas    parallel    ist.      Durch    dieselben 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  4| 

Eigenschaften  zeichnen  sich  ferner  auch  die  Fibrillen  der  Epithel- 
muskeln von  Hydra  aus.  Sehr  bemerkenswerlh  ist  das  Verhalten 
der  doppelt  schräg  gestreiften  Muskelzellen  vieler  Wirbellosen  im  pola- 
risirten  Lichte;  nach  Engel  mann  fällt  nämlich  „die  optische  Axe 
der  Fibrillen  nicht,  wie  nach  aller  Analogie  zu  erwarten  war,  mit  der 
Längsrichtung  der  Fibrillen,  sondern  unter  allen  Umständen  mit 
der  Längsaxe  der  Muskelfasern  zusammen"  ;  stets  erscheinen  die  letz- 
teren, welchen  Winkel  auch  immer  die  Fibrillen  mit  der  Faseraxe  bilden 
mögen,  maximal  hell,  wenn  zwischen  den  gekreuzten  Nicols  die  letztere 
unter  einem  Winkel  von  45  ^  gegen  die  Polarisationsebenen  orientirt  ist. 

Es  scheint  hiernach,  dass  in  allen  Fällen,  wo  contractile  Plasma- 
theilchen  dauernd  in  einer  bestimmten  Richtung  orientirt 
bleiben,  Doppelbrechung  als  eine  charakteristische  Eigenschaft  der- 
selben hervortritt,  und  zwar  scheint  es  sich  durchwegs  um  einaxige 
Theilchen  zu  handeln,  deren  optische  Axe  mit  der  Richtung  der  Ver- 
kürzung zusammenfällt.  Die  quergestreiften  Fibrillen  würde  man  sich 
nach  Engelmann  vorzustellen  haben  als  im  Wesentlichen  aus  einer 
isotropen ,  in  der  Längsrichtung  durchlaufenden  Grundsubstanz  be- 
stehend, in  welche  in  regelmässigen,  den  metabolen  Gliedern  ent- 
sprechenden Schichten  doppelbrechende,  als  Sitz  der  verkürzenden 
Kräfte  zu  betrachtende  Theilchen  eingelagert  sind. 

Li  Kürze  soll  hier  noch  der  Veränderungen  gedacht  werden, 
welche  in  Bezug  auf  die  Querstreifung  während  der  Contraction  der 
Muskelfaser  hervortreten,  da  dieselben  fast  ebensosehr  moi-phologisches 
wie  physiologisches  Interesse  haben.  Wie  die  Beobachtung  unmittel- 
bar lehrt,  besteht  die  Formänderung  eines  Muskels  bezw.  einer  Faser 
oder  Fibrille  in  Verkürzung  und  Verdickung;  dies  gilt  natürlich  nicht 
nur  für  die  ganze  Fibrille,  sondern  für  jede  einzelne  Strecke  derselben, 
für  jede  einzelne  Querschicht. 

Richtet  man  die  Aufmerksamkeit  auf  eine  contrahirte  Stelle  einer 
lebenden  Muskelfaser,  wie  dies  besonders  bei  Insectenmuskeln  gelingt, 
über  welche  nach  dem  Herauspräpariren  oft  noch  lange  kurze  Con- 
tractionswellen  mit  relativ  sehr  geringer  Geschwindigkeit  hinziehen,  so 
überzeugt  man  sich  leicht,  dass  innerhalb  einer  solchen  Welle  sich 
zweierlei  Querstreifen  darbieten,  schmale,  die  immer  sehr  dunkel  er- 
scheinen, und  helle,  etwas  breitere.  Die  contrahirte  Faser  zeigt  daher 
im  Allgemeinen  ein  ähnliches  Aussehen,  wie  die  ruhende,  d.  i.  eine 
regelmässige  Abwechslung  dunkler  und  heller  Querbänder,  nur  sind 
die  einzelnen  Streifen  einander  viel  näher  gerückt  und  insbesondere 
die  dunklen  viel  schmaler,  als  an  der  erschlafften  Faser. 

Auch  ist  leicht  zu  erkennen,  dass  die  dunklen,  sehr  scharf  aus- 
geprägten Streifen  dort  auftreten,  wo  im  erschlafften  Muskel  sich  die 
Schichten  J  Z  J,  bezw.  J N  E  Z  E  N  J  heünden,  und  dass  die  hellen 
»Streifen  im  Wesentlichen  verkürzten  Streifen  {Q  h  Q)  entsprechen. 

Muskelfasern  von  Insecten,  welche  in  starkem  Alkohol  getödtet 
wurden,  zeigen  sehr  oft  derartige  locale  Contractionen  („fixirte  Con- 
tractionswellen"),  an  welchen  sich  dann  unter  Zuhülfenahme  von 
Färbungsmethoden  und  Reagentien  die  histologischen  Veränderungen, 
welche  die  quergestreiften  Fibrillen  beim  Uebergang  aus  dem  Ruhe- 
zustand in  die  Contraction  erleiden,  sehr  genau  feststellen  lassen. 
Da  diese,  allerdings  sehr  subtilen  Erscheinungen  doch  in  theoretischer 
Beziehung  von  grösstem  Literesse  sind,  so  muss  hier  noch  etwas  näher 
darauf  eingegangen  werden. 


42  Ba"  und  Structur  der  Muskeln. 

Wir  folgen  dabei  wiederum  den  ausgezeichneten  Untersuchungen 
Rolletts  (22). 

Betrachtet  man  z.  B.  eine  gut  fixirte  Contractionswelle  an  einer 
Faser  von  0 tiorhynchus  mastix  nach  Färbung  mit  Hämatoxylin 
(Fig.  31),  so  tritt  zunächst  wieder  ganz  überzeugend  hervor,  dass  der 
dunkelblaue  Streifen  C  des  contrahirten  Theiles  der  Faser,  Nasse's 
„Contractionsscheibe"  entsprechend,  aus  der  Umbildung  der  Schichten- 
folge {J  N E  Z  E  N  J)  hervorgegangen  ist,  also  demjenigen  Abschnitt, 

welchen    Engelmann    als     „iso- 
y^  trope",  Rollett   als    „arimeta- 

^^^^ ^^^ y^  bole"   Schicht  (a)  bezeichnet  hat. 

jHHHMtMMMiM»^'' — ^  Ii^  ^^"^  erschlafften  arimctabolcn 

ss««i«iBt"-sEsi'.  «r~~~" — /  Schichten   sind    die  Streifen  Z  und 

ytllliiililllijill^^^  iVr  stark  gefärbt,  die  Streifen  E  und 

!*.,,«.-.......,   .       li^Q,  J^  gar  nicht  oder  nur  sehr  schwach ; 

/  in  den  erschlafften  „metabolen"  Ab- 

■lllir:;:'*'';:'*:"''^^^^  ^  schnitten  {q  h  Q)  (Engelmann's 

'i«iMiiitt««>M«M«i  ^-v,^^    E  .,anisotrope"  Schicht),  welche  Rol- 

let mit(;tO  bezeichnet,  sind  bekannt- 
lich die  Enden  von  ^  immer  inten- 
siver gefärbt  als  die  Mitte  [h)  (der 
''!!"*.'".'.'.°.".V.*.*,'.'  Hensensche    Streifen).      Man    sieht 

"""*" '  nun    bei   zunehmender   Verkürzung 

f^  <C  der     Abschnitte    a     die     sich     ver- 

?ffffl?lll!lirtmUI  '  schmälernden     Streifen     N    immer 

i.'/FniilHinH:";;  näher  an  .^heranrücken,    bis  end- 

lich   die  beiden  E  zwischen  N  und 
^  nicht  mehr  zu  sehen  sind,  ähnlich 
/iitiyi\i\\\\\i\VxV\\  wie  das  bei  den    weniger  reich  ge- 

Q       streiften  Fasern  von  vornherein  der 

^      Fall  ist.     Eine  sehr  auffallende  Ver- 

j/< .  ^. ..... , "  ^,      änderung    tritt    nun    im   folgenden 

»#V;i*-iii;;ii;;;;;i;i '%,  Stadium   innerhalb    der    Schichten- 

'•«••••»ii'"*"'"""""""" r   ^°^S^   "   ^^"       ^"    Stelle    der    bis 

i^^-A.». — ..,_._ .?****'  Q,  dahin    farblosen  Schichten  J"  treten 

.  •!*!»:!!!!5!«!!!l!Ü!«r-^^    zwei  stark  gefärbte  Streifen,    wäh- 
':i*?****!l*****f  •!!*•••  rend  zwischen  diesen  an  Stelle  von 

^.     Ol     T,,    1   ,,-  ...  ,  Z  ein  helles  Band  erscheint, 

riff.  öl.     Muskeltaser  mit  einer  anofeleff-  r>     1 1      ,  ,  i  •   i        ,1- 

teil  Contractionswelle  von  Otiorhyn-  Ro  11  e  tt  bezeichnet  die  erstereu 

chus  mastix.    (Nach  Rollett.)  mit  J'   und    den    letzteren   mit   Z', 

da  dieselben  zweifellos  aus  J  und 
Z  hervorgegangen  sind,  Avofür  insbesondere  auch  das  Verhalten 
im  polarisirten  Lichte  spricht,  indem  die  dunklen  J'  gerade  so 
wie  die  hellen  J  einfach  brechend,  das  helle  Z'  dagegen  wie  Z 
doppeltbrechend  sich  erweisen.  Wenn,  wie  es  bisweilen  der  Fall 
ist,  vor  Ausbildung  des  eben  geschilderten  Stadiums  die  Schichten 
J'  noch  nicht  ganz  dunkel,  die  Schichten  Z'  dagegen  noch  nicht 
ganz  hell  und  daher  einander  ähnlich  erscheinen,  so  zeigt  die 
Muskelfaser  an  den  betreffenden  Stellen  der  Contractionswelle  die  un- 
deutlichste Querstreifung;  es  ist  dann  das  sogenannte  „homogene" 
Stadium  früherer  Autoren  vorhanden ,  welches  den  Uebergang  zur 
Schichtenfolge  J'  und  Z'  +  J'  vermittelt,  welche  ihrerseits  wieder 
das  häufigste  Uebergangsstadium  zu  der  Streifenfolge  des  vollkommen 


'ii 


Bau  und  Structiu-  der  Muskeln.  43 

Contrahirten  Muskels  bildet.  Indem  nämlich  das  helle  Z'  zwischen 
den  dunklen  J'  verschwindet,  verschmelzen  die  letzteren  zu  dem 
schon  von  Nasse  beschriebenen  „Contractionss  treif  en"  C, 
der  stark  lichtbrechend,  immer  sehr  dunkel  und  bei  Hämatoxylin- 
färbung  intensiv  blau  erscheint.  Er  entspricht,  wie  ohne  Weiteres  er- 
sichtlich ist,  der  Schichtenfolge  J -\-  Z -\-  J  oder  J" -j-  iV -|-  £"  +  Z 
+  E  -\-  N  -\-  J  der  erschlafften,  ruhenden  Faser,  aus  deren  Umwand- 
lung er  hervorgegangen  ist. 

Die  Veränderungen  innerhalb  der  (metabolen)  Schichtenfolge  (^Ä0 
sind  Anfangs  weniger  auffallend,  und  auch  die  Verkürzung  ist  eine  ge- 
ringere. Später  tritt  eine  Aufhellung  ein,  der  Unterschied  zwischen 
den  dunkleren  Q  und  h  verwischt  sich  mehr  und  mehr  und  schliesslich 
tritt  an  die  Stelle  des  letzteren  (wenigstens  in  vielen  Fällen)  ein 
dunkler,  schlecht  begrenzter  Streifen  (m.  Rolletts).  Die  ganze  ver- 
änderte Schichtenfolge  (QhQ)  der  contrahirten  Faser  bezeichnet 
Rollett  mit  (Q').  Oft  erfolgt  der  Uebergang  zwischen  dem  erschlafften 
und  contrahirten  Theil  einer  Faser  nicht  so  rasch  wie  in  dem  der 
vorstehenden  Schilderung  zu  Grunde  gelegten  Beispiel,  sondern  viel 
langsamer,  so  dass  die  einzelnen  Stadien  sich  über  mehrere  Segmente 
der  Faser  erstrecken,  ein  Umstand,  der  die  Deutlichkeit  der  Bilder 
noch  vielfach  erhöht. 

Die  Polarisationserscheinungen  während  der  Contraction  lassen 
sich  an  frischen  Muskelfasern  schwer  verfolgen,  doch  konnte  Rollett 
(22)  sich  trotzdem  mit  Sicherheit  von  einem  Sinken  der  Doppelbrechung 
während  der  Contraction  überzeugen,  einer  Thatsache,  welche  sich  auch 
an  üxirten  Contractionswellen  feststellen  lässt  und  die  schon  Engel - 
mann  (23)  vermuthete  (vergl.  Ebner  24,  p.  233). 

Sie  ergiebt  sich  unmittelbar  aus  dem  Umstände,  dass  solche  mit 
iixirten  Contractionswellen  versehene  Muskelfasern  auf  Gypsgrund  in 
der  Additions-  und  Subtractionslage  betrachtet,  mit  ihren  contrahirten 
Partieen  keine  auffallend  andere  Farbenänderung  hervorrufen,  als  mit 
ihren  erschlafften  Partien,  obschon  sonst  eine  Zunahme  der  Dicke  der 
Muskelschicht  die  Farbe  sehr  erheblich  steigert  (Avenn  sich  z.  B.  zwei 
erschlaffte  Fasern  theilweise  decken).  Selbst  sehr  hohe  Contractions- 
wellen zeigen  im  Vergleich  mit  den  erschlafften  Theilen  der  Faser  keine 
oder  nur  geringe  Abweichungen  im  Sinne  steigender  oder  sinkender 
Farben  in  der  Additions-  oder  Subtractionslage.  Diese  Thatsache  lässt 
nur  die  Deutung  zu,  dass  in  contrahirten  Muskelfasern  die 
Farbensteigerung,  welche  mit  der  Verdickung  der 
Faser  einhergehen  sollte,  compensirt  oder  übercom- 
pensirt  wird  durch  ein  mit  der  Contraction  einher- 
gehendes Sinken  der  Doppelbrechung. 

Die  Untersuchung  im  polarisirten  Lichte  giebt  noch  über  ein 
weiteres  wichtiges  Verhalten  quergestreifter  Muskelfasern  bei  der  Con- 
traction Aufschluss.  Vergleicht  man  nämlich  an  geeigneten  Präparaten 
(Fig.  32)  bei  gekreuzten  Nicols  die  Höhe  der  metabolen  und  arimeta- 
bolen  Schichten  beim  Uebergang  von  erschlafften  Theilen  der  Faser 
zu  den  contrahirten,  so  bemerkt  man,  dass  mit  zunehmender 
Verkürzung  die  Höhe  der  isotropen  (ari  metabolen) 
Schichten  mehr  als  die  der  anisotropen  (metabolen)  ab- 
nimmt, das  Volumen  der  letzteren  also  —  dadasGesammt- 
volumen  des  betreffenden  Faserabschnittes,  wie  das  der 
ganzen  Faser  constant  bleibt—  auf  Kosten  der  ersteren 


44 


Bau  und  Structur  der  Muskeln. 


wächst.  Engelmann  hat  an  geeigneten  Objecten  diese  Thatsache 
auch  durch  mikrometrische  Messungen  sichergestellt.  Zur  Erklärung 
dieser  Erscheinung  nimmt  Engel  mann  an,  das  bei  der  Con- 
traction  Flüssigkeit  aus  der  isotropen  in  die  anisotrope 
Substanz  übertritt;  die  anisotrope  Substanz  quillt,  die 
isotrope  schrumpft.  Dieser  Wassertausch  zwischen  den  metabolen 
und  arimetabolen  Schichten  muss  natürlich  zwischen  den  diesen 
Schichten  entsprechenden  Gliedern  der  Muskelsäulchen,  bez.  der  ein- 
zelnen Fibrillen  angenommen  werden.  Da  bei 
'^      '^  der     Erschlaffung     die     umgekehrten     Volumen- 

änderungen wie  bei  der  Verkürzung  stattfinden, 
so  folgt,  dass  bei  der  Erschlaffung  die 
übergetretene  Flüssigkeit  sich  wieder 
in  die  isotrope  (arimetabole)  Schic  hten- 
folge  zurückbegieb  t.  Diese  Annahme  wird 
nicht  nur  durch  die  beschriebenen  Volumen- 
änderungenderbeidenHauptschichten- 
folgen  jeder  Fibrille  nahegelegt,  sondern  sie 
erfährt  auch  eine  wesentliche  Stütze  durch  die 
oben  erwähnte  Abnahme  der  Doppel- 
brechung bei  der  Contraction,  sowie  dadurch, 
dass  dann  auch  im  gewöhnlichen  Lichte  d  i  e 
isotrope  (arimetabole)  Schichte  dunk- 
ler, u  n  d  u  r  c  h  s  c  h  e  i  n  e  n  d  e  r ,  die  aniso- 
trope dagegen  (mit  Ausnahme  der 
M  i  1 1  e  1  s  c  h  e  i  b  e)  heller,  durchsichtiger 
wird.  In  dem  Maasse,  als  die  Schichten  Q 
(Querscheiben)  Wasser  aus  der  isotropen  Schichten- 
folge imbibiren,  müssen  sie  nicht  nur  voluminöser, 
sondern  auch  schwächer  lichtbrechend,  heller, 
sowie  auch  schwächer  doppeltbrechend,  die  iso- 
tropen Schichten  dagegen  umgekehrt  kleiner 
und  stärker  lichtbrechend,  scheinbar  dunkler 
werden,  wie  man  es  thatsächlich  auch  findet. 
Endlich  steht  auch  die  veränderte  Färbbarkeit  der  contrahirten 
Faserabschnitte  mit  der  Annahme  einer  Quellung  der  anisotropen 
Schichten  auf  Kosten  der  isotropen  in  guter  Uebereinstimmung.  Es 
ist  bekannt,  dass  die  Tingirbarkeit  quellbarer  Körper  ausser  von 
ihrer  chemischen  Zusammensetzung  auch  noch  in  hohem  Maasse  von 
dem  jeweiligen  Quellungsgrade  abhängt.  Für  jede  einzelne  quellungs- 
fähige,  tingirbare  Masse  gilt  die  Regel,  dass  dieselbe  sich  um  so 
intensiver  färbt,  je  geringer  ihr  Gehalt  an  Imbibitionswasser  ist. 
In  der  That  beobachtet  man  nun  bei  der  Contraction  eine  gesteigerte 
Tingirbarkeit  der  arimetabolen  (isotropen)  Schichten,  während  die 
metabolen  (anisotropen)  Schichten  durch  H  ä  m  a  t  o  x  y  1  i  n 
sehr  viel  schwächer  als  im  R u li e z u s t a n d e  g e f ä r b t  werden. 


Fig.  32.  Muskelfaser 
(von  T  e  1  e  p  h  o  r  u  s) 
während  der  Contrac- 
tion a  im  gewöhn- 
lichen, b  im  polari- 
sirten  Licht.  (Nach 
E  n  g  e  1  m  a  n  n  aus 
Foster's  Lehrbuch  der 
Physiologie.) 


LITERATUR. 


L  Ballowitz,    Fibrilläre  Structur  und  Contractilität  (Pflüger's  Arch.  46.  Bd.  p.  433). 
2.  Engelmann,  Pflüger's  Arch.    IL  Bd.     lieber  Contractilität  und  Doppelbrechungs- 

vermöffen.     1875. 


Bau  und  Structur  der  Muskeln.  45 

3.  Bütsehli,  Bronn's  Klassen  und  Ordnungen  der  Thiere  (Protozoa  II). 

4.  M.  Verworn,  Psychophysiologische  Protistenstudien.     Jena  1889. 

5.  Czermak,  Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.     IV.     1853. 

6.  Kühne,  Zeitschr.  f.  Biologie.     N.  F.  23.     1886.     p.  93  ff. 
7    K"h         I  Reichert's  Archiv.     1859.     p.  824. 

'   \  Myologische  Untersuchungen.     Leipzig  1860.     p.  23. 

8.  Rhode,  Die  Muskulatur  der  Chaetopoden  (Zoolog.  Beiträge  von  A.  Schneider.    I.). 

9.  O.  und  R.  Hertwig,  Jenaische  Zeitschr.  f.  Naturwiss.     XV.     1881.     p.  1  ff. 

10.  E.  Ballowitz,  Archiv  f.  mikrosk.  Anatomie.     -39.  Bd.    p.  291  ff. 

11.  G.  Schwalbe,  Archiv,  f.  mikrosk.  Anatomie.     5.  Bd.     1869. 

12.  Engelmann,  Pflüger's  Arch.     25.  Bd.     1881.     (Heber  den  faserigen  Bau  der  con- 

tractilen  Substanzen  u.  s.  w.) 

13.  Knoll,  Denkschriften    der  math.- naturwiss.  Klasse   der  kais.  Akademie  der  Wiss. 

in  Wien.     LVIII.     1891.     p.  634. 

14.  H.  Pol,  Conipt.  rend.     Tom.  106.    p.  306.     1888. 

15.  Steinaeh,  Pflüger's  Arch.     52.  Bd.     1892. 

16.  Heidenhain,  Studien  des  physiolog.  Instituts  zu  Breslau.     Heft  I.     1861. 

17.  Dräsche,  Verhandl.  der  anatom.  Ges.     1892.     p.  250. 

18.  Knoll,  Sitzungsber.  der  Wiener  Akademie.     CI.     Abth.  III.     1892.     p.  498. 

19.  Retzius,  Biolog.  Untersuchungen.     1881. 

20.  Rollett,  Untersuchungen   über   den  Bau   der  quergestr.  Muskelfasern.     I.  und  II. 

Aus  den  Deukschr.  d.  mathem.-naturwiss.  Klasse  der  Wiener  Akademie.     XLIX. 
und  LI.     1885. 

21.  Leo  Gerlach,  Ueber  das  Verhalten  des  indigoschwefelsauren  Natrons  im  Knorpel- 

gewebe lebender  Thiere.     Habilitationsschrift.     1876. 

22.  Rollett,  Denkschriften  der  Wiener  Akademie.     LVIII.     1891.     (Unters,  über  Con- 

traction  und  Doppelbrechung  der  quergestr.  Muskelfasern.) 

23.  Engelmann,  Pflüger's  Arch.     VII.     p.  174. 

24.  V.  V.  Ebner,  Untersuchungen  über  die  Ui-sache  der  Anisotropie  organ.  Substanzen. 

Leipzig  1882. 


B.    Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigl<eit. 


Ein  Theil  der  die  Muskelthätigkeit  begleitenden  Erscheinungen, 
wie  insbesondere  die  in  ihrem  Gefolge  auftretenden  Veränderungen 
der  optischen  Eigenschaften  fanden  bereits  im  Vorhergehenden  Be- 
sprechung. In  Bezug  auf  die  chemische  Zusammensetzung  der  Muskel- 
substanz und  deren  Aenderungen  bei  der  Thätigkeit  darf  wohl  auf 
die  neueren  Lehrbücher  der  physiologischen  Chemie  verwiesen 
werden.  Es  bleibt  noch  übrig,  die  bei  Weitem  auffallendste  Er- 
scheinung der  Muskelthätigkeit,  nämlich  die  Formänderung 
(Contraction),  näher  ins  Auge  zu  fassen.  Das  Wesentlichste  hierbei, 
die  Verkürzung  in  der  Längsrichtung  unter  gleichzeitiger 
Verdickung  (Zunahme  des  Querschnittes)  tritt  natürlich  in  allen 
Fällen  hervor,  wo  contractile  Plasmatheilchen  dauernd  oder  wenigstens 
zeitweise  in  einer  bestimmten  Richtung  orientirt  sind.  So  wurde 
schon  oben  auf  die  mehr  oder  weniger  rasch,  bisweilen  blitzschnell 
erfolgende  Verkürzung  und  Verdickung  gewisser  Pseudopodienformen 
(Myopodien,  Myophrysken),  sowie  der  schon  als  echte  Muskeln  zu  be- 
zeichnenden Myoide  oder  Myoneme  gewisser  Infusorien  hingewiesen, 
und  in  der  That  lassen  sich  hier  sozusagen  in  elementarer  Weise  die- 
selben Formänderungen  an  einzelnen  Fibrillen  (oder  Fibrillenbündeln) 
beobachten,  welchen  Avir  auch  wieder  bei  den  aus  zahlreichen  Zellen 
zusammengesetzten,  hochcomplicirten  Organen  begegnen,  die  man  ge- 
wöhnlich als  Muskeln  der  höher  organisirten  Thiere  zu  bezeichnen 
pflegt.  In  allen  Fällen  beruht  aber  der  mechanische  Effect  der  Form- 
änderung eines  Muskels  auf  der  Verkürzung  desselben  in  der  Längs- 
richtung, niemals  auf  der  Verdickung.  Daher  pflegt  man  in  der 
Regel  auch  nur  von  Verkürzung  oder  Contraction  zu  sprechen,  wenn 
von  Muskelthätigkeit  die  Rede  ist. 

Es  wurde  bereits  bei  Erörterung  der  Thätigkeitsäusserungen  der 
Myoide  hervorgehoben,  dass  ein  einmaliger  Reiz  von  sehr  kurzer 
Dauer,  wie  etwa  eine  einfache  rasche  DichtigkeitsschAvankung  eines 
elektrischen  Stromes  oder  ein  möglichst  kurzer  mechanischer  Anstoss, 
eine  ebenfalls  sehr  rasch  ablaufende  Contraction  mit  darauffolgender 
langsamerer  Wiederverlängerung  bewirkt-,  man  bezeichnet  einen  solchen 
rasch  verlaufenden  Contractionsvorgang,  wie  er  besonders  für  quer- 
gestreifte Muskeln  charakteristisch  ist,  als  „Zuckung".  Es  ist  aber 
diese     elementare    Thätigkeitsform    keineswegs    den    Muskeln    allein 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  47 

eigenthümlich,  denn  einerseits  kann  man  die  rythmischen  oder  auch 
arrythmischen  Bewegungen  eines  Flimmerelementes  als  aus  einzelnen, 
aufeinanderfolgenden  Zuckungen  bestehend  auffassen,  sowie  auch 
Geissein  in  vielen  Fällen  „zuckend"  sich  contrahiren,  andererseits  giebt 
es  zahlreiche  Muskeln,  vor  Allem  die  einkernigen,  glatten  Muskelzellen, 
welche  sich  so  langsam  verkürzen,  dass  man  hier  ebensowenig  von 
,,Zuckuugen"  sprechen  kann,  wie  etwa  bei  der  noch  viel  trägeren 
Verkürzung  der  Pseudopodien  bei  den  meisten  Rhizopoden. 

Stets  aber  ist,  wie  es  scheint,  eine  „zuckende"  Contraction  an 
das  Vorhandensein  fibrillärer  Structur  (besonders  mit  Querstreifung) 
geknüpft,  obschon,  wie  das  Beispiel  der  glatten  Muskelzellen  lehrt, 
nicht  umgekehrt  die  Differenzirung  von  Fibrillen  auch  immer  eine 
sehr  rasch  verlaufende  Contraction  bedingt. 

In  den  ausgeprägtesten  Fällen  „zuckender"  Contraction  beginnt 
die  Verkürzung  für  die  unmittelbare  Wahrnehmung  scheinbar  gleich- 
zeitig mit  der  erregenden  Ursache,  erreicht  in  kürzester  Zeit  ihren 
grössten  Werth,  um  dann  sofort  wieder  langsamerer  Erschlaffung 
zu  weichen. 

Der  oft  sehr  grosse  Unterschied,  der  sich  in  Bezug  auf  die  Dauer 
der  Verkürzung  einerseits,  der  Wiederverlängerung  anderseits  bei 
contractilen,  zuckenden  Theilen  niederster  Thierformen  geltend  macht 
(Vorticellenstiel,  Spirostomum,  Mjopodien  etc.),  ist  zum  grossen  Theil 
durch  die  eigenthümlichen  mechanischen  Verhältnisse  bedingt,  unter 
welchen  sich  hier  die  Contraction  und  Erschlaffung  vollzieht.  Mehr 
oder  weniger  verhalten  sich  die  zuckenden  Fibrillen  hier  so  wie  etwa 
ein  völlig  unbelasteter,  auf  Quecksilber  schwimmmender  Muskel,  der 
seine  normale  Länge  auch  nur  wieder  zu  erreichen  vermag,  wenn  eine 
dehnende  Kraft  einwirkt. 

Der  Verlauf  einer  einfachen  Zuckung  ist  meist  so  rasch,  dass  es 
unmöglich  ist,  durch  unmittelbare  Beobachtung  etwas  Näheres  über 
die  zeitlichen  Verhältnisse  der  Contraction  und  das  Verhalten  der 
contractilen  Fasern  in  den  einzelnen  Stadien  der  Verkürzung  zu  er- 
fahren. Vielmehr  bedarf  es  feinerer  Hülfsmittel  der  Zeitmessung,  um 
das  Verhältniss  der  verschiedenen  Phasen  innerhalb  des  kurzen  Actes 
einer  Zuckung  festzustellen*). 

Die  erste  genauere  Untersuchung  hierüber  verdanken  wir  H  e  1  m  - 
holtz  (1850).  Ein  Mittel  zur  Messung  so  kleiner  Zeiten,  wie  sie  hier 
in  Betracht  kommen,  ist  vor  Allem  die  graphische  Aufzeichnung  des 
zu  messenden  Vorganges  auf  einer  schnell  bewegten  Fläche.  Denken 
wir  uns  eine  solche  (etwa  eine  berusste  Glas-  oder  Papierfläche)  mit  ge- 
nügender Geschwindigkeit  an  der  Spitze  eines  Schreibhebels  vorbei- 
bewegt, der,  mit  dem  zuckenden  Muskel  verbunden,  der  Contraction 
desselben  folgt,  so  erhalten  wir  eine  krumme  Linie  (Curve),  deren 
Abscissenwerthe  den  Zeiten,  deren  Ordinaten  dagegen  der  Grösse  der 
Verkürzung  (Verdickung)  des  Muskels  entsprechen.  Auf  diesem 
P  r  i  n  c  i  p  beruht  das  Myographien  von  H  e  1  m  h  o  1 1  z ,  an  dessen 
Stelle  in  der  Folgezeit  zahlreiche  andere  ähnliche  Apparate  getreten 
sind,  deren  Beschreibung  in  jedem  grösseren  Lehrbuche  nachgesehen 
werden  kann. 


*)  Vergl.  V.  Bezold,  Untersuchungen  über  die  elektrische  Erregung  der  Nerven 
und  Muskeln,  1861,  S.  31  (Geschichtlicher  Ueberblick  über  die  Bestrebungen,  die  bei 
der  Nerven-  und  Muskelaction  ins  Spiel  kommenden  kleinen  Zeittheilchen  zu  messen). 


48  Diö  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Bei  jeder  so  gewonnenen  „Zuckungscurve"  lassen  sich  die 
Zeitwerthe  der  Abscissenlinie  leicht  bestimmen,  wenn  entweder  die 
Geschwindigkeit  der  Schreibfläche  bekannt  ist,  oder  wenn  gleichzeitig 
mit  dem  „Myogramm"  Stimmgabelschwingungen  verzeichnet  werden. 

Die  Anwendung  der  graphischen  Methode  setzt  uns  nun  in  den 
Stand,  sofort  und  gleichzeitig  die  charakteristischen  Eigenthümlichkeiten 
des  zu  untersuchenden  Bewegungsvorganges  in  Bezug  auf  seine 
Grösse,  Dauer  und  Form  zu  erkennen.  Wenn  der  Moment  der 
Reizung  auf  der  Curventafel  in  geeigneter  Weise  markirt  ist,  so  fällt 
in  der  Regel  sofort  auf,  dass  die  Erhebung  des  Zeichen  Stiftes 
von  derAbscisse  nicht  mit  dem  Momente  des  Reizes  zu- 
sammenfällt, sondern  merklich  später  beginnt,  so  dass 
demnach  der  Beginn  der  Muskelverkürzung  nicht  im  Momente  der 
Einwirkung  des  Inductionsschlages  erfolgt,  sondern  eine  gewisse  Zeit 
vergeht,  ehe  die  durch  die  Reizung  bewirkte  Veränderung  im  Muskel 
zu  einer  Verkürzung  desselben  führt,  die  sich  durch  eine  Bewegung 
des  Schreibhebels  äussert  (Fig.  33). 


Fig.  33.     Muskelzuckungscui-ve  uacli  Helmholtz.     a  Moment  der  Reizung. 

Die  Länge  dieser  Zeit,  welche  durch  das  zwischen  ft  und  dem  Anfang 
der  Curve  gelegene  Stück  derAbscisse  gemessen  wird,  bestimmte  Helm- 
holtz für  den  durch  einen  Inductionsschlag  direct  gereizten,  belasteten 
Froschmuskel  zu  etwa  0,01  Sekunde.  Man  nennt  diese  Zeit  das  Stadium 
der  latenten  Reizung  (Latenzstadium),  denn  die  Reizung  bewirkt 
während  derselben  keinen  merklichen  mechanischen  Effect.  Hierauf 
beginnt  die  Verkürzung  des  Muskels,  nachdem  der  auslösende  Reiz 
bereits  verschwunden  ist,  was  durch  die  Erhebung  des  Zeichenstiftes 
bis  zum  Gipfel  der  Curve  angezeigt  wird.  Von  da  ab  verlängert  sich 
der  Muskel  wieder,  bis  er  endlich  seine  ursprüngliche  Länge 
wieder  erreicht.  Die  Zeit,  Avelche  vom  Beginn  der  Verkürzung  bis 
zum  Maximum  derselben  verstreicht,  heisst  das  Stadium  der  stei- 
genden Energie,  die  Zeit  von  dem  Maximum  bis  zur  völligen 
Wiederausdehnung  des  Muskels  das  Stadium  der  sinkenden 
Energie;  die  Zeit  endlich  vom  Beginn  der  Verkürzung  bis  zur 
vollständigen    Wiederausdehnung    entspricht    der    Z  u  c  k  u  n  g  s  d  a  u  e  r. 

Bezüglich  der  Grösse  oder  Höhe  der  Muskelzuckung  darf  man 
nicht  ausser  Acht  lassen,  dass  es  sich  bei  der  graphischen  Darstellung 
in  der  Regel  um  eine  mehr  oder  minder  beträchtliche  Vergrösse- 
rung  handelt,  und  man  muss  daher  stets  die  Länge  des  zeichnenden 
Hebels  berücksichtigen,  wenn  man  die  wahre  Grösse  der  Verkürzung 
erfahren  will.  Die  beiden  Stadien  der  steigenden  und  sinkenden 
Energie  lassen  sich  leicht  bestimmen,  indem  man  vom  Gipfel  der 
Curve  eine  senkrechte  Ordinate  auf  die  Abscisse  zieht.  In  der  Regel 
ist  das  erstere  erheblich  kürzer  als  letzteres,  doch  kann  auch  das  Um- 
gekehrte der  Fall  sein  (z.  B.  bei  Abkühlung).    Hinsichtlich  der  Form  der 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  49 

Zuckungscurve  ist  zu  bemerken,  dass  dieselbe  oft  nicht  als  der  voll- 
kommene Ausdruck  des  Bewegungsvorganges  angesehen  werden  kann, 
indem  in  vielen  Fällen  der  zeichnende  Hebel  (ganz  abgesehen  von 
möglichen  Eigenschwingungen)  so  angeordnet  ist,  dass  seine  Spitze  bei 
der  Bewegung  einen  Kreisbogen  beschreibt.  Einen  wesentlichen  Ein- 
fluss  auf  die  Form  der  Zuckungscurven  hat  natürlich  auch  die  Ge- 
schwindigkeit der  bewegten  Schreibfläche,  so  dass  eine  und  dieselbe 
Bewegung,  durch  denselben  Hebel  verzeichnet,  sehr  verschieden  aus- 
sehende Curven  Hefern  kann,  je  nachdem  sich  die  Schreibfläche  lang- 
samer oder  schneller  bewegt. 


I.    Al)häiigigkeit  des  Contra ctionsverlaiifes  von  der  Natur 
des  Muskels. 

Die  ausserordentlichen  Verschiedenheiten,  welche  in  Bezug  auf 
die  Schnelligkeit  der  Bewegungserscheinungen  bei  verschiedenen 
Plasmaarten  bekannt  sind,  lassen  von  vorneherein  erwarten,  dass  ähn- 
liche Unterschiede  auch  bei  Muskeln  verschiedener  Thiere,  sowie  bei 
verschiedenen  Muskeln  einer  und  derselben  Thierspecies  hervortreten 
werden,  worauf  ja  übrigens  auch  die  sehr  weitgehenden  Structur- 
differenzen  ohne  Weiteres  schliessen  lassen.  In  der  That  lehrt  schon 
ein  flüchtiger  Ueberblick,  dass,  abgesehen  von  den  noch  zu  besprechen- 
den äusseren  Einflüssen,  Form  und  Verlauf  der  Contraction  ganz 
wesentlich  von  der  Natur  des  Muskels  abhängen.  Hier  macht  sich 
vor  Allem  der  ganz  enorme  Unterschied  zwischen  glatten  und 
quergestreiften  Muskeln  geltend.  Ausnahmslos  verkürzen  sich 
die  ersteren  unvergleichlich  viel  langsamer  als  diese,  so  dass  man 
kaum  jemals  von  einer  „Zuckung"  zu  sprechen  Gelegenheit  hat, 
wenn  ein  Einzelreiz  auf  glatte  Muskelelemente  wirkt.  Der  ganze 
Co ntractions verlauf  ist  sozusagen  makroskopisch,  indem  sowohl  das 
Latenzstadium,  wie  alle  Phasen  der  Verkürzung  und  Wiederverlänge- 
rung bequem  mit  dem  Auge  ohne  alle  weiteren  Hülfsmittel  verfolgt 
werden  können. 

Mitten  inne  zwischen  diesen  träge  sich  contrahirenden,  glatten 
und  den  „zuckenden"  quergestreiften  Muskeln  der  Wirbellosen  und 
Wirbelthiere  steht  der  aus  einkernigen,  quergestreiften  Elementen  ge- 
bildete Herzmuskel,  dessen  Contractionsverlauf  weder  so  träge  ist 
wie  der  der  glatten,  noch  so  rasch  wie  jener  der  meisten  quer- 
gestreiften Stammesmuskeln.  Man  war  daher  vielfach  im  Zweifel,  ob 
es  gerechtfertigt  sei,  jede  einzelne  durch  einen  Momentreiz  ausgelöste 
Contraction  des  Herzens  (die  sich  übrigens  hinsichtlich  ihres  Verlaufes 
in  keiner  Weise  von  einem  natürlichen  „Herzschlag"  unterscheidet) 
der  elementaren  Einzelzuckung  eines  Stammesmuskels  gleichzusetzen. 
Gleichwohl  kann  an  der  Berechtigung  hierzu  nicht  im  Mindesten  ge- 
zweifelt werden.  Denn  es  ist  klar,  dass  die  längere  Dauer  an  sich  in 
keiner  Weise  als  Beweis  dafür  angesehen  werden  kann,  dass  die  ein- 
malige Contraction  des  Herzmuskels  einer  einfachen  Zuckung  nicht 
entsprechend  sei.  Es  kommen  eben ,  wie  gezeigt  werden  wird ,  auch 
unter  den  quergestreiften  Skeletmuskeln  verschiedener  Thiere 
und  selbst  unter  den  Muskeln  eines  Individuums  sehr  beträchtliche 
Verschiedenheiten  in  Bezug  auf  die  Geschwindigkeit  des  Zuckungs- 
verlaufes  vor,    und  es  lässt  sich    diese   letztere   leicht  künstlich  durch 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  4 


50  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

verschiedene  Eingriffe  in  noch  viel  höherem  Maasse  verzögern,  als  es 
bei  der  normalen  Contraction  des  Herzens  je  der  Fall  ist. 

Wir  fassen  demnach  jede  natürliche  oder  durch 
einen  kurzdauernden  künstlichen  Reiz  ausgelöste 
Einzelcontraction  des  Herzmuskels  (der  Wirbellosen 
und  Wirbelthiere)  als  eine  elementare,  aber  in  allen 
Phasen  verzögerte,  gedehnte  Zuckung  auf. 

Untersucht  man  unter  möglichst  vergleichbaren  Bedingungen  etwa 
am  Frosch  den  zeitlichen  Verlauf  der  Zuckung  eines  Skeletmuskels 
und  des  Herzens  bei  Reizung  mit  einem  einzelnen  Inductionsschlag 
mittelst  der  graphischen  Methode,  etwa  durch  einen  aufgelegten  leichten 
Hebel,  so  findet  man,  wie  schon  Marey  (1)  hervorhebt,  dass  die  Herz- 
curve  und  die  Muskelzuckungscurve  bezüglich  ihrer  Form  dieselben 
charakteristischen  Eigenthümlichkeiten  des  rascheren  Ansteigens  und 
langsameren  Absinkens  darbieten.  Doch  findet  man  das  Stadium  der 
latenten  Reizung  ausnahmslos  beim  Herzen  wesentlich  länger  als  unter 
sonst  gleichen  Umständen  beim  Skeletmuskel ,  eine  Thatsache,  die 
um  so  auffälliger  hervortritt,  je  grösser  der  Unterschied  der  Geschwindig- 
keit des  Contractionsverlaufes  zwischen  den  beiden  quergestreiften 
Muskelarten  desselben  Thieres  ist.  Da  dies  bei  den  poikilothermen 
Wirbelthieren  in  einem  höheren  Maasse  der  Fall  ist,  als  bei  Warm- 
blütern, so  ist  auch  der  Unterschied  in  der  Grösse  der  Latenzstadien 
ersterenfalls  bedeutender.  So  kann  beim  Frosch  die  Latenzzeit 
des  Herzmuskels  bis  0,28  Sek.  dauern,  während  dieselbe  beim 
Gastrocnemius  desselben  Thieres  nach  Helmholtz  0,01  Sekunde  be- 
trägt und  nach  neueren  Untersuchungen  noch  wesentlich  kürzer  ist 
(0,005  Sekunde).  Das  Stadium  der  steigenden  Energie  beträgt  für 
das  Froschherz  nach  Marchand  (2)  2 — 3  Sekunden,  während  derselbe 
Zeitraum  für  die  Zuckung  eines  Skeletmuskels  nur  nach  Bruchtheilen 
einer  Sekunde  misst.  Durch  einen  ähnlich  trägen  Contractionsverlauf 
zeichnen  sich  auch  die  dem  Herzmuskel  noch  in  anderer  Beziehung 
sehr  nahe  stehenden  quergestreiften  Muskeln  der  Medusen  aus  (Ro- 
manos 3). 

In  neuerer  Zeit  sind  nun  ähnliche,  wenn  auch  nicht  so  weitgehende 
Unterschiede  im  zeitlichen  Verlauf  der  Zuckung  auch  bei  den  quer- 
gestreiften Stammesmuskeln  selbst  und  zwar  nicht  nur  bei  verschiedenen 
Thieren,  sondern  auch  bei  einem  und  demselben  Individuum,  ja  sogar 
in  einem  und  demselben  Muskel  nachgewiesen  worden. 

Im  Allgemeinen  kann  man  sagen,  dass  es  im  physiologischen 
Sinne  zwei  Arten  vielkerniger,  quergestreifter  Muskel- 
fasern giebt,  solche,  die  sich  durch  einen  raschen,  und 
solche,  die  sich  durch  einen  trägeren  Contractionsver- 
lauf auszeichnen  („flinke"  und  „träge"  Muskeln).  Zwischen 
beiden  giebt  es  zahllose  Zwischenstufen. 

So  lässt  sich  leicht  zeigen,  dass  die  Skeletmuskeln  einer  Schild- 
kröte oder  des  Chamäleons  sich  im  Allgemeinen  sehr  viel  langsamer 
zusammenziehen,  als  etwa  die  eines  Frosches  oder  Warmblüters,  und 
dass  andererseits  wieder  gewisse  Insectenmuskeln  sich  noch  viel 
schneller  contrahiren,  als  selbst  die  in  dieser  Beziehung  am  meisten 
begünstigten  Warmblütermuskeln.  Es  ergiebt  sich  dies  übrigens  fast 
immer  schon  unmittelbar  aus  der  Beobachtung  der  den  betreffenden 
Thieren  eigen thümlichen  Bewegungen,  und  sei  nur  an  die  träge,  lang- 
same   Locomotion    der   Schildkröte    und   andererseits    an    die    ausser- 


■Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


51 


ordentlich  raschen  Schwingungen  der  Flügel  vieler  Insecten  erinnert, 
wobei  sich  die  bewegenden  Muskelfasern  oft  mehrere  hundert  Mal 
in  der  Sekunde  contrahiren  müssen.  Dementsprechend  muss  nun 
auch  die  Zuckungscurve  solcher  Muskeln  unverhältnissmässig  kürzer 
sein,  als  etwa  die  eines  Froscli-  oder  gar  Schildkrötenmuskels.  Wahr- 
scheinlich kann  man,  wie  Hermann  bemerkt  (4,  p.  38),  in  der  Thier- 
reihe  eine  continuirliche  Scala  in  dieser  Hinsicht  aufstellen,  welche 
nach  Marey  mit  den  äusserst  rapiden  Zuckungen  der  Flugmuskeln 
vieler  Insecten  beginnt;  dann  würden  folgen  die  quergestreiften 
Skelettmuskeln  der  Vögel,  Fische,  Säugethiere,  Frösche,  Kröten  und 
zu  äusserst  die  der  Schildkröte  und  des  winterschlafenden  Murmel- 
thieres,  dann  die  Herzmuskulatur  und  endlich  die  meisten  glatten 
Muskelzellen,  deren  Contractionsverlauf,  wie  schon  erwähnt,  sozusagen 
makroskopisch  ist. 

Bei  Froschmuskeln  dauert  die  einzelne  Zuckung  bei  gewöhn- 
licher Temperatur  etwa  0,1 — 0,3  Sek.,  bei  der  Schildkröte  oft  mehr 
als    1    Sek. ,     während    bei    den    Flugmuskeln    mancher   Insecten    die 


Fig.  34. 
a  drei  maximale 
Zuckungen  bei 
50,  100  und  200  gr 
Belastung;  b  vier  maxi- 
male Zuckungen  bei  50 — 
500  gr  Belastung.  (Nach 
Cash.) 


Soleus  roth  (KaninchenJ 


Gastr  med  weiss  (Kanindieni 
\300 


Zuckungsdauer  bis  auf  ^/soo  Sekunde  herabsinken,  bei  glatten  Muskeln 
dagegen  umgekehrt  mehrere  Sekunden  betragen  kann.  Hand  in  Hand 
mit  diesen  Verschiedenheiten  des  Zuckungsverlaufes  gehen  auch  Ver- 
schiedenheiten der  Grösse  des  mechanischen  Latenzstadiums,  und  zwar 
nimmt  dasselbe  mit  wachsender  Zuckungsdauer  im  Allgemeinen  zu. 

Von  ganz  besonderem  Interesse  ist  nun  die  Thatsache,  dass  auch 
die  quergestreiften  Muskeln  eines  und  desselben  Thieres,  wie  sie  in 
histologischer  und  chemischer  Hinsicht  verschieden  sein  können,  auch 
in  functioneller  Beziehung  ganz  wesentliche  Unterschiede  erkennen 
lassen.  Ran  vi  er  (5)  machte  zuerst  die  interessante  Beobachtung, 
dass  die  rothen  und  blassen  Muskeln  des  Kaninchens  einen  ganz  ver- 
schiedenen Zuckungsverlauf  zeigen,  indem  die  ersteren  durch  eine 
verhältnissmässig  lange  Contractionsdauer  und  ein  entsprechend 
längeres,  mechanisches  Latenzstadium  vor  den  blassen  Muskeln  aus- 
gezeichnet sind ,  welche  nach  einer  kurzen  Latenzzeit  viel  rascher 
zucken.  Ran  vi  er  verglich  bei  Kaninchen  insbesondere  die  Function 
des  rothen  M.  semitendinosus  mit  der  des  blassen  Vastus  internus  oder 
M.  adductor  magnus  und  fand,  dass  jener,  durch  einzelne  Inductions- 
schläge  gereizt,  nicht  wie  der  blasse  Muskel  rasche  Zuckungen  aus- 
führt, sondern  sich  nach  einem  etwa  vier  Mal  grösseren  Latenz- 
stadium allmählich  verkürzt.  Kr o necker  und  S t i r  1  i n g  (6)  be- 
stätigten diese   Thatsaphe   und  fanden   die   Zuckungsdauer  der 


52  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

rothen  Muskeln  fast  drei  Mal  so  lang  als  die  der  weissen, 
während  dagegen  die  Zuckungshöhe  der  ersteren  im 
Vergleich  zu  jener  der  weissen  immer  sehr  unbedeutend 
ist  (Fig.  34  a,  b). 

Marey  hatte  ähnliche  Beobachtungen  an  verschiedenen  Muskeln 
des  Frosches  gemacht  und  z.  B,  den  M.  hyoglossus  träger  als  den 
Gastrocnemius  gefunden.  Cash(7)  stellte  dann  durch  eingehende  Ver- 
suche fest,  dass  sowohl  beim  Frosch  wie  bei  der  Schildkröte 
verschiedene  Muskeln  sich  in  ganz  charakteristischer 
Weise  durch  Form  und  Verlauf  der  Zuckungscurve 
unterscheiden.  Die  mittleren  Werthe  der  Contractionsdauer  ver- 
schiedener Skeletmuskeln  des  Frosches  sind  in  folgender  Tabelle  ent- 
halten : 

1)  M.  hyoglossus 0,2—0,3  Sekunde 

2)  „  rectus  abdominis     ....  0,17  „ 

3)  „  gastrocnemius 0,12  „ 

4)  „  semimembranosus    ....  0,108  „ 

5)  „  triceps 0,104 

Bei  Testudo  europaea  fand  C a s h  die  Dauer  der  Zuckung  von 

1)  M.  pectoralis  mayor      ....     1,8     Sekunde 

2)  „  glutaeus 1,6  „ 

3)  „  palmaris 1,0  „ 

4)  „  gracilis 1,0  „ 

5)  „  biceps 0,9  „ 

6)  „  splenius  capitis 0,9  „ 

7)  „  triceps  brachii 0,8  „ 

8)  „  retrahens  colli 0,75  „ 

9)  „  semimembranosus    ....  0,6  „ 
10)  „  omohyoideus 0,55  „ 

Charakteristischer  noch  als  die  Dauer  ist  die  Art  des  Verlaufes 
(Form)  der  betreffenden  Myogramme.  Viele  derselben  haben  so 
prägnante  Formen,  dass  sie  gewissermaassen  zum  Signalement  der 
Muskelspecies  dienen  können.  Die  beistehende  Figur  (35  a)  zeigt, 
wie  ganz  anders  sich  der  Gastrocnemius  verhält,  als  die  Triceps-  und 


Fig.  36  a.     Zuckungscurven  von  drei  verschiedenen  Froschmuskeln,  unter  gleichen 
Umständen  aufgenommen.     (Nach  Cash.) 


die  Semimembranosus-Gracilis-Gruppe.  Die  letzteren  Muskeln  erreichen 
das  Maximum  der  Verkürzung  bald  nach  der  Hälfte  der  Zeitdauer 
ihres  gesammten  Zuckungsverlaufes,  während  der  Gastrocnemius  ^/s 
seiner  Zuckungszeit  zur  Verkürzung  braucht  und  nur  ^/s  zur  Ver- 
längerung. Vergleicht  man  mit  diesen  Curven  die  beistehende  Gruppe 
der  trägsten  Froschmuskeln  (Fig.  35  b),  so  tritt  der  Unterschied  sehr 
auffallend  hervor. 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


53 


Fast  noch  mehr  geeignet,  zu  zeigen,  wie  formenreich  die  Zuckungs- 
curven  verschiedener  quergestreifter  Muskeln  desselben  Thieres  sein 
können,  ist  Fig.  35  c  von  der  Schildkröte.  Am  raschesten  contrahirt 
sich  der  M.  omohyoideus,  entsprechend  seiner  Bestimmung,  den  Kopf 
des  Thieres  bei  Gefahr  schnell  unter  den  schützenden  Panzer  zu  ziehen, 
während  der  kraftvolle,  zur  Bewegung  des  schweren  Thieres  bestimmte 
Pectoralis  mayor  „mit  energischem  Anhübe  beginnt  und  ziemlich  lange 
auf  der  Höhe  der  Zusammenziehung  verharrt" .  Aehnliche  Unterschiede 
dürften  sich  hinsichtlich  der  rasch  beweglichen  Augen-  und  Zungen- 
muskeln und  der  trägen  Skeletmuskeln  des  Chamäleons    herausstellen. 

Es  muss  noch  besonders  bemerkt  werden,  dass  sowohl  die  relative 
wie  absolute  Zuckungshöhe  der  flinken  Muskeln  auch  beim  Frosch 
viel  grösser  ist,  als  die  der  trägen.  Ein  32  mm  langer  Rectus 
abdominis    von   R.   esculenta    zog   sich   bei   mittlerer   Spannung    etwa 


Fig.  35  Ä.     Vier  Zuckungscurven  verschiedener  Froschmuskeln.     (Nach  Cash.) 


{^io  h]^oiä/ 


Vector  maj. 
Rracihs 


Fig.  35  c.     Vier  Zuckungscurven  verschiedener  Schildkrötenmuskeln,  unter  gleichen 
Umständen  aufgenommen.     Die  Striche  markiren  ganze  Sekunden. 

2,6  Mal  weniger  zusammen ,  als  der  nur  28  mm  lange  Gastrocnemius. 
Die  gezeichneten  (vergrösserten)  Hubhöhen  betrugen  6  und  15  mm. 
Der  26  mm  lange  träge  Hyoglossus  hat  bei  annähernd  proportionaler 
Spannung  eine  Zuckungshöhe  von  nur  1,5  mm  (Grützner). 

Ein  sehr  bemerkenswerthes  Beispiel  trägen  Zuckungsverlaufes  bei 
Warmblütermuskeln  hat  neuerdings  Rollett  (8)  bekannt  gemacht. 
Es  wurde  schon  oben  der  Besonderheiten,  insbesondere  des  Sarko- 
plasmareichthums  gedacht,  durch  welchen  sich  die  quergestreiften 
Muskeln  der  Fledermäuse  auszeichnen.  Reiz  versuche  an  denselben 
(mit  einzelnen  Inductionsschlägen)  haben  nun  ergeben ,  dass  der 
Zuckungs verlauf  dieser  ausgeprägt  „trüben"  Muskeln  (M.  pectoralis 
mayor ,  biceps  und  triceps)  auffallend  träge  ist.  Rollett  berechnet 
im  Mittel  für  das  Latenzstadium  0,025  Sekunde,  für  den  aufsteigenden 
Curventheil  0,146,  für  den  absteigenden  0,350  Sekunde,  also  für  die 
ganze  Zuckungsdauer  0,496  Sekunde.  Es  erscheinen  demnach  diese 
Muskeln    träger    als   alle  Froschmuskeln,   aber  flinker  als  alle  Schild- 


54  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

krötenmuskeln ,    flinker   als   die   rothen  Kaninchenmuskeln,    aber   viel 
träger  als  die  weissen  desselben  Thieres, 

Sehr  auffallend  sind  die  Unterschiede  im  Zuckung'sverlauf  ver- 
schiedener anatomisch  getrennter  Muskeln  desselben  Thieres  auch  bei 
vielen  Wirbellosen.  So  fand  Ch.  Riebet  (9)  die  Zuckungscurven 
der  Schwanz-  und  Scheerenmuskeln  beim  Flusskrebs  sehr  verschieden, 
gleichgültig  ob  die  Contraction  vom  Centralorgan  oder  durch  künst- 
liche Reizung  ausgelöst  wurde.  Bei  den  Schwanzmuskeln  ist  der  Ver- 
lauf derselben  sehr  kurz  und  erinnert  an  die  Zuckung  des  Gastrocnemius 
vom  Frosch.  Der  Scheerenschliesser  zeichnet  dagegen  eine  weit  ge- 
dehntere Curve,  die  von  der  der  Schwanzmuskeln  immer  wesentlich 
verschieden  ist.  Auch  hier  steht  diese  Thatsache  wieder  in  Ueber- 
einstimmung  mit  dem  normalen  Bewegungsmodus  der  betreffenden 
Theile  (rasches  Wippen  des  Schwanzes,  trägere,  aber  lange  dauernde 
Schliessung  der  Scheeren).  Die  grössten  Unterschiede  in  dieser 
Richtung  wird  man  sicher  zwischen  den  Flugmuskeln  und  den  übrigen 


Fig.    36.      A    Zuckungscurve    eines    Extremitätenmuskels   von   Dyticus;    B  von  Hy- 
drophilus;  C  von  Melolontha;   sämmtlich  bei  gleicher  Geschwindigkeit  der  Schreib- 
fläche gezeichnet.      (Nach  RoUett.) 

Körpermuskeln  der  Insecten  erwarten  dürfen,  deren  Aveitgehende  histo- 
logische Verschiedenheit  von  vorneherein  auf  entsprechende  functionelle 
Differenzen  hinweist.  Leider  liegen  eingehendere  Untersuchungen  über 
den  Zuckungsverlauf  der  ersteren  bisher  nicht  vor,  und  man  weiss 
nur,  dass  sie  sich  ausserordentlich  rasch  contrahiren  können.  Dagegen 
hat  Rollett  neuerdings  sehr  interessante  Beobachtungen  mitgetheilt 
über  physiologische  Verschiedenheiten  gleichnamiger,  aber  histologisch 
differenter  Muskeln  bei  einander  sonst  sehr  nahe  stehenden  Insecten 
(Käfern)  (10). 

Alle  Skeletmuskelfasern  des  Dyticus  weichen  in  ihrem  Bau 
sehr  wesentlich  von  allen  Skeletmuskelfasern  des  Hydrophilus  ab, 
während  bei  jedem  dieser  Käfer  für  sich  alle  Muskelfasern  eine  ganz 
übereinstimmende  Structur  erkennen  lassen.  „Bei  Dyticus  zeigen 
sich  am  Querschnitt  platte  Muskelsäulchen  und  dementsprechend 
radiär  angeordnete  Cohnheimsche  Felder,  wobei  das  Sarkoplasma- 
geäder  von  grösseren,  die  Kerne  umgebenden  Ansammlungen  feder- 
artig ausstrahlt"  (Fig.  25).  Bei  Hydrophilus  dagegen  finden  sich 
polygonale  Cohnheimsche  Felder,  welche  in  der  Mitte  eine  von 
Sarkoplasma  erfüllte  Lücke  zeigen;  jedes  Muskelsäulchen  ist  daher  von 
einem  centralen  Canale  durchzogen  und  gleichmässig  vom  Sarkoplasma 
umrahmt.     Rollett   benutzte   Präparate   von   den   genannten  Käfern, 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


55 


an  welchen  die  die  Oberschenkel  des  hinteren  Beinpaares  bewegenden 
Muskeln  direct  mit  Inductionsschlägen  gereizt  wurden.  Bei  diesen 
Versuchen  ergab  sich  ein  wesentlicher  Unterschied  der  Dauer  und 
Form  der  Einzelzuckung  für  die  zwei  Käferspecies.  Die  Curve  des 
Dyticus-Muskels  steigt  rasch  zum  Maximum  der  Verkürzung  an ,  um 
hierauf  auch  wieder  schnell  zur  Abscisse  abzusinken.  Die  Curve  des 
Hydrophilus- Muskels  erreicht  ihr  Maximum  viel  später,  hält  sich 
nahe  demselben  längere  Zeit  und  fällt  dann  ganz  allmählich  ab  (noch 
gedehnter  verläuft  das  Myogramm  der  Muskeln  des  Maikäfers) 
(Fig.  36).  Der  Zuckungsverlauf  der  Dyticus-Muskeln  ist  also  dem 
der  weissen,  der  der  Hydrophilus-  und  Melolontha-Muskeln  jenem  der 
rothen  Kaninchenmuskeln  vergleichbar.  Im  Uebrigen  variirt  die  ab- 
solute Dauer  einer  Zuckung  und  ihrer  einzelnen  Stadien  in  allen 
Fällen  innerhalb  ziemlich  weiter  Grenzen.  Die  folgende  Tabelle  giebt 
die  Mittelwerthe  aus  einer  grösseren  Zahl  von  Einzelversuchen  nach 
Rollett. 


Käfer 

Latenz- 
stadium 

Zuckungs- 
daner 

Aufsteigender 
Curventheil 

Absteigender 
Curventheil 

Dy  ticus 

Hydrophilus 

Melolontha 

0,017 
0,047 
0,075 

0,112 

0,350 
0,527 

0,055 
0,108 
0,110 

0,057 
0,242 
0,411 

Vergleicht  man  damit  die  Zahlen,  welche  Marey  (11)  für  die 
Flugmuskeln  verschiedener  Insecten  als  der  möglichen  Zuckungs- 
geschwindigkeit pro  Sekunde  entsprechend  angiebt,  so  wird  der  ausser- 
ordentlich weitgehende  Unterschied  beider  Muskelarten  in  sehr  deut- 
licher Weise  klargestellt: 

Stubenfliege 330 

Hummel 240 

Biene 190 

Wespe 110 

Libelle 28 

K  0  h  1  w  e  i  s  s  1  i  n  g 9 

und  wieder  zeigt  sich ,  dass  die  betreffenden  Eigenschaften  der  Mus- 
keln schon  in  den  Bewegungen  des  unversehrten  Thieres  mehr  oder 
weniger  deutlich  zum  Ausdruck  kommen. 

Aus  dem  Bisherigen  ergiebt  sich,  dass  nicht  nur  die  quergestreiften 
Muskeln  verschiedener  Thiere,  sondern  auch  die  einer  und  derselben 
Thierspecies  sehr  weitgehende  Differenzen  in  Bezug  auf  die  zeitlichen 
Verhältnisse  des  Contractionsverlaufes  darbieten.  Dasselbe  gilt 
nun  nach  Grützners  Untersuchungen  auch  für  die  Fasern 
eines  einzelnen  Muskels.  So  wie  es  „flinke"  und  „träge"  Mus- 
keln giebt,  so  giebt  es  auch  flinke  und  träge  Muskelfasern,  die 
in  vielen  und  vielleicht  den  meisten  Fällen  einen  anatomisch  einheit- 
lichen Muskel  zusammensetzen.  Schon  im  Jahre  1805  hat  Ritter 
eine  physiologische  Verschiedenheit  verschiedener  Muskelgruppen  be- 
hauptet und  den  Beugern  beim  Frosche  eine  geringere,  „bedingte, 
endliche",  den  Streckern  eine  beträchtlichere,  „unbedingte,  unendliche" 


56  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Erregbarkeit  zugeschrieben.  Auf  die  betreffenden  Thatsachen  wird  an 
anderer  Stelle  näher  einzugehen  sein;  hier  sei  nur  darauf  hingewiesen, 
dass  auch  durch  spätere  Versuche  (insbesondere  vonRollett)  gezeigt 
wurde,  dass  bei  elektrischer  Reizung  des  K.  ischiadicus  die  Beuger 
wesentlich  durch  schwache,  die  Strecker  durch  stärkere  Ströme  gereizt 
werden.  Grützner  constatirte  dann  (12),  dass  nicht  nur  bei  indirecter 
Erregung  vom  Nerven  aus,  sondern  auch  bei  directer  Reizung 
die  Beuge muskeln  des  Frosches  sich  früher  und  viel 
schneller  zusammenziehen,  als  die  Strecker,  was  am  deut- 
lichsten hervortritt,  wenn  beide  Muskelarten  durchblutet  und  nicht 
übermüdet  sind. 

Es  würde  sich  also  hier  zunächst  nur  um  ein  weiteres  Beispiel 
für  den  schon  erörterten  Satz  handeln,  dass  verschiedene  Muskeln 
desselben  Thieres  sich  unter  Umständen  durch  eine  verschiedene 
Zuckungsdauer  und,  wie  gleich  hinzugefügt  werden  kann,  auch  durch 
eine  verschiedene  Erregbarkeit  auszeichnen.  Es  wird  später  noch  eine 
Beobachtung  Ran  vier 's  zu  erwähnen  sein,  der  zufolge  der  aus  rothen 
(trägen)  und  blassen  (flinken)  Fasern  gemischte  Triceps  humer i  des 
Kaninchens  im  Anfang  einer  längeren  Reizfolge  wegen  der  leichteren 
Erregbarkeit  der  blassen  Fasern  wie  ein  ungemischter  „weisser"  Muskel 
„flink"  zuckt,  im  Verlaufe  der  Ermüdung  aber  „träge"  wie  ein  rother, 
weil  die  leichter  erregbaren  flinken  Fasern  auch  rascher  ermüden,  als 
die  trägen,  aber  ausdauernderen  rothen. 

Ein  ganz  analoges  Verhalten  konnte  nun  G  r  ü  t  z  n  e  r  auch  an 
den  Beugern  und  Streckern  des  Froschfusses  constatiren.  Lässt  man 
nämlich  an  blutleeren  Schenkeln  die  trägeren  Strecker  und  die  flinken 
erregbareren  Beuger  häufige  Zuckungen  ausführen ,  so  verschwindet 
der  anfängliche  Unterschied  im  Contractionsverlauf  später  vollkommen, 
ja  er  kann  sich  sogar  umkehren.  Das  heisst,  die  Beuger,  die  vor- 
wiegend aus  leichter  erregbaren ,  flinken  Fasern  bestehen ,  ermüden 
auch  mehr  als  die  überwiegend  trägen,  resistenteren  Strecker.  Dies 
ergiebt  sich  auch  aus  folgendem,  von  Grützner  (I.e.)  angestellten 
Versuch.  Unterbindet  man  beim  Frosch  die  Arteria  iliaca  auf  der 
einen  Seite,  so  springt  das  Thier  zunächst  mit  scheinbar  gleicher 
Kraft  und  in  der  Richtung  seiner  Längsaxe,  indem  es  die  Strecker 
(Gastrocnemius)  beiderseits  gleich  gut  in  Thätigkeit  setzen  kann;  bald 
jedoch  lässt  es  die  Extremität  auf  der  unterbundenen  Seite  ausge- 
streckt liegen  und  zieht  sie  erst  später,  nach  dem  Sprung,  an  den 
Körper  heran :  die  Erregbarkeit  der  Beuger  hat  durch  die  kurze 
Anämie  schon  beträchtlich  gelitten. 

Besteht  ein  einzelner  Muskel  aus  zwei  in  dem  angegebenen  Sinn 
physiologisch  verschiedenen  Fasergruppen,  und  überwiegt  die  eine 
nicht  allzu  sehr  über  die  andere,  so  ist,  wie  leicht  ersichtlich,  die 
Zuckungscurve  bei  genügend  starker  Reizung  als  aus  der  Combination 
von  zwei  durch  Form  und  Verlauf  verschiedenen  Zuckungscurven 
hervorgegangen  anzusehen,  und  es  wird  sich  dies  unter  Umständen 
auch  an  den  Myogrammen  selbst  ausprägen  können.  In  der  That 
kennt  man  schon  seit  lange  eigenthümliche  d  oppelgip feiige 
Zuckungscurven,  deren  Zustandekommen  sich  nun  leicht  er- 
klärt (13).  In  manchen  Fällen,  wenn  die  „trägen"  Fasern  nicht  all- 
zu sehr  hinter  den  „flinken"  zurückstehen,  sieht  man  gleich  bei  den 
ersten  Reizungen  auch  die  ersteren  zur  Geltung  kommen;  die  Curve 
ist   gleich   von  vorneherein    zweigipfelig ,    wie    beispielsweise    die    des 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  57 

Waden muskels  der  Ratte  (14)  und  in  der  Regel  auch  die  des 
Sartorius  vom  Frosch.  In  anderen  Fcällen,  wo,  wie  in  der  Regel, 
die  flinken  Fasern  in  der  Mehrzahl  vorhanden  sind,  contrahirt  sich 
der  gemischte,  frische  Muskel  in  Folge  künstlicher  Reizung  Anfangs 
nur  nach  Art  der  flinken  Fasern  rasch,  während  die  gleichzeitig  mit- 
erregten, aber  langsamer  und  träger  sich  contrahirenden  Antheile  ein- 
fach mitgerissen  werden.  Ermüdet  man  aber  mehr  und  mehr  die 
flinken  Antheile,  so  kommen  nun  auch  die  trägen  Fasern  zur  Geltung, 
und  die  Curve  wird  zweigipfelig  (15). 

In  sehr  instructiver  Weise  lässt  sich,  wie  Grützner  fand  (16), 
die  verschiedene  Erregbarkeit  und  der  Unterschied  im  Zuckungsver- 
lauf der  flinken  und  trägen  Fasern  mittelst  chemischer  Reizung  am 
Sartorius  des  Frosches  zeigen.  Betupft  man  nämlich  die  obere,  unmittel- 
bar unter  der  Haut  liegende  Fläche  dieses  Muskels  mit  einer  1 — 2"/o 
Lösung  von  Kalisalpeter,  so  zieht  sich  der  Muskel  langsam  zu- 
sammen; betupft  man  dagegen  in  gleicher  Weise  die  untere  Fläche, 
so  bleibt  der  Erfolg  oft  ganz  aus  oder  ist  doch  viel  geringer.  Wohl 
aber  zuckt  der  ganze  Muskel  blitzschnell,  wenn  man  ihn 
elektrisch  mit  einem  Inductionsschlag  reizt.  Die  Ursache  dieses 
auffallenden  Verhaltens  hätte  man  nach  Grützner  darin  zu  suchen, 
dass  der  Sartorius  des  Frosches  im  Wesentlichen  aus  zAvei  Schichten 
verschiedener  Muskelfasern  besteht,  indem  die  oberen  (trägen) 
sich  langsamer  zusammenziehen  als  die  unteren  (flinken) 
und  nur  die  ersteren  durch  das  Kalisalz,  beide,  namentlich 
aber  die  flinken,  durch  den  elektrischen  Reiz  erregt 
werden.  Aehnlich  verhalten  sich  auch  viele  Warmblütermuskeln 
(besonders  dünne,  wie  Bauchmuskeln,  Zwerchfell)  im  curarisirten 
Zustande.  Betupft  man  sie  mit  Salzlösung,  so  ziehen  sie  sich  ganz 
langsam  (wurmförmig)  zusammen;  reizt  man  jedoch  dieselbe  Stelle 
vorher  oder  nachher  mit  einem  Inductionsschlag,  so  erfolgt  ihre  Zu- 
sammenziehung blitzschnell  zuckend. 

Es  kann  auf  Grund  der  mitgetheilten  Thatsachen  nicht  wohl  be- 
zweifelt werden,  dass  in  sehr  vielen  Fällen  ein  Muskel  keine 
physiologische  Einheit  darstellt,  sondern  eine  Mischung  von 
mindestens  zwei  functionell  verschiedenen  Elementen,  die  bei  den 
normalen  Bewegungen  der  Thiere  wohl  auch  verschiedenen  Zwecken 
dienen,  Avie  schon  aus  der  Uebereinstimmung  des  Bewegungsmodus 
eines  Organs  oder  eines  einzelnen  Muskels  und  der  Zahl  der  die  Be- 
wegung charakterisirenden  flinken  oder  trägen  Fasern  hervorgeht. 
Besonders  instructiv  ist  es  in  dieser  Beziehung,  dass,  wieRollett  be- 
merkt, an  den  Flügeln  gewisser  Insecten  sich  ausser  den  durch  un- 
gemein rasche  Contractionen  ausgezeichneten  Thoraxfibrillen  auch 
andere  in  anatomischer  und  physiologischer  Hinsicht  vollkommen  ver- 
schiedene Muskeln  inseriren,  die  allerdings  an  Masse  im  Vergleich 
zu  jenen  (den  eigentlichen  Flugmuskeln)  sehr  zurücktreten.  Das  Vor- 
kommen von  zweierlei  Muskeln  steht  hier  offenbar  in  Beziehung  zu 
zwei  verschiedenen  Actionen.  Die  eine  derselben  ist  die  Entfaltung 
des  Flugapparates,  Stellung  der  Flügeldecken  und  Ausspannung  der 
Flügel.  Diese  Action  erfolgt  etwa  nach  demselben  Modus  wie  die 
Bewegung  der  Beine.  Die  zweite  Action  dagegen  ist  das  Fliegen 
selbst,  von  welchem  durch  die  Untersuchungen  Marey's  bekannt 
ist,  dass  es  bei  den  Insecten  durch  eine  oft  zu  ausserordentlicher 
Höhe  gesteigerte  Frequenz   des  Flügelschlages   zu  Stande  kommt.    In 


58  Die  Forinänderuiig  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

diesem  Falle  ist  der  anatomische  Unterschied  der  flinken  und  trägen 
Fasern  höchst  bedeutend,  und  die  Thoraxiibrillen  nehmen  deswegen 
nicht  nur  in  physiologischer,  sondern  auch  in  anatomischer  Beziehung 
eine  Sonderstellung  ein.  Sie  vereinigen  in  sich  gewissermaassen  alle 
jene  Eigenschaften,  durch  welche  sonst  in  der  Regel  ausdauernde 
und  rasch  sich  contrahirende  Muskeln  ausgezeichnet  sind, 
nämlich  einerseits  grossen  Sarkoplasmareichthum  und  an- 
dererseits eine  sehr  entwickelte,  besonders  reiche  Quer- 
s  treifung. 

In  den  meisten  anderen  Fällen  sind  die  histologischen  Unter- 
schiede zwischen  flinken  und  trägen  Muskelfasern  viel  geringer.  Im 
Allgemeinen  kann  man  sagen,  dass  die  letzteren,  wenigstens  bei 
denWirbelthieren,  sarkoplasma  reich  er,  trüb  und  oft 
auch  schmaler  sind,  während  die  flinken,  erregbareren, 
aber  auch  leichter  zu  ermüdenden  M u s k e  1  f a s e r n  we- 
niger Sarkoplasma  enthalten  und  daher  heller  er- 
scheinen und  meist  auch  breiter  sind.  Wie  schon  früher 
erwähnt,  sind  ferner  die  trüben  Fasern  oft  durch  Hämoglobin  oder 
andere  Farbstofte  gefärbt,  ohne  dass  dies  jedoch  immer  der  Fall 
wäre. 

Ein  ganz  analoges  Verhältniss  wie  bei  dem  Flugapparat  mancher 
Insecten  flndet  sich  auch  bei  sehr  vielen  Muscheln,  indem  der  Schliess- 
muskel  aus  zwei  durch  Farbe  und  Structur  scharf  gesonderten  Theilen 
besteht,  die  nachweisbare  physiologische  Verschiedenheiten  darbieten 
und  verschiedenen  Functionen  angepasst  sind.  In  sehr  auffallender 
Weise  macht  sich  dies  bei  Pecten- Arten  geltend,  wo  der  grössere 
(gelblichgrau  erscheinende)  Antheil  des  Schliessmuskels  aus  quer- 
gestreiften, der  (weiss  aussehende)  Rest  aus  glatten  Muskel- 
zellen zusammengesetzt  ist.  Wie  Coutance  und  Jhering  zeigten, 
vollführt  der  erstere  allein  die  rasche  Schliessung  der  Schale, 
während  der  glatte  Muskel  dieselbe  langsam  schliesst,  aber 
dauernd  und  mit  grosser  Kraft  geschlossen  hält.  Dies  ist  nicht 
mehr  möglich  und  die  Schale  klafft  sofort,  wenn  der  glatte  Antheil 
des  Muskels  durchschnitten  wird;  der  gestreifte  kann  dann  noch  bei 
Reizung  rasche  Schliessung  bewirken,  aber  dieselbe  ist  nie  von 
langer  Dauer.  Die  Zweckmässigkeit  einer  solchen  Einrichtung  liegt 
auf  der  Hand.  Coutance  (18)  hat  auch  schon,  Avie  später  K  n  oll  (17), 
durch  directe  Reizversuche  den  sehr  auffallenden  Unterschied  im 
Contractionsverlauf  des  glatten  und  gestreiften  Theiles  des  Schliess- 
muskels nachgewiesen.  Aehnlich  wie  Pecten  verhält  sich  nach 
Knoll  auch  Lima  inflata,  deren  Schliessmuskel  zwar  nicht  aus 
zwei  schon  makroskopisch  deutlich  gesonderten  Antheilen  besteht, 
aber  in  mehrfacher  Lage  an  der  Peripherie  und  vereinzelt  im  Innern 
glatte  Elemente  enthält,  während  die  Hauptmasse  des  Muskels  aus 
quer-  (bezw.  schräg-)  gestreiften  Zellen  besteht.  „Ruhig  in  Seewasser 
gelassen,  klaff"en  die  Schalen  dieser  Muschel  in  der  Regel  nicht  un- 
erheblich; von  Zeit  zu  Zeit  aber  klappen  sie  jäh  zusammen,  Avodurch 
das  Thier  sich  ähnlich  wie  Pecten  kräftig  weiter  zu  schnellen  ver- 
mag. Auch  bei  der  Auster  besteht  der  Schliessmuskel  aus  einem 
durchscheinenden  grauen  und  einem  weissen,  sehnenähnlichen  Theil, 
während  bei  M  y  t  i  1  u  s  nur  der  weisse ,  bei  Solen  nur  der  graue 
vorkommt.  Schwalbe,  welcher  zuerst  die  Zusammensetzung  des 
grauen  Antheils  aus   „doppeltschräggestreiften"  Muskelzellen  erkannte. 


Die  Formänderung  des  Muskels   bei  der  Thätigkeit.  59 

machte  auch  schon  auf  functionelle  Unterschiede  beider  Theile  auf- 
merksam. Vergleicht  man  den  Act  des  Schalenschliessens  bei  Ostrea 
und  Mytilus,  so  sieht  man,  dass  bei  ersterer  derselbe  auf  Ein- 
wirkung äusserer  Reize  hin  plötzlich  und  rasch  geschieht,  bei 
letzterer  dagegen  sehr  langsam  und  allmählich,  so  dass  man  bei  offen- 
stehenden Schalen  bequem  die  Schliessmuskel  durchschneiden  kann, 
ohne  dass  dabei,  wie  bei  der  Auster,  das  Messer  eingeklemmt  wird. 
Schwalbe  glaubt  daher,  dass  die  doppeltschräggestreiften  Fasern 
der  Auster  mehr  für  plötzliche  und  energisch  auszuführende  Bewegungen 
eingerichtet  sind,  während  die  längstibrillären  wohl  auch  hier  den 
festen  Schluss  besorgen.  Bei  Anodonta,  wo  eine  ähnliche  Diffe- 
renzirung  des  Schliessmuskels  in  zwei  schon  makroskopisch  unter- 
scheidbare  Abschnitte  besteht,  konnten  weder  Engelmann  noch  ich 
selbst  einen  merkbaren  Unterschied  in  der  Geschwindigkeit  der  Con- 
traction  zwischen  den  beiden  verschieden  gefärbten  Theilen  des 
Schliessmuskels  nachweisen  (19). 


II.    Al)häiigigkeit  der  Miiskelcontraction  Yon  der  Stärke 
der  Heizung. 

Eine  systematische  Untersuchung  über  diesen  Punkt  lässt  sich 
am  Besten  mit  Hülfe  des  elektrischen  Reizes  in  Form  einzelner  In- 
duktionsschläge ausführen,  da  sich  deren  Stärke  mit  fast  unbegrenzter 
Feinheit  abstufen  lässt.  Wir  sind  so  in  den  Stand  gesetzt,  das  Gesetz 
der  Abhängigkeit  der  Verkürzung  von  der  Reizstärke  genau  zu  er- 
mitteln. Man  überzeugt  sich  leicht,  dass  unter  einem  gewissen  Grenz- 
werth  der  Intensität  (der  „Reizschwelle")  der  Reiz  überhaupt  nicht 
in  sich  tbar  er  Weise  erregend  wirkt;  die  Auslösung  einer  Contrac- 
tion  beginnt  erst  bei  einer  gewissen  Reizstärke,  und  ihre  Grösse  (Höhe) 
nimmt  dann  nach  Fick  bei  weiterer  Verstärkung  derselben  einige 
Zeit  proportional  mit  dem  Reize  zu;  überschreitet  die  Stromstärke 
jedoch  einen  gewissen  Werth,  so  hört  das  Wachsthum  der  Zuckungs- 
höhe auf  und  behält  von  nun  ab  für  jeden  grösseren  Werth  der 
Stromstärke  den  einmal  erreichten  Maximalwerth.  Diese  Grenze 
liegt  im  Allgemeinen  nur  wenig  über  derjenigen,  wo  die  erste,  eben 
merkliche  Zuckung  ausgelöst  wird.  Den  Vorgang  dieser  grössten  Ver- 
kürzung und  Wiederverlängerung  bezeichnet  man  als  eine  „maxi- 
male Zuckung".  Mit  Fick  (20)  kann  man  dieses  Verhalten  auch 
so  ausdrücken,  dass  man  sagt:  „Jeder  Reizanstoss  löst  entweder  eine 
maximale  oder  gar  keine  Zuckung  aus,  nur  in  einem  beschränkten 
Intervalle  der  Reizscala,  das  wegen  seiner  Kleinheit  oft  faktisch  schwer 
zu  treffen  ist,  liegen  Reizstärken,  die  untermaximale  —  sozusagen 
unvollständige  —  Zuckungen  auslösen."  Wir  werden  später  sehen, 
dass  es  Muskeln  giebt,  bei  welchen  immer  nur  maximale  Zuckungen 
beobachtet  werden  (Herz). 

Das  Gesetz  des  annähernd  proportionalen  Wachsens  der  Zuckungs- 
höhen innerhalb  des  erwähnten  kleinen  Intervalls,  welches  Fick 
seiner  Zeit  aus  Versuchen  über  indirecte  Reizung  von  Skeletmuskeln 
abgeleitet  hatte,  wurde  in  der  Folge  von  Tigerst  edt  (21)  bestritten, 
welcher  (auch  bei  directer  Reizung  curarisirter  Muskeln)  findet,  dass 
„bei    gleichförmigem    Zuwachs    der   Stärke    des   elektri- 


60  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

sehen  Reizes  die  Muskelzuckungen  zuerst  schnell,  dann 
immer  langsamer  (wahrscheinlich  in  Form  einer  Hy- 
perbel) zunehmen^  um  schliesslich  einem  Maximum  sich 
assymp totisch  zu  nähern"  (1.  c.  p.  16),  ein  Satz,  den  auch 
Hermann  schon  vorher  ausgesprochen  hatte  (4.  p.  108). 

Wie  schon  erwähnt,  scheint  der  Herzmuskel  sich  auf  den  ersten 
Blick  von  allen  quergestreiften  Stammesmuskeln  dadurch  zu  unter- 
scheiden, dass  jede  Beziehung  zwischen  der  Stärke  des  Reizes  und 
der  Clrösse  der  darauf  folgenden  Contraction  fehlt.  Aus  Unter- 
suchungen von  B  o  w d  i  t  c  h  und  K  r  o  n  e  c  k  e  r  (22)  ergiebt  sich ,  dass 
Inductionsströme  von  einer  bestimmten  Intensität  unter  allen  Um- 
ständen maximale  Zuckungen  der  vorher  ruhenden  Ventrikelmuskulatur 
auslösen,  während  schwächere  Reize  gar  keine  Wirkung  haben,  stärkere 
dagegen  keinen  anderen  Erfolg  als  die  schwächsten  überhaupt  wirk- 
samen Reize:  minimale  Reize  sind  daher,  wie  es  Kr o necker 
ausdrückt,  hier  zugleich  maximale,  und  selbst  bei  sorgfältigster 
Abstufung  der  Reizstärke  gelingt  es  nicht,  das  Herz  zu  einer  unvoll- 
ständigen Zuckung  zu  bringen.  Diese  Regel  scheint  nur  unter  ganz 
besonderen  Umständen  eine  Ausnahme  zu  erleiden.  Mays  (23)  fand 
nämlich ,  dass  zuweilen ,  und  zwar  sowohl  bei  höherer  wie  bei  nie- 
derer Leistungsfähigkeit  der  Herzspitze  vom  Frosch,  die  Höhen  der 
Pulse  (Zuckungen)  mit  der  Stärke  der  in  gleichmässiger  rhythmischer 
Folge  einwirkenden  Inductionsschläge  beträchtlich  wechseln.  Er  er- 
hielt diesen  Zustand  am  sichersten,  wenn  der  Ventrikel,  mit  altem 
Blute  gefüllt,  im  Oelbade  am  Manometer  arbeitet. 

Im  Uebrigen  Avird  man  Fick  beipflichten  müssen,  wenn  derselbe 
in  der  betreffenden  Eigenthümlichkeit  des  Herzmuskels  nur  die  „ex- 
treme Entwickelung  einer  Eigenschaft  erblickt,  welche  jeder  andern 
Muskelfaser  auch  zukommt",  da  ja  auch  hier  „die  Breite  des  Inter- 
valls der  Reizscala  für  die  untermaximalen  Zuckungen  in  gar  keinem 
Verhältniss  zu  dem  unbegrenzten  Theile  dieser  Scala  steht,  welchem 
die  maximalen  Zuckungen  entsprechen".  Freilich  wird  dadurch  das 
Räthselhafte  der  letzteren  an  sich  nicht  vermindert,  da  es  schwer 
einzusehen  ist,  warum  über  eine  gewisse  Grenze  hinaus  beliebig  starke 
Reize  immer  nur  quantitativ  gleiche  Umsetzungen  bewirken,  die 
nicht  einmal  dem  überhaupt  e  r  r  e  i  c  h  b  a  r  e  n  M  a  x  i  m  u  m  der 
Contraction  entsprechen. 

Dies  geht,  abgesehen  von  anderen  noch  zu  erwähnenden  That- 
sachen,  schon  aus  dem  Umstände  hervor,  dass  das,  was  durch  Steige- 
rung der  Reizstärke  nicht  zu  erzielen  ist,  durch  rhythmische 
Wiederholung  gleich  starker  Reize  erreicht  werden  kann. 
Es  wächst  nämlich  die  Zuckungs höhe  unter  Umständen, 
wenn  in  gleichen  Zwischenräumen  gleich  starke  Induc- 
tionsströme auf  den  Muskel  wirken.  Zuerst  wurde  diese  auf- 
fallende Erscheinung  gerade  wieder  am  Herzmuskel  von  Bowditch 
beobachtet,  worauf  Tiegel  und  Mi  not  dieselbe  auch  an  Skelet- 
muskeln  des  Frosches,  Rossbach  an  Warmblütermuskeln,  Riebet 
an  den  Muskeln  des  Krebses  und  Rom  an  es  an  jenen  der  Medusen 
feststellten  (24).  Wirken  in  rhythmischer  Folge  gleichstarke  Inductions- 
ströme auf  die  ruhende  Herzspitze  des  Frosches  ein,  so  gelingt  es  fast 
immer,  eine  förmliche  Stufenleiter  oder  „Treppe"  von  Contractionen 
mit  zunehmender  Amplitude  auszulösen,  wie  die  beistehenden  Curven- 
reihen  zeigen  (Fig.  37). 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


61 


Ganz  analoge  Erscheinungen  hat  in  der  Folge  Tiegel  (1.  c.  p.37) 
an  blutdurchströmten  und  mit  Curare  vergifteten  Froschmuskeln 
(Gastroenemius)  beobachtet.  Werden  einem  solchen  Muskel  in  regel- 
mässigen Intervallen  einzelne  Inductiousschläge  von  gleich  bleibender 
Stärke  zugeführt,  so  wachsen  die  Zuckungshöhen,  sofern  es  sich  um 
maximale  Reize  handelt,  continuirlich  an,  und  zwar  durch  eine  Reihe 
von  mehreren  Hundert  Zuckungen,  wobei  die  Höhe,  welche  die 
„Treppe"  (d.  i.  die  Curve,  welche  sämmtliche  Gipfelpunkte  einer  auf- 
steigenden Zuckungsreihe  verbindet)  erreichen  kann,  innerhalb  gewisser 
Grenzen  mit  der  Stärke  des  Einzelreizes  wächst.  Bei  Anwendung 
minimaler  Reizstärken  lässt  sich  gewöhnlich  kein  Ansteigen  der 
Zuckungsreihe  oder  doch  nur  eine  Spur  desselben  nachweisen,  während 
es  bei  den  maximalen  Reihen  stets  aufs  Schönste  entwickelt  ist  (Fig.  38). 


Fig.  37.     Herz   (Frosch)   nach   Sinusligatur    künstlicli   gereizt.     Die   erste    Zacke   jeder 

Curve  rührt  von  der  Vorkammersystole,  der  eigentliche  Gipfel  von  der  Kammersystole 

her.     Beide  zeigen  die  „Treppe".     (Nach  Engelmann.) 


Fig.  38.  Erregung  eines  etwas  erschöpften  blutleeren  Froschwadenmuskels  durch 
Gruppen  voij  je  1,  2,  3,  4,  5  gleichgerichteten  maximalen  Oeffuungsinductionsschlägen: 
Wachsen  der  Zuckungshöhen  bei  wiederholter  Reizung  in  kurzen  Intervallen  („Treppe"). 
Abnahme  bei  längerer  Dauer  der  Pause  (Stimmgabel:  ^/lo  Sek.).     (Nach  Engelmann.) 


Wird  eine  solche  Reihe  unterbrochen  und  nach  einer  Pause  wieder 
fortgesetzt,  so  ist  die  erste  der  neuen  Zuckungen  kleiner  als  die  letzte 
vor  der  Pause  (Tiegel,  R o  s  s  b  a  c  h ,  B  u  c  k  m  a  s  t  e  r) ,  doch  nimmt 
der  Muskel  seine  ansteigenden  Zuckungen  sofort  wieder  auf.  Hierbei 
ist  es  innerhalb  einer  gewissen  Breite  vollkommen  gleichgültig,  in 
welchem  Intervall  die  periodischen  Reizungen  erfolgen.  Eine  obere 
Grenze  ist  nur  dadurch  gegeben,  dass  die  Reize  nicht  gar  zu  selten  auf 
einander  folgen  dürfen,  wenn  noch  eine  „Treppe"  erscheinen  soll. 
Dieser  obere  Grenzwerth  beträgt  nach  Bowditch  für  den  Herzmuskel 
des  Frosches  etwa  60  Sekunden,  |für  quergestreifte  Skeletmuskel 
der  Warmblüter  nach  Rossbach  etwa  5  Sekunden.  Die  untere 
Grenze  ist  durch  jenen  Werth  des  Reizintervalles  bestimmt,  bei  welchem 
die  Zuckungsreihe  zu  einem  Tetanus  verschmilzt.  In  Bezug  auf  die 
Form  der  „Treppe"  ist  zu  erwähnen,  dass  dieselbe  unabhängig 
von  Stärke  und  Häufigkeit  der  Reize  stets  die  einer  gleichseitigen 
Hyperbel  ist. 

Berücksichtigt    man,     dass     die    geschilderte    Erscheinung    unab- 
hängig ist  von  der  Natur  des  Reizes  (sie  tritt   auch  bei  mechanischer 


Q2  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Reizung  hervor),  sowie  auch  vom  Btutgehalt  des  Muskels,  so  scheint 
es  zweifellos,  dass  man  es  hier  mit  einem  Process  zu  thun  hat,  der 
mit  dem  Erregungsvorgang-  bezw.  der  Contraction  des  Muskels  aufs 
Innigste  zusammenhängt.  Es  muss  späteren  Erörterungen  vorbehalten 
bleiben,  die  wahrscheinliche  Ursache  des  geschilderten  Verhaltens 
näher  zu  kennzeichnen.  Bemerkt  sei  nur  noch  an  dieser  Stelle,  dass 
eine  ähnliche,  nur  viel  länger  anhaltende  Nachwirkung  wie  nach 
j eder  einzelnen  Zuckung  auch  nach  einer  tetanischen  Reizung 
hervortritt.  Rossbach  (1.  c.)  wie  auch  Bohr  (25)  fanden,  dass  ein 
und  derselbe  Reiz  nach  dem  Tetanus  eine  grössere 
Wirkung  (stärkere  Zuckung)  hervorruft,  als  vor  demselben.  Bei 
maximalen  Reizungen  ist  diese  positive  Nachwirkung  oft  noch  nach 
mehr  als  ^/2  Stunde  nachweisbar. 

Wie  die  Höhe,  so  hängt  auch  die  Latenzdauer  der. 
Muskelzuckung  zum  Theil  von  der  Reizstärke  ab. 
Der  von  Helmholtz  für  directe  Reizung  des  Froschmuskels 
(Gastrocnemius)  mit  einzelnen  Oeffnungs-Inductionsschlägen  gefundene 
Werth  für  das  Latenzstadium  (0,01  Sek.)  hat  sich  bei  späteren  Unter- 
suchungen als  viel  zu  gross  herausgestellt,  denn  die  nach  verschie- 
denen Methoden  erhaltenen  Werthe  von  Place,  Klünder,  Lauter- 
bach, Gad,  Mendelssohn  zeigen  durchwegs,  dass  die  Latenz- 
dauer des  direct  mit  Inductionsschlägen  gereizten  Froschmuskels  nur 
etwa  0,005"— 0,006"  beträgt  (vergl.  T  i  g  e  r  s  t  e  d  t  [26]).  Auch  Tiger- 
stedt  (1.  c.  p.  152)  kommt  bei  seinen  ausgedehnten  Versuchen  zu 
demselben  Resultat.  Es  ist  übrigens  die  Möglichkeit  zu  erwägen,  dass 
die  Latenzdauer  der  Muskelzuckung  einen  noch  geringeren  Werth 
hat,  denn  bei  deren  Bestimmung  sind  noch  einige  andere  gleich  zu 
erwähnende  Momente  mit  zu  berücksichtigen.  Nach  Burdon- San- 
der son  (27)  beträgt  das  Stadium  der  latenten  Reizung  bei  Frosch- 
muskeln nur  0,0025  Sekunden,  und  Regeczy  (28)  leugnete  überhaupt 
ganz  dessen  Existenz.  Schon  Helmholtz  bemerkt,  dass,  wenn  man 
mit  Inductionsströmen  arbeitet,  die  hinreichend  stark 
sind,  um  das  Maximumder  Reizung  hervorzubringen,  die 
Intensität  der  Ströme  beliebig  verändert  werden  kann,  ohne  dass  da- 
durch die  Ergebnisse  der  Zeitbestimmungen  geändert  werden.  Tiger- 
stedt  findet  sowohl  beim  nicht  curarisirten  wie  beim  curarisirten 
Muskel  die  Latenzdauer  der  Zuckung  bei  directer  maximaler 
Reizung  mit  Oeffnungs-Inductionsschlägen  unabhängig  von  der  Stärke 
des  Reizes.  Innerhalb  des  Bereiches  der  Stromesintensität  jedoch, 
wo  mit  zunehmender  Reizstärke  auch  die  Zuckungshöhen  wachsen, 
nimmt  nach  Tiger stedt  mit  abnehmender  Zuckungshöhe 
die  Latenzdauer  stetig  zu,  und  zwar  zuerst  langsam, 
später  aber  immer  schneller.  Dies  gilt  sowohl  für  den  nor- 
malen wie  für  den  durch  Curare  entnervten  Muskel. 

Die  Latenzdauer  des  Gesa mmtmusk eis  und  des 
Muskelelementes. 

Es  ist  hier  der  Ort,  die  in  neuerer  Zeit  wiederholt  behandelte 
Frage  zu  streifen,  ob  das  Latenzstadium  des  Muskelelementes,  d.  h.  eines 
kleinsten  Abschnittes  einer  Primitivfaser,  von  dem  des  aus  zahlreichen 
Fasern  bestehenden  ganzen  Muskels  verschieden  ist  oder  nicht; 
Alles,  was  seit  H  e  1  m  h  o  1 1  z  über  den  zeitlichen  Verlauf  der  Contrac- 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Tliätigkeit.  63 

tion  experimentell  ermittelt  worden  ist,  bezieht  sich  auf  Muskelindi- 
viduen im  grob  anatomischen  Sinne.  Fassen  wir  aber  die  mechanische 
Zustandsänderung  des  „Muskelel  em  entes"  (d.  h.  eines  möglichst 
kleinen  Fasersegmentes)  näher  ins  Auge,  so  ist  es  leicht  ersichtlich, 
dass  dabei  nicht  nur  die  a  c  t  i  v  e  n ,  durch  den  Vorgang  der  Erregung 
bedingten  Form-  und  Lageveränderungen ,  sondern  auch  jene  p  a  s  - 
siven  Verlagerungen  mit  zu  berücksichtigen  sind,  welche  aus  der 
Verbindung  des  einzelnen  Muskelelementes  mit  anderen  in  der  Continuität 
der  Faser  resultiren.  Für  eine  eventuelle  Theorie  der  Muskelprocesse 
haben  natürlich  nur  die  ersteren  unmittelbare  Bedeutung,  nichtsdesto- 
weniger müssen  die  anderen  mit  berücksichtigt  werden,  weil  sie,  wie 
leicht  zu  zeigen  ist,  auf  die  Erscheinungsweise  der  Contraction  des 
Gesammtmuskels  von  wesentlichem  Einfluss  sind.  Es  ist  nicht  schwer 
zu  zeigen,  dass  bei  Reizung  eines  belasteten  parallel  fase- 
rigen Muskels  am  einen  Ende  die  von  der  Reizstelle 
entfernteren  Theile  eine  merkliche  Dehnung  erleiden, 
bevor  sie  in  Contraction  g e r  a t h e n.  Ueberaus  deutlich  lässt  sich 
dies  an  polymeren  Muskeln 
demonstriren  (29).  Wird  z.  B. 
der  M,  rectus  int.  maj.  des 
Frosches,  der  etwa  in  der 
Mitte  eine  schräge  sehnige 
Inscription  besitzt,  vertical  mit 
dem  tibialen  Ende  nach  oben 
aufgehängt  und  mit  zwei  Zei- 
chenhebeln armirt,  von  denen 
der  eine  in  die  obere  Muskel- 
hälfte dicht  über  der  Inscrip- 
tion, der  andere  in  die  knor- 
pelige Beckenpfanne  einge- 
stochen wird,  und  reizt  man 
dann  die  untere  Muskelhälfte 
mit  einzelnen  Inductionsschlä-  Fig.  39.    o  obere,  «  untere  Muskelhälfte. 

gen,   so  lässt  sich  bei  graphi-  (Nach  Münz  er.) 

scher  Verzeichnung  der  Ge- 
staltveränderungen beider  Muskelhälften  jederzeit  leicht  zeigen,  dass 
im  selben  Augenblick,  wo  die  untere  direct  gereizte  Hälfte  sich 
zu  verkürzen  beginnt,  die  obere  passiv  gedehnt  wird  (Fig.  39). 
„Das  dadurch  bedingte  Ansteigen  der  oberen  Curve  geht  aber 
bald  in  ein  Absteigen  bis  unter  die  Abscisse  über,  was  einem 
Kürzerwerden  der  oberen  Muskelhälfte  entspricht,"  welches  seinerseits 
ebenso  wie  die  vorhergehende  Verlängerung  passiv  verursacht  ist. 
„Sobald  nämlich  der  untere  Muskel  sich  contrahirt,  zieht  er  seine 
beiden  Enden  gegen  einander,  d.  \\.  er  hebt  einerseits  das  Ge- 
wicht, dehnt  andererseits  die  obere  Muskelhälfte.  Nun  aber 
fliegt  das  einmal  in  Bewegung  gesetzte  Gewicht  vermöge  seiner  Träg- 
heit über  die  eigentliche  Hubhöhe  hinaus  („Wurfhöhe"),  Im  selben 
Augenblick  wird  der  ganze  Muskel,  also  auch  die  obere  Partie,  entlastet; 
letztere  schnellt  daher  zusammen,  sie  verkürzt  sich  und  es  täuscht 
dies  eine  vitale  Contraction  vor"  (1.  c.  p.  251). 

In  der  That  wurde  diese  Erscheinung  seinerzeit  von  Regeczy 
(30)  auch  wirklich  zu  Gunsten  der  Annahme  verwerthet,  dass  sich  der 
Erregungsprocess   durch   eine   sehnige  Inscription   hindurch  von  einer 


64 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


Muskelhälfte  auf  die  andere  zu  übertragen  vermöge.  Wird  das  Schleudern 
in  passender  Weise  ganz  vermieden ,  so  erhält  man  unter  sonst 
gleichen  Verhältnissen  nur  Dehnung  der  oberen  Muskelhälfte,  die  so  lange 
andauert,  als  die  untere  verkürzt  bleibt.  Dasselbe,  was  hier  von  einem 
polymeren,  durch  eine  sehnige  Inscription  in  zwei  physiologisch  von 
einander  unabhängige  Hälften  getheilten  Muskel  gesagt  wurde,  lässt  sich 
aber  auch  übertragen  auf  die  beiden  Hälften  eines  monomeren  parallel- 
faserigen Muskels,  wie  etwa  des  Sartorius,  dessen  unteres  Ende  belastet 
und  gereizt  wird,  während  ein  leichter  Schreibhebel  durch  die  Mitte 
des  Muskels  gestochen  wird.  Stets  wird  dann  die  obereHälfte 
des  vertical  aufgehängten  Muskels  zuerst  merklich  ge- 
dehnt, ehe  die  Verkürzung  derselben  beginnt  (31).  Diese 
Erscheinung  fehlt,  Avenn  der  Zeiclienhebel  mit  dem  unteren  Ende  des 
Muskels  in  Verbindung  ist,  d.  h.  bei  der  gewöhnlich  üblichen  Art 
der  Aufzeichnung  der  Muskelcontraction. 

Es  ist  also  eine  der  Verkürzung  vorhergehende  Verlängerung 
(Dehnung)  des  Gesamm tmuskels  nicht  vorhanden.  Dagegen  er- 
leitet jedes  M  u  s  k  e  1  e  1  e  m  e  n  t  durch  Reizung  beziehungsweise  Contrac- 
tion  einer  entfei-nteren  Stelle  zunächst  eine  Dehnung,  denn  der  belastete 
Muskel  übt,  so  lange  er  bei  seiner  Contraction  der  Last  eine  Beschleu- 
nigung nach  oben  ertheilt,  einen  grösseren  Zug  auf  seinen  Aufhänge- 
punkt aus,  als  in  der  Ruhe  (Gad).  Es  ist  klar,  dass  durch  diesen 
Umstand  das  mechanische  Latenzstadium  des  Gesammt- 
muskels  wesentlich  länger  ausfallen  muss,  als  das  mecha- 
nische Latenzstadium  des  Muskelelementes,  und  dass 
demnach  das  kürzeste  noch  zu  beobachtende  Latenz- 
stadium des  Gesammtmuskels  dem  wahren  Werthe  des- 
jenigen des  Muskel elementes  am  nächsten  kommen  wird. 
Um  diese  Verzögerung  des  Latenzstadiums  möglichst  auszuschliessen, 
müsste  eigentlich  jeder  Punkt  des  ganzen  Muskels  gleichzeitig  erregt 
werden,  was  bei  keiner  Form  der  elektrischen  Reizung  der  Fall  ist. 
Auch  bei  Totaldurchströmung  geht,  wie  wir  sehen  werden,  die  Er- 
regung stets  nur  von  bestimmten  Stellen  der  durchflossenen  Muskel- 
strecke aus.  Auch  hier  stellt  daher  das  mechanische  Latenzstadium  nur 
die  obere  Grenze  der  wirklichen  Latenzdauer  dar,  da  ja  die  Energie 
(mechanische  Thätigkeitsäusserung)  des  Muskels  schon  über  einen  ge- 
wissen Werth  gestiegen  sein  muss,  ehe  er  dem  Schreibhebel  eine  merk- 
liche Bewegung  ertheilen  kann. 

Tigerstedt  (1.  c.)  hat  aus  einer  grossen  Zahl  von  Versuchen, 
welche  unter  den  verschiedensten  Bedingungen  angestellt  worden  waren, 
für  die  Grösse  des  mechanischen  Latenzstadiums  des  Frosch-Gastro- 
cnemius  folgende  Werthe  bestimmt: 


Latenzdauer 
in  Sek. 

Zahl 
der   Versuche 

Procentisch 

0,003 

1 

1,2 

0,004 

19 

22,1 

0,005 

35 

40,7 

0,006 

24 

27,9 

0,007 

6 

6,9 

0,008 

1 

1,2 

Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  65 

Die  mechanische  Latenzdauer  würde  demnach  in  diesem  Falle 
0,004—0,006  Sekunden  betragen ;  in  der  grössten  Zahl  der  Fälle  (41  ^lo) 
beträgt  sie  0,005.  Sicher  wird  also  das  mechanisclie  Latenzstadium 
des  Muskelelementes  nicht  länger  als  0,004  Sekunden  sein  können, 
wahrscheinlich  ist  es  aber  noch  sehr  viel  kleiner,  da  es  als  sicher 
gelten  darf,  dass  innerhalb  der  als  Latenzdauer  der  Muskelzuckung  ge- 
wöhnlich bezeichneten  Zeit,  welche  zwischen  dem  Augenblick  der 
Reizung  und  dem  irgendwie  bestimmten  Beginn  der  Verkürzung  verfliesst, 
eine  grosse  Menge  Muskelelemente  schon  in  mechanischer  Wirksam- 
keit begriffen  sind.  Am  ehesten  würde  man  noch  aus  dem  Latenzstadium 
der  Verdickung  einer  direct  gereizten  Muskelstelle,  wobei  ja  der 
Thätigkeitszustand  eines  kleinen  Muskelstückes  in  seiner  zeitlichen 
Entwickelung  verfolgt  wird,  auf  die  Latenz  des  Muskelelementes 
schliessen  dürfen.  Da  ein  einziges  Muskelelement  viel  zu  klein  ist,  um 
allein  für  sich  durch  seine  Contraction  irgend  einen  merklichen  mecha- 
nischen Effect  hervorzubringen,  so  lässt  sich  die  Frage  nach  der  Grösse 
seines  mechanischen  Latenzstadiums  direct  überhaupt  nicht  experi- 
mentell lösen  (Gad).  Dass  es  für  die  durch  einen  Reiz  bewirkten 
chemischen  Veränderungen  der  Muskelsubstanz  kein  Latenz- 
stadium giebt,  darf  auf  Grund  später  zu  erörternder  Erfahrungen  als 
sicher  gelten;  inwieweit  aber  eine  merkliche  Zeit  verstreicht,  ehe  an 
Ort  und  Stelle  mechanischeEnergie  entwickelt  wird,  muss  als 
fraglich  bezeichnet  werden. 


III.   Einfluss  der  Belastung  (Spannung)  auf  Orösse,  Dauer  und 
Form  der  Muskeleontraction. 

Es  wurde  schon  erwähnt,  dass  der  gänzlich  unbelastete  (etwa  auf 
Quecksilber  schwimmende)  Muskel  seine  contrahirte  Gestalt  beibehält, 
wenn  nicht  eine  dehnende  Kraft  einwirkt.  Es  ist  daher  auch  unmög- 
lich, den  Verlauf  der  Verkürzung  und  Wiederverlängerung  eines  ab- 
solut ungespannten  Muskels  graphisch  darzustellen.  Stets  muss  mit 
demselben  ein  wenngleich  noch  so  leichter  Hebel  verbunden  werden, 
dessen  Lageveränderung  durch  einen  der  Verkürzung  entgegen- 
wirkenden Zug  (Belastung)  wieder  ausgeglichen  wird,  sobald  die  Er- 
schlaffung beginnt.  Dadurch  sind  gewisse  Fehler  der  Zuckungs- 
curven  bedingt,  die  namentlich  bei  den  älteren  Versuchen,  wo  träge 
Massen  nicht  vermieden  waren,  sehr  störend  hervortraten.  Besonders 
im  absteigenden  Ast  der  Curve  kommt  es  dann  in  Folge  der  Eigen- 
schwingungen der  im  Herabfallen  stark  beschleunigten  Massen  zu 
secundären  kleineren  Wellen,  denen  active  Gestaltveränderungen  des 
Muskels  nicht  entsprechen.  Später  hat  man  es  gelernt,  diese  Fehler 
durch  Benutzung  möglichst  leichter  Hebel  und  passende  Wahl  des 
Angriffspunktes  der  Last  fast  ganz  zu  vermeiden  (20). 

Wenn  während  des  Ablaufes  einer  Zuckung  die  Spannung  des 
Muskels  annähernd  constant  bleibt,  wie  es  der  Fall  ist,  wenn  man 
denselben  an  einem  langen,  einarmigen  Hebel  von  möglichst  geringer 
Masse  angreifen  lässt,  während  ein  Gewicht  in  grosser  Nähe  der 
Drehaxe  an  demselben  Hebel  in  entgegengesetzter  Richtung  wirkt,  so 
bezeichnet  man  eine  solche  Zuckung  als  eine  „i  s  o  t  o  n  i  s  c  h  e"  (F  i  c  k) 
(Fig.  40).  Es  zeigt  sich  nun,  dass  im  Allgemeinen  bei  stärkerer  Be- 
lastung die  Höhe  solcher  Zuckungen   mit   der  Grösse   der   constanten 

Biedermauii ,  Elektrophysiologie.  5 


66 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


Spannung  allmählich,  und  zwar  anfangs  rasch,  später  viel  langsamer 
abnimmt,  aber  keineswegs  proportional  der  Belastung,  so 
dass  die  entsprechenden  Arbeits  werthe  gleichzeitig  un- 
unterbrochen zunehmen  (vergl.  die  Tabelle  bei  Santesson  im 
Scandinavischen  Archiv  I,  1889,  p.  25f.).  Unter  gewissen  Bedingungen 
macht  sich  bei  wachsender  Spannung  direct'eine  Zunahme  der  Con- 
tractionsgrösse  (Zuckungshöhe)  bemerkbar.  Nachdem  schon  1863 
A.  F  i  c  k  an  dem  aus  einkernigen  Faserzellen  bestehenden  Schliess- 
muskel  von  Anodonta  beobachtet  hatte,  dass  die  Hubhöhen  mit  zu- 
nehmender Belastung  wachsen,  constatirte  Heidenhain  dieselbe 
paradoxe  Thatsache  bei  tetanisirender  Reizung  von  quergestreiften 
Froschmuskeln ,  und  später  wurde  dies  auch  bei  Einzelzuck- 
ungen   von   verschiedenen  Forschern  beobachtet,  Avenn 


40.     Isotonisches  Verfahren. 
(Nach  Gad.) 


bei  isotonischem  Verlauf  die  Belastung  nicht  zu  gross 
war  (Fick,  Marey,  v.  Frey,  32).  Besonders  in  dem  Falle, 
wenn  die  Spannung  des  Muskels  während  der  Contrac- 
tion  stetig  oder  von  einem  bestimmten  Zeitmomente  an 
zunimmt,  wie  es  beispielsweise  der  Fall  ist,  wenn  der  Muskel  an 
einer  elastischen  Feder  angreift,  fällt  die  Verkürzung  grösser 
aus  bei  stärkerer  Anfangsspannung  als  bei  schwächerer. 
Diese  Thatsache  wurde  schon  von  Fick  constatirt,  indem  er 
zeigte,  dass,  wenn  ein  Muskel  in  geeigneter  Weise  an  der  Verkürzung 
gehindert  wird  und  die  Zeit  zwischen  Reiz  und  Freigeben  des 
Muskels  passend  gewählt  war,  die  Zuckung  stets  grösser  ausfiel  als 
unter  gewöhnlichen  Verhältnissen.  Dieselbe  Erscheinung  zeigte  sich 
auch,  wenn  der  Muskel  mit  immer  grösseren  Gewichten  belastet  und 
immer  im  selben  Zeitmomente  nach  der  Reizung  freigegeben  wurde. 
Place  (32)  fand  dann,  dass  bei  Anwendung  eines  federnden 
Schreibhebels,  wo  der  zu  überwindende  Widerstand  und  daher  auch 
die  Spannung  während  des  Zuckungsablaufs  stetig  zunimmt,  trotzdem 
auch  die  Zuckungshöhe  bisweilen  zunahm,  wenn  die  Anfangsspannung 
von  0—25  gr  vermehrt  wurde.  Später  hat  Tiger stedt  (26)  unter 
denselben  Umständen  auch    bei  noch  höheren  Anfangsspannungen  ein 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  67 

Wachsen  der  Zuckungsgrösse  beobachtet.  In  einer  sehr  ausführ- 
lichen Arbeit  hat  endlich  C.  G.  Santesson  diese  Verhältnisse  be- 
handelt (32). 

Es  ist  durch  alle  diese  Versuche  als  sicher  erwiesen  zu  be- 
trachten, dass  innerhalb  gewisser  Grenzen  die  Contr ac- 
tio n  s  g  r  ö  s  s  e  (Z  u  c  k  u  n  g  s  h  ö  h  e)  mit  der  A  n  f  a  n  g  s  s  p  a  n  n  u  n  g , 
sowie  mit  dem  Spannungszuwachs  während  der  Zuckung 
wächst,  wobei  zu  bemerken  bleibt,  dafs  diese  Zunahme  der  Zuckungs- 
höhe weder  von  den  mechanischen  Bedingungen  der  Versuche  an  und 
für  sich,  noch  von  einem  etwaigen  erregbarkeitsändernden  Einfluss 
des  elektrischen  Reizes  bedingt  sein  kann,  sondern  durch  eine  spe- 
cifische  Eigen thümlichkeit  der  lebendigen  Muskelsub- 
stanz veranlasst  ist.  Der  Muskel  ist,  wie  dies  Fick  ausdrückt, 
in  einem  gewissen  Moment  der  Zuckung  nicht  immer  derselbe 
elastische  Körper,  welchem  je  nach  der  in  diesem  Augenblicke  gerade 
bestehenden  Länge  ein  bestimmter  (immer  gleicher)  Spannungswerth 
zukäme.  Die  Ursachen  der  betreffenden  Wirkungen  wird  man  aber 
füglich  in  nichts  Anderem  erblicken  können,  als  in  einem  durch  die 
mechanischen  Bedingungen,  unter  denen  sich  die  Zuckung  vollzieht, 
bedingten  und  mit  ihnen  wechselnden  latenten  Erregungszustande. 
Schenk  (33)  spricht  es  übrigens  direct  aus,  dass  die  starken  Zugkräfte, 
welchen  der  Muskel  stets  ausgesetzt  erscheint,  wenn  seine  Zusammen- 
ziehung irgend  gehemmt  oder  nur  erschwert  ist,  auf  denselben  als 
„Reiz"  wirken,  der  seinerseits  sowohl  die  contrahirenden ,  wie  imter 
Umständen  auch  die  contractionslösenden  Processe  zu  beeinflussen  ver- 
mag. Gleichzeitig  mit  der  Höhe  ändert  sich  nämlich  in  der  Regel  auch 
die  Zuckungs d a u e r  mit  wachsender  Spannung  des  Muskels;  dagegen 
wird  der  Beginn  der  Verkürzung  nicht  merklich  beeinflusst.  Wenn 
Tiger stedt  die  vom  Muskel  zu  bewegende,  äquilibrirte  Masse  bis 
zu  200  Gramm  steigerte,  sah  er  die  Latenzdauer  nur  äusserst  wenig 
verlängert  im  Vergleich  zu  deren  Werth  bei  alleiniger  Anwendung 
des  leichten,  fast  raasselosen  Hebels. 

Das  eben  geschilderte  Verhalten  quergesti'eifter  Stammesmuskeln 
der  Wirbelthiere  ist,  wie  erwähnt,  keineswegs  für  diese  charakteristisch, 
sondern  es  lässt  sich  auch  an  glatten  Muskeln  sowie  am  Herzmuskel 
constatiren,  ja  es  treten  hier  sogar  die  betreffenden  Erscheinungen 
noch  viel  deutlicher  hervor.  Der  Versuche  von  Fick  über  den  Ein- 
fluss der  durch  verstärkte  Belastung  gesteigerten  Spannung  auf  die 
Contractionsgrösse  des  Schliessmuskels  von  Anodonta  wurde  schon 
oben  gedacht.  Sehr  auffallend  gestalten  '  sich  die  Erfolge  einer  ver- 
mehrten Spannung  des  Herzmuskels  sowohl  bei  Wirbelthieren  wie 
bei  Wirbellosen.  Freilich  sind  die  beobachteten  Wirkungen  nicht 
immer  eindeutig  in  Folge  der  die  normalen  rhythmischen  Bewegungen 
des  Herzens  in  der  Regel  vermittelnden  intracardialen  Nervenapparate, 
deren  Mitwirkung  nur  schwer  auszuschliessen  ist.  Am  einfachsten  ge- 
stalten sich  die  Versuche  an  dem  von  den  Vorhöfen  abgetrennten 
ganglienfreien  Ventrikel  des  Froschherzens,  der  sogen.  „Herz- 
spitze", sowie  an  dem  S chn eck  en herz  en  (Helix  pomatia),  in 
welchem  Ganglienzellen  mit  Sicherheit  ebenfalls  nicht  nachgewiesen 
sind.  Da  die  Herzspitze  des  Frosches  wie  jeder  ausgeschnittene 
Stammesmuskel  nur  bei  künstlicher  Reizung  sich  contrahirt,  sonst  aber 
fortdauernd  in  Ruhe  verharrt,  so  eignet  sie  sich  vortrefflich  zur  Unter- 
suchung   des   Einflusses    einer    durch    Steigerung    des    intracardialen 

5* 


QQ  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Druckes  vermehrten  Spannung  der  Muskelwand  auf  die  Reizbarkeit 
und  Leistungsfähigkeit  derselben.  Derartige  Versuche  wurden  zuerst 
von  Ludwig  und  Luchsinger  (34)  angestellt.  Um  den  Einfluss 
des  Druckes  möglichst  isolirt  untersuchen  zu  können,  wurde  die  Herz- 
spitze mit  physiologischer  Kochsalzlösung  gefüllt.  Bei  einem  Druckwerth 
von  etwa  20—50  Ctm.  Wasser  beginnen  dann  meist  regelmässige 
rhythmische  Pulsationen  des  vorher  ruhenden  Ventrikels.  Meist  ist 
eine  geringe  mechanische  Reizung  noth wendig,  um  eine  erste  Con- 
traction  zu  Stande  zu  bringen,  der  sich  aber  dann  eine  lange  Reihe 
anderer  spontan  anschliesst.  Mit  dem  Wechsel  des  Druckes  wechselt 
auch  die  Pulszahl  in  ganz  gesetzmässiger  Weise,  und  zwar  ist  sie 
innerhalb  gewisser  Grenzen  um  so  höher,  je  grösser  der  Druck  (vgl. 
Tabelle  bei  Luchsinger  1.  c.  p.  293).  Analoge  Beobachtungen  an 
dem  ebenfalls  ganglienfreien  Bulbus  aortae  des  Frosches  theilt 
Engelmann  (35)  mit.  Am  auffallendsten  äussert  sich  jedoch  der  Ein- 
fluss der  Wandspannung  bei  dem  dünnwandigen  Schneckenherzen  (36). 
Schon  am  lebenden  Thier  zeigt  sich,  dass  die  durch  Anschneiden  be- 
wirkte Entleerung  des  in  Ruhe  befindlichen  Herzens  stets  zu  einem 
mehr  oder  weniger  lang  anhaltenden  Stillstand  im  erschlafften  Zustande 
führt  oder  doch  eine  sehr  verlangsamte  Schlagfolge  herbeiführt. 
Schneidet  man  das  Herz  heraus,  so  lässt  sich  leicht  zeigen,  dass  jede 
selbst  geringe  Dehnung  des  erschlafften  leeren  Ventrikels  genügt,  um 
entweder  (rhythmische)  Contractionen  auszulösen  oder  die  Schlagfolge 
beträchtlich  zu  beschleunigen,  wobei  stets  auch  die  Stärke  der 
einzelnen  Contractionen  wesentlich  gesteigert  w^ird.  Die- 
selbe Thatsache  constatirte  ganz  neuerdings  Schönlein  (37)  auch  an 
dem  Herzen  von  Aplysia.  Ist  die  Dehnung  nicht  allzu  schwach  und 
dauert  sie  insbesondere  einige  Zeit  an,  so  beobachtet  man  regelmässig 
eine  mehr  oder  minder  bedeutende  Nachwirkung,  indem  rhyth- 
mische Contractionen  auch  nach  Entspannung  des  Herzens  noch  einige 
Zeit  fortdauern.  Eine  solche  Nachwirkung  sahen  Ludwig  und 
Luchsinger  auch  am  Froschherzen. 

Bei  Helix  pomatia  gelingt  es  leicht,  eine  entsprechende  Canüle 
durch  den  Vorhof  hindurch  bis  in  den  oberen  Theil  des  Ventrikels 
einzuführen  und  so  das  Herz  mit  Flüssigkeit  (Schneckenblut)  zu  füllen. 
Unter  diesen  Umständen  lässt  sich  nun  der  Innendruck  und  damit  die 
Grösse  der  Wandspannung  in  einfachster  Weise  verändern.  Oft  ge- 
nügt es  schon,  die  gefüllte  Canüle  mit  dem  aufgebundenen  Herzen  nur 
ganz  wenig  aus  der  horizontalen  Lage  mit  der  Spitze  nach  unten  zu 
neigen ,  um  Pulsationen  des  vorher  ruhenden  Ventrikels  eintreten  zu 
sehen.  Eine  in  vieler  Beziehung  noch  zweckmässigere  Methode  besteht 
aber  darin,  die  Canüle  mit  dem  Herzen  sofort  vertical  zu  stellen,  so 
dass  zunächst  der  Druck  der  ganzen  Flüssigkeitssäule  auf  die  Innen- 
wand des  Ventrikels  wirkt.  Durch  allmählich  tieferes  Eintauchen  in 
ein  weiteres  mit  0,5  *^/o  Kochsalzlösung  gefülltes  Gefäss  lässt  sich 
dann  leicht  auch  die  Grösse  des  auf  die  Aussenfläche  des  Herzens 
wirkenden  Druckes  von  Null  bis  zu  dem  Momente  steigern,  wo 
Innen-  und  Aussendruck  einander  gleich  sind  und  die  Wandspannung 
daher  ganz  aufgehoben  ist.  Der  Unterschied  im  Niveau  des  Flüssig- 
keitsspiegels in  der  Röhre  und  in  dem  äusseren  Gefässe  giebt  dann  in 
jedem  Augenblick  ein  Maass  ab  für  die  Grösse  der  jeweiligen  Wand- 
spannung. 

Die  folgenden  Zahlen  mögen   als  Beispiel   für  die  Veränderungen 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  (39 

der  Pulszahl  bei  Veränderung  der  Wandspannung   unter    diesen  Um- 
ständen dienen: 

Druckhöhe  Schlagzahl  in  der  Minute 
(Niveauditferenz  in  der  Canüle 
und  im  Aussengetassel 

30  mm  50 

15     „  36 

8     „  21 

5     „  11 

2     „  0 

30     ,  50 

Auch  am  Ureter  des  Kaninchens  konnte  Luchsinger  (38)  den 
Einfluss  der  Wandspannung  auf  die  an  diesem  glattmuskeligen  Organ 
zu  beobachtenden  Contractionserscheinungen  nachweisen,  so  dass  es,  wenn 
man  alle  mitgetheilten  Thatsachen  überblickt,  keinem  Zweifel  unter- 
worfen sein  kann,  dass  eine  vermehrte  Spannung  nicht  nur  bei  quer- 
gestreiften Stammesmuskeln,  sondern  in  fast  noch  höherem  Grade 
beim  Herzen  und  bei  glatten  Muskeln  die  Leistungsfähigkeit  zu  steigern 
vermag,  was  sich  in  diesem  Falle  nicht  nur  in  einer  Ver- 
grösserung  der  Einzelcontractionen,  sondern  auch  in 
der  Auslösung  beziehungsweise  Beschleunigung  rhyth- 
misch wiederholter  Contractionen  äussert;  die  ver- 
mehrte ( W  a  n  d  - )  S  p  a  n  n  u  n  g  vermag  also  nicht  nur  erreg- 
b  a  r  k  e  i  t  s  s  t  e  i  g  e  r  n  d ,  sondern  auch  d  i  r  e  et  als  auslösender 
Reiz  zu  wirken.  Heiden hain  hat  beim  quergestreiften  Stammes- 
muskel gezeigt,  dass  dabei  nicht  nur  die  mechanische  Arbeitsleistung  (die 
ja  von  der  Contractionsgrösse  oder  Zuckungshöhe  wesentlich  mit  bedingt 
wird)  gesteigert,  sondern  überhaupt  ein  grösserer  Theil  der  im  Muskel 
aufgespeicherten  potentiellen  Energie  verbraucht,  d.  h.  ein  grösserer  Theil 
der  chemischen  Spannkräfte  umgesetzt  wird,  und  neuere  Erfahrungen 
haben  dies  durchaus  bestätigt.  Wenn  dies  aber  bei  einer  und  derselben 
Stärke  eines  bestimmten  Reizes  geschieht,  so  muss  die  Ursache  dafür 
in  einem  veränderten  Zustand  des  Muskels  selbst  liegen,  der  eben  als 
eine  E  r  r  e  g  b  a  r  k  e  i  t  s  s  t  e  i  g  e  r  u  n  g  bezeichnet  wurde.  Wenn  man 
nun  sieht,  dass  eine  über  ein  gewisses  Maass  gehende  Dehnung  oder 
Spannung  auf  den  Herzmuskel  an  sich  als  dauernder  Reiz  wirken 
kann,  indem  dadurch  ohne  Hinzukommen  eines  andern  Reizes  lange 
Reihen  von  rhythmischen  Contractionen  ausgelöst  werden,  während  es 
in  andern  Fällen  noch  eines  äusseren  Anstosses  hierzu  bedarf,  eines 
neuen  Reizes,  der  aber  an  sich  ohne  die  gleichzeitige  Dehnung  des 
Muskels  nicht  genügt  haben  würde,  so  erscheint  es  berechtigt,  die 
Erregbarkeitssteigerung,  von  der  man  im  letzteren  Falle  ge- 
wöhnlich spricht,  auf  das  Vorhandensein  eines  dauernden 
Err egtmgszustandes  zu  beziehen,  der,  durch  den  Deh- 
nungsreiz bedingt,  an  sich  nicht  ausreich  t,  um  sichtbare 
Rei z e  r  f  0  lg e  z  u  bewirken.  V  o  n  d i  e  s  e m  G  e  s  i  c h  t  s  p  u  n  k  t  e  aus 
würde  daher  der  Zustand  der  Erregbarkeitssteigerung 
einer  lebendigen  Substanz  sich  unter  Umständen  nur 
graduell  von  dem  der  Erregung  unterscheiden.  Wir  wer- 
den später  noch  zahlreiche  andere  Thatsachen  kennen  lernen ,  welche 
zu  Gunsten  dieser  Auffassung  sprechen. 

Wird  ein  Muskel  so  stark  belastet,  dass  er  das  anhängende  Ge- 
wicht   nicht   mehr    zu   heben    vermag,    so    treten    auch    bei    stärkster 


70 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


Fig.  41. 


Isometrisches  Verfahren. 
(Nach  Gad.) 


Fig.  42.     a  Isotoniscbe  Zuckungs- 

curve:    h  Isometrische  Zuckungs- 

curve. 


Erregung  zwar  keinerlei  äusserlich  sichtbare  Veränderungen  auf, 
gleichwohl  ändern  sich  aber  die  Eigenschaften  eines  solchen  Muskels 
ganz  wesentlich. 

Vor  Allem  ist  die  elastische  Zugkraft  (Spannung) 
des  erregten  Muskels  bei  seiner  anfänglichen  Länge 
(d.  h.  der  Länge  im  un erregten  Zustande)  Avesentlich 
grösser  als  im  Ruhezustande,  denn  die  wirkliche  Zusammen- 
ziehung tritt  ja  eben  erst  als  Folge  dieses  veränderten  Zustandes  ein, 
indem  dabei  die  angehängte  Last  von  der  durch  die  Erregung  ge- 
steigerten elastischen  Kraft   überwunden  wird.     Man   kann    nun    nach 

dem  Vorgange  F ick  's  einen 
Muskel  verhindern,  seine 
Länge  erheblich  zu  ändern 
und  zugleich  seine  jeweilige 
Spannung  durch  ein  sicht- 
bares Zeichen  erkennbar 
machen.  Dies  lässt  sich  am 
einfachsten  in  der  Weise  er- 
reichen, dass  man  den  Mus- 
kel an  dem  sehr  kurzen  Arm 
eines  zweiarmigen  Hebels 
angreifen  lässt,  dessen  an- 
derer längerer  Arm  durch 
eine  elastische  Feder  in 
seiner  Bewegung  beschränkt 
ist.  Verlängert  man  diesen 
letzteren  über  den  Angriffs- 
punkt der  Feder  hinaus  und 
lässt  man  ihn  vermittelst 
einer  Schreibspitze  seine 
Lageveränderungen  an  einer 
bewegten  Schreibfläche  ver- 


bei  fast  gänzlich"  ausge- 
schlossener Gestaltverände- 
rung des  Muskels  eine  Curve, 
welche  im  wesentlichen  das 
Wachsen  und  Wieder- 
ab  nehmen  der  Span- 
nung während  der  Zuck- 
ungszeit bei  annähernd 
darstellt     (Fig.    41    und 


^       1 


Fig.  41. 


Muskels 


constanter 
Fig.  42). 

Eine  solche  Curve  bezeichnet  man  nach  Fick  als  eine  „iso- 
metrische" Zuckungscurve,  weil  sie  bei  gleichbleibendem  Längen- 
maass  des  Muskels  gezeichnet  ist,  während  bei  dem  gewöhnlichen 
„isotonischen"  Verfahren  umgekehrt  die  Spannung  annähernd  con- 
stant  bleibt,  während  der  Muskel  sich  frei  verkürzt.  Es  ist  natürlich 
unmöglich,  eine  absolut  isometrische  Muskelzuckung  graphisch  zu 
verzeichnen ;  denn  soll  überhaupt  ein  Schreibhebel  bewegt  werden  und 
dadurch  als  Index  der  zu-  und  abnehmenden  Spannung  dienen,  so 
darf  der  Muskel  nicht  vollkommen  unbeweglich  zwischen  zwei  Punkten 
ausgespannt  sein,  wie    es   für   absolut   mathematisch   genaue  Isometrie 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  71 

erforderlich  sein  würde.  „Die  Gegenkraft  gegen  die  Spannung  muss 
vielmehr  von  einem  beweglichen  Körper  ausgeübt  werden,  welcher 
dann  eben  nach  Maassgabe  der  Spannungsgrösse  einen  zeichnenden 
Stift  mehr  oder  weniger  weit  führt"  (Fick  39).  Doch  ist  dies  bei 
dem  Fick 'sehen  Spannungszeiger  nur  in  so  geringem  Maasse  der 
Fall,  dass  bei  den  höchsten  in  Betracht  kommenden  Spannungswerthen 
die  Verkürzung  des  Muskels  nur  einen  Bruchtheil  eines  Millimeters 
beträgt.  Die  Spannungswerthe,  welche  ein  Muskel  während  seiner 
Zuckung  erreicht,  sind  unter  Umständen  sehr  beträchtliche.  Vergleicht 
man  isotonische  mit  isometrischen,  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen 
gezeichneten  Curven  desselben  Muskels,  so  findet  man  stets,  dass  der 
Gipfel  der  letzteren  dem  Anfangspunkt  viel  näher  liegt,  als  der  Gipfel 
der  isotonischen,  d.  h.  mit  anderen  Worten,  bei  gleichbleibender  Länge 
erreicht  der  Muskel  das  Maximum  seiner  Spannung  viel  früher,  als  er 
bei  gleichbleibender  Spannung  das  Maximum  der  Verkürzung  erreicht 
(Fig.  42). 


IV.    Einfluss  der  Ermüdung  auf  den  Verlauf  der  Muskel- 
contraction. 

Als  das  wesentlichste  Merkmal,  durch  welches  sich  eine  lebendige 
Substanz  von  einer  todten  unterscheidet,  muss  zweifellos  ihr  Stoff- 
wechsel gelten,  d.  h.  die  chemischen  Vorgänge  im  Innern  der  Sub- 
stanz, bei  welchen  einerseits  gewisse  Stoffe  entstehen,  welche  schliess- 
lich als  für  den  Organismus  unbrauchbar  zur  Ausscheidung  gelangen, 
während  andererseits  Nährstoffe  aufgenommen  und  assimilirt  werden. 
Den  ersteren  Vorgang  wollen  wir  mit  Hering  „Dissimilirung", 
den  letzteren  „As similirung"  nennen.  Die  weiteren  Ausführungen 
H  e  r  i  n  g  '  s  über  diese  beiden  fundamentalen  Stoffwechselprocesse  sind 
nun  für  alle  folgenden  Erörterungen  von  so  grosser  Bedeutung,  dass 
eine  ausführlichere  Darlegung  durchaus  erforderlich  ist,  wobei  ich 
mich  am  Besten  an  Hering's  eigene  Worte  halte  (40). 

„Assimilirung  und  Dissimilirung  haben  wir  uns  als  zwei  innig 
in  einander  verflochtene  Processe  zu  denken ,  welche  den ,  seinem 
eigentlichen  Wesen  nach  unbekannten  Stoffwechsel  der  lebenden  Sub- 
stanz ausmachen  und  in  allen  kleinsten  Theilen  der  letzteren  zugleich 
stattfinden,  daher  diese  Substanz  nichts  Stetiges  oder  Ruhendes,  sondern 
ein  immer  mehr  oder  minder  innerlich  Bewegtes  darstellt."  „Es  ist 
im  Wesen  der  lebendigen  Substanz  begründet  und  ihr  ureigenes  Ver- 
mögen, zu  assimiliren  und  zu  dissimiliren;  und  sie  thut  dies,  sofern 
nur  die  Lebensbedingungen  für  sie  gegeben  sind,  auch  ohne  die  Mit- 
hülfe besonderer  äusserer  Reize.''  Insoweit  die  Substanz  gänzlich  un- 
beeinflusst  ist  von  den  nur  gelegentlich  Avirkenden  äusseren  Reizen, 
bezeichnet  Hering  ihre  Assimilirung  (A.)  und  Dissimilirung  (D.)  als 
„  au  t  o  n  0  m  e  " . 

„Solange  nun  diese  autonome  D.  und  A.  in  ganz  gleichem  Maasse 
stattfinden ,  kann  sich  am  Zustande  der  Substanz  nichts  ändern ,  und 
sie  bleibt  daher  qualitativ  und  quantitativ  dieselbe."  Diesen  Zustand 
vollkommenen  Gleichgewichtes  zwischen  autonomer  D.  und  A.  be- 
zeichnet  Hering   als    den  des   „autonomen  Gleichgewichtes". 

„Aus  diesem  Zustand  wird  die  Substanz  herausgebracht,  wenn 
ein  Reiz  sie  zu    stärkerer  Dissimilirung   veranlasst,    welcher   letzteren 


72  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

nun  nicht  mehr  eine  gleich  starke  A.  das  Gleichgewicht  hält.  Die 
D.  ist  jetzt  nicht  mehr  eine  ausschliesslich  autonome,  sondern  eine 
gleichsam  durch  fremde  Mitwirkung  verstärkte  und  soll  zum  Unter- 
schiede von  der  rein  autonomen  als  allonome  D.  bezeichnet  Averden. 
Durch  die  jetzt  stärkere  Bildung  von  D. -Produkten  und  den  ent- 
sprechenden Verlust  von  Elementen,  welche  zuvor  der  Substanz  selbst 
angehörten  und  in  ihren  chemischen  Bau  eingefügt  waren ,  wird  die 
Substanz  innerlich  verändert,  um  so  mehr  je  stärker  der  Reiz  ist  und 
je  länger  er  wirkt.  Wir  linden  daher  die  Substanz  nach  Schluss  der 
Reizung  quantitativ  und  qualitativ  verändert." 

Fasst  man  den  Process  der  D.  als  eine  Leistung  der  lebenden 
Substanz  auf,  so  müsste  man  sie  jetzt  als  minder  leistungsfähig 
bezeichnen.  Wir  wollen  in  Hinblick  darauf,  dass  die  Substanz  nicht 
nur  qualitativ,  sondern  auch  quantitativ  geändert  ist,  ihre  Beschaffen- 
heit nach  Einwirkung  eines  D.-Reizes  im  Vergleich  zu  der  früheren 
mit  Hering  als  eine  „unterwerthige"  bezeichnen;  es  geht  daraus 
hervor,  dass,  sobald  die  Wirkimg  eines  D.-Reizes  begonnen  hat,  auch 
schon  die  Unterwerthigkeit  der  Substanz  sich  zu  entwickeln  beginnt, 
um  mehr  und  mehr  zuzunehmen,  je  länger  die  Reizung  andauert.  In 
demselben  Maasse  mindert  sich  aber  auch  die  D.-D  i  s  p  o  s  i  t  i  o  n  der 
Substanz. 

Dies  bedeutet  aber  zugleich,  dass  die  Erregbarkeit  gegenüber  dem 
fortwirkenden  D. -Reize  entsprechend  abnimmt  oder,  wie  man  es  ge- 
wöhnlich auszudrücken  pflegt,  dass  die  Substanz  ermüdet.  Diese 
zweifellos  vorhandene  Wirkung  jedes  D.-Reizes  kann  in  ihrem  physio- 
logischen Effect  noch  unterstützt  werden  durch  eine,  über  eine  ge- 
wisse Grenze  hinausgehende  AnhäufungvonZersetzungs-oder 
Dissimilations Produkten,  die  in  manchen  Fällen  nachweislieh 
hindernd  auf  die  Funktionen  der  lebenden  Substanz  wirken. 

Die  Erscheinungen  und  Gesetze  der  „Ermüdung"  sind  an  aus- 
geschnittenen oder  in  situ  befindlichen  Kaltblütermuskeln  eingehender 
zuerst  von  Krön  eck  er  (41)  und  Tiegel  (24)  am  Warmblüter  von 
Rossbach (24)  und  neuerdings  am  Menschen  von  M o s s o (42)  unter- 
sucht worden,  wobei  sich  eine  Reihe  von  Thatsachen  ergeben  haben, 
die  wenigstens  zum  Theil  im  Folgenden  zu  besprechen  sind. 

Experimentell  giebt  sich  die  Ermüdung  eines  Muskels  zu  erkennen 
durch  die  grössere  Reizstärke,  welche  nötig  ist,  um  gleiche  Arbeits- 
leistung, beziehungsweise  gleiche  Hubhöhe  bei  der  Contraction  zu  er- 
reichen, wie  im  unermüdeten  Zustande  oder  umgekehrt  durch  die 
Abnahme  der  Hubhöhe  (beziehungsweise  Arbeitsleistung)  bei  gleich- 
bleibender Reizstärke.  Reizt  man  einen  Muskel  rhythmisch,  in  gleichen 
Intervallen,  bei  gleichbleibender  maximaler  Reizgrösse  und  Belastung 
mit  einzelnen  Inductionsschlägen,  so  bemerkt  man  zweierlei  Verände- 
rungen der  Zuckungscurven ,  indem  sich  einerseits  die  Höhe  und 
andererseits  die  Dauer  derselben  ändert. 

Für  Froschmuskeln  fand  Kronecker,  dass  die  Hubhöhe  von 
Zuckung  zu  Zuckung  stetig  abnimmt,  und  zwar  um  einen  gleichen 
Bruch  theil  der  Verkürzung.  Die  Ermüdungscurve,  d.  h.  die  obere 
Verbindungslinie  der  einzelnen  Zuckungsstriche,  die  in  gleichen  Ab- 
ständen von  einander  auf  einer  ruhenden  Schreibfläche  aufgezeichnet 
werden,  ist  somit  in  diesem  Falle  bei  directer  Reizung  des  Muskels 
eine  gerade  Linie  (Fig.  43  Ä  und  B). 


Die  Foi-mänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


73 


Der  ausgeschnittene  Muskel  ist  nach  einer  gewissen  Zahl  von 
Zuckungen  bis  zur  Erschöpfung  ermüdet.  Genau  das  gleiche  Ver- 
halten zeigt  nach  Tiegel    der  curarisirte  blutlose  Froschmuskel  auch 


Fig.  43.  A  Zuckungen  eines  blut- 
durchströmten, unvei-gifteten  Froscli- 
gastrocnemius.  Zeigt  die  schnellere 
Ermüdung  bei  grösserer  Eeizfrequenz. 
Stimmgabel:  ^/lo  Sekunde.  (Nach 
Engelmann.)  B  Reihe  von  Con- 
tractionen  der  Fingerbeugemuskeln 
bei  künstlicher  Reizung.  Die  Last 
(1  Kilogramm)  wurde  bis  zur  Er- 
schöpfung gehoben.      (Nach  Mos  so.) 


B 

bei  rhythmischer  Reizung  mit  untermaximalen  Inductionsströmen. 
Eine  Ausnahme  von  der  Regel,  dass  die  oberen  Endpunkte  der  in 
gleichen  Abständen  gezeichneten  Zuckungshöhen  in  einer  geraden 
Linie  liegen,  bilden  nur  die  ersten  (20 — 30)  Zuckungen  einer  Reihe, 
bei  welchen   die    Curve    in    Folge    des    schon    früher    erwähnten  Ver- 


74  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

haltens  statt  abzufallen,  treppenförmig  ansteigt.  Dies  Ansteigen  kann 
sich  besonders  bei  Reizung  curarisirter,  blutdurchströmter 
Muskeln  über  mehrere  hundert  Zuckungen  erstrecken,  worauf  über 
tausend  Zuckungen  genau  gleich  gross  bleiben  können,  um  dann  erst 
langsam,  aber  continuirlich  abzusinken  (Tiegel).  Es  erfolgt  also, 
wie  von  vornherein  zu  erwarten  war,  die  Ermüdung  des  blutdurch- 
strömten, normal  ernährten  Muskels  viel  langsamer  als  die  des  aus- 
geschnittenen, blutlosen  Präparates,  und  die  Periode  des  treppen  förmigen 
Ansteigens  der  Zuckungshöhen  ist  letzterenfalls  viel  kürzer  als  im 
ersten  Falle.  Beraerkenswerth  ist  es,  dass  nach  Tiegel  (1.  c.  p.  18) 
die  Ermüdungscurve  (d.  i.  Gerade)  für  untermaximale  Reize  schneller 
zur  Abscisse  absinkt,  d.  h.  mit  derselben  einen  grösseren  Winkel 
bildet,  als  die  für  den  maximalen  Reiz,  dass  also  der  Muskel  für 
den  untermaximalen  Reiz  rascher  ermüdet  als  für  den 
maximalen,  vorausgesetzt,  dass  beide  Reize  in  kurzen  Intervallen 
regelmässig  mit  einander  abwechseln.  Hat  ein  Muskel  bei  maximaler 
oder  untermaximaler  Reizung  eine  Reihe  von  Zuckungen  ausgeführt  und 
geht  man  nun  zu  einem  schwächeren  Reiz  über,  um  unmittelbar  nach- 
her (nach  etwa  zwanzig  oder  mehr  Zuckungen)  wieder  zur  ursprüng- 
lichen Reizstärke  zurückzukehren,  so  sind,  wie  Tiegel  fand,  immer 
die  ersten  Zuckungen  der  letzten  Reihe  höher  als  die  letzten  der  ersten 
Reihe.  Es  rindet  also,  wie  es  scheint,  während  untermaximaler  Reizung 
für  jeden  stärkeren  (maximalen  oder  untermaximalen)  Reiz  Erholung  statt. 
Die  Z u c k  u  n  g s h  ö  h e n  nehmen  f e  r n  e r  ii m  so  r a s c  h  e  r  a b ,  j  e 
kleiner  d  i  e  R  e  i  z  i  n  t  e  r  v  a  1 1  e  werden  (Fig.  43  Ä),  und  es  gilt  auch 
dieses  Gesetz  sowohl  für  maximale  wie  untermaximale  Reize  des 
curarisirten  Muskels.  Für  den  blutdurchströmten,  normal  ernährten  Muskel 
lässt  sich  stets  ein  Intervall  zwischen  je  zwei  Reizen  rinden,  bei  welchem 
die  Zuckungshöhen  auch  nach  noch  so  lange  fortgesetzter  Reizung  nicht 
abnehmen  und  Ermüdung  daher  nicht  eintritt  (z.B.  das  schlagende 
Herz).  Man  wird  dann  im  Sinne  der  obigen  Erörterungen  annehmen 
dürfen ,  dass  während  jeder  Reizpause  die  durch  jeden  D.-Reiz  be- 
wirkte, absteigende  Aenderung  der  Muskelsubstanz  durch  den  A.-Process 
vollständig  wieder  ausgeglichen  wird.  Dass  es  anderenfalls  (bei  grösserer 
Reizfrequenz)  zu  einer  allmählich  fortschreitenden  Ermüdung  und  Ab- 
nahme der  Zucklingshöhe  kommen  muss,  ist  leicht  verständlich. 
Schwierigkeiten  bietet  dem  Verständniss  nur  das  anfängliche  treppen- 
förmige  Wachsen  der  Zuckungshöhen,  besonders  am  ausgeschnittenen, 
blutlosen  Muskel,  ja  es  scheint  diese  Thatsache  geradezu  im  Wider- 
spruch mit  den  früher  entwickelten  Anschauungen  zu  stehen.  Es  ist 
klar,  dass  wir  zu  einem  richtigen  Verständniss  dieser  Erscheinungen 
nur  dann  gelangen  können,  wenn  die  die  D.-Processe  stets  begleitenden 
A.-Processe  mehr  als  es  bisher  in  der  Physiologie  üblich  war,  mit 
berücksichtigt  werden.  In  zahllosen  Fällen  können  wir  beobachten, 
dass  eine  lebende  Substanz,  wenn  sie  durch  einen  D.-Reiz  „absteigend" 
verändert  wurde,  d.  h.  „un  ter  wert  h  ig"  geworden  ist,  aus  diesem 
Zustande  in  den  früheren  „ ni  i  1 1  e  1  w  e  r  t  h  i  g  e  n "  Zustand  des  auto- 
nomen Gleichgewichtes  zurückstrebt,  und  zwar  scheint  diese  durch 
Ueberwiegen  von  A.  über  D.  bedingte  „Erholung"  der  Substanz  mit 
um  so  grösserer  Energie  sich  zu  vollziehen,  je  stärker  die  durch  die 
vorausgehende  Reizung  bedingte  absteigende  Veränderung  Avar.  Man 
darf  vielleicht  die  oben  erwähnte  Thatsache,  dass  ein  Muskel  bei 
maximaler,  rhythmischer  Reizung  langsamer  ermüdet  als  bei  unter- 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätig-keit.  75 

maximaler,  hierauf  beziehen.  Jedenfalls  ändert  sich  nach  Aufhören 
eines  D.-Reizes  die  lebende  Substanz  aus  eigener  Kraft  im  umgekehrten 
Sinne,  wie  während  der  Wirkung  des  Reizes,  d.  h.  „aufsteigend". 
Die  „Erholung"  einer  durch  Reizung  „ermüdeten"  lebenden 
Substanz  ist  stets  eine  „autonome  aufsteigende  Aenderung", 
durch  welche  die  Substanz  ihre  Unterwerthigkeit  beseitigt  und  zur 
Mittel werthigkeit  zurückkehrt. 

Es  scheint  nun,  dass  unter  günstigen  Bedingungen  die  durch  einen 
D.-Reiz  bewirkte  absteigende  Aenderung  der  Substanz  eine  so  energische 
aufsteigende  Aenderung  zur  Folge  hat,  dass  durch  die  lebhaft  ge- 
steigerten A.-Processe  nicht  nur  die  ursprüngliche  Mittelwerthigkeit, 
sondern  ein  Zustand  der  „lieber wert higk  ei  t"  herbeigeführt  wird, 
der  sich  natürlich  seinerseits  durch  eine  gesteigerte  D. -Erregbarkeit  ver- 
rathen  wird.  Bei  rhythmischer  Reizfolge  wird  es  sich  in  solchem  Falle 
dann  nicht  darum  handeln,  dass  die  lebende  Substanz,  wie  etwa  der 
Herzmuskel,  um  den  Zustand  des  Gleichgewichtes  zwischen  D.  und 
A.  in  regelmässigem  Wechsel  absteigender  und  aufsteigender  Aende- 
rung hin-  und  herschwankt,  wobei  in  der  Zeit  der  aufsteigenden 
Aenderung  die  vorhergegangene  absteigende  Aenderung  wieder  voll- 
ständig ausgeglichen  wird,  auch  nicht  um  eine  absteigende  Veränderung 
der  Werthigkeit  der  Substanz  („Ermüdung"),  sondern  im  Gegentheil 
um  eine  aufsteigende  Aenderung,  die  sich  in  einer  Steigerung 
der  Leistungsfähigkeit  und  einer  Zunahme  der  Zuckungshöhen  des  Mus- 
kels äussern  muss.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  erklären  sich  alle 
über  das  treppenförmige  Ansteigen  der  Zuckungshöhen  früher  mitgetheil- 
ten  Thatsachen  in  befriedigender  Weise,  und  wir  erblicken  in  denselben 
lediglich  den  Ausdruck  eines  allgemeinen  Gesetzes,  demzufolge  nicht 
nur  die  physiologische  Leistungsfähigkeit  eines  Organes  (und  speciell 
der  Muskeln),  sondern  auch  dessen  von  der  Ernährung  in  erster  Linie 
abhängige  morphologische  Entwicklung  in  auffallendster  Weise  durch 
eine  regelmässige  Thätigkeit  gefördert  wird  (Einfluss  der  Uebung). 
Der  Schwund  von  Muskeln,  welche  längere  Zeit  innerhalb  des  Körpers  . 
aus  irgend  welchem  Grunde  unthätig  waren,  die  beträchtliche  Ver- 
grösserung  derselben  bei  lebhafter  Thätigkeit,  beweisen  zur  Genüge 
den  günstigen  Einfluss  der  Thätigkeit  des  Muskels  auf  seine  Ernährung. 
Dieser  letztere  wird  wesentlich  unterstützt  durch  die  bei  Wirbelthier- 
muskeln  beobachtete  Regulirung  der  Zufuhr  arteriellen 
Blutes,  wodurch  natürlich  auch  der  Gang  der  Ermüdungserscheinungen 
mehr  oder  weniger  beeinflusst  werden  muss.  Nachdem  Ludwig  und 
Sczelkow  schon  1861  beobachtet  hatten,  dass  die  Gefässe  der 
Muskeln  sich  bei  der  Contraction  erweitern,  so  dass  das  Blut  mit 
grösserer  Geschwindigkeit  hindurchfliesst,  fand  Tiegel  (1.  c.  p.  81)  die- 
selbe Erscheinung  auch  bei  directer  Reizung  curarisirter  Froschmuskeln. 
Solche  in  regelmässigen  Interv^allen  mit  maximalen  oder  untermaximalen 
Reizen  (Inductionsströmen)  behandelte  Muskeln  röthen  sich  in  Folge 
der  Reizungen  mehr  und  mehr,  und  es  kann  dies  selbst  bis  zu  Extra- 
vasatbildung  gehen.  Die  lange  Dauer  des  treppenförmigen  Ansteigens 
der  Zuckungshöhen  unter  diesen  Umständen  wird  sicher  zum  Theil 
auf  diese  Hyperämie  zurückzuführen  sein;  dass  diese  letztere  aber 
nicht  allein  Ursache  der  „Treppe"  ist,  wurde  bereits  oben  erwähnt 
und  ergiebt  sich  unmittelbar  aus  dem  Auftreten  derselben  an  blutlosen 
Präparaten. 

In  Folge  der  Ermüdung  ändert  sich,    wie  erwähnt,   nicht  nur  die 


76  Die  Formändening   des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Höhe  der  Zuckungsciirve  in  der  beschriebenen  Weise,  sondern  auch 
deren  zeitlicher  Verlauf,  indem  dieselbe  bei  fortschreitender  Ermüdung 
immer  gedehnter  wird.  Diese  im  Verlaufe  einer  längeren  Zuckungs- 
reihe allmählich  zunehmende  Verzögerung  des  Zuckungsablaufes,  die 
sich  inslDCSondere  durch  eine  beträchtliche  Verlang- 
sam u  n  g  der  Phase  d  e  r  W  i  e  d  e  r  v  e  r  1  ä  n  g  e  r  u  n  g  d  e  s  IVI  u  s  k  e  1  s 
äussert,  kann  schliesslich  einen  so  hohen  Grad  erreichen,  dass  der 
Muskel  selbst  bei  längeren  Reizintervallen  von  mehreren  Sekunden 
nicht  Zeit  findet,  bis  zum  Beginn  der  folgenden  Zuckung  sich  wieder 
auf  seine  ursprüngliche  Länge  auszudehnen,  so  dass  die  Fusspuukte 
der  einzelnen  Zuckungscurven  sich  höher  und  höher  über  die  Abscissen- 
axe  erheben  müssen.  Funke  (43)  beobachtete  Fälle,  wo  das  Myogramm 
in  späteren  Ermüdungsstadien  trotz  Reizintervallen  von  mehreren 
Sekunden  einer  stetigen  Tetanuscurve  ähnlich  sah.  Aber  nicht  nur 
die  mehr  oder  weniger  grosse  Streckung  ist  es,  durch  welche  sich  die 
Zuckungscurven  des  ermüdeten  Muskels  auszeichnen,  sondern  es  wird 
auch  deren  F  o  r  m  und  besonders  die  des  absteigenden  Theiles  modificirt. 
Man  kann  diese  Veränderung  mit  Funke  im  Allgemeinen  dahin  definiren, 
dass  der  absteigende  Ast  der  Curve  mehr  und  mehr  den 
Charakter  einer  freien  Fallcurve  einbüsst,  indem  durch 
die  Ermüdung  erzeugte  und  mit  ihr  sich  steigernde  Widerstände  die 
Verlängerung  des  Muskels  durch  das  gehobene  Gewicht  oder  seine 
Schwere  mehr  und  mehr  und  in  immer  früheren  Stadien  verzögere. 
Der  Muskel  gleicht  zuletzt,  wie  Funke  sich  treffend  ausdrückt,  einer 
zähen,  teigartigen  Masse,  die  mit  äusserster  Trägheit  dem  Zuge  folgt, 
welcher  sie  zur  ursprünglichen  Form  zurückzubringen  strebt.  Der 
aufsteigende  Ast  der  Curve  büsst  dagegen  auch  bei  der  bis  zur 
Erschöpfung  fortgesetzten  Ermüdung  nur  wenig  an  Steilheit  ein.  Je 
kürzer  die  Intervalle  zwischen  den  einzelnen  Zuckungen  sind,  desto 
rascher  tritt  nicht  nur  die  Verminderung  der  Contractionsgrösse, 
sondern  auch  die  geschilderte  Streckung  und  Formänderung  der  Curven 
hervor.  In  einzelnen  Fällen  zeigt  sich  auch  das  Stadium  der  Er- 
schlaffung sonst  normaler,  nicht  ermüdeter,  quergestreifter  Muskeln  auf- 
fallend verlängert,  sodass,  wie  zuerst  Krön  ecke  r  (44)  beschrieb  und 
später  Tiegel  näher  untersuchte  (45)  die  Muskeln  während  längerer 
Ruhepausen  (bis  10  Sekunden)  zwischen  rhythmisch  sich  folgenden, 
einfachen  Inductionsreizen  zuweilen  ziemlich  beträchtlich  verkürzt 
bleiben.  Dass  diese  Erscheinung,  welche  Tiegel  als  „Contractur" 
bezeichnete,  mit  einer  etwaigen  Ermüdung  nichts  zu  thun  hat,  ergiebt 
sich  einfach  schon  daraus,  dass  sie  mit  der  ferneren  Function  des 
Muskels  nicht  zu-,  sondern  abnimmt.  Während  dieses  Zustandes,  der 
sich,  wie  Tiegel  fand,  nur  bei  directer  Muskelreizung  entwickelt, 
ist  die  Erregbarkeit  des  Muskels  für  den  normalen  Reiz  vom  Nerven 
aus  minimal,  während  die  Contractur  der  Höhe  der  Zuckung  ent- 
sprechen kann.  In  besonders  hohem  Grade  scheinen  die  Muskeln  von 
Frühlingsfröschen  zur  Contractur  zu  neigen,  die  dann  auch  bei  noch 
erhaltener  Blutcirculation  eintritt,  und  zwar  um  so  stäi-ker,  je  intensiver 
die  Reizung  war  (vgl.  auch  Mosso  1.  c). 

Auf  den  Gang  und  Verlauf  der  P^rmüdungserscheinungen  werden 
natürlich  alle  jene  Momente  von  grösstem  Einfluss  sein  müssen,  von 
welchen  überhaupt  die  Assimilation  bezw.  Dissimilation  der  Muskel- 
substanz abhängt.  Hier  ist  in  erster  Linie  der  ursprüngliche 
physiologische    Zustand    des    Muskels    zu    berücksichtigen ,     in 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  77 

welchem  er  die  Ermüclungsarbeit  beginnt,  der  in  so  weiten  Grenzen 
schwankende  Grad  seiner  „Leistungsfähigkeit"  und  „Erreg- 
barkeit" während  des  normalen  Zusammenhanges  mit  dem  Organismus 
oder  nach  der  Trennung  von  diesem.  Die  Erfahrung  lehrt,  dass  jeder 
ausgeschnittene  und  daher  den  normalen  Ernährungsbedingungen  ent- 
zogene Muskel  früher  oder  später  seine  Erregbarkeit  einbüsst  und  ab- 
stirbt. Wann  dies  geschieht,  ist  allerdings  bei  verschiedenen  Thieren 
ausserordentlich  verschieden,  und  wechselt  auch  bei  Muskeln  von 
einem  und  demselben  Thier  sehr  mit  den  äusseren  Umständen.  Jeden- 
falls müssen  wir  uns  vorstellen,  dass  von  dem  Momente  der  Trennung 
vom  Organismus  an  der  Zustand  des  autonomen  Gleichgewichtes  der 
Muskelsubstanz  dauernd  gestört  bleibt,  indem  in  Folge  der  minder 
günstigen  Assimilirungsbedingungen  bei  fortdauernder  Dissimilation 
eine  immer  mehr  zunehmende  autonome,  absteigende  Aenderung  ein- 
tritt, deren  Ausdruck  eben  die  verminderte  Erregbarkeit  ist.  Im  All- 
gemeinen gilt  die  Regel,  dass  in  Folge  der  geringeren  Intensität  der 
Stoffwechselprocesse  die  Muskeln  der  Kaltblüter  länger  ihre  Erreg- 
barkeit bewahren  als  die  Muskeln  der  Warmblüter;  indessen  ist  dies 
keineswegs  ein  durchgreifendes  Gesetz.  Speciell  scheinen  die  M  u  s  k  e  1  n 
der  Fische  sehr  rasch  nach  ihrer  Trennung  vom  Organismus  die 
Erregbarkeit  einzubüssen  (46).  Der  Ausdruck  „Kaltblüter"  schliesst 
ferner  die  Wirbellosen  in  sich,  von  denen  manche  (z.  B.  Insecten) 
sehr  rasch  absterbende  Muskeln  besitzen.  Es  ist  bemerkenswerth, 
dass  auch  nicht  alle  Muskeln  desselben  Thieres  gleich  schnell  ab- 
sterben und  ihre  Erregbarkeit  verlieren.  W^enn  dem  Sarkoplasma 
wirklich  eine  nutritive  Funktion  zukommt,  wie  dies  schon  oben  als 
wahrscheinlich  bezeichnet  wurde,  so  darf  man  erwarten,  dass  die 
sarkoplasmareich  en,  trüben  Muskeln  im  Allgemeinen 
später  ermüden  und  schliesslich  absterben  werden,  als 
die  sarkoplasm aarmen,  hellen  Muskeln.  Dies  scheint  nach 
Grützner' s  Untersuchungen  thatsächlich  der  Fall  zu  sein.  Schon 
Ran  vi  er  beobachtete  an  dem  aus  weissen  (hellen)  und  rothen  (trüben) 
Fasern  gemischten  Triceps  humeri  des  Kaninchens,  dass  derselbe 
sich  Anfangs  in  Folge  der  leichteren  Erregbarkeit  der  weissen  Fasern 
wie  ein  weisser  Muskel  verhält;  ermüdet  man  ihn  aber  durch  länger 
anhaltende  Reizung,  so  zuckt  er  wie  ein  rother,  weil  die  weissen  An- 
theile  erschöpft,  die  rothen  aber  noch  leistungsfähig  sind.  Diese  Ver- 
schiedenheit prägt  sich  auch  sehr  deutlich  in  dem  Umstände  aus,  dass 
nach  den  Untersuchungen  von  Bierfreund (47)  die  weissen  Muskeln 
viel  früher  der  Todtenstarre  verfallen  als  die  rothen.  Unter  sonst 
gleichen  Verhältnissen  erstarren  die  ersteren  1  — 3  Stunden,  die  letzteren 
erst  11 — 15  Stunden  nach  dem  Tode.  Zu  einer  Zeit,  wo  die  Starre 
der  blassen  Muskeln  schon  völlig  wieder  gelöst  ist  (10 — 14  Stunden 
nach  dem  Tode),  haben  die  rothen  Muskeln  die  ihrige  noch  lange  nicht 
vollendet. 

Hierher  gehören  endlich  auch  die  Beobachtungen  von  Rollett(48) 
an  den  in  Bezug  auf  ihren  Zuckungsverlauf  so  sehr  verschiedenen 
Muskeln  von  Dyticus  und  Hydrophil us.  Der  frische  Dyticus- 
muskel  ist  dem  frischen  Hydrophilusmuskel  in  Bezug  auf  Schnellig- 
keit und  Energie  der  Einzelzuckung  weit  überlegen,  verliert  aber 
durch  fortgesetzte  Thätigkeit  rasch  die  Energie  seiner  Zuckungen,  und 
zwar  diese  in  viel  höherem  Grade  als  die  Schnelligkeit  derselben.  Aber 
auch  die  letztere  nimmt  deutlich  ab.    Der  träger  zuckende  Hydrophilus- 


78  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

muskel  bewahrt  dagegen  auch  nach  lange  fortgesetzter  Thätigkeit 
die  Energie  seiner  Zuckungen  noch  m  relativ  hohem  Grade;  dagegen 
werden  dieselben  im  Verlauf  der  Ermüdung  immer  gedehnter,  so  dass 
ihre  Dauer  schliesslich  über  20  Mal  grösser  sein  kann,  als  die  Zuckungs- 
dauer frischer  Muskeln. 

Wie  früher  bemerkt  wurde,  zeichnen  sich  besonders  die  Muskel- 
fasern des  Herzens  durch  ihren  Reich thum  an  Sarkoplasma  aus,  und 
es  dürfte  damit  wohl  zusammenhängen,  dass  gerade  hier  in  vielen 
Fällen  ein  ausserordentlich  langes  Ueberleben  beobachtet  wurde.  So 
sah  Panum  rudimentäre  Herzpulsationen  beim  Kaninchen  bis 
15V2  Stunden,  Vulpian  bei  der  Maus  bis  46,  ja  beim  Hunde  bis 
96  Stunden  nach  dem  Tode(!).  Einzelne  Muskelfasern  des  Herz- 
fleisches von  Säugethieren  in  physiologischer  Kochsalzlösung  untersucht, 
zeigen  oft  noch  am  anderen  Tage  nach  dem  Tode  deutlich  rhythmische 
Pulsationen  (Sigm.  Mayer). 

In  allen  den  erwähnten  Fällen  übt  den  grössten  Einfluss  auf  die 
Gesammtdauer  des  Ueberlebens  oder  auf  die  Steilheit  des  Erregbarkeits- 
abfalles die  Temperatur,  und  zwar  sowohl  die  des  isolirten  Muskels 
wie  die  des  lebenden  Thieres  vor  dem  Tode.  Es  ist  dies  begreiflich, 
wenn  man  die  grosse  Bedeutung  der  Temperatur  für  die  Intensität  aller 
Stoffwechselprocesse  und  insbesondere  auch  der  „autonomen  Dissimi- 
lation" bex'ücksichtigt.  Man  wird  daher  von  voi-ne  herein  erwarten 
dürfen,  dass  das  Absterben  und  die  daran  sich  knüpfende  Erregbar- 
keitsabnahme bei  höherer  Temperatur  im  Allgemeinen  rascher  erfolgt, 
als  bei  niederer.  Beim  Kaltblüter  ist  dieser  Temperatureinfluss 
absolut  bedeutender  als  beim  Warmblüter. 

Du  Bois  Reymond  fand  Gastrocnemius-  und  Triceps-Exemplare 
vom  Frosch  bei  0*^  C,  noch  10  Tage  nach  dem  Ausschneiden  erregbar, 
Avährend  an  heissen  Sommertagen  bekanntlich  die  Erregbarkeit  schon 
früher  als  nach  24  Stunden  und  bei  mittlerer  Temperatur  etwa  am 
dritten  Tage  verschwunden  ist.  Für  die  Stammesmuskeln  der  Warm- 
blüter fehlen  in  dieser  Hinsicht  genügende  Erfahrungen.  Dagegen 
liegen  bei  Säugethieren  interessante  Beobachtungen  vor  über  den  das 
Absterben  ausserordentlich  verzögernden  Einfluss  vorhergehender 
langsamer  Abkühlung  (künstliches  Kaltblütigmachen),  die  man  ent- 
weder durch  hohe  Rückenmarksdurchschneidung  (Bernard)  oder 
durch  Berieselung  des  Bauchfelles  mit  kalter  Kochsalzlösung  erzielen 
kann.  An  Kaninchen,  die  so  in  6 — 10  Stunden  auf  20°  C.  abgekühlt 
wurden,  erhält  sich  die  directe  Muskelerregbarkeit  6 — 8  Stunden  nach 
dem  Tode  (Israel  49). 

Es  kann  nicht  bezweifelt  werden ,  dass  die  eigentliche  Ursache 
des  Absterbens  ausgeschnittener  Muskeln  in  dem  Aufhören  des  Säfte- 
stromes und  speciell  der  Blutcirculation  zu  suchen  ist,  indem  Unter- 
brechung des  Kreislaufes  in  einem  Muskel  oder  in  einer  Muskelgruppe 
auch  am  lebenden  Thier  in  kurzer  Zeit  zu  einer  Lähmung  und 
schliesslichen  Erstarrung  führt.  An  Kaltblütern  gelingt  der  Versuch 
allerdings  nur  in  ziemlich  unvollkommener  Weise,  da  die  Muskeln 
derselben,  z.  B.  der  Amphibien,  zwar  auch  von  der  Erhaltung  der 
Circulation  abhängig  sind ,  aber  doch  erst  verhältnissmässig  spät  die 
Folgen  der  Anämisirung  deutlich  erkennen  lassen  (K  ü  h  n  e  50).  Ist 
es  doch  bekannt,  dass  die  Muskeln  von  Fröschen  noch  tagelang  er- 
regbar bleiben ,  wenn  alles  Blut  durch  Ausspritzen  der  Gefässe  mit 
0,6 ";  0  Kochsalzlösung    vorher    entfernt    wurde    (Salzfrösche).     Um    so 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  79 

empfindlicher  erweisen  sich  dagegen  die  quergestreiften  Muskehi  von 
Warmblütern,  besonders  der  Vögel,  die  nach  relativ  kurzer  Zeit  ihre 
Erregbarkeit  einbüssen  und  schliesslich  erstarren  (Schiffer  51),  wenn 
die  Blutcirculation  völlig  unterbrochen  wird.  Umgekehrt  lässt  sich 
die  durch  Anämisirung  gesunkene  oder  ganz  aufgehobene  Erregbarkeit 
durch  künstliche  Durchströmung  mit  arteriellem  Blut  wieder  herstellen, 
bezw.  von  vorne  herein  erhalten.  Es  gelingt  dies  noch  um  so  später 
nach  dem  Aufhören  der  Erregbarkeit,  je  länger  sich  diese  letztere 
überhaupt  erhält  (Bro  wn-Seq  uard  46).  In  viel  geringerem  Grade 
ist  die  Erregbarkeit  der.  glatten  Muskeln  der  Warmblüter  vom  Kreis- 
lauf abhängig,  und  es  verhalten  sich  dieselben  in  dieser  Beziehung 
mehr  wie  die  quergestreiften  Muskeln  der  Kaltblüter. 

Es  scheint,  dass  man  sich  vielfach  ungerechtfertigte  Vorstellungen 
über  die  Raschheit  des  Absterbens  glatter  Warmblütermuskeln  und 
deren  Empfindlichkeit  gegen  Veränderungen  ihres  Stoffwechsels  gebildet 
hat,  die  sich  wohl  aus  der  Erfahrung  herleiten,  dass  die  spontanen 
Bewegungen  gewisser  glattmuskeliger  Organe  (wie  z.  B.  des  Darmes) 
so  rasch  nach  dem  Tode  erlöschen  und  mit  ihnen  zugleich  auch  die 
Empfindlichkeit  für  beliebige  künstliche  Reize.  Allein  es  lässt  sich 
leicht  zeigen,  dass  dieser  scheinbar  dauernde  Verlust  der  Erregbarkeit 
im  Wesentlichen  nur  durch  die  Abkühlung  bedingt  wird  und 
dass  die  Reizempfänglichkeit  wieder  hervortritt,  wenn  man  die  Tempe- 
ratur künstlich  steigert  (Biedermann  52).  Immerhin  muss  es  über- 
raschen, in  wie  hohem  Grade  die  Muskelwand  des  ausgeschnittenen 
Säugethierdarmes  die  Fähigkeit  des  Ueberlebens  besitzt,  indem  die- 
selbe unter  Umständen  länger  als  zwölf  Stunden  nach  dem  Tode  des 
Thieres  noch  erregbar  gefunden  wird.  Ebenso  wird  der  Ureter 
vom  Kaninchen  oder  Meerschweinchen,  selbst  wenn  er  lange  Zeit  in 
kalter  physiologischer  Kochsalzlösung  aufbewahrt  oder  einem  stundenlang 
vorher  getödteten  Thiere  entnommen  Avurde  und  ohne  weitere  Vor- 
bereitung keine  Spur  von  Erregungserscheinungen  zeigt,  wieder  voll- 
kommen reizbar,  wenn  man  ihn  auf  Körpertemperatur  erwärmt  (1.  c. 
p.  387).  Eine  ähnliche  Lebenszähigkeit  zeigt  nach  Untersuchungen 
von  Grünhagen  und  seinen  Schülern  der  Sphynkter  iridis  von 
verschiedenen  Säugethieren  (53).  Noch  viel  resistenter  scheint  nach 
Sertoli's  Beobachtungen  (54)  der  ebenfalls  aus  glatten  Muskelzellen 
bestehende  Afterruthenmuskel  gewisser  Säugethiere  (Pferd,  Esel  und 
Hund)  zu  sein,  dessen  Erregbarkeit  selbst  bis  zu  sieben 
Tagen  nach  der  Exstirpation  andauert.  Während  des 
grössten  Theiles  dieser  Zeit  befand  sich  der  Muskel  in  einer  Tempe- 
ratur von  5—8°  C.  und  wurde  nur  zur  Zeit  der  Versuche  auf  30 
bis  37°  C.  erwärmt.  Bleibt  die  Temperatur  andauernd  hoch  (39—40°), 
so  erlischt  die  Erregbarkeit  in  kurzer  Zeit. 

Mit  dieser  grossen  Resistenzfähigkeit  gegenüber  den  Einflüssen 
der  normalen  Ernährung  steht  die  hohe  Ermüdbarkeit  gewisser  glatter 
Muskeln  unter  ganz  normalen  Verhältnissen  in  einem  auffallenden 
Gegensatze.  Engelmann  (Pflüger's  Arch.  2.  Bd.  p.  2G3  f.)  wies 
nach,  dass  beim  Ureter  des  Kaninchens  schon  nach  jeder  einmaligen 
Contraction  sich  der  Einfluss  der  Ermüdung  geltend  macht,  indem  un- 
mittelbar nach  Ablauf  einer  solchen  die  mechanische  Reizbarkeit  gleich 
Null  ist.  Während  der  folgenden  Ruhepause  stellt  sie  sich  allmählich 
wieder  her.  In  einem  noch  warmen,  frischen  Ureter  vom  Kaninchen, 
in  welchem  das  Blut   normal    cirkulirt,    scheint    schon   nach   wenigen 


80 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


6  Min. 

nach  der 
Excision. 


Min. 


Sekunden  die  anfängliche  Höhe  der  Erregbarkeit  wieder  erreicht  zu 
sein.  Bei  der  Ratte  bedarf  es  hierzu  unter  denselben  günstigen  Be- 
dingungen noch  nicht  einer 
Sekunde.  In  einem  abge- 
kühlten oder  dem  Blutkreis- 
laufe entzogenen  Ureter 
kehrt  nach  einer  Contrac- 
tion  die  Reizbarkeit  viel 
langsamer  (nach  5,  10  und 
mehr  Sekunden)  und  nur 
unvollkommen  zurück. 

Aus  den  mitgetheilten 
Erfahrungen  ergibt  sich  die 
Folgerung,  dass  ausgeschnit- 
tene Muskeln  der  Kaltblüter 
(wirbellose  und  poikilo- 
therme  Wirbelthiere)  zwar 
im  Allgemeinen  langsamer 
ermüden  und  auch  lang- 
samer absterben  als  die  der 
^Yarmblüter  •  doch  gilt  dies 
keineswegs  als  durchgrei- 
fende Regel,  denn  einerseits 
giebt  es  Muskeln  kaltblüti- 
ger Thiere,  welche  selbst  bei 
niederer  Temperatur  rasch 
ihre  Erregbarkeit  einbüssen 
(Fische,  Insecten),  während 
andererseits  glatte  Muskeln 
von  Warmblütern  bei  nie- 
derer Temperatur  ausser- 
ordentlich lange  erregbar 
bleiben ,  auch  wenn  sie 
dem  Kreislauf  völlig  ent- 
zogen sind. 

Bei  der  durch  Erregung 
bewirkten  Muskelermüdung 
handelt  es  sich,  wie  gezeigt 
wurde,  ganz  ebenso  um  eine 
durch  Ueberwiegen  der  D.- 
Processe  über  die  A.-Vor- 
gänge  bedingte  absteigende 
Aenderung  der  lebendigen 
Substanz  wie  bei  dem  allmäh- 
lichen Absterben  eines  vom 
Organismus  getrennten  oder 
dem  Kreislauf  entzogenen 
Muskels.  Es  kann  daher  auch 
nicht  überraschen,  dass  die 
Veränderungen,  welche  die 
Zuckungs-  (bezw.  Contrac- 
Fig.  44.  Contractionen  eines  ausgesclmittenen  jio^S- )  Curve  in  beiden  Fäl- 
Kaninchenherzens.  (Nach  Waller  u.  E.  W.  Reid.j         len  erleidet,  in  allen  wesent- 


9  Min. 


11  Min. 


19  Min. 


22  Min. 


28  Min. 


40  Min. 


75  Min. 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  81 

liehen  Punkten  übereinstimmen.  Abnahme  der  Contractionsgrösse 
(Zucklingshöhe)  und  Verlängerung  (Streckung)  der  Curve  treten  im 
einen  wie  im  anderen  Falle  als  charakteristische  Merkmale  hervor. 
Sehr  anschaulich  macht  sich  dies  bei  Beobachtung  der  Pulsationen  des 
herausgeschnittenen  Säugethierherzens  geltend  (55),  wobei  allerdings 
auch  der  später  zu  erörternde  Einfluss  der  sinkenden  Temperatur  eine 
ganz  wesentliche  Rolle  spielt  (Fig.  44). 

Wenn  der  Zustand  der  Muskelermüdung  auch  in  erster  Linie 
auf  ein  Ueberwiegen  der  D.-Processe  über  die  gleichzeitige  A.  zu 
beziehen  sein  wird,  d.  h.  auf  eine  Verminderung  des  Vorrathes  an 
zersetzbarem  Materiale  oder  an  chemischer  Spannkraft,  so  kommt 
doch  auch,  wie  insbesondere  Ranke's  Untersuchungen  gezeigt  haben, 
die  Anhäufung  von  gewissen  Zersetzun  gsp  roducten  "für 
die  zu  beobachtenden  Erscheinungen  Avesentlich  mit  in  Betracht  (vgl. 
Ranke  56). 

Eine  irgend  erheblichere  Anhäufung  der  genannten  D.-Producte 
des  Muskels  wird  voraussichtlich  nur  im  circulationslosen  oder  aus- 
geschnittenen Präparate  erfolgen  können  und  dürfte  das  raschere  Ein- 
treten der  Ermüdung  in  diesem  Falle  wohl  zum  Theil  mit  darauf  zu 
beziehen  sein. 

Die  erholende  Wirkung  der  Durchströmung  mit  (arteriellem) 
Blut  kann  aber  wohl  nur  zum  geringsten  Theil  auf  der  Entfernung 
der  gebildeten  D.-Produkte  (COg,  Milchsäure,  KH2PO4  u.  s.  w.)  be- 
ruhen, da  in  diesem  Falle  eine  Durchspülung  des  Muskels  mit  einer 
indifferenten  Flüssigkeit  (physiologische  Kochsalzlösung)  denselben 
Effect  haben  müsste,  Avie  Durchleitung  von  Blut,  was  keineswegs 
der  Fall  ist. 

Es  führt  also  zweifellos  das  Blut  dem  erschöpften 
oder  absterbenden  Muskel  Stoffe  zu,  welche  für  die 
Wiederherstellung  seiner  Leistungsfähigkeit  wesent- 
lich erforderlich  sind.  In  Bezug  auf  die  nothwendige  Qualität 
des  Blutes  kennen  wir  bestimmt  nur  den  Einfluss  weniger  Bestand- 
theile,  so  vor  Allem  des  Sauerstoffs,  der  ja  für  die  Erhaltung  der  Reizbar- 
keit und  Bewegungsfähigkeit  jeder  lebenden  Substanz  unerlässlich  ist. 

Die  relativ  grosse  Masse  eines  'ausgeschnittenen  Kaltblütermuskels 
bringt  es  natürlich  mit  sich,  dass  derselbe  einer  physiologischen 
Wechselwirkung  mit  der  Atmosphäre,  die  ja  nur  durch  die  Oberfläche 
vermittelt  werden  kann,  nur  in  sehr  geringem,  kaum  nachweisbarem 
Grade  fähig  ist,  so  dass  das  Vorhandensein  oder  Fehlen  des  freien  Sauer- 
stoffs in  der  Umgebung  eines  solchen  Muskels,  wenn  überhaupt,  nur 
einen  sehr  geringen  Einfluss  auf  die  Erhaltung  oder  Wiederherstellung 
der  Erregbarkeit  wird  üben  können.  In  der  That  fand  Hermann 
(4  p.  132),  dass  Froschmuskeln  in  reinen  indifferenten  Gasen  (N,  H) 
und  besonders  im  Vacuum  ebenso  lange  und  unter  Umständen  sogar 
länger  erregbar  bleiben ,  als  in  der  Luft.  Ganz  anders  ist  es  bei 
Durchströmung  mit  der  O- haltigen  Nährflüssigkeit.  Hier  findet  zwischen 
dem  das  Innere  des  Muskels  überall  berührenden  Blute  und  der 
Muskelsubstanz  ein  lebhafter  respiratorischer  Gasaustausch  statt,  und  hier 
lässt  sich  auch  mit  Sicherheit  der  erregbarkeitserhaltende  Einfluss  des 
O  constatiren.  Dass  venöses  Blut  nicht  wie  arterielles  die  Erregbar- 
keit des  Muskels  zu  unterhalten  vermag,  war  schon  Bichat  bekannt, 
und  später  zeigten  L u d w i g  und  Schmidt  (57),  dass  künstliche  Durch- 
leitung  O-freien  Blutes  durch  Warmblütermuskeln  diese  ebenso  schnell 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  6 


82  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätig-keit. 

absterben  Hess,  als  wenn  gar  keine  Durchströmung  stattfand;  ja  es 
schwindet,  wenn  ein  Muskel  von  venösem  Blut  durchströmt  wird ,  die 
Reizbarkeit  unter  Umständen  sogar  rascher,  als  wenn  er  ganz  blutleer 
ist,  was  wohl  hauptsächlich  auf  die  direct  schädigende  Wirkung  der 
COg  zurückzuführen  sein  dürfte.  Analoge  Versuche  wurden  mit 
gleichem  Erfolge  auch  am  ausgeschnittenen  Froschherzen  angestellt. 
Bei  starker  Luftverdünnung  (unter  der  Luftpumpe)  hören  die  spon- 
tanen Pulsationen  nach  etwa  einer  Stunde  auf  und  der  Muskel 
verliert  auch  seine  Empfindlichkeit  gegen  künstliche  (mechanische  oder 
elektrische)  Reize.  Nach  Zutritt  von  Luft  beginnen  die  Pulsationen 
wieder.  Cyon,  Klug  und  Salt  et  (58)  bewiesen  die  Abhängigkeit 
der  Herzbewegung  von  der  Anwesenheit  des  0  am  Froschherzen,  in- 
dein  O-haltiges  Serum  eingefüllt  und  dasselbe  dann  mit  Serum  ver- 
tauscht wurde,  welches  mit  CO2  gesättigt  war;  nur  bei  Anwesenheit 
von  O  waren  regelmässige  Pulsationen  zu  beobachten.  Mangel  an 
O  macht  demnach  das  Herz  ganz  ebenso  scheintodt  wie 
etwa  Flimmer  Zellen  oder  einzellige  Organismen.  Da  die 
spontanen  Contractionen  des  Herzens  bei  den  erwähnten  Versuchen 
ganz  allmählich  bis  zur  Unmerklichkeit  schwächer  werden,  und  damit 
gleichzeitig  auch  eine  ebenso  stetige  Abnahme  der  Empfindlichkeit 
für  künstliche  Reize  Hand  in  Hand  geht,  so  handelt  es  sich  wohl 
hauptsächlich  um  eine  Lähmung  der  Muskeln  des  Herzens  durch 
O-Mangel. 

Es  ist  natürlich  nicht  zu  bezweifeln ,  dass  auch  noch  andere  vom 
Blute  zugeführte  Nährstoffe  eine  ähnliche  Rolle  spielen,  wie  der  O ;  wie 
auch  umgekehrt  die  Abfuhr  anderer  D.-Producte  des  Muskels ,  neben 
der  der  COg,  für  die  Erhaltung  der  Erregbarkeit  von  Nöthen  ist; 
experimentell  ist  aber  bisher  wenig  darüber  ermittelt  worden.  Für 
den  Herzmuskel  hat  Martins  (59)  festgestellt,  dass  dem  Serum- 
albumin in  hohem  Grade  die  Fähigkeit  zukommt,  die  gesunkene 
Leistungsfähigkeit  wieder  zu  heben.  Wenn  bei  Durchspülung  des 
spontan  schlagenden  oder  künstlich  gereizten  Herzens  mit  0,6  '^  0 
Kochsalzlösung  die  Anfangs  sehr  kräftigen  Pulsationen  bis  zur  Unmerk- 
lichkeit herabgesunken  sind,  wenn  dann  schliesslich  das  Herz  völlig 
still  steht  und  selbst  bei  stärkster  Reizung  nicht  die  leiseste 
Bewegung  zeigt,  so  kehrt  nicht  nur  die  Reizbarkeit,  sondern  sogar  die 
automatische  Thätigkeit  wieder  zurück,  wenn  Blut  und  Serum  oder  auch 
nur  Serumalbumin  enthaltende  alkalische  Kochsalzlösung  durchgeleitet 
wird.  Weder  Pepton  noch  irgend  ein  anderer  Eiweisskörper  (Syntonin, 
Ovalbumin,  Casein,  Myosin)  zeigten  diese  Wirkung.  Der  damit  be- 
handelte erschöpfte  Herzmuskel  blieb  dann  auch  bei  Anwendung  der 
stärksten  Reize  vollkommen  bewegungslos,  während  er  in  jedem  Falle 
nach  Füllung  mit  Blut  oder  Serum  wieder  zur  Schlagfähigkeit  oder 
spontanen  Pulsation  erwachte.  Am  quergestreiften  Skeletmuskel 
wurden  ähnliche  Versuche  bisher  nicht  angestellt. 


y.    Einfluss  der  Temperatur  auf  die  Muskelcontractioii. 

Alle  protoplasmatischen  Gebilde  werden  in  ihren  Lebenserschei- 
nungen ganz  wesentlich  von  der  jeweiligen  Temperatur  beeinflusst. 
Für  jeden  Organismus  giebt  es  eine  untere  Grenze  der  Temperatur, 
bei  welcher    das   Leben    dauernd   oder   wenigstens    zeitweise    erlischt. 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Tliätigkeit.  83 

und  eine  obere,  bei  av elcher  hauptsächlich  durch  Gerinnung  gewisser 
Eiweissstoffe  so  tiefgreifende  Störungen  der  Structur  herbeigeführt 
werden ,  dass  eine  Wiederherstellung  der  normalen  Functionen  aus- 
geschlossen scheint.  Im  Uebrigen  wechseln  die  absoluten  Werthe  der 
betreffenden  Temperaturen  bei  verschiedenen  Plasmaarten  ausser- 
ordentlich, und  selbst  wenn  man  von  den  „kochfesten"  Bacterien  ab- 
sieht, sind  zahlreiche  Fälle  bekannt  geworden,  wo  Bewegungserschei- 
nungen plasmatischer  Gebilde  noch  bei  Temperaturen  beobachtet 
wurden,  die  weit  über  40*^  C.  hinausgehen.  Innerhalb  des  von  dem 
Maximum  und  Minimum  eingeschlossenen  Gebietes  der  „manifesten 
Contractilität"  darf  es  als  Regel  gelten,  dass  die  Lebhaftigkeit  der 
Bewegungen  mit  steigender  Temperatur  zunimmt.  Dies  gilt  für 
amöboides  bewegliches  Plasma  ebensowohl,  wie  für  die  Geissei-  und 
FlimmerbeAvegung,  und  auch  die  verschiedenen  Formen  der  Muskeln 
bilden  hiervon  keine  Ausnahme.  Während  man  sich  aber  bei  den 
einfacheren  Formen  beweglichen  Plasmas  darauf  beschränken  muss, 
die  untere  und  obere  Grenze,    sowie  das   „Optimum"  der  Temperatur 


Fig.  45.     Schematische  Zusammenstellung    isotonischer   Zuckungscurven   bei  verschie- 
denen Temperaturen  (—5  bis  -f  42^2**  C).     (Nach  J.  Gad.) 

zu  bestimmen,  bei  welchem  die  spontanen  Bewegungen  bei  scheinbar  un- 
beschränkter Dauer  die  grösste  Geschwindigkeit  erreichen,  bieten  die 
Muskeln  die  Möglichkeit  dar,  in  der  Analyse  der  Erscheinungen  noch 
einen  Schritt  weiter  zu  gehen. 

Im  Vorhergehenden  wurde  schon  wiederholt  des  sehr  eingreifen- 
den Einflusses  gedacht,  welchen  die  Temperatur  auf  den  Verlauf  der 
Ermüdungs-  und  Absterbeerscheinungen  der  Muskeln  besitzt,  eine 
Wirkung,  die  sich  durch  Steigerung  der  D.-Processe  bei  erhöhter, 
durch  Herabsetzung  derselben  bei  niedriger  Temperatur  leicht  erklärt. 
Damit  gehen  gewisse  Veränderungen  des  zeitlichen  Verlaufes,  der 
Form  und  Grösse  (Höhe)  der  Contraction  Hand  in  Hand,  welche  ins- 
besondere von  Gad  und  Hey  maus  neuerdings  zum  Gegenstand 
eingehender  Untersuchungen  gemacht  wurden  und  als  specifische 
Temperaturwirkungen  betrachtet  werden  können  (60).  Wird  ein 
curarisirter  quergestreifter  Skeletmuskel  vom  Frosch  in  geeigneter  Weise 
abgekühlt  und  von  Zeit  zu  Zeit  durch  je  einen  Inductionsschlag  ge- 
reizt, so  fällt  vor  Allem  auf,  dass  die  (isotonischen)  Zuckungs- 
curven um  so  gestreckter  verlaufen,  je  niedriger  die 
Temperatur  ist.  Wie  namentlich  die  Vergleichung  der  beistehenden 
Curven  (Fig.  45)  ergiebt,  ist  dann  insbesondere  das  Stadium 
der  steigenden  Energie  sehr  verlängert,  und  es  nimmt  die 
Steilheit  des  ansteigenden  Astes  bei  annähernder  Constanz  der  Steil- 
heit des  absteigenden  fortdauernd  ab.   Doch  bezieht  sich  diese  Constanz 


g;^  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

nur  auf  einen  verschieden  langen  oberen  Theil  der  Curve;  die 
schliessiiche  Rückkehr  zur  Gleichgewichtslage  findet  mit  Abnahme 
der  Temperatur  immer  langsamer  statt  (Verkürzungsrückstand).  Be- 
merkenswerth  ist  der  Gegensatz  zwischen  der  Wirkung  der  Kälte 
und  der  Ermüdung  in  Bezug  auf  den  zeitlichen  Verlauf  der  Muskel- 
zuckung :  Bei  Abkühlung  ist  der  absteigende  Ast  der 
Curve  ebenso  steil  oder  steiler  als  der  aufsteigende, 
bei  Ermüdung  dagegen,  die  den  Ablauf  der  Zuckung 
ebenfalls  verlangsamt,  nach  Angabe  aller  Autoren 
minder  steil. 

Eine  zweite  sehr  auffallende  Erscheinung,  die  früheren  Beobach- 
tern ganz  entgangen  war,  betrifft  das  innerhalb  gewisser 
Grenzen  der  Abkühlung  zu  beobachtende  Ansteigen  der 
Zuckungshöhen.  Die  Hubhöhe  zeigt  ein  absolutes  Minimum  in 
der  Nähe  des  Gefrierpunktes  (der  Muskelsubstanz),  wo  bei  der  Reizung 
keine  Längenänderung  mehr  zu  beobachten  ist ;  ein  relatives  Mini- 
mum hat  die  Hubhöhe  bei  etwa  19^  C,  von  wo  aus  sie  einerseits  bis  zu 
dem  absoluten  Maximum  bei  etwa  30  °  C.  und  zu  dem  relativen 
Maximum  bei  0*^  C.  steigt.  Das  Minimum  der  Zuckungs d a u e r 
fällt  zusammen  mit  dem  absoluten  Maximum  der  Hubhöhe,  sie  wächst 
von  da  an  mit  sinkender  Temperatur  continuirlich  bis  zum  Ver- 
schwinden der  Zuckung.  Wie  die  Zuckungsdauer  verhält  sich  auch 
das  Latenzstadium,  indem  es  mit  sinkender  Temperatur  continuirlich 
zunimmt.  Es  wurde  schon  erwähnt,  dass  ein  absolutes  Maximum  der 
Zuckungshöhe  bei  etwa  30 "^  C.  erreicht  wird ;  steigt  die  Tempera- 
tur noch  höher,  so  nimmt  die  Erregbarkeit  und  damit 
die  Hubhöhe  mehr  u  n  d  m  e  h  r  ab,  während  d  i  e  Z  u  c  k  u  n  g  s  - 
dauer  annähernd  gleich  bleibt  (Fig.  45  ^).  Bei  passender  Ge- 
schwindigkeit der  Erwärmung  gelingt  es,  nachzuweisen,  dass  die  Er- 
regbarkeit des  Muskels  gegen  den  elektrischen  Reiz 
fast  vollkommen  schwindet,  ehe  die  Verkürzung  durch 
Wärmestarre  eintritt.  Auf  die  einzelne  Zuckung  des  Muskels 
bei  isometrischem  Verfahren  hat  die  Temperatur  natürlich  einen 
ganz  analogen  Einfluss  wie  bei  i  so  tonischem  Verfahren.  Ein 
Unterschied  macht  sich  nur  geltend  in  Bezug  auf  die  Form  des 
Gipfels  der  Zuckungscurven.  Alle  isotonischen  Curven  sind  auf 
ihrem  Gipfel  kuppenförmig,  d.  h.  sobald  das  Maximum  der  Ordinaten 
erreicht  ist,  beginnt  auch  sofort  die  Wiederabnahme.  In  den  isometri- 
schen Curven  dagegen  tritt  im  Intervall  zwischen  Zimmertemperatur 
und  Gefrierpunkt  auf  der  Höhe  der  Zuckung  ein  Plateau  auf,  d.  h. 
während  kürzerer  oder  längerer  Zeit  bleibt  das  Maximum  der 
Spannung,  nachdem  es  erreicht  ist,  constant. 

*  Der  geschilderte  auffallende  Einfluss  der  Temperatur  auf  Höhe 
und  Verlauf  der  Zuckungscurve  quergestreifter  Stammesmuskeln  scheint 
darauf  hinzuweisen,  dass  bei  der  Thätigkeit  derselben  zwei  ihrer 
Natur  nach  verschiedene  Processe  ins  Spiel  kommen,  die,  einander 
entgegengesetzt,  durch  die  absinkende  Temperatur  nicht  in  gleichem 
Maasse  beeinflusst  werden.  Schon  Fick  nahm  an,  dass  der  Er- 
schlaffung des  gereizten  Muskels  ein  besonderer  (chemischer) 
Process  zu  Grunde  liege,  welcher  von  dem  bei  der  Contraction 
vorhandenen  durchaus  verschieden  und  ihm  entgegengesetzt  sei.  Die 
Ordinaten  der  Zuckungscurve  würden  demnach  nicht  der  Intensität ' 
e  ine s  Processes  proportional,  sondern  als  Ausdruck  der  Resultirenden 


Die  Formänderung-  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  85 

zweier  antagonistischer  Processe  anzusehen  sein.  F  i  c  k  stellt  sich 
vor,  dass  etwa  der  erste  Process  in  der  Bildung  eines  gewissen  Stoffes 
(Spaltung  von  Zucker  in  Milchsäure),  der  zweite  in  der  weiteren  Zer- 
störung des  gebildeten  Productes  (Verbrennung  der  Milchsäure  zu 
HgO  und  CO2)  bestehe.  Die  Säure  würde  eine  theilweise  Gerinnung 
des  Inhaltes  der  Sarkolemmschläuche  bedingen,  welche  durch  Vernich- 
tung der  chemischen  Ursache  wieder  beseitigt  wird.  Gad  und 
mehrere  seiner  Schüler,  sowie  Schenk  haben  diesen  Gedanken  neuer- 
dings noch  weiter  ausgeführt  und  insbesondere  auch  zur  Erklärung 
der  in  Rede  stehenden  Erscheinungen  angewendet  (33).  Ohne  hierauf 
näher  einzugehen,  sei  nur  bemerkt,  dass  man  naturgemäss  auch  auf 
Grund  der  von  Hering  entwickelten  allgemeineren  Vorstellungen  zu 
ähnlichen  Anschauungen  gelangt  und  unter  der  Voraussetzung,  dass 
Temperaturveränderung  auf  den  einen  der  beiden  Fundamentalprocesse 
des  Stoffwechsels  einen  stärker  herabsetzenden  Einfluss  ausübt,  als 
auf  den  andern,  alle  beobachteten  Wirkungen  zu  erklären  vermag. 

Für  die  Annahme,  dass  speciell  der  active  „Erschlaffungsprocess" 
im  Sinne  F  i  c  k '  s  mit  Assimilationsvorgängen  Hand  in  Hand  geht,  Hesse 
sich  vielleicht  die  Beobachtung  von  Fr.  Schenk  (61)  verwerthen, 
dass  die  Erschlaffung  um  so  langsamer  erfolgt,  je  spär- 
licher die  Reservestoffe  im  Muskel  sind.  Bei  Vergleichung 
eines  activ  ermüdeten  Muskels  mit  einem  andern,  dessen  Erregbarkeit 
mittels  Durchspülung  mit  Milchsäurelösung  herabgesetzt  war,  ohne 
dass  aber  eine  Verminderung  des  Gehaltes  an  Reservestoffen  statt- 
hatte, zeigte  sich,  dass  der  letztere  stets  rascher  erschlaffte,  als  der 
erstere.  Jener  verhält  sich  daher  zu  diesem  ähnlich  wie 
ein  abgekühlter  Muskel  zu  einem  ermüdeten. 

Für  den  quergestreiften  Warmblütermuskel  liegen  ausführlichere 
Untersuchungen  über  den  Einfluss  der  Temperatur  auf  Grösse  und 
Verlauf  der  Zuckung  nicht  vor,  dagegen  ist  es  für  den  Herzmuskel 
der  Kalt-  und  Warmblüter  lange  bekannt,  dass  durch  Abkühlung  der  zeit- 
liche Verlauf  der  natürlichen,  spontanen,  wie  auch  der  künstlich  ausgelösten 
Contractionen  sehr  bedeutend  verzögert  wird,  während  das  Umgekehrte 
bei  Steigerung  der  Temperatur  der  Fall  ist.  Gleichsinnige  Ver- 
änderungen erleidet  dann  auch  das  mechanische  Latenzstadium,  am 
auffallendsten  wohl  am  ausgeschnittenen  Warmblüterherzen  (W^aller  55). 
Während  bei  normaler  Temperatur  (38°— 40*^)  die  Contraction  schein- 
bar im  Momente  des  Reizes  erfolgt,  ein  Latenzstadium  daher  nur  bei 
Anwendung  feinerer  zeitmessender  Methoden  nachweisbar  ist,  kann 
dasselbe  bei  starker  Abkühlung  (12*^ — 0")  mehr  als  eine  Secunde 
betragen.  Ob  bei  gleichbleibender  Reizstärke  ähnliche  Beziehungen 
zwischen  Temperatur  und  Contractionsgrösse  des  Herzmuskels  be- 
stehen, wie  nach  Gad  und  Hey  man s  beim  quergestreiften  Skelet- 
muskel,  ist  nicht  bekannt.  Ist  die  Zuckungsdauer  eines  Muskels  schon 
normaler  Weise  sehr  kurz,  so  wird  sich  insbesondere  der  Einfluss  der 
sinkenden  Temperatur  deutlich  ausprägen,  umgekehrt  wird  die  durch 
Erwärmung  bedingte  Verkürzung  des  Contractionsverlaufes  charakte- 
ristischer hervortreten,  wenn  der  Muskel  von  vorneherein  durch  eine 
träge  Zuckung  ausgezeichnet  ist.  Dies  ist  in  höchstem  Maasse  bei 
den  glatten  Muskeln  der  Fall,  deren  Contractionsverlauf  durch  Er- 
wärmung ausserordentlich  beschleunigt  wird. 

Auch  sonst  bietet  übrigens  das  Verhalten  glatter  Muskelelemente 
bei    wechselnder   Temperatur    mannigfache    und     interessante   Abwei- 


gg  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

chungen,  die  vor  allem  Anderen  dadurch  bedingt  sind,  dass  jene 
in  sehr  vielen,  ja  vielleicht  allen  Fällen  unabhängig  vom  Nervensystem 
in  einem  Zustand  mehr  oder  weniger  ausgeprägter,  stetiger  Contraction 
verharren  („Tonus"),  dessen  Stärke  in  sehr  auffälliger  Weise  von 
der  jeweils  herrschenden  Temperatur  abhängig  erscheint.  In  besonders 
hohem  Grade  ist  dies  der  Fall  bei  den  glatten  Muskeln  vieler  wirbel- 
loser Thiere,  sowie  der  poikilothermen  Wirbelthiere.  So  zeigen  bei- 
spielsweise die  Schliessmuskeln  unserer  Süsswassermuscheln  (Anodonta, 
Unio)  in  der  Regel  einen  sehr  stark  entwickelten  Tonus,  der  vom  cen- 
tralen Nervensystem  sicher  ganz  unabhängig  ist.  Durch  theilweises 
Abbrechen  der  Schaale  kann  man  namentlich  bei  grossen  Exemplaren 
von  Anodonta  nach  Entfernung  aller  übrigen  Weichtheile  leicht  ein 
Präparat  gewinnen,  welches  zu  Reizversuchen  aller  Art  sehr  geeignet 
ist  (F  i  c  k  32 ,  Biedermann  62).  Immer  zeigt  sich  dann  der 
Muskel  zunächst  so  stark  contrahirt,  dass  er  nicht  nur  dem  kräftigen 
Zuge  des  unversehrten  Schlossbandes  Widerstand  leistet,  sondern 
ausserdem  noch  eine  Belastung  von  mehr  als  20  Gramm  ohne  merk- 
liche Dehnung  erträgt.  Auch  wenn  in  Folge  längerer  Ruhe  die 
Schaalen  bereits  hinreichend  klaffen ,  um  eine  erfolgreiche  Reizung 
vornehmen  zu  können,  ist  das  Bestreben  des  belasteten  Muskels,  sich 
zu  verkürzen,  noch  immer  ein  sehr  bedeutendes ,  wie  schon  daraus 
hervorgeht,  dass  jeder  Verminderung  der  Belastung  sofort  eine  ent- 
sprechende Verkürzung  folgt.  Selbst  nach  vielen  Stunden  lässt  sich 
in  der  Regel  noch  das  Vorhandensein  eines  gewissen  „Tonus"  consta- 
tiren.  Sobald  man  die  Insertion  eines  noch  lebenden  Muskels  an  der 
einen  Seite  löst,  contrahirt  sich  derselbe  rasch  um  mehr  als  die  Hälfte 
der  Länge,  welche  er  bei  ganz  geschlossener  Schaale  hatte.  Gleich- 
wohl nimmt  dieser  Tonus,  wie  schon  erwähnt,  mit  der  Zeit,  wenn  auch 
nur  langsam,  ab.  Lässt  man  ein  Präparat  während  mehrerer  Stunden 
bei  mittlerer  Temperatur  liegen ,  so  lässt  sich  diese  allmähliche  Er- 
schlaffung immer  leicht  constatiren.  Während  es  Anfangs  eines  ziem- 
lich bedeutenden  Kraftaufwandes  bedarf,  um  die  beiden  Schaalenhälften 
von  einander  zu  entfernen,  gelingt  dies  später  immer  leichter,  und  nach 
Verlauf  mehrerer  Stunden  vermag  bisweilen  schon  eine  Belastung  von 
kaum  10  Gramm  eine  fast  maximale  Dehnung  des  Muskels  zu  be- 
wirken. Daher  klaffen  auch,  Avenn  bei  der  Präparation  das  elastische 
Schlossband  unversehrt  bleibt,  die  Anfangs  fest  geschlossenen  Schaalen 
in  der  Folge  immer  weiter,  indem  das  Verhältniss  zwischen  der 
Spannung  des  die  Schaalen  öffnenden  Bandes  und  dem  tonischen  Ver- 
kürzungsbestreben des  Muskels  sich  immer  mehr  zu  Gunsten  der 
ersteren  ändert. 

Fast  momentan  beginnt  nun  aber  die  Verminderung  des  „Tonus", 
wenn  man  das  Präparat  in  höhere  Temperatur  bringt  (Eintauchen  in 
Wasser  von  etwa  30  ^  C.),  wodurch  nach  kurzer  Zeit  eine  weitgehende 
Erschlaffung  erzielt  wird,  Wiederabkühlung  vermag  dann  den  Tonus 
nur  unvollkommen  wiederherzustellen,  während  dies  bei  andern  glatten 
Muskeln  in  einer  sehr  vollständigen  Weise  gelingt.  In  neuerer  Zeit 
hat  Bern  stein  (63)  den  Einfluss  verschiedener  Temperaturen  auf  die 
Muscularis  des  Froschmagens  untersucht  und  gelangte  hierbei,  wie 
vordem  auch  Grünhagen  und  Samkowy  (64),  zu  ganz  analogen 
Resultaten,  wie  ich  selbst  bei  Untersuchung  des  glatten  Muschel- 
muskels. Bernstein  benutzte  nach  Entfernung  der  Mucosa  ein 
ringförmiges    Stück    der   Muskelhaut,    welches    in    einem    Glassgefäss 


Die  Formänderung'  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  87 

zwischen  zwei  Haken  ausgespannt  war,  während  die  Verkürzung 
bezw.  Dehnung  mittels  eines  über  eine  Rolle  läufenden  Fadens  auf 
einen  Schreibhebel  übertragen  wurde.  Als  erwärmendes  Medium 
diente  physiologische  Kochsalzlösung,  welche  vorher  auf  die  gewünschte 
Temperatur  gebracht  und  dann  in  das  Gefäss  gefüllt  wurde,  oder  mit 
Wasserdampf  gesättigte  Luft.  Das  Verhalten  eines  solchen  Muskel- 
ringes entspricht  nun  vollkommen  dem  oben  geschilderten  des  Muschel- 
schliessmuskels.  Befindet  sich  der  Ring  in  Folge  der  mit  der  Ablösung 
der  Mucosa  verbundenen  mechanischen  Reizung  in  massigem  Tonus, 
so  weicht  derselbe  bei  gewöhnlicher  Zimmertemperatur  nur  sehr  all- 
mählich. Dagegen  sinkt  der  Schreibhebel  mit  zunehmender 
Geschwindigkeit,  Avenn  die  Temperatur  von  etwa  25"  bis 
40*^  steigt.  Wird  während  dieser  Zeit  mit  tetanisirenden  Induc- 
tionsströmen  gereizt,  so  erhält  man  viel  kräftigere  Contractionen  als 
vorher,  was  wohl  weniger  auf  eine  Erhöhung  der  Erregbarkeit 
als  auf  das  Nachlassen  des  Tonus  zu  beziehen  sein  dürfte.  Zwischen 
45  und  50  '^  C.  hört  die  Dehnung  und  gleichzeitig  auch  die  Erregbar- 
keit auf,  und  erst  bei  circa  57*^  C.  beginnt  eine  neuerliche  Verkürzung, 
welche  grösstentheils  durch  Starreentwicklung  bedingt  ist.  Wir 
stossen  also  auch  hier  wieder  auf  die  von  G  a  d  und  H  e  y  m  a  n  s  für 
den  quergestreiften  Muskel  nachgewiesene  Thatsache,  dass  die  Erreg- 
barkeit für  den  elektrischen  Reiz  fast  vollkommen  schwindet,  ehe  die 
Verkürzung  durch  Wärmestarre  eintritt.  Vorher  bewirkt  jede 
Abkühlung  des  Präparates  eine  Contraction,  d.  h.  eine 
Verstärkung  bezw.  Wiederherstellung  des  Tonus.  Das- 
selbe Verhalten  constatirten  Grünhagen  und  Samkowy  auch  an 
der  Blasenmuskulatur  des  Frosches,  während  dagegen  in  manchen 
Fällen  glatte  Muskeln  von  Warmblütern  (Sphyncter  iridis, 
Muscularis  des  Oesophagus)  unter  gleichen  Umständen  ein 
gerade  entgegengesetztes  Verhalten  zeigen,  indem  sie 
sich  beim  Erwärmen  contrahiren,  beim  Abkühlen  er- 
schlaffen. Man  wird  jedoch  hierbei  im  Auge  behalten  müssen, 
dass  der  Erfolg  der  Erwärmung  oder  Abkühlung  sich  begreiflicher 
Weise  sehr  wesentlich  nach  dem  jeweiligen  Zustande  der  erregbaren 
Substanz,  d.  h.  im  gegebenen  Falle  dem  Grad  des  vorhandenen  Tonus, 
richten  wird.  Dieser  hängt  aber  seinerseits  zweifellos  von  dem  Er- 
haltensein der  normalen  Lebensbedingungen  und  insbesondere  auch  der 
normalen  Temperatur  ab.  Es  würde  daher  ganz  wohl  denkbar 
sein,  dass  glatte  Muskeln  von  Warmblütern  unter  Umständen  tonus- 
frei gefunden  werden,  wo  die  entsprechenden  Elemente  von  Kalt- 
blütern einen  kräftigen  Tonus  zeigen.  Vielleicht  beruht  hierauf 
wenigstens  zum  Theil  der  Widerspruch,  welcher  sich  nach  den  Unter- 
suchungen der  genannten  Autoren  bezüglich  des  Verhaltens  der 
glatten  Muskeln  der  Warm-  und  Kaltblüter  zu  ergeben  scheint. 
Sicher  ist,  dass  die  glatten  Muskeln  der  Blutgefässe  am  lebenden 
Thier  durch  hinreichend  starke  Erwärmung  (Annähern  eines  heissen 
Körpers  an  eine  blosgelegte  kleine  Arterie)  local  erschlaffen  und  sich 
daher  unter  diesen  Umständen  wie  die  Elemente  der  Kaltblüter  ver- 
halten. Desgleichen  beobachtete  Hör  vath  (65),  dass  sich  die  Trachea 
von  Säugethieren  bei  der  Erwärmung  erweitert  (Erschlaffung  der  Mus- 
keln), bei  der  Abkühlung  dagegen  verengt  (Contraction  der  glatten 
Muskelelemente). 

Auch    die    quergestreiften   Herzmuskelfasern    gerathen    unter    ge- 


38  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

wissen  Bedingungen  in  einen  dauernden  (tonischen)  Contraetions- 
zustand  und  bilden  dann  ein  besonders  günstiges  Object,  um  den  Einfluss 
der  Temperatur  auf  den  „Tonus''  zu  studiren.  Als  unmittelbare  Ent- 
stehungsursache  des  letzteren  wirken  hier  meist  äussere  Reize  mit, 
wenngleich  ein  gewisser  Grad  von  Tonus  auch  ohne  Hinzukommen 
solcher  unter  ganz  normalen  Verhältnissen  vorhanden  zu  sein  scheint. 
Am  Schneckenherzen  (Helix  pomatia)  habe  ich  (36)  in  Folge  plötz- 
licher Drucksteigerung  nach  Ablauf  einer  grösseren  oder  geringeren 
Zahl  regelmässiger  Zusammenziehungen  sehr  oft  einen  langanhalten- 
den, gleichmässigeu  Contractionszustand  des  Ventrikels  beobachtet, 
dessen  Entwicklung  an  dem  auf  eine  Canüle  gebundenen  und  mit 
Schneckenblut  oder  0,5  '*  o  Kochsalzlösung  gefüllten  Herzen  immer  in 
gleicher  Weise  vor  sich  geht.  Während  der  Ventrikel  sich  Anfangs 
unter  dem  vollen  Druck  der  in  der  Canüle  befindlichen  Flüssigkeits- 
säule ad  maximum  ausdehnt  und  bei  jeder  systolischen  Zusammen- 
ziehung vollkommen  entleert,  sieht  man  bald,  dass  die  diastolische 
Erschlaffung  unvollständig  wird;  es  bleibt  so  zu  sagen  ein  Contrac- 
tionsrest  zurück,  welcher  nun  mit  jeder  folgenden  Zusammenziehung 
wächst,  bis  endlich  das  Herz  gar  nicht  mehr  erschlafft  und  dauernd 
(tonisch)  systolisch  contrahirt  bleibt.  Dieser  „Tonus'"  las  st  sich 
nun  unter  Umständen  sofort  beseitigen,  wenn  man  das 
Präparat  einer  höheren  Temperatur  aussetzt,  während  er 
bei  Wiederabkühlung  neuerdings  hervortritt.  Dieser  „Kältetonus"  löst 
sich  dann,  wie  es  scheint,  unter  dem  Einfluss  der  Wärme  viel  rascher 
als  der  „Drucktonus".  Es  genügt  meist  schon  ein  einmaliges  kurzes 
Eintauchen  in  erwärmte  Salzlösung,  um  den  contrahirten  Ventrikel 
mit  einem  oft  kaum  merklichen  „Latenzstadium"  in  den  Zustand  voll- 
ständiger diastolischer  Erschlaffung  zu  versetzen. 

Eine  Frage,  die  sich  hier  naturgemäss  anschliesst,  betrifft  den 
oberen  und  unteren  Grenzwerth  der  Temperatur,  bei  welchem  über- 
haupt ein  Muskel  noch  functionsfähig  bleibt,  oder  doch  wenigstens 
wieder  functionsfähig  werden  kann. 

Dass  man  einen  Muskel,  wie  überhaupt  Protoplasma  unter  0  ^  ab- 
kühlen kann ,  ohne  in  vielen  Fällen  seine  Erregbarkeit  dauernd  zu 
schädigen,  kann  zwar  nicht  Wunder  nehmen,  da  der  Gefrierpunkt  der 
interstitiellen  Gewebsflüssigkeit  sowohl  wie  der  contractilen  Substanz 
selbst  nothwendig  unter  Null  Grad  liegen  muss.  Welcher  Art  jedoch 
die  Veränderungen  sind,  welche  die  Muskelsubstanz  erlitten  hat,  wenn 
ihre  Reactionsfähigkeit  durch  Kälte  fast  auf  Null  herabgedrückt 
worden  ist,  lässt  sich  schwer  im  Einzelnen  sagen.  Sicher  ist  die  In- 
tensität des  Stoffwechsels  auf  ein  Minimum  beschränkt. 

Sobald  jede  Reaction  gänzlich  aufgehört  hat,  ist  nach  Gad  und 
Heymans  eine  W^iedererholung  nicht  mehr  möglich,  und  es  muss  somit 
die  erregbare  Substanz  selbst  geschädigt  worden  sein.  Dies  kann 
entweder  dadurch  geschehen,  dass  sie  selbst  gefriert,  oder  dadurch, 
dass  sie  beim  Gefrieren  der  interstitiellen  Gewebsflüssigkeit  mechanisch 
verletzt  wird. 

Kühne  und  Hermann,  sowie  neuerdings  Preyer  haben  be- 
hauptet, dass  hartgefrorene  Muskeln  nach  ihrem  Aufthauen  noch  ge- 
zuckt haben,  und  das  Gleiche  wurde  von  Waller  für  den  Herzmuskel 
behauptet.  Indessen  fragt  es  sich  bei  diesen  Versuchen  immer,  ob 
auch  die  contractile  Substanz  selbst  gefroren  war  oder  nur  interstitielle 
Flüssigkeit. 


Die  Forniänderuug  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  89 


VI.    Einfluss  cliemischer  Substanzen  auf  die  Muskelcontraction. 

Die  normalen  Erscheinungen  der  Muskelthätigkeit  erleiden  immer 
dann  mehr  oder  weniger  tiefgreifende  Störungen,  wenn  die  ehemische 
Beschaffenheit  der  contractilen  Elemente  in  irgend  erheblichem  Grade 
sich  ändert.  Dafür  liefern  schon  die  bisher  mitgetheilten  Erfahrungen 
genügende  Belege,  und  insbesondere  das  Studium  der  Ermüdungserschei- 
nungen, welche  zum  Theil  sicher  nur  auf  einer  Anhäufung  von  ge- 
wissen Zersetzungsproducten  beruhen,  ist  in  dieser  Beziehung  sehr 
lehrreich.  Ohne  hier  auf  die  Wirkungsweise  aller  der  zahlreichen 
Körper  näher  einzugehen,  deren  Einfluss  auf  die  Muskelerregbarkeit 
bisher  geprüft  wurde,  sollen  nur  einige  einschlägige  Thatsachen  näher 
erörtert  werden,  die  für  das  Folgende  von  besonderer  Bedeutung  sind. 

Vor  Allem  muss  hier  auf  den  merkwürdigen  und  auffallenden 
Gegensatz  in  der  physiologischen  Wirkung  der  chemisch  einander  so 
nahe  stehenden  Kali-  und  Natronsalze  hingewiesen  werden.  Seit  lange 
bedient  man  sich  schwächerer  Lösungen  von  NaCl  (0,5 — 0,6  °/o),  wenn 
es  darauf  ankommt,  eine  Flüssigkeit  zu  verwenden,  durch  welche 
quergestreifte  und  glatte  Muskeln,  sowie  Nerven  von  Wirbelthieren 
möglichst  lange  in  möglichst  normalem  Zustande  erhalten  werden 
können.  Die  „physiologische  Kochsalzlösung" ,  deren  Concentration 
sich  natürlich  nach  dem  Salzgehalt  der  Gewebe  richtet  und  daher 
bei  Seethieren  entsprechend  grösser  sein  muss,  hatte  man  sich,  gestützt 
auf  vielfache  Erfahrungen,  so  sehr  als  eine  völlig  indifferente  Flüssig- 
keit zu  betrachten  gewöhnt,  dass  es  füglich  überraschen  musste, 
als  ganz  neuerdings  F.  S.  Locke  (66)  darauf  aufmerksam  machte, 
dass  dies,  auch  für  den  quergestreiften  Froschmuskel,  nur  in  be- 
schränktem Maasse ,  gilt.  Er  fand  beim  Vergleich  normaler  und 
solcher  Sartoriuspräparate ,  die  vorher  längere  Zeit  in  0,6  *^/o  NaCl- 
Lösung  gelegen  hatten,  auffallende  Unterschiede  der  Erregbarkeit  und 
des  Zuckungs Verlaufes.  Einzelne  den  ganzen  Muskel  durchsetzende 
Liductionsströme  von  grösserer  Stärke  (besonders  Oeffnungsschläge) 
bewirkten  am  K.S.M.  (Kochsalzmuskel)  „tetaniforme  Contractionen 
von  enormer  Höhe  und  einer  Dauer  von  mehreren  Secunden ,  nach 
welchen  der  Muskel  plötzlich  erschlaffte  und  nur  einen  kleinen  Ver- 
kürzungsrückstand zeigte'".  Eine  Neigung  zu  Contractur  hat  schon 
S.  Ringer  (67)  am  K.S.M.  beobachtet  und  zugleich  gefunden,  dass 
diese  Wirkung  durch  Zusatz  von  1  Theil  CaCL  zu  5000  Theilen  der 
verwendeten  NaCl- Lösung  vollkommen  aufgehoben  wird.  Auch 
Locke  sah  die  oben  beschriebenen  hohen  tetaniformen  Contractionen 
nach  kurzer  Zeit  verschwinden,  wenn  der  so  reagirende  Muskel  in 
Kochsalzlösung  gebracht  wird,  die  10  ''^o  einer  gesättigten  Lösung  von 
CaS04  enthält. 

Es  scheint  hiernach,  dass  eine  Kalksalze  in  entsprechendem  Ver- 
hältniss  enthaltende  0,6  *^/o  NaCl-Lösung  mehr  „physiologisch"  ist,  als 
eine  reine,  unvermischte. 

Viel  ausgeprägtere  Veränderungen  der  Reactionsfähigkeit  querge- 
streifter (Frosch-)Muskeln  bewirken  K.S.-Lösungen,  deren  Procentgehalt 
unter  oder  über  0,5  liegt.  Ersterenfalls  treten,  wie  schon  CarslaAV  (68) 
bei  Durchleitung  durch  die  Gefässe  eines  Froschhintertheiles  beobachtete, 
sehr  bald  spontane  Reizerscheinungen  (tetanische  Contractionen)  ein, 
die,  durch  Ruhezeiten  getrennt,  während  mehrerer  Minuten  andauern. 


90  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Lösungen  über  0,7  bis  1  ^/o  NaCl  bedingen  ausserdem  eine  contractur- 
artige,  allmählich  wachsende  und  später  wieder  abnehmende  Verkür- 
zung des  Muskels ,  während  bei  2  ^,  o  die  fibrillären  Zuckungen  weg- 
fallen und  nur  eine  langsam  zunehmende  Sclirumpfung  mit  gleich- 
zeitigem Verlust  der  Erregbarkeit  des  Muskels  eintritt.  Vorher  sind 
sowohl  Einzelreize  wie  Tetani  mit  starken  Contracturen  behaftet. 
Man  wird  daher  sagen  dürfen,  dass  innerhalb  gewisser  Gi*enzen  der 
Concentration  NaCl-Lösungen  die  Erregbarkeit  quergestreifter  Skelet- 
muskeln  zunehmend  steigern,  beziehungsweise  direct  (chemisch)  reizend 
wirken,  womit  zugleich  eine  auffallende  Neigung  zur  Contractur  ver- 
bunden ist. 

Die  erregbarkeitssteigernde  resp.  erregende  Wirkung  der  reinen 
K.S.-Lösung  wird  durch  einen  Zusatz  gewisser  anderer  Natronsalze, 
insbesondere  von  NagCOg  noch  ganz  ausserordentlich  gesteigert.  Ein 
gänzlich  unversehrter  Sartorius  vom  Frosch  geräth  beim  Eintauchen  in 
reine  0.6  ^lo  NaCl-Lösung  zwar  auch  bisweilen  in  schwache  Erregung, 
indem  tibrilläre  Zuckungen  auftreten,  doch  sind  diese  Erscheinungen 
dann  niemals  von  langer  Dauer.  Fügt  man  aber  der  Lösung  etwas 
Natriumphosphat  (Na2HP04)  und  eine  geringe  Menge  NagCOg  hinzu 
(im  Liter  destillirten  Wassers  5  Gramm  NaCl ,  2  Gramm  Na2HP04 
und  0,4 — 0,5  Gramm  NaoCOa),  so  beobachtet  man  bei  nicht  zu  hoher 
Temperatur  (3 — 10  '^  C.)  fast  ausnahmslos  nach  einer  kürzeren  oder 
längeren  Zeit  der  Ruhe  den  Beginn  rhythmischer  Thätigkeit  des  ein- 
getauchten Muskels  (69).  Zunächst  verräth  sich  dieselbe  in  den  meisten 
Fällen  durch  rasch  auf  einander  folgende,  schwache  und  wenig  aus- 
giebige ,  örtlich  beschränkte  Contractionen ,  welche  in  gleicher 
Höhe  von  einer  grösseren  oder  kleineren  Zahl  von  Primitivfasern  aus- 
gelöst werden.  Bisweilen  sind  diese  Bewegungen  so  schwach,  dass 
sie  sich  nur  durch  ein  leises,  aber  dennoch  deutlich  rhythmisches  Er- 
zittern des  eingetauchten  Muskels  verrathen.  Gewöhnlich  werden  aber 
diese  geringfügigen  Erregungserscheinungen  bald  durch  kräftigere  und 
zugleich  in  langsamerem  Rhythmus  erfolgende  Contractionen  derselben 
oder  anderer  Faserstellen  abgelöst,  welche  unter  Umständen  sogar  be- 
wirken können,  dass  sich  der  Muskel  in  regelmässigen  Pausen  nach 
der  Fläche  oder  Kante  im  Halbkreise  krümmt  oder  sich  gar  schraubig 
aufrollt.  Im  Uebrigen  herrscht  eine  fast  unerschöpfliche  Mannigfaltig- 
keit in  Bezug  auf  die  hier  zu  beobachtenden,  bald  interferirenden, 
bald  ungestört  neben  einander  her  laufenden  Bewegungsformen,  welche 
jedoch  das  gemeinsam  haben,  dass  an  einer  und  derselben  Stelle  des 
Muskels  eine  gewisse  Zeit  hindurch  ein  gleichförmiger  Rhythmus  der 
Bewegung  und  somit  auch  der  Reizauslösung  eingehalten  wird. 

Es  kommt  nicht  selten  vor,  besonders  in  späteren  Stadien  der 
Einwirkung  alkalischer  Salzlösungen,  dass  Avährend  längerer  Zeit 
immer  nur  eine  Stelle  des  eingetauchten  Muskels  in  rhythmischer 
Thätigkeit  verharrt,  so  dass  das  Präparat  mit  der  Regelmässigkeit 
eines  schlagenden  Herzens  immer  in  einem  und  demselben  Sinne  sich 
bewegt,  und  man  hat  dann  nicht  selten  Gelegenheit,  ein  Phänomen 
zu  beobachten,  welches  so  lebhaft  an  die  von  Luciani  (70)  seiner  Zeit 
beschriebene  „periodische  Function"  des  Froschherzens  erinnert,  dass 
die  Analogie  beider  Erscheinungen  jedem  Beobachter  sofort  auffallen 
muss.  Die  Periodenbildung  tritt  oft  ganz  unvermittelt  und  plötzlich 
ein,  nachdem  das  Präparat  eine  Zeit  lang  in  regelmässigem  Rhythmus 
pulsirt  hat,  indem  eine  kürzere    oder    längere  Pause  die  regelmässige 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  91 

Schlagfolge  unterbricht;  in  anderen  Fällen  kündigt  sich  der  Eintritt 
der  Erscheinung  dadurch  an,  dass  nach  einer  langen  Reihe  in  gleich- 
massigem  Rhythmus  erfolgender  Pulsationen  die  zwischen  je  zweien 
derselben  betindlichen  Pausen  allmählich  länger  werden,  ohne  dass 
jedoch  die  Beschaffenheit  der  einzelnen  Contractionen  hierbei  irgend- 
wie sich  änderte.  Endlich  erfolgt  eine  lange  Pause,  worauf  wieder 
eine  Reihe  von  Pulsationen  folgt ,  die  neuerdings  durch  eine  Ruhe- 
periode unterbrochen   werden  etc. 

Bei  niederer  Temperatur  kann  das  Spiel  rhythmischer  Thätigkeit  oft 
tagelang  beobachtet  werden.  Die  Erscheinung  gewinnt  ein  besonderes 
Interesse,  wenn  man  sie  im  Zusammenhang  mit  einer  Reihe  in  neuerer 
Zeit  von  verschiedenen  Forschern  an  dem  vom  Vorhof  abgetrennten 
Ventrikel  des  Froschherzens  gemachter  Beobachtungen  betrachtet. 

Merunowicz,  Rossbach,  Stienon,  Gaule,  Gaskell, 
Löwit  u.  A.  haben  den  interessanten  Nachweis  geliefert,  dass  auch 
die  ganglienlose  „Herzspitze"  des  Frosches  in  regelmässige,  rhyth- 
mische Thätigkeit  zu  gerathen  vermag,  wenn  gewisse  chemische  Sub- 
stanzen der  zur  Speisung  des  Präparates  benutzten,  an  sich  unwirk- 
samen 0,6^^/0  NaCl-Lösung  beigesetzt  werden ;  dadurch  ist  offenbar  die 
Frage  in  den  Vordergrund  getreten,  welche  anatomischen  Bestand- 
theile  der  Herzspitze  hierbei  das  primär  Erregte  sind.  Es  liegt  sehr 
nahe,  auch  hier  in  erster  Reihe  die  Muskeln  in  Betracht  zu  ziehen, 
umsomehr,  als,  wie  gezeigt  wurde,  auch  der  durch  Curare  entnervte 
Stammesmuskel  unter  fast  genau  denselben  Bedingungen  zu  analoger 
rhythmischer  Thätigkeit  angeregt  wird.  Es  scheint  überhaupt  eine 
allgemeine  Ei  genschaft  der  Muskelsubstanz  zu  sein,  bei 
allen  dauernden  Reizen  unter  gewissen  Bedingungen  in 
einen  merkbar  rhythmischen  Erregungszustand  zu  ge- 
rathen. Für  eine  derartige  Auffassung  sprechen  nicht  nur  die  eben 
mitgetheilten  Thatsachen,  sondern  auch  später  mitzutheilende  Beob- 
achtungen über  rhythmische  Erregung  des  Sartorius  und  des  Herz- 
muskels durch  den  constanten  elektrischen  Strom. 

Abgesehen  von  den  „spontanen"  rhythmischen  Erregungserschei- 
nungen, welche  durch  verdünnte  Lösungen  von  NagCOg  an  quer- 
gestreiften Muskeln  hervorgerufen  werden,  verräth  sich  die  specifische 
Wirkung  dieses  Salzes  auch  durch  eine  sehr  auffallende  Steigerung 
der  Anspruchsfähigkeit  für  künstliche  Reize.  Dies  tritt  in  allen 
Fällen  sehr  deutlich  hervor,  wenn  ein  nicht  zu  dicker  Muskel,  wie  der 
Sartorius  des  Frosches,  ganz  oder  partiell  mit  entsprechend  verdünnten 
Lösungen  behandelt  wird.  Es  wird  später  eine  sehr  auffällige,  hierher 
gehörige  Thatsache  zu  erwähnen  sein,  die  sich  auf  die  veränderte 
Wirkung  des  Kettenstromes  an  einem  einseitig  mit  Na^COg  behandelten 
Sartorius  bezieht.  Aber  auch  bei  örtlicher  mechanischer  Reizung,  sowie 
bei  Anwendung  einzelner  Liductionsschläge  oder  inducirter  Wechsel- 
ströme macht  sich  die  Erregbarkeitssteigerung  durch  eine  sehr  be- 
deutende Zunahme  der  Zuckungshöhe  resp.  der  Tetanuscurve,  sowie 
durch  eine  gesteigerte  Neigung  zur  Contractur  geltend. 

Aehnlicli  wie  NagCOg,  nur  Avesentlich  schwächer,  wirken  auch 
stärkere  Lösungen  von  Na2S04,  sowie  höchst  verdünnte  von  NaOH 
(in  0,5*^/0  NaCl-Lösung),  sodass  man  insbesondere  in  Hinblick  auf  die 
ganz  gleichartige  Wirkung  derselben  Substanzen  auf  den  Herzmuskel 
wohl  berechtigt  ist,  von  einer  geradezu  specifischen  Wirkung  der  ge- 
nannten Natronsalze  zu  sprechen,    derzufolge  die  contractile  Substanz 


Q2  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

quergestreifter  Muskeln  schon  durch  die  Anwesenheit  sehr  geringer 
Mengen  jener  Stoffe  derart  verändert  wird,  dass  sie  leichter  und 
schon  bei  schwächeren  Reizen  in  den  Zustand  der  Erregung  geräth, 
als  dies  normaler  Weise  der  Fall  ist. 

In  gewissem  Sinne  vergleichbar  ist  die  vielbesprochene  und  oft 
untersuchte  Wirkungsweise  des  Vera  tri  ns,  eines  Alkaloids,  dessen 
merkwürdigen  Einfluss  auf  quergestreifte  Muskeln  Kölliker  ent- 
deckte, und  der  später  insbesondere  von  Bezold  (71),  Fick  und 
Böhm  (72)  und  Anderen  näher  untersucht  wurde.  Während  bei  An- 
wendung von  gewissen  Natronsalzen  und  besonders  des  NagCOs  die 
Steigerung  der  Anspruchsfähigkeit  für  jedweden  Heiz  in  den  Vorder- 
grund tritt,  ist  es  bei  Vergiftung  mit  Veratrin  vor  Allem  die  ganz 
ausserordentliche  Verlängerung  der  Contractionsdauer  (Contractur), 
welche  das  ganze  Erscheinungsgebiet  beherrscht. 

Wird  ein  Frosch  durch  subcutane  Injection  von  1 — 2  Tropfen 
einer  etwa  0,2*^/o  Lösung  von  Veratrin  vergiftet,  so  zeigt  sich  schon 
nach  kurzer  Zeit  in  der  Regel  eine  auffallende  Störung  der  normalen 
Bewegungen,  die  sich  vor  Allem  dadurch  charakterisirt,  dass  zwar 
rasche  und  kräftige  Contractionen  ausgeführt  werden,  die  Erschlaffung 
und  Wiederverlängerung  der  Muskeln  dagegen  nur  äusserst  träge  er- 
folgt. Dies  zeigt  sich  noch  viel  deutlicher  bei  Versuchen  am  isolirten 
Nerv-Muskelpräparat,  insbesondere,  wenn  die  Gestaltveränderungen 
graphisch  verzeichnet  werden.  Während  der  aufsteigende  Schenkel, 
sowie  der  Gipfel  der  Curve  keine  erheblichen  Veränderungen  er- 
kennen lässt,  ist  das  Stadium  der  sinkenden  Energie  ausserordentlich 
verlängert,  und  es  kann  sich  die  Erschlaffung  über  viele  Secundeu 
hinziehen.  Seit  v.  Bezold  diese  merkwürdigen  Wirkungen  des 
Veratrins  zuerst  genauer  feststellte,  darf  es  als  sicher  gelten,  dass  die- 
selben lediglich  in  einem  veränderten  Zustand  der  Muskelsubstanz 
selbst  begründet  sind  und,  wie  Fick  meint,  wahrscheinlich  auf 
einer  „Steigerung  des  Erregungsprocesses  über  das  normale  Maass 
hinaus"  beruhen.  Um  eine  möglichst  anhaltende  Contraction  zu  er- 
zielen, empfiehlt  sich  die  Vergiftung  mit  grösseren  Dosen  mehr;  am 
zweckmässigsten  fand  ich  es,  6 — 7  Tropfen  einer  P/o  Lösung  von 
Veratrin.  acet.  in  den  Rückenlymphsack  zu  bringen  und  den  Frosch 
(R.  tempor.)  nach  spätestens  10  Minuten  zu  tödten.  Gewöhnlich 
genügen  schon  5 — 7  Minuten,  um  jene  Symptome  hervorzurufen, 
welche  das  geeignete  Stadium  der  Giftwirkung  charakterisiren.  Als 
solche  sind  vor  Allem  mehr  oder  weniger  ausgeprägte  Streckkrämpfe 
der  Hinterextremitäten  zu  nennen,  die  einander  in  ziemlich  kurzen 
Pausen  folgen  und  durch  lebhafte  Unruhe  des  Thieres  und  häufig 
wiederholtes  krampfhaftes  Aufsperren  des  Maules  eingeleitet  werden. 
Ein  sicheres  Zeichen  der  Brauchbarkeit  ist  es,  wenn  die  Bauch- 
muskeln bei  mechanischer  Reizung,  etwa  durch  Fassen  mit  der  Pin- 
zette, in  eine  lang  anhaltende  tetanische  Contraction  verfallen,  und  wenn 
das  Gleiche  bei  Herstellung  des  Sartoriuspräparates  nach  Durch- 
schneidung des  Nerven  der  Fall  ist.  Hierbei  sieht  man  oft,  dass  einer 
raschen  Zuckung  im  Momente  der  Durchschneidung  der  Nerven  nach 
kurzer  Pause  eine  weitere,  langsamer  zunehmende  Verkürzung  folgt, 
welche  dann  längere  Zeit  constant  bleibt  und  nur  ganz  allmählich  der 
Wiedererschlaffung  weicht. 

Verzeichnet  man  die  Gestaltveränderungen  eines  in  der  beschrie- 
benen Weise  mit  Veratrin  vergifteten  Sartorius,  indem  man  denselben 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


93 


mittels  der  beiderseits  befindlichen  Knochenstümpfe  in  dem  später  zu 
beschreibenden  Hering'schen  Doppelmyographen  befestigt,  nachdem 
vorher  eine  der  beiden  beweglichen,  unpolarisirbaren  Elektroden  dauernd 
fixirt  wurde,  so  erhält  man  im  Wesentlichen  gleiche  Curven,  ob  nun 
die  Reizung  durch  einen  irgendwo  in  der  Continuität  des  Muskels 
einwirkenden  Inductionsschlag  oder  durch  möglichst  kurze  Schliessung 
eines  Kettenstroms  bewirkt  wird.  In  beiden  Fällen  bleibt  sozusagen 
die  Contractionswelle  auf  ihrem  Wege  durch  den  Muskel  fixirt  und 
erzeugt  so  einen  mehr  oder  weniger  langen,  in  fast  gleicher  Stärke  an- 
haltenden Tetanus  oder,  wie  man  sich  mit  Rücksicht  auf  die  bisher 
gänzlich  mangelnden  Beweise  der  discontinuirlichen  Natur  der  be- 
treffenden Contraction  wohl  richtiger  ausdrückt,  eine  „tonische"  Ver- 
kürzung des  gesammten  Muskels  in  allen  seinen  Theilen. 

Wie  bereits  Bezold  und  Fick  hervorhoben,  kann  man  ver- 
schiedene Formen  der  Zusammenziehung  des  Veratrinmuskels  unter- 
scheiden, von  denen  als  eine 
der  am  häufigsten  vorkom- 
menden nur  die  erwähnt 
sei,  bei  welcher  der  eigent- 
lichen tonischen  Dauercon- 
traction  eine  mehr  oder 
weniger  deutlich  ausge- 
sprochene, rasch  verlaufende 
Initialzuckung  vorangeht. 
Es  tritt  dann  ähnlich,  wie 
dies  bereits  oben  bemerkt 
wurde,  im  Momente  der 
Reizung  eine  rasche  Zu- 
sammenziehung des  Muskels 
ad  maximum  ein,  worauf 
sofort  eine  beträchtliche 
Wiederverlängerung  erfolgt, 
der  sich  nun  eine  aber- 
malige langsame  Contraction 
anschliesst,  die  nur  ganz 
allmählich  der  Erschlaffung 
weicht  (Fig.  46).  Andeutun- 
gen dieser   eigenthümlichen 

Verkürzungsweise  werden  kaum  jemals  ganz  vermisst,  insbesondere 
nach  längerem  Verweilen  des  Präparates  in  verdünnter  Kochsalz- 
lösung. Es  kann,  wie  schon  Fick  nachwies,  nicht  davon  die  Rede 
sein,  die  erwähnte  Anfangszuckung  etwa  durch  indirecte  Erregung 
des  Muskels  von  Seite  der  intramusculären  Nerven  zu  erklären  und 
nur  die  nachfolgende  Dauerverkürzung  auf  directe  Muskelreizung  zu 
beziehen,  denn  man  beobachtet  ganz  dieselben  Curvenformen  auch 
nach  vorgängigem  Curarisiren.  Möglicherweise  hängt  die  Erscheinung 
zusammen  mit  der  von  Grützner  zuerst  betonten  Zusammensetzung 
des  Muskels  aus  zwei  morphologisch  und  functionell  verschiedenen, 
den  rothen  und  weissen  (trägen  und  flinken)  Muskeln  entsprechenden 
Faserarten.  Zu  Gunsten  dieser  Auffassung  Hesse  sich  wohl  auch 
noch  geltend  machen,  dass  derartige  doppelgipfelige  Zuckungscurven 
nicht  selten  auch  unter  anderen  Verhältnissen,  wie  z.  B.  nach  localer 
Behandlung  mit  NaoCOy,  oder  selbst  an  ganz  normalen  Froschmuskeln 


\^Jdd^^UUUvAjUv..Jud\.JvJUUv}^_L^K_KJ\ 


Fig.  46.     Schliessungszuckung  des  veratrinisirten 
M.  sartorius  vom  Frosch  (1  Daniell.).     Der  eigent- 
lichen   tonischen  Verkürzung    geht    eine    rasche 
Initialznckung  voraus.     (Biedermann.) 


g^  Die  Formäüderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

vorkommen.  Gerade  für  den  Sartorius  gilt  dies  nach  Grützner  als 
Regel.  Reizt  man  während  des  Stadiums  der  Wiederverlängerung  den 
Veratrinmuskel  wiederholt  etwa  durch  kurz  dauernde  Schliessung  eines 
Kettenstromes,  so  zeigt  sich  die  Anspruchsfähigkeit  desselben  für  den 
Schliessungsreiz  im  Allgemeinen  um  so  geringer,  in  einem  je  höheren 
Grade  er  noch  zur  Zeit  der  Reizung  verkürzt  erscheint.  Nicht  selten 
reagirt  aber  selbst  der  schon  völlig  erschlaffte  Muskel  unmittelbar 
nachher  kaum  merklich  auf  denselben  Reiz,  der  kurz  vorher  eine 
mächtige  Contraction  auslöste.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  hält  jedoch 
die  Zunahme  der  Reizerfolge  vollkommen  gleichen  Schritt  mit  der 
allmähhch  zunehmenden  Erschlaffung  des  Muskels,  so  dass  die 
während  derselben  in  gleichen  Zwischenräumen  ausgelösten,  fast 
immer  rasch  verlaufenden  Zuckungen  sämmtlich  zu  gleicher 
Höhe  über  einer  Linie  als  Abscisse  sich  erheben,  welche  dem  ab- 
steigenden Aste  der  Curve  entspricht,  die  der  Muskel  auch  nach  nur 
einmaliger  Reizung  verzeichnet  haben  würde.  Analoge  Beobachtungen 
machte  Fick  auch  bei  indirecter  Reizung  eines  mit  Veratrin  ver- 
gifteten Froschmuskels  vom  Nerven  aus  (72.  p.  146). 

Wie  eben  erwähnt  wurde,  ändert  sich  bei  rasch  wiederholter 
Reizung  der  Charakter  der  Zuckungen  in  sehr  auffallender  Weise, 
indem  die  Erschlaffung  sehr  bald  ebenso  schnell  erfolgt,  wie  unter 
normalen  Verhältnissen.  Bleibt  der  Muskel  dann  einige  Zeit  ungereizt, 
so  zeigt  die  erste  neu  ausgelöste  Zuckung  wieder  alle  für  die  Vera- 
trinwirkung charakteristischen  Merkmale.  Auch  die  Temperatur  übt 
einen  grossen  Einfluss  aus,  indem  der  typische  Verlauf  der  Con- 
traction scurve  des  Veratrinmuskels  am  deutlichsten  bei  einer  mitt- 
leren Temperatur  hervortritt  und  sowohl  durch  zu  grosse  Wärme  wie 
durch  Kälte  beinträchtigt  wird.  In  beiden  Fällen  schwinden,  wie 
insbesondere  L.  Brunton  und  Cash  (73)  gezeigt  haben,  die  Er- 
scheinungen der  Veratrincontractur,  um  wieder  hervorzutreten,  wenn 
der  abgekühlte  oder  erwärmte  Muskel  in  eine  gemässigte  Temperatur 
zurückversetzt  wird.  Bisweilen  ist  dies  letztere  allerdings  nicht  der 
Fall,  so  dass  es  scheint,  als  wäre  die  Veratrinwirkung  durch  die  ver- 
änderte Temperatur  dauernd  aufgehoben. 

Aehnlich  wie  Veratrin  scheinen  auch  Baryumsalze  auf  die  Sub- 
stanz quergestreifter  Muskeln  einzuwirken,  während  Kaliumsalze 
im  Allgemeinen  als  Muskelgifte  wirken,  Avelche  die  Erregbarkeit  mehr 
oder  weniger  rasch  herabsetzen  und  schliesslich  dauernd  vernichten. 
Selbst  in  sehr  starker  Verdünnung  ist  dies  noch  immer  in  merklichem 
Grade  der  Fall ,  so  dass ,  wie  schon  Ranke  hervorhob ,  die  Kali- 
salze wahrscheinlich  als  „Ermüdungsstoffe"  der  Muskeln  eine  wesent- 
liche Rolle  spielen.  Sicher  ist,  dass  sowohl  bei  örtlich  beschränkter 
Anwendung  wie  bei  Durchspülung  mit  Lösungen  von  Kalisalzen 
alle  charakteristischen  Erscheinungen  der  Muskelermüdung  hervor- 
treten, welche  zunächst  einfach  durch  Auswaschen  des  betreffenden 
Präparates  (Durchspülen  mit  0,6*^/o  NaCl-Lösung)  sich  wieder  beseitigen 
lassen. 


LITERATUR. 

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96  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

( Pflügers  Arch.     51,     p.  509. 

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, ,    ^^  ■  ^  -  f  Ber.  der  Berliner  Academie.     1870.     p.  629. 

44.  H.  Krone  eker,  .^         n  •     a    v,      iq7q     c       i 

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G.  Pfalz,  Ueber  das  Verhalten  glatter  Muskeln  verschied.  Thiere  gegen  Temp.- 
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64 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  97 

{Philosoph.  Transact.     1884.     p.  226. 
Journ.  of  Physiol.  (3).     1882.     p.  380. 
Journ.  of  Physiol.  (4).     1883.     p.  29. 
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69.  Biedermann,  Sitzungsbericht  der  Wiener  Academie.     LXXXII.     III.  Abth.     1880. 

(lieber    rhythmische,    durch    ehem.    Reizung    bedingte    Contractionen    quergestr. 
Muskeln.) 

70.  Lueiani,  Ber.  d.  sächs.  Ges.     1873.     p.  11. 

71.  V.  Bezold,  Unters,  aus  d.  Würzburger  Labor.     1867. 

1  A.  Fick,  Unters,  aus  d.  Würzburger  Labor.     2.  Lief.     1873. 

\Piek  und  Böhm  in  Fick,  Myotherm.  Untersuchungen.     V. 

„„    ,     „         ^  -,«,(■  Journ.  of  Physiol.     Vol.  IV. 

73.  L.  Brunton  und  Cash,  {  •' 

I  Centralbl.  t.  med.  Wiss.     1883.     No.  6. 


TU.    Eeizsummation  und  Tetanns. 

Bisher  war  wesentlich  nur  von  Einzelzuckungen  die  Rede,  wie 
man  sie  erhält,  wenn  ein  Muskel  durch  kurzdauernde  Reize  erregt 
wird.  Es  bleibt  zu  untersuchen,  wie  sich  ein  Muskel  verhält,  wenn 
zwei  oder  mehrere  Reize  in  immer  kürzeren  Intervallen  aufeinander- 
folgen. Sind  die  Pausen  so  lang,  dass  der  Muskel  jedesmal  vor  Beginn 
einer  neuen  Zuckung  vollkommen  wieder  erschlaffen  kann,  so  entsteht 
eine  Zuckungs  reihe,  deren  einzelne  Glieder  völlig  von  einander  ge- 
trennt sind  und  sich  höchstens  indirect  (wie  etwa  bei  der  „Treppe" 
oder  durch  Ermüdung)  in  Bezug  auf  Grösse  und  Verlauf  beeinflussen. 
Werden  jedoch  die  Pausen  kleiner,  und  folgen  die  Reize  (einzelne 
Inductionsschläge)  rascher  auf  einander,  so  kommt  man  bald  an  eine 
Grenze,  wo  noch  vor  völligem  Ablauf  der  ersten  und  jeder  folgenden 
Zuckung  der  neue  Reiz  einwirkt  und  so  den  Muskel  verhindert,  jemals 
seine  volle  Ruhelage  wieder  zu  erreichen.  Es  bleibt  dann  eine  gewisse 
Verkürzung  bestehen,  deren  Grösse  von  der  Reizfrequenz  wesentlich 
mit  abhängt,  und  um  welche  der  Muskel  gewissermaassen  oscillirt.  Je 
rascher  die  Reize  aufeinanderfolgen,  desto  stärker  bleibt  der  Muskel 
contrahirt,  und  desto  kleiner  erscheinen  die  einzelnen  rhythmischen  Oscil- 
lationen,  welche  sich  schliesslich  auch  bei  graphischer  Verzeichnung  nur 
noch  durch  eine  leichte  Kräuselung  der  „Tetanus-Curve",  dem  blossen 
Auge  durch  ein  zartes  Flimmern  der  spiegelnden  Oberfläche  verrathen. 
Schliesslich  geht  dann  dieser  „unvollkommene"  in  den  „voll- 
kommenen" Tetanus  über,  bei  welchem  sichtbare  Gestaltverände- 
rungen überhaupt  nicht  mehr  nachweisbar  sind.  Der  Muskel  erreicht 
nach  Beginn  der  tetanisirenden  Reize  sehr  rasch  das  Maximum 
der  Verkürzung,  welches  hier  in  der  Regel  wesentlich  höher  liegt 
als  bei  jeder  (maximalen)  Einzelzuckung,  bleibt  dann  während  der 
Fortdauer  der  intermittirenden  Reizung  gleichmässig  contrahirt,  um  nach 
Beendigung  derselben  meist  rasch  zur  Ruhelage  zurückzukehren.  Un- 
geachtet der  scheinbaren  Stetigkeit  muss  nun  der  Tetanus,  wie  sich 
aus  seiner  Entstehung  unmittelbar  ergiebt,  doch  als  ein  aus  der  Sum- 
mation  von  Einzelzuckungen  hervorgegangener  discontinuirlicher  Vor- 
gang angesehen  werden,  der  nur  in  Folge  der  Trägheit  des  Muskels 
nicht  zu  sichtbaren  Massenbewegungen  desselben  führt,  während,  wie 
wir    sehen   werden,    die   inneren    molekularen   Veränderungen   in   der 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  7 


98 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


Fig.  47.     Schema  der  Superposition    zweier 
Zuckungen  nach  Helmholtz. 


Tliat    den   intermittirenden  Charakter    deutlich  und  unzweifelhaft  ver- 
rathen. 

Die  mannigfachen  Besonderheiten  der  tetanischen  Verkürzungsform 
lassen  sich  nur  verstehen,  wenn  die  Gesetze  derReizsummation 
unter  den  einfachsten  Bedingungen  bekannt  sind.  Die  ersten  grund- 
legenden Versuche  verdanken  wir  wieder  Helmholtz  (1),  Er  leitete 
dem  Nerven  eines  Muskels  rasch  hinter  einander  zwei  maximale  Induc- 
tionsschläge  zu,  indem  er  zwei  derselben  secundären  Spirale  ge- 
näherte primäre  Stromkreise  rasch  hinter  einander  öffnete.  Fiel  die 
zweite  Reizung  in  das  Latenzstadium  der  ersten,  so  blieb  sie  gänzlich 
erfolglos,  und  die  Zuckungscurve  zeigte  keinen  Unterschied  gegenüber 
der  durch  den  ersten  Reiz  allein  bewirkten.  Fiel  sie  dagegen  später, 
so  war  der  Verlauf  der  entsprechenden  Curve    ein  derartiger,    als    ob 

der  zweite  Reiz  den  Mus- 
kel in  der  Ruhelage  ge- 
troffen hätte.  „Von  da  an, 
wo  die  zweite  Reizung 
wirksam  wird,  verläuft  die 
Zuckung  nahezu  so,  als 
wäre  der  in  diesem  Augen- 
blicke stattfindende  Contrac- 
tionszustand  des  Muskels 
sein  natürlicher  Zustand  und 
die  zweite  Zuckung  allein 
eingeleitet  worden."  (Fig.47.) 
Wäre  {a  b  c)  die  Zuckungscurve  der  ersten  Reizung  und  (d  e  f) 
die  der  zweiten,  sofern  jede  für  sich  allein  wirkte,  so  würde  demnach 
nach  der  Helmholtz'schen  Regel  die  wirklich  gezeichnete  Curve  der 
Linie  {a  g  h  i  Je)  entsprechen.  Man  sieht  leicht,  dass  die  Höhe 
der  summirten  Zuckung  dann  am  grössten,  d.  h.  verdoppelt  sein  müsste, 
wenn  das  Intervall  beider  Reize  gleich  dem  Stadium  der  steigenden 
Energie  einer  einfachen  Zuckung  ist. 

Diese  Regel  muss  natürlich  ihre  Geltung  verlieren,  sobald  meh- 
rere gleichartige  Reize  in  immer  gleichen  Intervallen  aufeinanderfolgen, 
da  ja  sehr  bald  ein  nicht  mehr  überschreitbares  Maass  der  Contraction 
eintritt.  Dagegen  wäre  es  möglich,  dass  im  unvollkommenen  Tetanus 
jeder  einzelne  Reiz  ein  gleichlanges  Stadium  steigender  Energie  be- 
wirkte. Kries  zeigte  jedoch,  dass  dies  selbst  bei  Summirung  von  nur 
zwei  Zuckungen  keineswegs  der  Fall  ist.  Wie  aus  der  schon  erläu- 
terten schematischen  Zeichnung  (Fig.  47)  unmittelbar  ersichtlich  ist, 
müsste  der  Gipfelpunkt  der  summirten  mit  dem  der  zweiten  Einzel- 
zuckung zusammenfallen,  beziehungsweise  senkrecht  darüber  liegen, 
wenn  die  Helmholtz 'sehe  Regel  strenge  Geltung  hätte.  Nach  den  Unter- 
suchungen von  V.  Kries  (2)  ist  dies  aber  keinesAvegs  der  Fall.  Schon 
1886  theilte  v.  Kries  mit,  dass  bei  summirten  Zuckungen  das  Maximum 
der  Verkürzung  nach  dem  Moment  des  zweiten  Reizes  merklich  früher 
erreicht  wird,  als  bei  einer  einfachen  Zuckung,  dass  mit  anderen  Worten 
das  Stadium  der  steigenden  Energie  bei  der  zweiten  Zuckung  kürzer 
ist,  als  bei  der  ersten.  Bezeichnet  man  mit  v.  Kries  den  Zeitraum, 
um  welchen  der  Gipfel  der  summirten  Zuckung  hinter  den  zweiten  Reiz 
fällt,  als  „Gipfelzeit",  die  Ordinatengrösse  der  summirten  Zuckung  als 
„Gipfelhöhe",  so  zeigt  sich,  dem  Gesagten  entsprechend,  dass  in  einer 
Reihe  „aufsteigend"  (d.  h.  im  Stadium  der  steigenden  Energie)  oder  „ab- 


Die  Formänderung'  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


99 


steigend"  (im  Stadium  der  sinkenden  Energie)  summirter  Zuckungen, 
welche  durch  je  zwei  maximale  Inductionsströme  ausgelöst  werden,  die 
Gipfelzeit  mit  steigender  Gipfelhöhe  abnimmt  (Fig.  48).  Dies  prägt  sich 
an  den  beistehenden  Curvenreihen,  bei  welchen  die  Stelle  des  zweiten 
Reizes  unverändert  bleibt,  während  die  des  ersten  davon  beliebig  entfernt 
werden  kann,  dadurch  aus,  dass  der  Gipfel  der  summirten  Zuckung 
um  so  weiter  nach  dem  Moment  des  ersten  Reizes  hinrückt,  je  höher 
er  liegt.  Vergleicht  man  eine  aufsteigend  und  eine  absteigend  sum- 
mirte  Zuckung  gleicher  Höhe  mit  einander,  so  zeigt  sich,  dass  die 
Gipfelzeit  der  ersteren  stets  länger  ist,  als  die  der  letzteren.  In  noch 
viel  höherem  Grade    macht   sich    die  Verkürzung  der  Gipfelzeit   beim 


Fig.  48.     rt)  Reihe    „aufsteigend"    summirter  Zuckungen;    b)  Reihe    „absteigend"  sum- 
mirter Zuckungen.     Die  Stelle  des  zweiten  Reizes   bleibt   beide  Mal  dieselbe    und  nur 
die  des  ersten  variirt.     Verschiebung   der   Gipfelhöhe   der   summirten  Zuckungen   nach 
links.     (Nach  v.  Kries.) 


unvollkommenen  Tetanus  geltend,  wo  das  Stadium  der  steigenden 
Energie  oft  auf  den  dritten  oder  vierten  Theil  der  Zeit  reducirt  er- 
scheint, welche  es  in  der  Einzelzuckung  umfasst. 

Aber  auch  die  Höhenverhältnisse  einer  aus  zwei  einfachen 
summirten  Zuckung  zeigen,  dass  die  Auffassung  der  später  folgenden 
als  einer  einfachen  Zuckung,  welche  lediglich  auf  eine  andere  Abscisse 
gestellt  ist,  nicht  ausreicht.  So  fanden  schon  K  r  o  n  e  c  k  e  r  und  H  a  1 1  (3) 
die  Höhe  „aufsteigend"  summirter  Maximalzuckungen  Anfangs  grösser, 
als  der  Helmholtz' sehen  Regel  entspricht,  dann  aber  um  so  kleiner,  in 
je  vorgerückterem  Stadium  der  ersten  Zuckung  die  zweite  sich  super- 
ponirte.  Die  grösste  Kraft  entfaltete  der  zweite  Impuls,  wenn  er  im 
ersten  Sechstel  der  primären  Zuckungscurve  eingreift.  Dann  verläuft 
also  die  Zuckungscurve  nicht  so,  als  wäre  der  in  diesem  Augenblick 
vorhandene  Contractionszustand  des  Muskels  seine  Ruhelage    und    die 

7* 


100 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


zweite  Zuckung  allein  angeregt  worden,  sondern  es  bleibt  noch  ferner 
der  Antrieb  der  ersten  Zuckung  wirksam.  Im  zweiten  und  dritten 
Sechstel  hilft  die  zweite  Zuckung  der  ersten  ziemlich  genau  dem 
Helmholtz'schen  Gesetze  entsprechend,  während  in  dem  Falle,  wenn  die 
zweite  Zuckung  vom  Gipfel  der  ersten  ansteigt,  die  Höhe  der  summirten 
Contraction  stets  kleiner  ausfällt,  als  der  Regel  entsprechen  würde. 

Es  wurde  schon  oben  ausführlich  die  Erscheinung  besprochen,  dass 
bei   wiederholter  Reizung   mit   gleichstarken,    maximal   wirkenden  In- 

ductionsströmen  die  Zuckungs- 
höhen in  Form  einer  „Treppe" 
anwachsen.  Die  Bedeutung  dieser 
Thatsache  für  die  Folgeerschei- 
nungen der  Reizsummation  hat 
insbesondere  C  h.  Riebet  (4) 
hervorgehoben.  Er  untersuchte 
vorwiegend  die  quergestreiften 
Muskeln  des  Krebses,  bei  wel- 
chen die  Erregbarkeitssteigerung 
durch  wiederholte  gleichstarke 
Reizung  sehr  deutlich  ausgeprägt 
ist.  Selbst  in  dem  Falle,  wenn 
die  einzelnen  Reize  für  sich  allein 
untermaximale  Zuckungen  aus- 
lösen, ja  auch  dann,  wenn  sie 
an  sich  gar  keine  merkliche  Ge- 
staltveränderung  bewirken  („sub- 
liminal"  sind),  können  sie  bei 
wiederholter  Einwirkung  wirksam 
werden,  indem  jeder  Einzel- 
reiz die  Anspruchsfähigkeit  der 
Muskelsubstanz  für  den  nächst- 
folgenden erhöht  (Addition 
latente). 

In  sehr  schlagender  Weise 
demonstrirt  die  beistehende  Fig.  49 
diesen  Einfluss  wiederholter, 
gleichstarker,  an  sich  unwirk- 
samer Reize  auf  den  Muskel. 
Die  beiden  ersten  Reize  haben 
keinen  merklichen  Effect,  die  dritte  Reizung  bewirkt  eine  minimale 
Zuckung;  die  vierte  eine  etwas  grössere,  während  die  drei  noch 
folgenden  Reize  sehr  starke  Contractionen  auslösen,  welche  zu  einem 
unvollkommenen  Tetanus  verschmolzen  sind.  Es  ist  klar,  dass  eine 
derartige  Abhängigkeit  der  Erregbarkeit  von  einer  vorhergehenden 
Erregung  die  Höhe  einer  summirten  Zuckung,  wie  auch  die  Grösse 
der  tetanischen  Verkürzung  wesentlich  beeinflussen  muss.  So  wird  es 
auch  begreiflich,  dass  unter  Umständen  die  Höhe  einer  summirten 
Zuckung  die  jeder  der  beiden  Componenten  um  ein  Vielfaches  über- 
treff'en  kann.     (Fig.  50.) 

Es  wurde  auch  schon  früher  erwähnt,  dass  die  Grösse  des  Inter- 
valls zwischen  je  zwei  Reizen  eine  gewisse  Grenze  nicht  überschreiten 
darf,  wenn  der  begünstigende  Einfluss  des  vorhergehenden  Reizes  auf 
den  Efl'ect  des  folgenden  noch  nachweisbar  sein  soll,  und  es  erscheint 


Fig.  49.     „Addition  latente";  Krebsmuskel; 

zunehmende  Wirkung  von  sieben  aufeinander 

folgenden,  an  sich  unwirksamen  Einzelreizen 

(Inductionsschläge).     (Nach  Ch.  Riebet.) 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


101 


leicht  begreiflich,  dass  unter  Umständen  bei  rascher  Aufeinanderfolge 
schwacher  Reize  eine  tetanische  Verkürzung  des  Muskels  zu  Stande 
kommen  kann,  obschon  dieselben  für  sich  allein  keine  sichtbare  Ge- 
staltve ränderung  des  Muskels  bewirken.  Bei  welcher  Intensität  und 
Frequenz  der  Reize  eine  derartige  S  ummation  (Addition  latente 
Richet's)  eintritt,  hängt  natürlich  vor  Allem  von  der  Natur  des  Muskels 
ab.  Im  Allgemeinen  scheinen  träger  reagirende  Muskeln  mehr  ge- 
eignet zur  Reizsummation,  als  flinke,  was  mit  dem  raschen  Abklingen 
aller  Erregungserscheinungen  bei  den  letzteren  zusammenhängen 
dürfte,  da  ja  das  Fortbestehen  einer  irgendwie  gearteten  Ver- 
änderung der  Muskelsubstanz  in  Folge  eines  Reizes  die  nothwendige 
Vorbedingung  der  durch  denselben  bewirkten  Erregbarkeitssteigerung 
ist.  In  der  That  darf  man  den  relativ  trägen  quergestreiften  Herz- 
muskel als  einen  solchen  bezeichnen,  welcher  für  Summations- 
wirkungen  in  dem  erwähnten  Sinne  sehr  geeignet  ist.  Basch  (5)  hat 
gezeigt,  dass  subliminale  elektrische  Einzelreize,  die  an  und  für  sich 
noch    keine   Contraction   auszulösen   vermögen,    die  Erregbarkeit   des 


Fig.  50.  A  Einfache  Zuckung  (Krebsmuskel);  A^  Summirte  Zuckung,  entstanden  durch 
zwei    einander    sehr   nahe    gerückte    Reize    von    derselben    Grösse    wie    bei  A.     (Nach 

Riebet.) 

Herzmuskels  (vom  Frosche),  wenn  sie  demselben  in  kleinen  Inter- 
vallen zugeführt  werden,  allmählich  (durch  addition  latente)  derart 
steigern,  dass  sie  nunmehr  Contractionen  auslösen;  analoge  Beobach- 
tungen machte  Engel  mann  (6)  am  Bulbus  aortae  des  Froschherzens, 
wo  sich  bei  rhythmischer  Reizung  ebenfalls  sehr  deutliche  Summations- 
erscheinungen  nachweisen  lassen ;  am  auffälligsten  treten  diese  letzteren 
jedoch  an  glatten  Muskeln  hervor. 

Hier  lässt  sich  sehr  oft  zeigen ,  dass  selbst  unter  den  gün- 
stigsten Bedingungen  durch  die  stärksten  einzelnen  Inductions- 
schläge  ein  sichtbarer  Reizerfolg  (Contraction)  kaum  erzielt  werden 
kann,  während  dieselben  Objecte  (Darm,  Ureter,  Muschelmuskel)  bei 
schwingendem  NefF'schen  Hammer  durch  die  in  rascher  Folge  wirkenden 
Reize  schon  bei  verhältnissmässig  geringem  Rollenabstande  in  Tetanus 
gerathen.  Auch  bei  Anwendung  von  Kettenströmen  hat  man  oft  Ge- 
legenheit, zu  beobachten,  wie  bei  mehrmals  in  nicht  zu  grossen  Pausen 
wiederholter  Schliessung  eines  an  sich  unwirksamen  Stromes  all- 
mählich eine  wirksame  Erregung  eintritt  (Engelmann).  Es  scheint 
übrigens  das  Vermögen  der  Reizsummation,  wenn  auch  in  einer  grad- 
weise    verschiedenen    Ausbildung,     jedem     irritablen    Plasma     zuzu- 


102 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


kommen  (Flimmerzellen,  Nervenzellen,  pflanzliches  Plasma,  wie  z.  B. 
Dionaea  etc.),  so  dass  die  geschilderten  Erscheinungen  am  Muskel 
nur  einen  speciellen  Fall  eines  allgemeinen  Gesetzes  darstellen.  Ob 
man  dabei  den  Vorgang  als  eine  wirkliche  „Summirung"  an  sich  un- 
wirksamer Reize  zu  einem  wirksamen  oder  als  eine  durch  dieselben 
bedingte  Erregbarkeitssteigerung  auffassen  will,  scheint  ziemlich 
unwesentlich,    wenn    man    die    schon    früher    betonten    Beziehungen 


Fig.  51. 


Fig.  52. 


Fig.  53. 

Fig.  51 — 53.     Froschmuskel ;   indirecte  Reizung  mit  Induetionsströmen  von  zunehmender 

Stärke  bei  gleichbleibender  Frequenz  (10—12  pro  Sekunde).     (Nach  Grützner.) 


zwischen    einer    durch    Reize    bedingten  Erhöhung    der    Erregbarkeit 
und  dem  Vorgang  der  Erregung  selbst  berücksichtigt. 

In  Bezug  auf  Form,  Verlauf  und  Grösse  der  tetanischen 
Z u s a m m e n z i e h u n g ,  sowie  deren  Abhängigkeit  von  ver- 
schiedenen Variablen  haben  eingehende  Untersuchungen  an 
quergestreiften  Muskeln  von  Wirbelthieren  und  Wirbellosen  Folgendes 
ergeben :  Sind  die  Reize  schwach  und  ihre  Zahl  in  der  Sekunde 
massig  (10 — 12),  so  erhält  man  von  einem  Froschmuskel  eine  Curve 
ähnlich  der  beistehenden  (Fig.  51). 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  103 

Es  handelt  sich,  wie  man  sieht,  um  einen  noch  sehr  unvollkom- 
menen Tetanus,  dessen  einzelne  Zacken  tief  einschneiden,  so  dass  der 
Muskel  nur  in  geringem  Grade  dauernd  verkürzt  bleibt.  Die  Spitzen 
der  einzelnen  Zacken  liegen  nahezu  in  einer  Horizontalen.  Werden 
dann  die  reizenden  Inductionsströme  verstärkt  oder  wächst  deren  Fre- 
quenz, so  werden  die  Zacken  immer  kürzer  und  flacher  und  die  Ein- 
schnitte minder  tief;  der  Muskel  erreicht  einen  viel  höheren  Grad  von 
dauernder  Verkürzung  (Fig.  52).  Schliesslich  steigt  die  Curve  gleich  von 
vorneherein  steil  an,  und  die  Zähnelung  ist  sehr  geringfügig,  um  dann 
(im  vollkommenen  Tetanus)  ganz  zu  verschwinden  (Fig.  53  und  Fig.  54). 
Nach  Kohn stamm  (9)  wird  der  Tetanus  bei  gleicher  Frequenz 
um  so  unvollkommener,  je  stärker  der  Reiz  ist,  da  jede  Verstärkung 
des  Reizes  die  Erschlaffung  der  Einzelzuckung  beschleunigt. 

Nach  Bohr  (7)  soll  die  Tetanuscurve  des  unermüdeten 
Muskels  (Frosch,  Kröte)  eine  „gleichseitige  zu  den  Assym- 
ptoten  hingeführte  Hyperbel"  sein,  was  umso  bemerkenswerther 
schien,  als  auch  das  Grösserwerden  einzelner  Zuckungen  in  der 
„Treppe",  sowie  bei  Zunahme  der  Reizstärke  nach  ähnlichem  Ge- 
setze erfolgt;  doch  kann  von  einer  Allgemeingültigkeit  dieser  Regel 
wohl   nicht   die    Rede    sein,    indem   beispielsweise   nach    Rollett  (8) 


Fig.    54.      Entstehung    des   Tetanus    aus    und  Wiederauflösung    desselben    in   Einzel- 
zuckungen.    Nur    Anfang    und    Ende    des    Versuches    sind    abgebildet.     In  dem   weg- 
gelassenen   mittleren  Theil   von    1,9'  Dauer    zeichnete    der  Muskel    eine   Horizontale. 
(Nach  Engel  mann.) 

die  Tetanuscurve  der  Hydrophilusmuskeln  sich  derselben  nicht  fügt. 
Eine  Thatsache,  die  sich  sofort  bei  Vergleichung  eines  durch  eine 
Folge  maximal  wirkender  Inductionsschläge  ausgelösten  vollkommenen 
Tetanus  und  einer  Einzelzuckung  aufdrängt,  betrifft  den  Unter- 
schied der  Contractionsgrösse  in  beiden  Fällen.  Stets 
verkürzt  sich  der  frei  zuckende,  belastete  Muskel 
viel  mehr  im  Tetanus,  als  bei  einer  einfachen  Zuckung. 
Kann  es  nun  auch  keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass  die  grössere 
Höhe  des  Tetanus  aus  der  geschilderten  Superposition  der  Einzel- 
zuckungen erklärt  wei'den  muss,  so  bleibt  doch  der  weitere  Verlauf 
des  Vorganges  zunächst  noch  sehr  dunkel.  Aus  der  Thatsache,  dass 
der  Muskel  im  Tetanus  eine  gewisse  maximale  Verkürzung  nicht  über- 
schreitet, lässt  sich  nur  schliessen,  dass  bei  fortgesetzter  Ueberlagerung 
die  Helmholtz'sche  Regel  ihre  Geltung  mehr  und  mehr  verliert, 
indem  jeder  neue  Reiz  um  so  weniger  wirksam  wird,  je  stärker  der 
Muskel  bereits  durch  die  vorhergehenden  verkürzt  ist.  Die  Höhe  der 
Tetanuscurve  wächst  mit  der  Reizstärke  und,  wenn  diese  gleich  bleibt, 
mit  der  Frequenz  der  Reize.  In  gleichem  Sinne  ändert  sich  auch  die 
Steilheit  des  Anstiegs  (Kohn stamm  9). 


104 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


Eine  für  die  Beurtheilung  der  tetanischen  Verkürzung  wichtige 
Thatsache  haben  v,  Kries  und  v.  Frey  festgestellt  (10),  indem  sie 
zeigten,  dass  man  bei  künstlicher  Unterstützung  des 
Muskels  denselben  unter  Umständen  auch  durch  einen 
Einzelreiz  zu  demselben  Grade  der  Verkürzung  bringen 
kann,  wie  im  vollkommenen  Tetanus.  Unter  dem  Muskel- 
hebel wird  bei  diesen  Versuchen  eine  Stellschraube  angebracht,  die 
gestattet,  den  Hebel  auf  eine  beliebige  Höhe  einzustellen.  Die  Be- 
lastung wirkt  erst  dann  voll  auf  den  Muskel,  wenn  er  anfängt,  den 
Hebel  von  der  Unterstützung  abzuheben.  Die  Thatsache,  dass  der 
unterstützte  Muskel  sich  bei  einer  einfachen  Zuckung  ebenso  stark 
contrahirt,  wie  der  nicht  unterstützte  im  stärksten  Tetanus,  tritt  be- 
sonders deutlich  hervor,  wenn  man  Einzelzuckungen  und  Tetani  in 
einem  Versuche  wechseln  lässt.    Wählt  man  eine  nicht  zu  geringe  Be- 


Fig.  55.  a  Gastrocnemius  (Frosch):  Einzelzuckungen,  Tetanus  und  Gruppe  unterstütz- 
ter Zuckungen  bei  10,5  gr  Belastung;  h  Dasselbe  bei  0,5  gr  Belastung.     (Nach  v.  Frey.) 

lastung,  so  erhebt  sich  die  tetanische  Curve  stets  mehr  oder  weniger 
hoch  über  den  Gipfel  der  Einzelzuckungen  des  nicht  unterstützten 
Muskels.  Lässt  man  nun  auf  den  Tetanus  eine  Zuckungsreihe  mit 
Unterstützung  folgen  (Fig.  55  r?),  so  tritt  der  Parallelismus  beider  Vor- 
gänge sehr  deutlich  hervor,  und  man  kommt  zu  der  Ueberzeugung, 
dass  bei  der  Summirung  der  Zuckungen  im  Tetanus  eine  Art  von 
Unterstützung  des  Muskels  in  sich  selbst  stattfinden  müsse;  es  macht, 
wie  Grützner  (11)  sich  ausdrückt,  den  Eindruck,  „als  wenn  der 
Muskel  im  vollkommenen  Tetanus  sich  deshalb  so  bedeutend  zu- 
sammenzieht, weil  er  sich  gewissermaassen  selbst  in  sich  unterstützt 
und  trägt". 

Im  Einzelnen  können  in  Bezug  auf  die  Veränderung  der  Höhen- 
werthe  in  einer  Reihe  unterstützter  Zuckungen  mannigfache  Ver- 
schiedenheiten auftreten.  Entweder  fällt,  wie  in  dem  eben  angeführten 
Beispiel,  der  höchste  Zuckungsgipfel  mit  der  höchsten  Stellung  der 
Unterstützungsschraube  zusammen,  oder  es  wird  schon  früher  der 
höchste  Gipfel  erreicht,  so  dass  bei  weiterer  Zunahme  der  Unter- 
stützung  die  Zuckungshöhen    wieder   sinken.     Es   kann    endlich    auch 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


105 


der  Fall  eintreten,  dass  die  Zuckungshöhen  bei  linear  fortschreitender 
Unterstützung  Anfangs  wachsen,  dann  abnehmen  und  endlich  wieder 
wachsen  bis  zur  grössten  Höhe,  so  dass  die  Function  zwei  Maxima 
besitzt  (v.  Frey  10  und  12).     (Fig.  56.) 

Auch  diese  Verhältnisse  finden  ihren  Ausdruck  in  gewissen  Formen 
tetanischer  Curven  mit  2  und  3  Gipfeln. 

Alle  vorstehend  erwähnten  Thatsachen  beziehen  sich  übrigens 
nur  auf  den  entsprechend  belasteten  Muskel.  Bei  sehr  geringer  Be- 
lastung hat  dagegen  die  Unterstüzung  kaum  noch  einen  Einfluss  auf 
die  Lage  der  Zuckungsgipfel,  und  dem  entsprechend  ist  dann  auch 
der  Unterschied   zwischen   Tetanushöhe   und  Zuckungs- 


Fig.  56.     Curarisirter  Muskel.    Zuckungs- 
reihe    mit     wechselnder    Unterstützung. 
Spannung    6  gr.      Reizintervall    1    Sek. 
(Nach  V.  Frey.) 

Fig.    57.      Tetanus    und    Einzelzuckung 

eines  ermüdeten  und  curarisirten  Muskels. 

Spannung  10  gr.     Reizfolge  0,1".     (Nach 

V.  Frey.) 


Fi-.  57. 


höhe  verschwunden  (Fig.  55  &).  Dies  wird  begreiflich,  wenn 
man  bedenkt,  dass  bei  der  geringen  Spannung  die  äusseren  Be- 
dingungen des  Zuckungsablaufes  durch  die  Unterstützung  nicht 
wesentlich  verändert  werden  können.  Tetani,  welche  niedriger 
sind  als  die  E  i  n  z  e  1  z  u  c  k  u  n  g ,  finden  sich  häufig  bei  ermüdeten 
Muskeln  (Fig.  57).  Hat  ein  Muskel  nach  einer  ,  längeren  Zuckungs- 
reihe kurze  Zeit  geruht,  so  sind  dann  bei  Wiederaufnahme  der  Reizung 
die  ersten  Zuckungen  besonders  hoch  im  Verhältniss  zu  den  nach- 
folgenden („Einleitende"  Zuckungen  Buckmaster's) ,  und  dieses 
Missverhältniss  wird  auch  nicht  ausgeglichen,  wenn  man  den  Muskel 
unterstützt. 

Eine  ausreichende  Erklärung  aller  dieser  Verhältnisse  und 
insbesondere  eine  genaue  Analyse  der  tetanischen  Verkürzung  be- 
gegnet  zur   Zeit  leider   noch    unüberwindlichen    Schwierigkeiten,  was 


206  -D^ß  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

begreiflich  erscheint,  wenn  man  berücksichtigt,  wie  viele  verschiedene 
Factoren  die  Tetaniiscurve  beeinflussen.  Die  Erscheinung  der 
.,Treppe",  die  Superposition  im  Helmholtz'schen  Sinne,  der  Ein- 
fluss  der  (inneren)  „Unterstützung",  sowie  die  Ermüdung  und 
Contractu r  haben  sämmtlich  mehr  oder  weniger  Antheil  an  dem 
Verlauf  des  Tetanus  (v.  Frey). 

Dazu  kommt  als  ein  wahrscheinlich  sehr  Avesentlicher  Factor  der 
Umstand,  dass  ein  Muskel  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  keine  physio- 
logische Einheit  darstellt,  sondern  in  der  Regel  eine  Mischung  von 
mindestens  zwei  functionell  verschiedenen  Elementen  ist,  die  kaum 
alle  gleichzeitig  und  gleichmässig  thätig  sein  dürften.  Dies  führt  zur 
Erörterung  der  Frage  nach  der  Abhcängigkeit  der  tetanischen 
Erregung  von  der  Natur  des  Muskels.  Hier  ist,  wie  leicht 
ersichtlich,  vor  Allem  die  innerhalb  weiter  Grenzen  schwankende 
Zuckungsdauer  verschiedener  Muskeln  bezw.  verschiedener  Fasern 
eines  und  desselben  Muskels  zu  berücksichtigen.  Ein  stetiger  Tetanus, 
wobei  sich  die  Zuckungen  in  der  oben  erörterten  Weise  superponiren, 
wird,  wie  leicht  ersichtlich,  nur  dann  zu  erwarten  sein,  wenn  das 
Reizintervall  gleich  oder  kleiner  ist,  als  die  Dauer  der  Zuckung  bis 
zum  Momente  der  maximalen  Verkürzung.  Hieraus  ergiebt  sich  un- 
mittelbar ,  dass  zur  Auslösung  eines  vollkommenen  Te- 
tanus die  Einzelreize  um  so  rascher  aufeinanderfolgen 
müssen,  je  kürzer  die  Zuckung sdauer  ist.  Nehmen  wir 
an,  es  handle  sich  um  eine  Zuckung  von  so  raschem  Verlauf, 
wie  etwa  die  der  Flugmuskeln  gewisser  Insecten,  die  kaum 
^/aoo  Sekunde  dauert,  so  würden  mehr  als  300  Reizungen  pro 
Sekunde  erforderlich  sein,  um  einen  Tetanus  zu  bewirken.  Dauert 
andernfalls  die  Zuckung,  wie  bei  den  Muskeln  der  Schildkröte,  etwa 
1  Sekunde,  so  werden  schon  zwei  Reize  in  der  Sekunde  einen  voll- 
kommenen Tetanus  herbeiführen  können.  Am  auffallendsten  macht 
sich  das  bei  glatten  Muskeln  geltend,  deren  Trägheit  es  begreiflich 
erscheinen  lässt,  dass  man  einen  unvollkommenen  Tetanus  hervor- 
zurufen vermag,  selbst  wenn  die  einzelnen  Reize  (etwa  wiederholte 
Schliessungen  eines  Kettenstromes  von  hinreichender  Stärke)  durch 
Pausen  von  mehreren  Sekunden  von  einander  getrennt  sind. 

Folgende  Zahlen  geben  eine  allerdings  nur  annähernd  richtige 
Vorstellung  von  der  zur  tetanischen  Verschmelzung  der  Zuckungen 
nöthigen  Reizfrequenz  pro  Sekunde: 

Schildkröte 2  (Marey), 

Frosch,  Hyoglossus  (träge)      .     10 — 15, 
Gastrocnem.  (flink)     .     30, 

Krebs,  Scheerenmuskel  (träge)      20  (Riebet), 
Schwanzmuskel  (flink)      40         ., 

Neugeborner  Warmblüter      16  (Soltmann), 

Kaninchen  (rother  Muskel)   .       4 — 101  (Kronecker   und 
(weisser       „         .     20—30)  Stirling), 

Vogel 100  (Riebet), 

Insecten 800 — 400  (Marey,  Landois). 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  angeführten  Zahlen  wesentliche 
Aenderungen  erleiden  werden,  wenn  der  Zustand  des  betreffenden 
Muskels  sich  ändert.  Es  wurde  schon  oben  ausführlich  besprochen, 
M'ie  verschieden  die  Zuckungsdauer  ausfällt,  je  nachdem  der  Muskel 
frisch  oder  ermüdet,    blutdurchströmt  oder  blutleer,  normal  oder  ver- 


Die  Formänderung  des  Muskels    bei  der  Thätig:keit. 


107 


giftet  (Veratrin) ,  erwärmt  oder  abgekühlt  dem  Versuch  unterwofren 
wird.  Es  werden  daher  bei  unveränderter  Reizfrequenz  je  nach  dem 
physiologischen  Zustand  des  Muskels  bald  ein  vollkommener,  bald  ein 
unvollkommener  Tetanus  oder  auch  nur  vereinzelte  Zuckungen  aus- 
gelöst werden  können.  Ein  Blick  auf  die  obige  Tabelle  zeigt  auch 
sofort,  wie  bedeutend  der  Unterschied  der  zum  Tetanisiren  erforder- 
lichen Reizfrequenz  bei  functionell  verschiedenen  quer- 
gestreiften Muskeln  eines  und  desselben  Thieres  ist.  Da  gerade 
diese  Verhältnisse  von  grosser  Bedeutung  sind,  so  muss  hier  noch  etwas 
näher  darauf  eingegangen  Averden.  Nachdem  zuerst  Ran  vi  er  (13) 
auf  die  merkwürdigen  physiologischen  Verschiedenheiten  der  rothen 
und  blassen  Muskeln  des 
Kaninchens  aufmerksam 
gemacht  und  insbeson- 
dere auch  den  seinen 
Versuchen  zufolge  enor- 
men Unterschied  der  zum 
Tetanisiren  erforder- 

lichen Reizfrequenz  her- 
vorgehoben hatte,  stellten 
Kronecker  und  Stir- 
ling  (14)  fest,  dass  der 
rothe  Kaninchenmuskel 
dem  trägen  Zuckungs ver- 
lauf entsprechend  schon 
durch  vier  Reize  pro 
Sekunde  in  unvollkom- 
menen, durch  zehn  Reize 
dagegen  in  ziemlich  voll- 
kommenen Tetanus  ver- 
setzt wird.  Reizinter- 
valle   von    ^'e     Sekunde 

gestatten  dem  weissen  Muskel  fast  völlige  Wiederausdehnung,  während 
der  rothe,  wenngleich  zitternd,  hoch  contrahirt  bleibt.  Zum  voll- 
kommenen Tetanus  bedarf  der  weisse  Kaninchenmuskel  20 — 30  Reize, 
Ganz  analoge  Curven  erhält  man  bei  entsprechender  Reizung  der 
flinken  Schwanz-  und  der  trägen  Scheerenmuskeln  des  Krebses 
(Riebet  4)  (Fig.  58). 

Sehr  charakteristische  und  in  functioneller  Beziehung  wichtige 
Unterschiede  der  tetanischen  Verkürzung  haben  die  Untersuchungen 
R  0 1 1  e  1 1 '  s  (8)  an  den  anatomisch  und  physiologisch  so  wesentlich  ver- 
schiedenen Muskeln  von  Hydrophilus  und  Dyticus  ergeben.  Ab- 
gesehen davon ,  dass  auch  hier  wieder  die  flinken ,  rasch  zuckenden 
Muskeln  von  Dyticus  eine  höhere  Reizfrequenz  zum  Tetanus  er- 
fordern, als  die  trägen  Muskeln  von  Hydrophilus,  wie  sich  aus  den 
beistehenden  Figuren  (59  a.  h.)  sofort  ergiebt,  zeigt  sich  ein  sehr  be- 
merken swerth  er  Unterschied  auch  in  Bezug  auf  den  Verlauf  eines 
länger  anhaltenden  vollkommenen  Tetanus.  Die  ersten  Tetani,  welche 
von  frisch  präparirten  D  y  t  i  c  u  s  muskeln  erhalten  Averden,  steigen  viel 
steiler  an,  sinken  jedoch  viel  rascher  wieder  ab,  als  jene  von 
Hy  drop  hilusmuskeln,  deren  Ausdauer  im  Tetanus  ausserordentlich 
bedeutend  ist,  was  sich  auch  darin  zeigt,  dass  bei  wiederholter  Reizung 
die  Höhe  der  Tetani  sich  nur  wenig  ändert,  während  sie  bei  Dyticus 


Fig.  58.  Tetanuscurve  der  Schwanz-  und  Scheeren- 
muskeln des  Krebses  bei  gleichartiger  Reizung.  Die- 
flinken  Schwanzmuskeln  gerathen  in  unvollkommenen^ 
zitternden,  die  trägen  Scheerenmuskeln  in  vollkom- 
menen Tetanus.     (Nach  Eichet.) 


108 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


rasch  abnimmt.  „Der  Hydrophilusmuskel  erhält  sich  trotz  an- 
strengender Leistungen  durch  lange  Zeit  so  leistungstähig,  dass  er, 
wenn  ihm  auch  nur  kurze  Ruhe  zwischen  längeren,  in  gewisser  Zahl 
aufeinanderfolgenden  Perioden  der  Thätigkeit  gewährt  wird,  doch  nur 
ganz  allmählich  erschöpft  wird.  Der  D  y  t  i  c  u  s  muskel  dagegen  wird 
durch  anstrengende  Leistungen  in  verhältnissmässig  kurzer  Zeit  er- 
schöpft; wenn  ihm  aber  zwischen  den  Perioden  erschöpfender  Thätig- 
keit auch  längere  Ruhe 
h/'^'^'"^  gewährt  wird,  so  kann 

-^  ^ —  er     sich    während    der 

letzteren  auch  nach 
wiederholter  solcher  An- 
strengung immer  wieder 
bis  zu  einem  gewissen 
Grade  erholen."  Dissi- 
milation und  Assimila- 
tion müssen  also  wohl 
in  beiden  Muskelarten 
einen  ganz  verschie- 
denen Verlauf  nehmen. 
Ganz  analoge  Erfah- 
rungen machte  Riebet 
(1.  c.  p.  114)  in  Bezug 
auf  den  Verlauf  der 
tetanischen  Verkürzung 
bei  länger  fortgesetzter 
Reizung  an  dem  trägen 
Scheerenmuskel  und 
dem  flinken  Schwanz- 
muskel des  Krebses, 
Ein  vollkommener  Te- 
tanus des  letzteren  ist 
nie  von  langer  Dauer, 
der  Muskel  erschlaff't 
sehr  bald  und  zeigt  dann 
einige  Zeit  eine  sehr 
verminderte  Erregbar- 
keit ;  dagegen  steigt  der 
Tetanus  des  Scheeren- 
muskels    allmählich    an 


Fig.  59.     a  Tetani  von  Dyticus-,  b  solche  von  Hy- 

drophilusmuskeln   bei  gleichartiger  Reizung.     (Nach 

Eollett.) 


und  kann  sehr  lange  andauern.  Die  Beziehung  dieser  Erscheinungen 
zu  der  normalen  Art  der  Thätigkeit  beider  Muskeln  ist  unverkennbar. 
Der  kräftig  entwickelte  Scheerenschliesser  hat  die  Aufgabe,  unter 
grosser  Kraftentfaltung  lange  Zeit  hindurch  in  gleichmässiger  Con- 
traction  zu  verharren,  während  der  Schwanz  rasche  Bewegungen  (Stösse) 
nach  Art  eines  Ruders  auszuführen  hat,  wobei  es  weniger  auf  eine 
langdauernde  Kraftleistung,  als  vielmehr  auf  Schnelligkeit  der  Be- 
wegung ankommt. 

Es  liegt  in  diesen  Erfahrungen  eine  weitere  Bestätigung  der  Folge- 
rungen, welche,  wie  bereits  oben  erwähnt  wurde,  aus  der  Verbreitung 
und  dem  Vorkommen  sarkoplasmaarmer  und  sarkoplasmareicher  (heller 
und  trüber,  bezw.  blasser  und  rother)  Muskeln  in  Bezug  auf  Kraft 
und  Ausdauer  derselben    sich   ergeben.     Eine   noch  viel   grössere  Be- 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  109 

deutung  gewinnen  aber  diese  Thatsachen,  wenn  man  berücksichtigt, 
dass  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  e  i  n  Muskel  beiderlei  functionell  ver- 
schiedene Faserarten  in  wechselndem  Mengenverhältniss  enthält.-  Wie 
sich  diese  Mischung  unter  Umständen  schon  bei  einer  einfachen  ein- 
maligen Zuckung  verräth  und  an  der  Curve  deutlich  ausprägt,  so  ist 
es  auch,  nur  in  noch  viel  höherem  Grade,  im  Tetanus  der  Fall. 

Im  Allgemeinen  wird  man  erwarten  dürfen,  dass  Muskeln,  welche 
ihrer  Hauptmasse  nach  aus  trägen  (trüben,  rothen)  Fasern  bestehen, 
mehr  die  Eigenschaften  dieser  und  umgekehrt  bei  Vorwiegen  der 
flinken  Fasern  auch  mehr  das  Verhalten  der  letzteren  zeigen  werden. 
Ein  gutes  Merkmal  bietet  nach  Grützner  (15)  das  Verhältniss 
zwischen  der  Höhe  der  Einzelzuckung  und  jener  des 
Tetanus,  Die  letztere  übertrifft  ja  beim  belasteten  Muskel  stets  er- 
heblich die  erstere ;  doch  ist  der  Unterschied  unter  sonst 
gleichen  Verhäl  tnissen  bei  den  trägen  Fasern  ausser- 
ordentlich viel  bedeutender  als  bei  den  flinken. 
Vergleicht  man  beispielweise  bei  directer  Reizung  die  Höhe  des 
Tetanus  bei  dem  gemischten  Gastrocnemius  des  Frosches  und  der 
Kröte,  so  zeigt  sich,  dass  der  vorwiegend  aus  trägen  Fasern  be- 
stehende Wadenmuskel  der  letzteren  ungeachtet  seiner  geringeren 
Grösse  dasselbe  Gewicht  viel  höher  hebt  als  der  eines  Frosches. 
Ersterer  ballt  sich  von  stärksten  elektrischen  Reizen  getroffen  fast  zu 
einer  Kugel  zusammen,  während  der  Frosch wadenmuskel  auch  im 
stärksten  Tetanus  von  der  Gestalt  einer  Kugel  weit  entfernt  ist. 
Während  bei  den  flinken  Muskeln  des  Frosches  (Triceps,  Gastro- 
cnemius) die  Höhe  der  Zuckung  zu  der  des  Tetanus  wie  1  :  2 — 3  sich 
verhält,  beträgt  das  Verhältniss  bei  den  gleichnamigen  Muskeln  der 
Kröte  etwa  1  :  5  und  steigt  bei  den  trägeren  Muskeln  noch  erheblich 
(Hyoglossus  und  Rectus  vom  Frosch  1  :  8—9).  Bei  Untersuchung  des 
isometrischen  Muskelactes  am  Menschen  (M.  obductor  indicis  oder 
interrosseus  dorsalis  primus)  mittels  eines  besonders  hierzu  construirten 
Spannungszeigers  fand  Fick(16)  bei  Vergleichung  der  Spannung,  die 
durch  einen  maximalen  Einzelreiz  entwickelt  wird,  mit  der,  welche  bei 
tetanischer  Reizung  zu  Stande  kommt,  dass  die  letztere  den  lOfachen 
Werth  von  jener  erreichen  kann,  während  beim  Frosch  sowohl  beim 
isotonischen"  wie  beim  isometrischen  Acte  der  Unterschied  ein  viel 
geringerer  ist.  Es  verhält  sich  also  der  menschliche  Skeletmuskel 
ganz  entschieden  so,  wie  es  rothen,  trägen  Fasern  entspricht. 

Man  wird  mit  Rücksicht  auf  die  mitgetheilten  Erfahrungen,  wo- 
nach die  im  Tetanus  geleistete  Arbeit  der  flinken  (weissen,  hellen) 
Muskeln  ebensowohl  in  Bezug  auf  die  Grösse  der  gehobenen  Gewichte, 
wie  insbesondere  auch  in  Bezug  auf  die  Höhe,  bis  zu  welcher  die  Last 
gehoben  wird,  äusserst  unbedeutend  ist  im  Vergleich  mit  denselben 
Leistungen  der  trägen  (trüben,  rothen)  Muskeln,  die  letzteren  mit 
Grützner  geradezu  als  „Tetanusmuskeln"  bezeichnen  dürfen, 
indem  sie  durch  ihre  physiologischen  Eigenschaften  dieser  Verkürzungs- 
form sozusagen  angepasst  sind  und  darin  Ausserordentliches  leisten. 
Wenn  flinke  und  träge  Fasern  in  einem  Muskel  vereint  sind,  so  kann 
es  in  Folge  der  schon  oben  erwähnten  Verschiedenheit  der  Erregbar- 
keit geschehen,  dass  bei  schwacher  Reizung  (direct  oder  vom  Nerven 
aus)  ganz  andere  Antheile  des  Muskels  zucken  bezw.  in  Tetanus  ge- 
rathen,  als  bei  starker  Reizung.  Grützner  ist  auch  geneigt,  die 
Summationswirkungen  im  Tetanus  zum  grossen  Theil  auf  die  geschil- 


^]^()  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

derten  Unterschiede  im  physiologischen  Verhalten  der  beiden  Faser- 
arten zurückzuführen.  Die  auffallende  Uebereinstimmung  einer  Reihe 
unterstützter  Zuckungen  mit  einem  Tetanus,  auf  welche  oben  aufmerk- 
sam gemacht  wurde,  bezieht  Grützner  (11,  p.  280)  in  der  That  auf 
eine  innere  Unterstützung  des  Muskels  durch  seine  trägen  (rothen, 
trüben)  Faserantheile.  „Diese  halten  ihn  ruhig  in  einer  bestimmten, 
mittleren  Länge  fest,  die  natürlich  um  so  kleiner  wird,  je  mehr  sich 
rothe  Fasern  betheiligen.  Trifft  jetzt  den  so  verkürzten  Muskel  ein 
passender,  namentlich  nicht  zu  starker  Reiz,  so  zucken  wesentlich 
seine  leicht  erregbaren  (weissen)  Antheile,  Diese  zweite  aufgesetzte 
Zuckung  muss  also  schneller  erfolgen,  wie  v.  Kries  thatsächlich  ge- 
funden hat  (Verkürzung  der  Gipfelzeit).  Je  stärker  aber  der  Reiz  ist, 
um  so  mehr  gerathen  wieder  die  träger  arbeitenden  Antheile  in  Thätig- 
keit, um  so  eher  verschwindet  die  Discontinuität  (was,  wie  erwähnt, 
Kohn stamm  bestreitet),  und  um  so  höher  erhebt  sich  auch  die 
Tetanuscurve. " 

„So  versteht  sich  auch  einfach  die  leicht  zu  beobachtende  That- 
sache,  dass  man  mit  einem  schon  verkürzten,  und  zwar  ruhig  und 
^leichmässig  verkürzten.  Muskel  noch  Zuckungen  ausführen  kann,  wie 
dies  ja  bei  einer  grossen  Menge  von  Hantirungen  nothwendig  ist." 
(Grützner.) 

Nach  dieser  Anschauung,  die,  wie  mir  scheint,  in  der  That  einen 
der  wesentlichsten  und  wichtigsten  Factoren,  welche  bei  der  tetanischen 
Zusammenziehung  in  Betracht  kommen,  hervorkehrt,  „bleibt  ein  Tetanus 
so  lange  zitternd  und  unstät,  als  sich  auf  die  Zusammenziehung  der 
rotheu  Muskelantheile  noch  die  Zuckungen  der  weissen  aufsetzen 
können.  Haben  sich  aber  die  rothen  bis  auf  ihren  Höhepunkt  ver- 
kürzt, dann  ist  der  Muskel  im  Ganzen  so  kurz,  dass  die  zupfenden 
Bewegungen  der  weissen  Muskeln  kaum  noch  oder  gar  nicht  mehr 
eine  Discontinuität  in  der  Bewegung,  ein  Zittern  erzeugen." 

An  die  trägen,  sarkoplasmareichen  quergestreiften  Skeletmuskeln 
reiht  sich  natui'gemäss  sowohl  hinsichtlich  seiner  histologischen  wie 
Auch  physiologischen  Eigenschaften  der  Herzmuskel  an.  Dem 
trägen  Zuckungsverlauf  und  der  grossen  Ausdauer  entsprechend,  sollte 
man  erwarten,  denselben  auch  in  hohem  Grade  geeignet  zu  finden 
zu  einem  stetigen,  vollkommenen  Tetanus.  Doch  lehrt  die  Unter- 
suchung gerade  das  Gegentheil,  und  es  nimmt  der  Herzmuskel  in 
dieser  Beziehung  wie  in  mancher  anderen  eine  gewisse  Sonderstellung 
ein.  Summationsversuche  lassen  sich  am  Herzen  um  so  leichter  aus- 
führen ,  als  man  die  spontanen  rhythmischen  Contractionen ,  deren 
physiologische  Werthigkeit  als  Einzelzuckungen  ausser  allem  Zweifel 
steht,  benutzen  kann,  um  bei  langsamer  Schlagfolge  (am  Froschherzen) 
die  Wirkung  eines  neu  hinzukommenden  künstlichen  Reizes  (Induc- 
tionsschlages)  in  verschiedenen  Phasen  der  Contraction  und  Erschlaffung 
zu  untersuchen.  Bei  derartigen  Versuchen  fand  nun  Marey  (17), 
dass  der  Herzmuskel  in  verschiedenen  Phasen  seiner  Thätigkeit  für 
Reizung  mit  einem  einzelnen  Inductionsschlag  in  wechselndem  Grade 
empfindlich  und  während  einer  gewissen  Periode  überhaupt  nicht  er- 
regbar (refractär)  ist.  Für  nicht  zu  starke  Reize  zeigen  sich 
«owohl  derVentrikel,  wie  auch  alle  anderenAbschnitte 
des  Herzens  unerregbar  während  der  ganzen  Dauer  der 
Systole  des  betreffenden  Theiles,  während  im  Stadium 
der  Diastole,  sowie  in  der  Pause  jeder  Reiz  eine  Extra- 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thcätigkeit. 


111 


conti' action  auslöst;  bei  stärkerer  Reizung  erscheint 
diese  „refraetäre  Periode'"  immer  mehr  abgekürzt,  und 
sehr  starke  Reize  scheinen  schliesslich  in  jeder  Phase 
der  Herzthätigkeit  erregend  zu  wirken  (Marey,  Tigerstedt, 
Loven  u.  A.).  Diese  merkwürdige  Eigenschaft  der  gesammten  Herz- 
musculatur  erklärt  nun  auch  zum  Theil  das  eigenthümliche  Verhalten 
des  Herzens  bei  Einwirkung  rasch  aufeinanderfolgender  (tetanisiren- 
der)  Reize.  Denn  es  ist  klar,  dass  in  Folge  dieser  Eigenthümlichkeit 
jede  stetige  oder  in  rasch  aufeinanderfolgenden  Momenten  wiederholte 
Reizung  keine  continuirliche  oder  summirte  Contraction  (Tetanus), 
sondern  nur  eine  von  ausgeprägten  Pausen  unterbrochene  Reihe  von 
Contractionen  hervorrufen  kann.  B  o  w  d  i  t  c  h  hat  zuerst  bei  Reizver- 
suchen am  Froschherzen  die  Erfahrung  gemacht,  dass  selbst  dann, 
wenn  die  einzelnen  Inductionsschläge  durch  Intervalle  von  mehreren 
Sekunden  getrennt  sind, 
die  Zahl  der  Contrac- 
tionen oft  geringer  ist, 
als  die  der  Reize.  Noch 
viel  auffälliger  wird 
dieses  Missverhältniss 
zwischen  den  Reizen  und 
Contractionen ,  wenn 
die  ersteren  in  rascher 
Aufeinanderfolge  ein- 
wirken ,  wobei  der 
Herzmuskel  oft  eine 
grosse  Reihe  von  Rei- 
zen unbeantwortet  lässt 
(B  a  s  c  h  5).  Stets  ent- 
wickelt sich  unter  diesen 
Umständen  ein  neuer, 
von  Intensität  und  Fre- 
quenz der  Reize  ab- 
hängiger Rhythmus  des 
Herzmuskels ,  indem, 
wie  dies  Engel  mann 
(6)  bei  Tetanisiren  mit 
Wechselströmen  auch 
am   Bulbus   aortae    des 

Frosches  fand,  bei  sehr  geringer  Reizstärke  durch  „latente  Summirung" 
nach  einiger  Zeit  eine  Systole  und  später  vielleicht  noch  eine  oder 
mehrere  ausgelöst  werden.  Das  Latenzstadium  der  ersten  und  die 
Intervalle  der  eventuell  folgenden  weiteren  Contractionen  sind  um  so 
länger,  je  schwächer  die  Einzelreize  sind.  Mit  wachsender  Dichte  der 
erregenden  Ströme  nähert  sich  die  Dauer  des  Latenzstadiums  bald 
einem  Minimum,  ebenso  die  Intervalle  zwischen  den  einzelnen  Systolen 
(Fig.  60).  Bei  den  stärksten  Strömen  sah  Engelmann  den  Bulbus 
nach  der  ersten  Contraction  nicht  wieder  völlig  erschlaffen;  er  bleibt 
auf  einer  gewissen  Höhe  tetanisch  contrahirt.  Doch  handelt  es  sich 
dabei  nicht  um  eine  wirkliche  Superposition  der  Contractionen,  son- 
dern die  erste  Erhebung  ist  von  gleicher  Höhe,  wie  nach  einem  ein- 
zigen wirksamen  Reize. 


Fig.  60.  Bulbus  aortae  (Frosch);  tetanisirende  Reizung 
mit  Inductionsströmen.  Reizfrequenz  80  pro  Sekunde. 
Die  Stimmgabel  zeichnet  halbe  Sekunden.  Die  Ziffern 
unter  den  Figuren  geben  die  Intensitäten  der  tetani- 
sirenden  Ströme  an.  Die  Intensität  bei  übergeschobenen 
Rollen  =  1000  gesetzt.     (Nach  Engel  mann.) 


112 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


Anfangs  können  in  der  tetanischen  Curve  noch  kleine  Wellen 
sichtbar  sein,  deren  Periode  aber  nicht  die  der  Reize  ist, 
sondern  eine  eigene,  längere,  durch  die  specifische 
Natur  der  Muskelsubstanz  bestimmte.  Insofern  unterscheidet 
sich  also  dieser  Tetanus  sehr  wesentlich  von  dem  gewöhnlicher  quer- 
gestreifter Muskeln.  Aehnliche  „Tetanuscurven"  erhielt  Ran  vi  er  (18) 
auch  vom  Ventrikel  des  Froschherzens.  Es  kann  nicht  bezweifelt 
werden,  dass  das  geschilderte  Verhalten  der  Herz-  und  Bulbusmuskeln 
bei  tetanisirender  Reizung  mit  der  so  hoch  entwickelten  Fähigkeit  der- 
selben zu  rhythmischer  Thätigkeit  im  engsten  Zusammenhang 
steht;  so  ist  bekannt,  dass  auch  völlig  constante  Reize,  wie  z.  B. 
chemische    und  mechanische,    während    der  ganzen  Dauer    ihrer  Ein- 


Fig.  61.  a  Khythmische  Contraetionen 
des  Beines  von  Dyticus  marginalis 
auf  tetanische  Reizung.  Eeizfrequenz 
880  pro  Sek.  h  Rhythmisch  unter- 
brochene Tetani  vom  Bein  von  Hydro- 
philus   piceus.      (Nach   Schoenlein.) 


Wirkung  rhythmische  Contraetionen  des  Herzmuskels  und  unter  ge- 
wissen Umständen  auch  quergestreifter  Skeletmuskeln  auslösen;  doch 
ist  diese  Eigenschaft  bei  den  letzteren  stets  viel  weniger  entwickelt, 
als  bei  den  ersteren. 

Man  darf  annehmen,  dass  eine  Folge  von  Einzelreizen  in  ihrem 
physiologischen  Effect  der  Wirkung  eines  stetig  andauernden  Reizes 
um  so  mehr  sich  nähern  wird,  je  rascher  die  Reize  auf  einander 
folgen,  und  es  würde  mit  Rücksicht  hierauf  kaum  überraschen  können, 
wenn  unter  gewissen  Umständen,  wie  beim  Herzmuskel,  so  auch  beim 
quergestreiften  Skeletmuskel  die  Wirkung  einer  Reiz  folge  mit  der 
eines  Dauer  reiz  es  übereinstimmte.  In  der  That  scheint  dies  der 
Fall  zu  sein,  und  es  sind  insbesondere  zwei  Erscheinungen,  welche  in 
dieser  Beziehung  ein  allgemeineres  Interesse  beanspruchen,  nämlich 
einerseits  der  rhythmisch  unterbrochene  Tetanus  und 
andererseits  die  sogenannte  Anfangszuckung.  Riebet  (4  p.  126) 
hat  zuerst  rhythmische  Veränderungen  in  der  Curve 
tetanisch  gereizter  Krebsscheerenmuskeln  beschrieben, 
zu  deren  Entstehung,  wie  es  schien,  schwache  und  sehr  frequente 
Reize  erforderlich  sind.  Bald  darauf  theilte Schoenlein (19)  (Fig.  61  a h) 
analoge  Beobachtungen  an  Käfermuskeln  mit  (D  y  t  i  c  u  s  und  Hydro- 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  113 

philus).  Er  fand,  wenn  er  die  im  abgetrennten  Femur  liegenden 
Muskeln  mit  Inductionsströmen  von  hoher  Frequenz  und  sehr  geringer 
Stärke  reizte,  entweder  rhythmische  Contractionen  (bei  Dyticus)  oder 
rhythmisch  unterbrochene  Tetani  von  längerer  Dauer  (H  y  d  r  o  p  h  i  1  u  s 
und  Krebs)  oder  endlich  Contractionen,  welche  in  wechselndem  Maasse 
durch  Ruhepausen  getrennt  sind.  Die  Reizfrequenz  betrug  bei  diesen 
Versuchen  gewöhnlich  880  pro  Sekunde,  doch  sind  die  Erscheinungen 
auch  noch  bei  viel  höheren  Frequenzen  zu  beobachten.  Die  untere 
Grenze  reichte  für  die  Käfer  bis  100  und  80,  für  den  Krebs  bis 
30  pro  Sekunde.  In  Bezug  auf  die  Stromstärke  war  die  Rhythmik 
von  eben  wirksamen  Rollenentfernungen  an  auf  1 — 2  mm,  also 
auf  ein  sehr  kleines  Intervall  des  Schlittens,  eingeschränkt.  Bei 
weiterer  Annäherung  geht  die  Rhythmik  immer  in  glatten,  ununter- 
brochenen Tetanus  über.  Man  sieht,  dass  sich  auch  hier  der  schon 
früher  hervorgehobene  Unterschied  zwischen  den  Muskeln  von  Hydro- 
philus  und  Dyticus  geltend  macht,  indem,  wie  bemerkt,  die  ersteren, 
sowie  die  trägen  Scheerenmuskeln  des  Krebses  längere,  rhythmisch 
unterbrochene  Tetani  geben,  während  so  frequente  rhythmische  Con- 
tractionen, wie  sie  unter  diesen  Umständen  bei  Dy ticusmuskeln  die 
Regel  sind,  dort  niemals  vorkommen.  Ich  stehe  nicht  an,  in  den  er- 
wähnten Beobachtungen  Schoenlein's  und  R i c h e t ' s  ein  Analogon 
der  Thatsache  zu  erblicken,  dass  auch  der  Herzmuskel  unter  ähnlichen 
Verhältnissen  rhythmische  Contractionen  ausführt,  denen  allerdings  stets 
der  Werth  von  Einzelzuckungen  zukommen  dürfte,  während  dies  bei 
den  Käfermuskeln  nicht  oder  doch  nicht  immer  der  Fall  ist.  Bei  den 
flinken  Muskeln  von  Dyticus,  wo  die  Frequenz  der  rhythmischen 
Contractionen  durchschnittlich  in  Grenzen  von  2—6  pro  Sekunde 
schwankt,  ausnahmsweise  aber  auch  auf  30  steigt,  wird  man  vielleicht 
den  einzelnen  Contractionen  den  Werth  von  Einzelzuckungen  beimessen 
dürfen,  während  die  trägen  Hydrophilus-  und  Krebsmuskeln 
durchwegs  kurze  Tetani  zeichnen.  Es  wird  später  gezeigt  werden, 
dass  der  Herzmuskel  stets,  quergestreifte  Stammesmuskeln  wenigstens 
unter  gewissen  Umständen  durch  den  constanten  Kettenstrom  zu  ganz 
analoger  rhythmischer  Thätigkeit  angeregt  werden.  Im  Allgemeinen 
bewirkt  jedoch  ein  constanter  Strom  nur  bei  seiner  Schliessung  und 
eventuell  auch  bei  der  OefFnung  eine  einmalige  Contraction  (Schliessungs- 
und Oeffnungszuckung)  quergestreifter  Muskeln,  und  zwar  ebensowohl 
bei  directer  wie  bei  indirecter  Reizung  vom  Nerven  aus.  Ganz  die- 
selbe Wirkung  hat  nun  unter  Umständen  auch  der  unter- 
brochene Strom. 

Bernstein  (20)  hat  zuerst  beobachtet,  dass  bei  einer  gewissen 
Frequenz  (etwa  900  pro  Sekunde)  und  nicht  zu  grosser  Intensität  der 
dem  N.  ischiad.  des  Frosches  zugeführten  Inductionsströme  statt  eines 
Tetanus  eine  einmalige,  rasch  verlaufende  „Zuckung"  des  M.  gastro- 
cnemius,  eine  sogenannte  „  A  n  f  a  n  g  s  z  u  c  k  u  n  g",  auftritt ;  dieselbe  ist 
am  deutlichsten  bei  den  schnellsten  Unterbrechungen  des  primären 
Kreises,  wird  dann  mit  abnehmender  Reizfrequenz  schwächer  und 
verschwindet  unterhalb  einer  gewissen  Grenze  (200 — 300  Reize  pro 
Sekunde)  gänzlich.  Die  Erscheinung  tritt  ebenso  wie  bei  indirecter 
auch  bei  directer  Reizung  curarisirter  Muskeln  auf.  Nach  G  r  ü  n  - 
hagen(21)  und  Engel  mann  (22)  erfolgt  unter  Umständen  auch  am 
Schluss  der  tetanisirenden  Reizung  eine  „Endzuckung",  welche 
demnach    der    Oeffnungszuckung    bei    Reizung    mit    dem    Kettenstrom 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  8 


W/^  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

entsprechen  würde.  Die  Untersuchung  der  Wirkungen  sehr  hoher 
Reizfrequenzen  auf  Muskeln  (und  Nerven)  hat  vielfach  zu  wider- 
sprechenden Resultaten  geführt,  weil  die  Herstellung  elektrischer  Reize 
von  sehr  hoher  Zahl  in  der  Zeiteinheit  grossen  technischen  Schwierig- 
keiten begegnet,  sobald  völlige  Gleichmässigkeit  der  Stärke  und  Auf- 
einanderfolge der  Reize  gefordert  wird.  Weder  die  Anwendung  von 
Schleifcontacten  ,  noch  auch  die  Schliessung  in  Quecksilber  bietet 
in  dieser  Beziehung  hinreichende  Garantie.  Auch  Kroneck  er 's 
„akustischer  Stromunterbrecher"  (14),  bei  welchem  die  durch 
Anreiben  bewirkten  Longitudinalschwingungen  eines  magnetisirten 
Eisenstabes  Inductionsströme  in  einer  übergeschobenen  Drahtspule  er- 
zeugen,  versagt  nach  Roth  (23)  bei  sehr  hohen  Reizfrequenzen  (über 
4000  Schwingungen).  Mit  gutem  Erfolge  bediente  sich  neuerdings 
Roth  (I.e.)  des  Mikrophons,  um  in  zuverlässiger  Weise  elektrische 
Reize  von  hoher,  regelmässig  und  genau  controllirbarer  Frequenz  zu 
erzielen.  Pfeifen  von  verschiedener  Tonhöhe  wurden  durch  einen 
Gasmotor  angeblasen,  während  sich  im  primären  Stromkreis  ein 
Trockenelement  von  der  Kraft  eines  Leclancher  befand.  Bei  indirecter 
Reizung  eines  Froschgastrocnemius  vom  Nerven  aus  sah  Roth  den 
Tetanus  schwinden,  wenn  bei  der  gegebenen  Stromstärke  des  Blake- 
Mikrophons  5000  Reize  pro  Sekunde  durch  eine  Pfeife  von  2500 
Schwingungen  ausgelöst  wurden.  Die  Grenze  für  directe  Erregung 
des  Muskels  liegt  unter  sonst  gleichen  Umständen  um  etwa  300  Reize 
tiefer,  v.  Kries  (24)  bediente  sich,  um  Stromoscillationen  hoher 
Frequenz  zu  erhalten,  inducirter  Ströme,  welche  entstehen,  wenn 
zwischen  der  freien  Fläche  des  Eisenkerns  einer  Drahtrolle  und  dem 
gerade  gegenüber  liegenden  Pol  eines  kräftigen  Elektromagneten  eine 
Scheibe  rotirt,  deren  Peripherie  abwechselnd  aus  Eisen  und  einer  nicht 
magnetischen  Substanz  (Messing)  besteht.  Da  jeder  Eisenzahn  der 
Scheibe  im  Vorübergang  sofort  magnetisch  wird,  so  ändert  sich  dadurch 
zugleich  der  Magnetismus  des  Eisenkerns  der  Rolle,  wodurch  ein 
Strom  inducirt  wird.  Die  Frequenz  der  Stromoscillationen  ist  gleich 
der  Zahl  der  Eisenstücke,  welche  in  der  Zeiteinheit  zwischen  Eisen- 
kern und  Magnetpol  durchlaufen.  (Einen  ähnlichen  Apparat  hat  später 
auch  G  r  ü  t  z  n  e  r  construirt.) 

Sowohl  Roth  wie  v.  Kries  zeigten,  dass  eine  obere  Grenze  der 
Reizfrequenz,  bei  welcher  noch  Tetanus  erzeugt  wird,  nur  als  eine 
relative  existirt.  „Für  jede  Stromintensität,  die  als  Schwankungsbreite 
eines  oscillatorischen  Vorganges  gegeben  ist,  würde  sich  eine  Frequenz 
angeben  lassen,  welche  nur  überschritten  zu  werden  braucht,  um  den 
Reizeffect  verschwinden  zu  lassen"  (v.  Kries).  Man  muss  daher,  um 
Tetanus  zu  erhalten,  mit  der  Intensität  steigen,  wenn  man  mit  der 
Frequenz  steigt,  andernfalls  tritt  die  Erscheinung  der  Anfangszuckung 
hervor,  welche  Roth  als  einen  sehr  kurz  dauernden  Tetanus  auffasst, 
während  sie  S  choenlein(25)  als  eine  durch  Summirung  an  sich  un- 
Avirksamer  Reize  entstandene  einfache  Zuckung  bezeichnet.  Auch 
V.  Kries  (1.  c.)  findet  den  zeitlichen  Verlauf  der  Anfangszuckung 
durchaus  mit  dem  einfacher  Inductionszucküngen  übereinstimmend. 
Lässt  man  in  einem  gegebenen  Fall  die  Frequenz  constant  und 
schwächt  allein  die  Stromesintensität,  so  gewahrt  man  nahezu  dieselben 
Erscheinungen  wie  vorher  (Kraft  26).  Eine  der  „Anfangs"-  und  „End- 
zuckung" bei  sehr  frequenter  rhythmischer  Reizung  analoge  Erschei- 
nung beobachtete  Engelmann  (6)   auch  am   glattmuskeligen  Urbter 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  115 

des  Kaninchens,  indem  hier  „die  Beendigung  einer  Folge  periodisch 
wiederkehrender  kurzer  Reize  wie  Oeflfnung  eines  constanten  Stromes 
wirkt,  ebenso  wie  die  Schliessung  schnell  auf  einander  folgender 
Stromstösse  wie  Schliessung  eines  constanten  Stromes  wirkte".  Aehn- 
liche  Beobachtungen  habe  ich  selbst  am  Schliessmuskel  von  Ano- 
d  0 n t a  gemacht  (27).  Auch  am  Herzmuskel  lässt  sich  ein  der 
Anfangszuckung  entsprechendes  Phänomen  beobachten.  „Lässt  man 
eine  Reihe  von  Reizen  (Inductionsschlägen) ,  die  in  Pausen  von  zwei 
oder  mehr  Sekunden  jedes  Mal  Zuckung  geben  würden,  also  unfehlbar 
wären,  in  Intervallen  von  weniger  als  einer  Secunde  auf  die  abge- 
schnittene Herzkammer  einwirken,  so  folgt  nur  dem  ersten  Reiz  eine 
Systole,  den  späteren  höchstens  eine  schwache  örtliche  Wirkung" 
(Engelmann  22). 

Kehren  wir  nun  nochmals  zur  Betrachtung  des  stetigen ,  voll- 
kommenen Tetanus  zurück,  so  fragt  es  sich  zunächst,  ob  der  Erregungs- 
zustand des  Muskels  dabei  wirklich  ein  stetiger  ist,  wie  es  nach  Be- 
trachtung der  Curve  den  Anschein  hat,  oder  ob  nichtsdestoweniger 
discontinuirliche  Zustandsänderungen  nachweisbar  sind,  die  sich  bei 
der  gewöhnlich  geübten  Art,  dieselben  dai'zustellen ,  nur  nicht  durch 
entsprechende  Gestaltveränderungen  äussern.  Man  ka'nn  sich  vor- 
stellen, dass  die  contractilen  Elemente  des  Muskels  durch  die  mit 
einer  gewissen  Geschwindigkeit  einander  folgenden  Reize  in  eine  neue 
Gleichgewichtslage  versetzt  und  in  derselben  erhalten  werden,  solange 
die  Reizung  dauert,  oder  man  kann  annehmen,  dass  nicht  nur  die 
Reizung,  sondern  auch  die  Muskelzusammenziehung  selbst  ein  dis- 
continuirlicher  Vorgang  ist,  indem  jedem  Reizstosse  eine  schwingende 
Bewegung  kleinster  Theilchen  der  Muskelfaser  entspricht.  In  der  That 
lassen  sich  zwingende  Gründe  dafür  beibringen,  dass  der  Tetanus  auf 
elektrischem  Wege  discontinuirlich  ist  trotz  scheinbarer  Stetigkeit. 

Berührt  man  einen  in  heftigem  Tetanus  befindlichen  Muskel  oder 
besser  eine  ganze  Extremität,  so  fühlt  man  leicht  ein  Vibriren,  welches 
durch  feine  graphische  Hülfsmittel  sowohl  objectiv  dargestellt  werden 
kann,  wie  es  auch  subjectiv  durch  das  sogenannte  Muskelgeräusch 
oder  den  Muskelton  vernehmbar  und  an  dem  Flimmern  auf  der 
glänzenden  Oberfläche  eines  tetanisch  contrahirten  Muskels,  welches 
Brücke  (28)  sogar  am  passend  beleuchteten  Arm  eines  Mannes  durch 
die  Hautdecken  wahrgenommen  hat,  erkennbar  ist.  Helmhol  tz  hat 
eine  objective  Darstellung  der  Schwingungen  des  tetanisirten  Muskels 
dadurch  erzielt,  dass  er  Uhrfedern  oder  Papierblättchen  an  einem 
elastischen  Brettchen  befestigte  und  dieses  dem  Muskel  anlegte  (29). 
Die  federnden  Blättchen  mussten  in  Mitschwingung  gerathen,  wenn 
ihre  eigene  Schwingungsperiode  mit  der  des  tetanischen  Muskels 
übereinstimmte.  Auch  ein  an  die  Sehne  eines  solchen  befestigter, 
straff  gespannter  Faden  kommt,  wie  Engelmann  zeigte  (22),  in 
longitudinale  Schwingungen,  die  einem  leichten,  beweglichen  Schreib- 
hebel merkliche  Stösse  ertheilen  können.  Da  rasche  Schwingungen 
(z.  B.  von  Stimmgabeln)  durch  Luftkapseln  vollkommen  treu  über- 
tragen werden,  so  können  auch,  ohne  dass  erhebliche  Längenänderungen 
des  Muskels  vorhanden  sind,  die  sclmellen  Erzitterungen  desselben  im 
Tetanus  durch  derartige  Vorrichtungen  (wie  z.  B.  die  Pince  myo- 
graphique  von  Mar ey)  den  Schreibhebel  mit  verhältnissmässig  grossen 
Amplituden  schwingen  lassen  (Krön  eck  er  und  Hall,  3,  und  v.  Lim- 
beck  30). 


WQ  Die  Formäuderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Die  besprochenen  Thatsachen  gewinnen  ein  noch  erhöhtes 
Interesse  mit  Rücksicht  auf  die  vielumstrittene  Frage,  ob  die 
natürliche,  willkürlich  oder  reflectorisch  ausgelöste, 
dauernde  Contraction  quergestreifter  Muskeln  eben- 
falls durch  rhythmisch  sich  wiederholende  Reizimpulse 
bedingt  wird,  wie  der  künstliche  Tetanus. 

Schon  Wollaston  (1810)  und  Ermann  (1812)  haben  den  Ver- 
such gemacht,  das  Muskelgeräusch  für  die  Beantwortung  der  an- 
geregten Frage  nach  der  discontinuirlichen  Natur  der  willkürlichen 
Muskelzusammenziehung  zu  verwerthen  (Martins  31).  Später  hat 
Helmholtz  dieselbe  Erscheinung  genauer  untersucht.  Er  ging,  wie 
Ermann,  von  der  Beobachtung  aus,  dass,  wenn  man  des  Nachts  bei 
verstopften  Ohren  die  Kaumuskeln  stark  contrahirt,  „ein  dumpfes, 
brausendes  Geräusch  entsteht,  dessen  Grundton  durch  vermehrte 
Spannung  nicht  Avesentlich  verändert  wird,  während  das  damit  ver- 
mischte Brausen  stärker  und  höher  wird".  Helmholtz  fand  dann, 
als  er  seinen  eigenen  Masseter  direct  und  die  Armmuskeln  eines 
jungen  Mannes  vom  N.  medianus  aus  künstlich  mittels  eines  in 
einem  anderen  Zimmer  stehenden  Inductionsapparates  tetanisirte,  dass 
statt  des  normalen  Muskelgeräusches  der  Ton  der  strom- 
unterbrechenden Feder  aus  dem  Muskel  heraustönte. 
Dies  beweist  unmittelbar,  dass  im  Innern  des  Muskels  Schwingungen 
vor  sich  gehen  müssen,  so  scheinbar  stetig  auch  die  Form  desselben 
verändert  ist,  und  dass  jedem  einzelnen  Reize  in  der  That  eine 
Schwingung  entspricht ;  denn  wenn  man  die  Zahl  der  Reize  verändert, 
so  ändert  sich  auch  die  Höhe  des  Muskeltones,  die  innerhalb  gewisser 
Grenzen  immer  genau  der  Reizfrequenz  entspricht.  Wenn  man  dennoch 
an  dem  tetanisirten  Muskel  keine  Gestaltveränderungen  bemerkt,  so 
kann  dies  nur  daher  rühren,  dass  Schwingungen  der  kleinsten  Theil- 
chen  stattfinden,  während  die  äussere  Form  sich  nicht  merklich  ändert, 
etwa  wie  ein  in  Longitudinalschwingungen  befindlicher  Stab  tönt,  ohne 
dass  äusserlich  eine  Formänderung  sichtbar  ist.  Uebrigens  würde,  wie 
Hermann  hervorhebt,  das  Muskelgeräusch  auch  erklärbar  sein,  wenn 
der  periodische  Vorgang  im  tetanisirten  Muskel  durchaus  kein  grob 
mechanischer  wäre,  indem  die  später  zu  besprechenden  rhythmischen 
Actionsströme  an  sich  hierzu  genügend  erscheinen. 

Die  Versuche  von  Helmholtz  lassen  bereits  auf  einen  hohen 
Grad  von  Beweglichkeit  der  kleinsten  Theilchen  quergestreifter  Muskeln 
schliessen,  denn  er  beobachtete  bei  elektrischem  Tetanisiren  durch 
240  Einzelreize  pro  Sekunde  noch  immer  einen  deutlichen  Muskelton 
von  entsprechender  Höhe.  In  der  Folge  suchte  dann  B  ernste  in  (33) 
festzustellen,  wie  weit  man  überhaupt  gehen  dürfe,  um  noch  einen 
deutlichen  Muskelton  zu  hören ,  bis  zu  welcher  Grenze  also  die 
Muskelelemente  beim  elektrischen  Tetanus  der  Schnelligkeit  der  ein- 
wirkenden Reize  folgen.  Mit  Hülfe  des  akustischen  Stromunter- 
brechers (bei  welchem  eine  verschieden  gespannte  schwingende 
Feder  den  Kreis  der  primären  Spirale  öffnet  und  schliesst)  reizte 
er  den  Wadenmuskel  des  Kaninchens  theils  direct,  theils  vom 
Nerven  aus  und  überzeugte  sich,  dass  der  Muskelton  eine  bedeutende 
Höhe  erreichen  kann,  indem  ein  Ton  von  748  Schwingungen  noch  laut, 
ein  solcher  von  933  Schwingungen  wenigstens  leise  gehört  wurde. 
Bei  einer  Frequenz  von  1056  Reizen  pro  Sekunde  war  jedoch  nur 
noch  ein  um  eine  Quinte  oder  Octave  tieferer  Ton  vernehmbar.    Viel 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  ]17 

tiefer  würde  nach  Loven  (34)  die  Grenze  der  Reactionsfähigkeit  der 
Kaninchenmuskeln  liegen.  Mit  Berücksichtigung  aller  Cautelen  hörte 
er  am  M.  tibialis  anticus  bei  Reizung  vom  Nerven  aus  mit  sehr 
schwachen  Inductionsströmen  von  einer  Frequenz  von  330—380  pro 
Sekunde  einen  Ton,  welcher  fast  immer  schon  deutlich  eine  Octave 
tiefer  war,  als  der  Ton  des  Interruptors ;  derselbe  verschwand  bei 
weiterer  Steigerung  der  Stromstärke,  um  schliesslich  bei  einer  ge- 
wissen Intensität  wieder  hervorzutreten,  und  zwar  unison  mit  dem 
erregenden  Ton.  In  einzelnen  Fällen  traten  bei  mittelstarker  Reizung 
beide  Octaven  bald  gleichzeitig,  bald  mit  einander  abwechselnd  hervor. 
Niemals  Hess  sich  dagegen  ein  wahrer  Muskelton  bei  einer  höheren 
Reizfrequenz  als  880  pro  Sekunde  entsprechend  dem  a"  vernehmen, 
wobei  die  Muskeln  das  a',  d.  h.  die  tiefere  Octave,  angaben.  Bei 
höheren  Reizfrequenzen  ist  nur  ein  dumpfes  Muskel  g  e  r  ä  u  s  c  h ,  aber 
kein  entsprechender  Ton  hörbar.  Versuche,  bei  welchen  der  N. 
ischiadicus  mittels  des  Telephons  tetanisch  gereizt  wurde ,  lieferten 
analoge  Resultate.  Bei  fortschreitender  Veränderung  der  Tonhöhe 
durch  Hineinsingen  der  Skala  von  g  (198  Schwingungen)  zu  g' 
(396  Schwingungen)  hörte  Loven  von  dem  Muskel  ganz  deutlich  die 
ganze  Skala  bis  zum  c'  (264  Schwingungen);  das  d'  war  sehr  undeut- 
lich, e',  fis'  und  g'  dagegen  riefen  wieder  sehr  deutliche  Muskeltöne 
hervor,  aber  diese  gehörten  der  tieferen  Octave  an.  Krön  eck  er 
und  Stirling  (14)  hatten  angegeben,  dass  bei  Reizung  des  weissen 
Wadenmuskels  vom  Kaninchen  mit  Hülfe  einer  in  das  Schlitten- 
inductorium  eingeschalteten  König'schen  Stimmgabel  (180  Schwingungen) 
oder  mittels  des  schnell  vibrirenden  Wagner'schen  Hammers  der  der 
Schwingungszahl  des  Unterbrechers  entsprechende  Ton  mit  allen  Eigen- 
thümlichkeiten  seiner  Klangfarbe  gehört  werde,  „wie  wenn  die  Zu- 
leitungsdrähte  Schallleiter  wären".  Auch  diese  Angabe  vermochte 
Loven  nicht  zu  bestätigen.  Stets,  auch  bei  Reizung  mit  dem  an- 
gesungenen Telephon,  „war  der  Muskelton  auffallend  dumpf  und 
klanglos",  und  es  wurde  nur  der  Grundton  oder  dessen  tiefere  Octave 
wiedergegeben,  nicht  aber  die  Obertöne,  Auch  nach  den  Beobachtungen 
von  Wedenski  (35),  die  sich  allerdings  auf  die  Wahrnehmbarkeit  der 
Actionsströme  des  tetanisirten  Muskels  mittels  des  Telephons  beziehen, 
deren  Einzelheiten  später  mitgetheilt  werden  sollen,  scheint  die  Fähig- 
keit des  quergestreiften  Muskels,  sehr  frequente  Reize  durch  ent- 
sprechende, rhythmisch  wechselnde  Zustandsänderungen  anzuzeigen, 
eine  begrenzte  zu  sein.  Bevor  jene  obere  Grenze  der  Frequenz 
rhythmischer  Reize  erreicht  ist,  bei  welcher  der  Muskel  nur  mehr 
mit  einem  dumpfen,  nicht  musikalischen  Geräusch  antwortet,  erleidet 
auch  die  Anfangs  geltende  Regel  eine  Ausnahme,  dass  die  Tonhöhe 
der  Reizfrequenz  entspricht,  indem  ein  um  eine  Octave,  Quinte  oder 
sogar  zwei  Octaven  tieferer  Ton  auftritt.  Nach  Wedenski  besteht 
ein  vollständiger  Parallelismus  zwischen  den  elektrischen  Schwankungen 
und  den  mechanischen  (tönenden)  Vibrationen  des  Muskels,  in  dem 
Sinne,  dass  die  Höhe  des  gehörten  Tones  in  beiden  Fällen  dieselbe 
ist.  Jede  sehr  frequente  Reizung  beantwortet  der  Muskel  mit  einem 
eigenthümlichen  Geräusch,  aber  nicht  mit  einem  Ton  von  entsprechen- 
der Höhe.  Für  Warmblütermuskeln  liegt  diese  Grenze  etwa  bei 
1000  Reizen  pro  Sekunde;  für  Froschmuskeln  aber  viel  tiefer;  diese 
hören  nach  Wedenski  schon  bei  etwa  200  Reizen  pro  Sekunde 
auf,    einen    der  Reizfrequenz  entsprechenden  Ton  zu  geben;    Loven 


WQ  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

konnte  vom  Wadenmuskel  des  Frosches  einen  mechanischen  (durch 
Vibrationen  bedingten)  Ton  überhaupt  nicht  hören,  selbst  wenn  die 
empfindlichsten  Hülfsmittel  angewendet  wurden.  Es  scheint  hieraus 
hervorzugehen ,  dass  die  Fähigkeit  der  Muskeln .  bei  rhythmischer 
Heizung  einen  musikalischen  Ton  hervorzubringen,  um  so  höher  ent- 
wickelt ist,  je  beweglicher  der  Muskel  ist,  d.  h.  je  rascher  er  zuckt 
(Vogelmuskeln  werden  voraussichtlich  bis  zu  sehr  hohen  Frequenzen 
folgen  können;  weisse  Säugermuskeln  scheinen  nach  Kronecker  und 
Stirling  [1.  c]  den  rothen  in  dieser  Beziehung  weit  überlegen  zu 
sein-,  Schildkrötenmuskeln  tönen  wohl  kaum  oder  nur  bei  relativ 
niederer  Reizfrequenz).  So  zeigt  sich  auch,  dass  die  Fähigkeit  eines 
Muskels,  zu  tönen,  erhebliche  Veränderungen  erleidet,  wenn  durch 
irgendwelche  Einflüsse  die  Beweglichkeit  der  kleinsten  Theilchen  ver- 
mindert wird.  Dies  gilt  vor  Allem  von  der  Emnüdung,  auf  deren 
Einfluss  es  zurückzuführen  ist,  dass  ein  Muskel,  der  im  Beginn  der 
Reizung  einen  Ton  von  entsprechender  Höhe  liefert,  später  einen 
tieferen  und  schliesslich  nur  noch  ein  unbestimmtes  Geräusch  giebt 
(Wedenski  1.  c).  Der  Charakter  des  Muskeltones  hängt  endlich 
auch  von  der  Intensität  der  Einzelreize  ab;  ist  dieselbe  sehr  gering, 
so  tritt  trotz  ausreichender  Frequenz  an  Stelle  des  musikalischen 
Tones  bei  maximaler  Reizstärke  ein  unbestimmtes  Geräusch. 

Der  Umstand,  dass  bei  directer  Reizung  vom  Nerven  aus  der 
Muskelton  nicht  immer  der  Reizfrequenz  entspricht,  macht  nun  offen- 
bar auch  den  Schluss  auf  den  Rhythmus  der  centralen  Innervation 
aus  dem  natürlichen  Muskelgeräusch  unsicher.  Es  wurde  schon 
oben  erwähnt,  dass  Muskeln,  welche  man  willkürlich  in  kräftige  und 
anhaltende  Contraction  versetzt,  ein  dumpfes,  brausendes  Geräusch 
hören  lassen.  Es  ist  schwer,  die  Höhe  des  Grundtones  desselben  zu 
bestimmen,  weil  er  an  der  Grenze  der  wahrnehmbaren  Töne  liegt. 
Helmholtz  schätzte  ihn  für  seine  Kaumuskeln  zu  36 — 40  Schwingungen 
pro  Sekunde.  Vorher  hatte  bereits  W  o  1 1  a  s  t  o  n  versucht,  die  Frequenz 
der  Schwingungen  seiner  willkürlich  contrahirten  Armmuskeln  zu  be- 
stimmen, indem  er  den  Arm  auf  ein  gekerbtes  Brett  stützte,  über 
welches  ein  abgerundetes  Holz  mit  solcher  Geschwindigkeit  hinweg- 
geführt wurde,  dass  das  Geräusch  gleiche  Höhe  mit  dem  Muskel- 
geräusch hatte.  So  fand  er,  dass  die  Frequenz  des  letzteren  zwischen 
20 — 30  Schwingungen  lag.  Mit  Hülfe  der  mitschwingenden  federnden 
Blättchen  fand  Helmhol tz  später,  dass  bei  willkürlicher  Innervation 
ein  starkes,  leicht  sichtbares  Mitschwingen  eintrat,  wenn  die  Feder 
auf  etwa  18 — 20  Schwingungen  eingestellt  war. 

Aus  diesen  Versuchen  scheint  somit  hervorzugehen ,  dass  die 
Schwingungszahl  der  natürlichen  Muskelvibration  des  Menschen 
nicht  30—40,  sondern  nur  18—20  beträgt.  Was  man  daher  als 
Muskelton  hört,  würde  nur  der  erste  Oberton  der  wahren  Muskel- 
vibration sein,  deren  Grundton  nicht  mehr  im  Bereiche  der  hörbaren 
Töne  liegt;  er  entspricht  nach  Helmholtz  dem  C  der  sechzehn- 
füssigen  offenen  Orgelpfeifen  und  ist  wie  dieser  Ton  ein  Resonanzton 
des  Ohres.  Man  kann  daher  das  bei  willkürlicher  Anspannung  der 
Muskeln  unmittelbar  hörbare  Geräusch  nicht  benutzen,  um  aus  seiner 
Höhe  directe  Schlüsse  auf  die  Frequenz  der  centralen  Erregungs- 
irapulse  zu  ziehen.  Dass  aber  trotzdem  die  Periode  der  natürlichen 
Erregung  vom  Centralorgan  aus  etwa  um  18 — 20  pro  Sekunde  liegt, 
schien    durch    die   objectiven    Resonanzversuche    an    mitschwingenden 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Tliätigkeit.  HQ 

Federn,  sowie  durch  eine  Beobachtung  von  Du  Bois-Reymond 
sichergestellt  zu  sein,  derzufolge  ein  ganz  cähnliches  Geräusch  wie  bei 
willkürlicher  Innervation  auch  bei  künstlichem  Tetanisiren  gehört 
wird,  wenn  die  Ströme  nicht  dem  Nerven  oder  Muskel  direct,  sondern 
dem  Rückenmark  zugeführt  werden.  Man  hört  unter  diesen  Um- 
ständen nach  Du  Bois-Reymond  nicht  den  Ton  der  Stromoscilla- 
tionen,  sondern  einen  tieferen,  welcher  seinem  ganzen  Charakter  nach 
dem  Muskelgeräusch  entspricht.  Bei  objectiver  Registrirung  der 
Dickenschwankungen  des  blossgelegten  Musculus  biceps  femoris  des 
Kaninchens  mittels  Marey 'scher  Luftkapseln  kamen  Krone  cker  und 
Stanley  Hall  (3)  zu  ganz  entsprechenden  Resultaten.  In  Ueberein- 
stimmung  mit  den  Angaben  von  Helmhol  tz  und  Du  Bois-Rey- 
mond zeigte  die  vom  Muskel  gewonnene  Curve  nur  20  seichte  Wellen, 
wenn  die  Zahl  der  dem  Rückenmark  zugeführten  Reize  etwa  43  pro 
Sekunde  betrug.  Es  schien  hiernach  auch  objectiv  festgestellt,  dass 
das  Centralorgan  (Rückenmark)  nicht  nur  seinen  eigenen ,  ihm  unter 
allen  Umständen  zukommenden  Innervationsrhythmus  besitzt,  sondern 
dass  auch  die  Zahl  der  ausgesendeten  Impulse  mit  der  Zahl  der 
Schwingungen  des  natürlichen  Muskeltones  im  Allgemeinen  überein- 
stimmt. Wesentlich  niedriger  fanden  Horsley  und  Schäfer  (36) 
die  Zahl  der  Muskelvibrationen  bei  tetanisirender  Reizung  der  Hirn- 
rinde, des  Stabkranzes  oder  des  Rückenmarkes,  indem  die  Durch- 
schnittszahl der  Schwingungen  nur  10  betrug,  wenn  die  Reizfrequenz 
höher  als  10  pro  Sekunde  war;  diesem  geringen  Werthe  entsprachen 
auch  die  Befunde  bei  willkürlicher  Dauercontraction,  und  ebenso  würde 
es  sich  nach  Canney  und  Tun  stall  (37)  beim  Menschen  verhalten 
(vergl.  auch  Griff itsh  38). 

Auch  V.  Kries  (39)  gelangte  zu  ähnlichen  Resultaten.  Er  be- 
nutzte einen  dem  Marey'schen  Sphygmographen  nachgebildeten  Apparat: 
„Ein  federndes  Stahlplättchen  ist  an  einem  Ende  hxirt,  das  andere 
freie  Ende  trägt  auf  der  einen  Fläche  ein  circa  2  cm  langes  Holz- 
stäbchen, an  welchem  die  auf  den  Muskel  aufzusetzende  kleine  Pelotte, 
ein  dünnes  Holzplättchen  von  1  cm  Durchmesser,  befestigt  ist;  auf 
der  andern  Fläche  der  Stahlfeder  sitzt  eine  Schneide,  welche  ganz 
wie  beim  Marey'schen  Sphygmographen  die  Bewegungen  der  Feder 
mit  starker  Vergrösserung  auf  einen  sehr  leichten  Schreibhebel  über- 
trägt." Wird  die  Hand  des  gehörig  fixirten  Armes  kräftig  zur  Faust 
geballt,  so  erhielt  v.  Kries  von  der  Beugemuskulatur  am  Unterarm 
Curven  wie  (Fig.  62  a),  deren  Periodicität  im  Rhythmus  von  11,8  pro 
Sekunde  deutlich  erkennbar  ist.  Noch  langsamer  erfolgten  die 
Oscillationen  bei  andern  Muskeln,  so  am  Deltoideus  (Halten  eines 
Gewichtes  bei  horizontal  gestrecktem  Arm)  im  Rhythmus  von  9,6  pro 
Sekunde,  bei  Plantarflexion  des  Fusses  sogar  nur  7,7.  Es  scheint 
demnach,  dass  die  bisher  fast  allgemein  für  den  Rhythmus  der  cen- 
tralen Innervation  angenommene  Zahl  von  18 — 20  Impulsen  pro  Se- 
kunde zu  hoch  gegriffen  ist,  und  dass  sie  bei  langsamen  Bewegungen 
oder  dauernder  Zusammenziehung  im  Allgemeinen  auf  8 — 1  2  pro  Se- 
kunde veranschlagt  werden  kann.  Im  Uebrigen  muss  aber,  wie  Kries 
hervorhebt,  sowohl  der  Rhythmus  der  physiologischen  Innervation 
wie  auch  der  zeitliche  Verlauf  der  einzelnen  Impulse  innerhalb 
ziemlich  M^eiter  Grenzen  wechseln  können,  denn  „wenn  die  Dauer- 
contractionen,  die  unser  Wille  hervorbringt,  durch  11 — 12  Innervations- 
anstösse    pro  Sekunde    bewirkt  werden,    und    wenn    andererseits    wir 


120  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

auch  im  Stande  sind,  11  Einzelbewegungen  in  der  Sekunde  auszu- 
führen (Ciavierspiel),  wobei  doch  nothwendig  dieser  Rhythmus  in  den 
Innervationsvorgängen  auch  vorhanden  sein  muss:  so  wird  schon  ge- 
folgert werden  können,  dass  in  beiden  Fällen  trotz  der  übereinstim- 
menden Periode  die  Innervationen  doch  noch  sehr  wesentlich  ver- 
schieden gewesen  sein  müssen"   (v.  Kries  1.  c). 

Wie  schon  Brücke  (28)  hervorhob,  ist  es  höchst  unwahrschein- 
lich, dass  es  willkürliche  Muskelbewegungen  giebt,  welche  nur  durch 
einen  einzigen,  einfachen,  vom  Gehirn  ausgehenden  Reizimpuls  veran- 
lasst werden.  Unter  allen  Umständen  handelt  es  sich  auch 
bei  den  kürzesten  willkürlichen  „Zuckungen"  um  kurze 
Tetani.  Hiermit  steht  in  Uebereinstimmung ,  dass  nach  Baxt  (14, 
p.  26)  „eine  willkürliche,  möglichst  einfache  Contraction  (Anschlag 
mit  einem  Finger)  ziemlich  genau  doppelt  so  lange  Zeit  dauert,  als 
die  gleiche,  durch  einen  einzelnen  Inductionsschlag  ausgelöste  Be- 
wegung". Auch  V.  Kries  bestätigte  dies  und  konnte  ausserdem  bei 
graphischer  Verzeichnung  der  Thätigkeit  der  Beugemuskeln  bei 
schnellster  rhythmischer  Bewegung  des  Mittelfingers  oder  der  ganzen 
Hand  (9  pro  Sekunde)  ganz  deutlich  kleine,  den  grösseren  Wellen  auf- 
gesetzte Oscillationen  darstellen,  deren  Intervall  etwa  ^/se  Sekunde 
betrug  (Fig.  62  h). 


Fig.  62.     Oscillationen  bei  willkürlicher  Muskelthätigkeit.     a  bei  angestrengter  Dauer- 

contraction    der   Vorderarmmuskeln    (Ballen    der   Hand   zur    Faust);    die  Feder    an  der 

Volarseite  des  Unterarmes   angelegt,     b  Thätigkeit  der  Beugemuskulatur  bei  schnellen 

rhythmischen  Beugebewegungen  des  Mittelfingers.     (Nach  v.  Kries.) 

Wenn  hierbei  wirklich  jede  Täuschung  durch  Eigenschwingungen 
ausgeschlossen  war,  so  wird  man  nicht  umhin  können,  mit  Kries  an- 
zunehmen, dass  die  Rhythmik  der  Anschwellungen  des  Muskels  hier 
wie  in  anderen  Fällen  den  Rhythmus  der  ihn  treffenden  Innervations- 
anstösse  anzeigt.  Bei  rasch  auf  einander  folgenden  kurzen  Bewegungen 
würden  wir  uns  daher  die  Vorgänge  der  Innervation  so  vorzustellen 
haben,  „dass  unser  Wille  über  Reizcombinationen  verfügt,  in  welchen 
die  Einzelanstösse  sehr  schnell  folgen,  und  jedesmal  einer  an  Stärke 
bedeutend  überwiegt".  Die  oben  erwähnte  Verbreitung  und  die  Ver- 
schiedenheit des  physiologischen  Verhaltens  der  flinken  und  trägen 
Muskelfasern  legt  den  Gedanken  sehr  nahe,  dass  bei  langsamen  und 
raschen  Bewegungen  zugleich  auch  eine  Innervation  functionell  ver- 
schiedener Elemente  stattfindet,  umsomehr  als  partielle  Innervationen 
eines  und  desselben  Muskels  zweifellos  vorkommen.  Zu  Gunsten  einer 
solchen  allerdings  noch  Aveiterer  Untersuchung  bedürftigen  Annahme 
Hesse  sich  vielleicht  auch  der  von  v.  Kries  betonte  Umstand  geltend 
machen,  dass  die  höchsten  Frequenzen  der  Innervationsanstösse  nicht 
stattfinden,    wenn    es    sich   um   die    Entwickelung    möglichster   Kraft, 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  121 

sondern  wenn  es  sich  um  eine  möglichst  grosse  Beweglichkeit  handelt. 
„Die  stärksten  Anstrengungen  werden  mit  niedriger  Reizfrequenz 
(10 — 12  pro  Sekunde)  bewirkt." 

Wenn  schon  die  zuletzt  besprochenen  Erfahrungen  ganz  ent- 
schieden gegen  die  Annahme  eines  constanten,  unveränderlichen 
„Eigenrhythmus"  der  nervösen  Centralorgane  sprechen,  so  gilt  dies 
nicht  minder  auch  hinsichtlich  der  Beobachtungen  v.  Limbeck's 
über  die  Zahl  der  Oscillationen,  welche  ein  Muskel  bei  künstlicher 
Reizung  des  Gehirns  oder  Rückenmarks  mit  Inductionsströmen  von 
wechselnder  Frequenz  erkennen  lässt  (30).  Sowohl  beim  Warmblüter 
(Hund,  Kaninchen)  wie  beim  Kaltblüter  kann  man  die  Zahl  der  in 
der  Zeiteinheit  auf  das  Centralorgan  einwirkenden  Reize  innerhalb 
weiter  Grenzen  variiren,  ohne  dass  die  erregten  Muskeln  aufhören, 
im     gleichen    Rhythmus    Oscillationen   (Längen-    oder   Dickenschwan- 


^^/V1r"rrt1rVv-rv-^rmTrnv/ATV,WlVWW(MWÄVlWM« 


\ 


Fig.  63.     Tetanuscurve  vom  Kaninchen  bei  directer  Reizung   des  Eückenmai-kes.     Die 
Reizfrequenz  variirt  zwischen  10  und  34  p.  Sek.     (Nach  v.  Limb  eck.) 


Fig.  64.     Muskeloscillationen    bei  Strychnintetanus  (Frosch);    a  Anfang,    b  Ende  der 
Curve.     (Nach  v.  Limb  eck.) 

kungen)  auszuführen.  Besonders  anschaulich  ergiebt  sich  dies  aus 
der  beistehenden  Curve  (Fig.  63),  welche,  durch  directe  Reizung  des 
Rückenmarks  eines  Kaninchens  gewonnen ,  auf  das  allerdeutlichste 
erkennen  lässt,  wie  mit  der  Zahl  der  dem  Centrum  zufliessenden 
Reize  auch  die  Zahl  der  Contractionen  des  Muskels  pro  Sekunde  zu- 
nimmt. Durch  langsames  Anspannen  der  Feder  am  Neff'schen  Hammer 
des  Inductionsapparates  wurde  hier  die  Reizfrequenz  zwischen  10 
und  34  variirt,  wobei  die  Uebereinstimmung  der  Zahl  der  Einzel- 
contractionen  (Oscillationen)  des  Muskels  eine  so  grosse  ist,  dass 
Anfangs  sogar  die  Wirkungen  der  Schliessungs-  und  Oeffnungsschläge 
an  der  Curve  sichtbar  sind,  wie  die  kleineren  und  grösseren  Zacken 
erkennen  lassen.  Zu  demselben  Resultate  führten  auch  Versuche,  bei 
welchen  reflectorisch  eine  Dauercontraction  der  Muskeln  erzeugt 
wurde   (centrale  Reizung   des  N.  ischiadicus    der    andern  Seite).      Bei 


]^22  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Reizfrequenzen,  wie  sie  Krön  eck  er  und  Stanley  Hall  (43  pro 
Sekunde),  sowie  Horsley  und  Schäfer  vervA^endet  haben,  konnte 
V.  Limiaeck  niemals  Oscillationen  am  Myogramm  erkennen;  die 
Curven  verliefen  vielmehr  vollkommen  glatt.  Dagegen  treten  sowohl 
beim  Frosch  wie  beim  Kaninchen  sehr  deutliche,  in  ihrem  Rhythmus 
jedoch  auffallend  verschiedene  Oscillationen  beim  Strychninkrampf 
hervor.  Wie  (Fig.  64)  zeigt,  schwankt  die  Zahl  derselben  beim 
Frosch  pro  Sekunde,  zwischen  3  und  9,  während  sie  beim  Kaninchen 
(Fig.  65)  10 — 19  beträgt.  Gegen  Ende  des  Anfalles  werden  di  Os- 
cillationen allmählich  seltener  und  bilden  oft  eigenthümliche  Gruppen 
(Fig.  65). 


Fig.  65.     Strychnintetanus  beim  Kaninchen.     (Xach  v.  Limb  eck.) 


LITERATUR. 

1.  Helmholtz,  Monatsber.  der  Berliner  Academie.     1854.     p.  328. 

_  .        j  Berichte  d.  naturforsch.  Ges.  zu  Freiburg.     II.  Bd.     Heft  2. 

V.  Kries,  j  ^^^  j^^.^  ^^^^      ^ggg_     p    ggg 

3.  Kronecker  und  Hall,  Du  Bois  Arch.     1879.     Suppl. 

4.  Ch.  Richet,  Physiol.  des  muscles  et  des  nerfs.     Paris  1882. 


5. 


(  Sitzungsber.   der  kais.  Acad.    der  Wiss.   math.-phys.  Klasse.     79. 
S.  V.  Baseh,  l  Abth.  III.     1879. 

I  Du  Bois  Arch.     1880.     p.  283. 
Kroneeker,  Du  Bois  Arch.     1879.     p.  379  und  1880.  p.  285  f. 
Ehrmann,  Med.  Jahrbücher.     Wien  1883.     p.  141. 


Engelmann, 


Pflügers  Arch.     29.     1882.     p.  453. 
Pflügers  Arch.     3. 


7.  Chr.  Bohr,  Du  Bois  Arch.     1882.     p.  233. 

8.  Rollett,   Denkschriften   der    math.-phys.  Klasse    der   kais.  Academie  der  Wiss.  in 

Wien.     LIII.     p.   194  ft'. 

9.  Kohnstamm,  Du  Bois  Arch.     1893.     p.  125. 
fv.  Frey,  Du  Bois  Arch.     1887. 

\  V.  Kries,  Du  Bois  Arch.     1886. 

11.  Grützner,  Pflügers  Arch.     41.  Bd.     p.  277. 

12.  v.  Frey,     Beiträge    zur    Physiologie.     C.  Ludwig   zu    seinem  70.  Geburtstage   ge- 

widmet von  seinen  Schülern. 

13.  Ranvier,  Arch.  de  Physiol.  norm,  et  pathol.     1874. 

14.  Kronecker  und  Stirling,  Du  Bois  Arch.     1878.     p.  1. 

15.  Grützner,  Breslauer  med.  Zeitschr.     1886.     No.  1. 

16.  A.  Fick,  Pflügers  Arch.     41.  Bd.     p.  176  ff. 
Marey,  Traveaux  du  Laboratoire.     2.     1876. 
Strömberg  und  Tigerstedt,    Mitth.   vom   physiol.  Laborat.  zu  Stockholm.     V. 

17.  <J  1888. 
Dastre,  Journ.  de  l'anat.  et  de  la  physiol.     1882. 

l  Gley,  Arch.  de  physiol.     1890.     p.  439. 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  123 

^    J  Ranvier,  Le^ons  de  l'anat.  gen.     1877—78.     p.  63. 
■  \  H.  de  Varigny,  Arch.  de  Physiol.     1886. 

19.  Schoenlein,  Du  Bois  Arch.     1882.     p.  369. 

20.  Bernstein,    Unters,  über   den  Erregungsvorgang  im    Nerven-   und   Muskelsystem. 

Heidelberg  1871.     p.   100  ff. 

21.  Grünhagen,  Pflügers  Arch.     "VI.     p.  157. 

oo    TT,        ,  /  Pflügers  Arch.     IV.     p.  3. 

22.  Engelmann,  ^^^^^^^^  ^^^^^^    ^^^^^  ^   ^^  ^^^^^.^_ 

23.  Roth,  Pflügers  Arch.     42.  Bd.     1888. 

24.  V.  Kries,  Verhandl.  der  naturforsch.  Ges.  zu  Freiburg.     VIII.  2. 

25.  Schoenlein,  Du  Bois  Arch.     1882.     (Zur  Natur  der  Anfangszuckung.) 

26.  H.  Kraft,  Pflügers  Arch.     44.  Bd.     p.  353. 

27.  Biedermann,   Sitzungsber.   der  Wiener  Acad.     XCI.     III.  Abth.     1885.     p.  29  fi". 

28.  E.  Brücke,   Sitzungsber.  der  Wiener  Acad.     LXXV.     1877. 

29.  V.  Helmholtz,  Wiss.  Abhandl.     IL     p.  929. 

30.  V.  Limbeck,  Arch.  für  Pathol.  und  exper.  Pharmakologie.     25.  Bd.     p.  171. 

31.  Martins,  Du  Bois  Arch.     1883.     p.  571. 

32.  Hermann,  Handbuch  I.  1.  p.  51. 

33.  Bernstein,  Pflügers  Arch.     11.  Bd.     p.  191. 

34.  Ch.  Loven,  Du  Bois  Arch.     1881.     p.  363. 

„,    ,„    ,        ,  f  Arch.  de  Physiol.  par  Brown-Sequard.     1891. 

35.  Wedensky,    [^^^  ^^.^  J^^     J^^^    ^   3^^ 

36.  Horsley  und  Schäfer,  Journ.  of  Physiol.     VII.     p.  96. 

37.  Canney  und  Tunstall,  Journ.  of  Physiol.     VI. 

38.  Griffitsh,  Juurn.  of  Physiol.     IX.     p.  39. 

39.  V.  Kries,  Du  Bois  Arch.     1886.     Suppl. 


VIII.    Das  LeitungsYermögen  der  Muskeln. 

Hinsichtlich  des  Vermögens,  einen  örtlich  ausgelösten  Erregungs- 
vorgang weiter  zu  leiten,  macht  sich  im  allgemeinen  ein  bemerkens- 
werther  Gegensatz  geltend  zwischen  dem  nicht  weiter  difFerenzirten, 
durch  fliessende  (amöboide)  Bewegung  ausgezeichneten  Protistenplasma 
und  den  aus  diesem  sich  differenzirenden  contractilen  Fibrillen. 
Während  locale,  möglichst  begrenzte  Reizung  dort  in  der  Regel  auch 
nur  locale  Wirkungen  zur  Folge  hat,  die  sich  im  günstigsten  Falle 
nur  über  die  nächste  Nachbarschaft  ausbreiten,  finden  wir  das  Lei- 
tungsvermögen fibrillär  differenzirter  Theile  fast  immer  sehr  hoch 
entwickelt.  Ob  man  es  bei  den  durch  eine  besondere  Art  von 
„Zellenleitung"  vermittelten  Reizbewegungen  gewisser  Pflanzen  um  eine 
von  Zelle  zu  Zelle  fortschreitende  Uebertragung  der  Reizursache 
(Dehnung,  Zerrung)  in  Folge  von  Turgorsch wankungen,  etwa  vergleich- 
bar der  Uebertragung  in  C  a  r  c  h  e  s  i  u  m  -  S  t  ö c  k  e  n ,  deren  einzelne 
Individuen  nicht  in  plasmatischer  Verbindung  unter  einander  stehen, 
oder  des  E  r  r  e  g  u  n  g  s  v  o  r  g  a  n  g  e  s  selbst  (der  Plasmaveränderungen) 
zu  thun  hat,  scheint  in  den  meisten  Fällen  noch  nicht  genügend  fest- 
gestellt zu  sein.  Letzterenfalls  (etwa  im  Gewebe  des  reizbaren  Wulstes 
von  Mimosa)  wüi'de  es  sich  um  eine  für  ungeformtes  Plasma  auf- 
fallend rasche  Reizleitung  handeln,  besonders  wenn  man  berück- 
sichtigt, dass  die  Bewegui^sfähigkeit  des  in  Zellen  eingeschlossenen 
pflanzlichen  Plasmas  im  Ganzen  nur  wenig -entwickelt  ist,  und  mit 
der  der  freilebenden  Amöben  etwa  auf  gleicher  Stufe  steht.  Stets 
lässt    sich    aber    zeigen,    dass    mit   der    Zunahme    der    Beweg- 


J24  I^ie  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

lichkeit  und  der  Empfindlichkeit  für  äussere  Reize 
auch  das  Leitungsvermögen  wächst,  eine  Thatsache,  die  sich 
bei  den  Protisten  unmittelbar  aus  einer  Vergleichung  der  trägen  Rhizo- 
poden  mit  den  lebhaft  beweglichen  Flagellaten  und  Ciliaten  ergiebt. 
In  der  Mehrzahl  der  Fälle  handelt  es  sich  bei  den  Infusorien  aller- 
dings um  Reizung  von  bezw.  Leitung  in  Bewegungsorganoiden 
(Wimpern,  Geissein),  die  als  fibrillär  differenzirte  Theile  zu  be- 
trachten sind;  doch  scheint  auch  das  Körperplasma  selbst  in  solchen 
Fällen  vielfach  eine  sehr  rasche  Reizübertragung  vermitteln  zu 
können. 

Es  scheint,  dass  die  Beeinflussung  der  Wimperbewegung  bei 
localer  Reizung  von  Ciliaten  hierher  gehört.  Stösst  z.  B.  Para- 
m  e  c  i  u  m  a  u  r  e  1  i  a  beim  Vorwärtsschwimmen  auf  ein  Hinderniss,  so 
tritt  fast  im  selben  Augenblicke  ein  Schlag  sämmtlicher  Körpercilien 
in  der  der  normalen  entgegengesetzten  Richtung  ein,  durch  welchen 
das  Thier  einen  kurzen  Stoss  nach  rückwärts  erhält,  worauf  die  ur- 
sprüngliche Bewegung  wieder  beginnt.  Eine  derartige  Beeinflussung 
der  Wimpern  ohne  gleichzeitige  Mitbetheiligung  der  Myoide  ist  auch 
bei  nur  mit  solchen  versehenen  Ciliaten  bisweilen   zu  beobachten. 

Die  Contraction  der  Myoide  selbst,  der  einfachsten  Muskel- 
elemente, die  wir  kennen,  erfolgt  in  der  Regel  so  schnell,  dass  eine 
Analyse  des  zeitlichen  Verlaufes  bei  örtlicher  Reizung  nicht  möglich 
erscheint.  „Reizt  man  z.  B.  ein  Spirostomum,  das  sich  wegen 
seiner  gestreckten  Gestalt  am  besten  dazu  eignet,  nur  local  an  einem 
Ende,  so  tritt  sofort  eine  Contraction  des  ganzen  Körpers  ei;:,  ohne 
dass  man  eine  zeitliche  Differenz  in  der  Contraction  des  vorderen  und 
des  hinteren  Endes  bemerken  könnte."  „Daraus  geht  hervor,  dass  die 
Reizleitung  innerhalb  der  Myoide  eine  ungemein  schnelle  ist,  ebenso 
wie  ja  auch  der  Reizerfolg  ohne  wahrnehmbares  Latenzstadium  selbst 
bei  schwächster  Reizung  dem  Reize  unmittelbar  folgt,  während  bei 
dem  nicht  weiter  differenzirten  Rhizopodenplasma  zwischen  Reiz  und 
sichtbarem  Reizerfolg  fast  immer  eine  erhebliche  und  jedenfalls  merk- 
liche Zeit  der  latenten  Reizung  liegt"   (Verworn), 

In  beiden  Beziehungen  verhalten  sich  die  Myoide  ganz  so  wie 
die  höchstdifferenzirten  quergestreiften  Muskeln,  bei  welchen 
wir  aber  in  der  Lage  sind,  ungeachtet  der  grossen  Schnelligkeit  der 
Erregungsleitung  den  wellenförmigen  Ablauf  der  Contraction  mit  aller 
wünschenswerthen  Sicherheit  zu  messen.  Die  ersten  darauf  abzielenden 
Versuche  verdanken  wir  Aeby  (1);  derselbe  bediente  sich  der 
graphischen  Methode,  um  den  Verlauf  der  Contractionswelle  an 
zwei  verschiedenen  Punkten  eines  Muskels  (Gracilis  des  Frosches) 
zu  bestimmen.  Nehmen  wir  an,  es  handle  sich  um  einen  parallel- 
faserigen Muskel,  der  an  dem  einen  Ende  local  erregt  wird,  so  wird 
die  Folge  davon  ofi'enbar  zunächst  eine  Contraction  (Verdickung)  der 
gereizten  Stelle  sein,  die  sich  nun  mit  grosser  Geschwindigkeit  von 
dem  Reizorte  aus  durch  die  ganze  Länge  des  Muskels  hindurch  fort- 
pflanzt. Zwei  beliebige  Punkte  in  der  Continuität  des  Muskels  werden 
daher  immer  zu  verschiedenen  Zeiten  nacheinander  in  Contraction 
gerathen,  und  so  wird  es  ermöglicht,  mittels  zweier  Schreibhebel,  deren 
jeder  durch  die  Verdickung  eines  bestimmten  Muskelquerschnitts  ge- 
hoben wird,  die  Verdickungscurve  dieser  beiden  Querschnitte  an  einem 
geeigneten  Myographien  aufzuzeichnen  (Fig.  70).  Aus  der  Grösse  der 
Verschiebung   beider   auf    derselben   Alascissenaxe    stehenden    Curven 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


125 


lässt   sich   leicht   die   Fortpflanzungsgeschwindigkeit   der  Contractions- 
welle  berechnen  (Fig.  66). 

Gleichzeitig    mit    Aeby    kam    v.  Bezold  (1861)   (2)    zu    einem 
analogen  Resultate,  aber  nach  einer  ganz  verschiedenen  Methode.    Er 


Fig.  66. 


Fig.  67. 


Fig.  66.  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit der  Con- 
tractionswelle  im  Muskel. 
Die  Grösse  der  Verschie- 
bung beider  (Verdickungs-) 
Curven  dient  als  Maass. 
(Nach  Marey.) 

Fig.  67.      Bestimmung   der 
Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit der  Erregung  im  Mus- 
kel nach  V.  Bezold. 

Fig.    68.     Bestimmung   der 
Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit der  Erregung  im  Mus- 
kel nach  Bernstein. 


Fig.  68. 


Hess,  indem  er  einen  parallelfaserigen  Muskel  in  der  Mitte  leicht  zwischen 
Kork  klemmte,  so  dass  eine  directe  Uebertragung  der  Formänderungen, 
nicht  aber  die  Fortleitung  des  Erregungsvorganges  gehindert  war,  nur 
den  untersten  Theil  (Fig.  67)  seine  Verkürzung  aufschreiben  und  be- 
stimmte die  Zeit  zwischen  einer  Reizung  am  oberen  Ende  und  dem 
Beginn  der  Zuckung  des  unteren;  dieselbe  entsprach  offenbar  der 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  von  der  gereizten  Stelle  bis  zu  dem 
ersten  Querschnitt  jenseits  der  Klemmstelle.  Während  sich  aus  den 
Versuchen  von  Aeby  und  v.  Bezold  die  Leitungsgeschwindigkeit 
in  den  quergestreiften  Muskelfasern  des  Frosches  nur  zu  etwa  einem 


126  I^iö  Formäuderung-  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Meter  pro  Sekunde  (1,2 — 1,6  m)  berechnet,  ergaben  spätere  Ver- 
suche wesentlich  höhere  Werthe.  So  fand  Bernstein  (3),  indem  er 
das  Latenzstadium  derVerdickungscurve  in  einem  be- 
stimmten Querschnitt  des  Muskels  (die  Gruppe  des  Gracilis  und 
Semimembranosus  vom  Frosche)  mass,  wenn  einmal  die  Reizung  un- 
mittelbar an  der  zeichnenden  Stelle,  und  hierauf  möglichst  entfernt 
davon  erfolgte,  Werthe  von  3,2  —  4,4  Meter.  Die  Versuchsanord- 
nung wird  durch  die  beistehende  Figur  68  erläutert.  Es  handelt  sich, 
wie  man  sieht,  um  eine  Modification  von  Aeby's  Verfahren, 
wobei  jedoch  nicht  sowohl  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der 
C  ontractions  welle  selbst,  sondern  vielmehr  die  der  ihr  zu  Grunde 
liegenden  Erregung  gemessen  wird,  deren  Werth  als  mit  jener 
identisch  angesehen  werden. 

Da  sich  die  von  Aeby  und  Bernstein  benutzten  Muskeln 
Gracilis  und  Semimembranosus  durch  je  eine  sehnige  Inscription 
von  allerdings  sehr  schrägem  Verlauf  auszeichnen ,  so  dass  jeder 
Muskel  sozusagen  aus  zwei  völlig  von  einander  getrennten  Theilstücken 
besteht,    deren  Erregung  unter  allen  Umständen  isolirt  bleibt,    schien 


3^ 


dL\ 


Fig-.  69.     (Nach  Bernstein.) 


es  wünschensAverth,  die  Versuche  an  geeigneteren  Präparaten  zu  wie- 
derholen. Dies  geschah  von  Seite  Hermann 's  (4),  der  beide  zu- 
sammengelegte Sartorien  eines  curarisirten  Frosches  benutzte  und  die 
Geschwindigkeit  der  Leitung  zu  etwa  2,7  Meter  bestimmte. 

Auf  Grund  der  Versuche  von  Bernstein  lässt  sich  nun  auch 
ohne  Schwierigkeit  die  Dauer  und  Länge  einer  ganzen  Contvac- 
tions welle  bestimmen.  Hätten  wir  einen  genügend  langen  Muskel  zur 
Verfügung,  so  würden  wir  bei  Reizung  am  einen  Ende  das  Fortschreiten 
der  Contractionswelle  direct  mit  dem  Auge  verfolgen  können.  Dies  ist 
bei  der  Kürze  der  benutzbaren  Muskelpräparate  nicht  möglich ;  wohl 
aber  erhalten  wir  unter  der  Voraussetzung  einer  Zusammensetzung  des 
Muskels  aus  physiologisch  gleichartigen  Fasern  in  der  Verdickungs- 
curve  irgend  eines  Querschnitts  ein  annähernd  richtiges  Bild  von  dem 
Verlauf  und  der  Dauer  der  Contractionswelle,  oder  richtiger  von  dem 
wechselnden  Zustande  des  betreffenden  Miiskelelementes,  während  die 
Contractionswelle  über  dasselbe  hinwegläuft.  Die  Dauer  der  ge- 
zeichneten Curve  ist  darum  gleichzeitig  die  Schwingungsdauer  der 
Contractionswelle.  Da  die  Geschwindigkeit  dieser  Welle  bekannt  ist, 
so  lässt  sich  auch  ihre  Länge  berechnen.  Wenn  die  Welle  {iv) 
(Fig.  69)  sich  in  der  gezeichneten  Lage  befindet,  so  ist  sie  an  der  Reiz- 
stelle p  eben  abgelaufen ;  während  ihrer  Dauer  in  p  hat  sie  sich  aber 
bis  (7)  fortgepflanzt.  Nennen  wir  nun  ihre  Dauer  {D)  ihre  Länge  {L) 
und  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  {G) ,  so  hat  man  L^^GD. 
Nach  Bernstein 's  Versuchen  erhält  man  für  (i)  Werthe  zwischen 
198  und  380  mm. 


•  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  127 

An  contractilen  Substanzen,  bei  welchen  das  Reizleitungsvermögen 
wenig  entwickelt  ist,  wie  beispielsweise  den  Rliizopoden  (Dif- 
flugia),  lässt  sich  bei  localer  Reizung  unmittelbar  erkennen,  dass  die 
dadurch  hervorgerufenen  Veränderungen  in  der  nächsten  Umgebung 
der  Reizstelle  am  stärksten  ausgeprägt  sind  und  um  so  schwächer 
werden,  je  weiter  sie  sich  überhaupt  durch  Leitung  ausbreiten  (Ver- 
worn5).  Bei  leiser  Berührung  eines  Pseudopodiums  von  Difflugia 
mit  der  Spitze  einer  Nadel  bleiben  die  Reizerscheinungen  (Runzelung 
und  Auspressen  einer  Aussenmasse)  stets  local  beschränkt,  Ist  der 
Reiz  stärker,  „so  erstrecken  sich  die  Erscheinungen  schon  über  das 
ganze  Pseudopodium  und  treten  nach  erfolgter  Reizung  bedeutend 
schneller  und  heftiger  auf,  so  dass  das  betreffende  Pseudopodium  zum 
grossen  Theil,  eventuell  ganz  eingezogen  wird;  weiter  entfernte 
Pseudopodien  bleiben  jedoch  auch  in  diesem  Falle  noch  von  dem  Re- 
tractionsprocess  verschont  oder  retrahiren  sich  nur  ein  kurzes  Stück 
und  ganz  allmählich.'"  Bei  sehr  starker  Reizung  kann  sich  endlich 
der  Contractionsprocess  auf  alle  Pseudopodien  erstrecken,  so  dass  schliess- 
lich die  ganze  Pseudopodienmasse  eingezogen  wird.  „Das  gereizte 
Pseudopodium  wird  dabei  am  schnellsten,  fast  plötzlich,  zurückgezogen, 
während  die  anderen,  je  weiter  sie  abstehen,  um  so  langsamer  folgen.'' 

Es  ergiebt  sich  daher,  dass  stärkere  Reize  nicht  nur  einen 
schnelleren  Reizerfolg  haben,  als  schwächere ,  sondern  dass  die- 
selben auch  auf  weitere  Strecken  hin  fortgepflanzt 
w^ erden,  als  schwächere,  so  dass  also  der  Erfolg  mit  der 
Entfernung  von  der  gereizten  Stelle  abnimmt. 

Obschon  es  von  vornlierein  wahrscheinlich  ist,  dass  dasselbe  für 
die  Leitung  jedweden  Erregungsvorganges  in  jeder  lebenden  Substanz 
gilt,  so  begegnet  doch  der  directe  Nachweis  in  allen  den  Fällen 
grossen  Schwierigkeiten,  wo  die  Erregbarkeit  und  das  Leitungsvermögen 
erheblichere  Grade  erreichen,  da  die  Unterschiede  bei  der  geringen 
Länge  der  verfugbaren  Strecken  voraussichtlich  verschwindend  klein 
sein  werden.  Dem  ungeachtet  ist  es  B  e  r  n  s  t  e  i  n  gelungen,  nachzuweisen, 
dass  die  Contractions welle  im  quergestreiften  Frosch- 
m  u  s  k  e  1  bei  ihrem  Ablauf  eine  merkliche  Schwächung 
(ein  „Decrement")  erleidet,  worauf  es  beruht,  dass  die  Ver- 
dickungscurve  einer  d  i  r  e  c  t  gereizten  Muskelstelle  stets  höher  aus- 
fällt, als  wenn  man  eine  entfernte  Stelle  mit  derselben  Stromstärke 
reizt.  Es  muss  hierbei  allerdings  berücksichtigt  werden,  dass  es  sich 
um  Versuche  an  a  u  s  g  e  s  c  h  n  i  1 1  e  n  e  n ,  also  nicht  mehr  normal  ernährten* 
Muskeln  handelt,  so  dass,  wie  Du  Bois-Reymond  hervorhob,  das 
beobachtete  Decrement  ganz  wohl  eine  Absterberscheinung  sein  könnte. 
In  der  That  zeigen  gewisse,  später  zu  erörternde  galvanische  Erschei- 
nungen an  ganz  unversehrten  Muskeln,  dass  hier  eine  Abnahme 
der  der  Contraction  vorauseilenden  Erregungswelle 
nicht  merklich  ist. 

Mit  Rücksicht  auf  die  ausserordentlich  bedeutenden  Unterschiede 
in  der  Geschwindigkeit  des  Zuckungsablaufes  der  quergestreiften 
Muskeln  verschiedener  Thiere  und  selbst  verschiedener  Muskeln  einer 
und  derselben  Thierspecies  kann  es  nicht  überraschen,  ähnlichen  Ver- 
schiedenheiten auch  hinsichtlich  des  Leitungs Vermögens  zu  be- 
gegnen, denn  die  Muskelzuckung  ist  ja  im  Allgemeinen  nur  der  Ausdruck 
der  von  der  Reizstelle  aus  sich  über  den  ganzen  Muskel  ausbreitenden 
Contraction.      Demgemäss    finden  wir    die  Fortpflanzges  ch  win- 


128 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 


digkeit  der  Erregung  bezw.  Contraction  in  denselben 
Fällen  und  in  demselben  Sinne  verschieden  wie  den 
Zuckungsverlauf,  so  dass  man  sagen  kann,  je  schneller  dieser 
letztere,  desto  grösser  ist  jene  und  umgekehrt.  Nach  Mes- 
sungen von  Hermann  und  Aeby  beträgt  sie  bei  Schildkrötenmus- 
keln im  Mittel  0,5 — 1,8  Meter;  da  es  sich  hierbei  um  den  schnell  beweg- 
lichen Halsretractor  handelte,  so  dürften  andere  Muskeln  desselben 
Thieres  noch  geringere  Werthe  liefern.  Bernstein  und  Steiner  (6) 
haben,  wie  zu  erwarten  war,  an  Warmblütermuskeln  (Sternomastoideus 
des  Hundes)  die  Leitungsgeschwindigkeit  erheblich  grösser  als  bei  Kalt- 
blütern gefunden  (3 — 6  Meter),  und  aus  gewissen,  später  zu  besprechen- 
den Versuchen  von  Hermann  ergeben  sich  an  den  Muskeln  des 
lebenden  Menschen  Werthe,  welche  zwischen  10  und  13  Meter  pro 
Sekunde  schwanken!     Rollett(7)  verdanken  wir  Versuche  über  die 


Fig.  70.     Bestimmung   der   Fortpflanzungsgeschwindigkeit   der  Muskelerregung   mittels 
der  Pince  myographique.     (Nach  Marey.) 

Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Contraction  an  den  hinsichtlich  der 
zeitlichen  Verhältnisse  des  Zuckungsverlaufes  bekanntlich  sehr  ver- 
schiedenen rothen  und  weissen  Muskeln  des  Kaninchens.  Er  benutzte 
den  weissen  Musculus  semimembranosus  und  den  rothen  Cruralis,  indem 
er  nach  Freilegung  derselben  eine  30—40  mm  lange  Strecke  zwischen 
die  Pincetten  einer  Marey 'sehen  Pince  myographique  nahm  (Fig.  70). 
Dieselben  wurden  mit  je  einer  Marey'schen  Registrirtrommel  verbunden, 
mittels  welcher  die  Verdickungscurven  auf  einem  rotirenden  Cylinder 
aufgeschrieben  wurden,  auf  welchem  gleichzeitig  auch  eine  1 00  Schwin- 
gungen pro  Sekunde  ergebende  Stimmgabel  schrieb.  Als  Reiz  wirkte 
ein  Oeffnungs-Inductionsschlag.  Die  Versuchsthiere  waren  mit  Curare 
vergiftet.  Stets  zeigte  sich  auch  hier  die  der  direct  gereizten  Stelle 
entsprechende  Verdickungscurve  höher  und  weniger  gedehnt  als  die 
fortgeleitete  Welle,  und  man  ist  daher  für  die  Beurtheilung  der  zeit- 
lichen Verschiebung  der  Curven  allein  auf  die  Abstände  des  Beginnes 
der  Curven  angewiesen.  Der  abweichende  physiologische  Charakter 
der  weissen  (flinken)  und  der  rothen  (trägen)  Muskeln  zeigt  sich  auch 
hier  in  Bezug   auf   die  Dauer   der  Verdickung,  welche   an  der  direct 


Die  Formäuderimg'   des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  129 

gereizten  Stelle  des  Cruralis  immer  grösser  ist  als  am  Semimembranosus. 
Die  Sekundengeschwindigkeit  der  Fortpflanzung  betrug  bei  dem  letz- 
teren Muskel  5417  — 11  364  mm,  bei  dem  ersteren  3000—3400  mm.  Man 
sieht,  dass  die  für  die  rothen  (trcägen)  Kaninchenmuskeln  gefundenen 
Werthe  mit  den  von  Bernstein  und  Steiner  für  den  Kopfnicker 
des  Hundes  gefundenen  Fortpflanzungsgeschwindigkeiten  (3500  mm  pro 
Sekunde)  gut  übereinstimmen.  Wenn  schon  eine  derartige  vergleichende 
Untersuchung  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erregung  in  den 
quergestreiften  Muskeln  verschiedener  Thiere  eine  vollgültige  Be- 
stätigung des  Satzes  bildet,  dass  die  Geschwindigkeit,  mit  welcher  der 
Yerkürzungsvorgang  an  jeder  Stelle  sich  abspielt,  mit  der  Leitungs- 
geschwindigkeit im  innigsten  Zusammenhang  steht,  so  ergiebt  sich 
dies  ebenso  klar  aus  dem  Umstände,  dass  auch  an  einem  und  dem- 
selben Muskelpräparate  alle  jene  Momente,  durch  welche  erfahrungs- 
gemäss  die  Zuckungsdauer  im  Plus-  oder  Minus-Sinne  verändert 
wird,  in  Gleichem  auch  die  Leitungsgeschwindigkeit  beeinflussen,  wie 
insbesondere  Ermüdung  (Absterben)  und  Temperaturschwan- 
kungen. 

Wie  die  Zuckungsdauer  und  überhaupt  die  Erregbarkeit  quer- 
gestreifter Warmblütermuskeln  in  Folge  irgendwelcher  Schädigungen 
sehr  viel  rascher  abnimmt,  als  bei  Kaltblütern ,  so  gilt  dasselbe ,  nur 
in  noch  wesentlich  höherem  Maasse,  von  dem  Leitungsvermögen, 
welches  stets  zuerst  leidet  und  zu  einer  Zeit,  wo  die  locale  Erregbar- 
keit noch  deutlich  nachweisbar  ist,  bereits  erloschen  erscheint.  Das 
nähere  Studium  dieser  Absterbeerscheinungen  an  Warmblütermuskeln 
ist  in  vieler  Beziehung  von  grossem  Interesse.  Da  die  Leitungs- 
geschwindigkeit fortdauernd  und  nachweislich  rascher  als  die  Er- 
regung abnimmt,  so  scheint  hier  ein  einfaches  Mittel  gegeben  zu  sein, 
die  Thatsache  des  Avellenförmigen  Ablaufes  der  Contraction  ohne  alle 
Aveiteren  Hülfsmittel  mit  dem  b  1  o  s  s  e  n  A  u  g  e  zu  verfolgen.  Wie 
zuerst  Schiff  (8)  beschrieb,  sieht  man  kurze  Zeit  nach  dem  Tode 
eines  Warmblüters  bei  localer  mechanischer  Eeizung  eines  blossgelegten 
Muskels  unmittelbar  an  der  gereizten  Stelle  einen  Wulst  sich 
erheben,  der  bestehen  bleibt,  Avährend  fast  im  selben  Augenblicke 
zwei  Contractionswellen  nach  beiden  Seiten  bis  ans  Ende  des  Muskels 
ablaufen.  „Während  die  Contraction  weiter  geht,  erschlaften  die  dem 
nunmehr  erhobenen  Wulst  näher  gelegenen  Theile.  Lst  die  Con- 
tractionswelle  am  Ende  des  Muskels  angelangt,  so  geht  sie  wieder 
von  hier  aus  rückwärts  zu  ihrem  Ausgangspunkte  hin.  Während 
dessen  ist  aber  von  der  Keizungsstelle  eine  neue  Welle  nach  beiden 
Seiten  ausgegangen,  die  der  rückläufigen  begegnet  und  sich  mit  ihr 
kreuzt,  und  so  wiederholt  sich  dasselbe  Spiel  mehrere  Male,  indem  die 
Wellen  nach  der  Kreuzung  ungestört  weiter  laufen,  bis  sie  endlich 
schwächer  werden  und  aufhören."  Schreitet  das  Absterben  weiter 
fort,  und  nimmt  in  Folge  dessen  das  Leitungsvermögen  immer  mehr 
ab,  so  bleibt  schliesslich  das  geschilderte  Wellenspiel  aus,  während 
sich  nach  wie  vor  eine  wulstförmige  Dauercontraction  an  der  Stelle 
des  Reizes  erhebt,  die  Schiff  seiner  Zeit  als  den  eigentlichen  Ausdruck 
der  muscularen  Erregbarkeit  ansah  und  daher  als  „idiomusculäre'" 
Contraction  der  „neuro muscularen"  Zuckung  gegenüberstellte. 
Am  deutlichsten  tritt  diese  locale  Wulstbildung  bei  mechanischer 
Reizung  (durch  Schlag  oder  Streichen  mit  einer  stumpfen  Kante)  an 
absterbenden  Muskeln  eines    todten  Thieres    hervor,  welche  bei  elek- 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  9 


130  I^iß  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

trischer  Reizung  nicht  mehr  zucken.  „Die  Erhebung  geschieht  lang- 
sam und  zwar  um  so  langsamer,  je  mehr  der  Muskel  schon  erschöpft 
ist  und  je  längere  Zeit  seit  dem  Tode  des  Thieres  verstrichen  ist.'" 
Hat  der  Wulst  sein  Maximum  erreicht,  so  verharrt  er  auf  demselben 
längere  oder  kürzere  Zeit,  manchmal  mehrere  Minuten,  um  dann  ver- 
hältnissmässig  langsam  wieder  abzunehmen.  Man  kann  auf  diese 
Weise,  besonders  wenn  die  Striche  quer  zur  Faserrichtung  laufen,  an 
der  Oberfläche  eines  hierzu  geeigneten  Muskels  mit  einem  harten 
Gegenstand  geradezu  schreiben  und  zeichnen. 

An  frischen  Froschmuskeln  gelingt  es  nur  selten ,  deutliche  idio- 
musculäre  Wülste  zu  erzeugen.  Besser  geeignet  erweisen  sich  nach 
Hermann  (9)  Sartorien  halbeingetrockneter  Schenkel.  „Spannt  mau 
einen  solchen  Muskel  auf  Kork  aus,  so  bewirkt  in  einem  gewissen 
Stadium  jede  Berührung  mit  einer  Nadel,  namentlich  sanftes  queres 
Aufdrücken  derselben,  einen  localen  Wulst,  welcher  einige  Zeit  stehen 
bleibt.  Noch  besser  lässt  sich  dasselbe  Verhalten  an  abgekühlten 
Froschmuskeln  beobachten,  bei  welchen  sowohl  mechanische  wie  elek- 
trische Reizung  eine  am  Reizorte  längere  Zeit  anhaltende  Contraction 
bewirkt.  Auch  das  contractile  (quergestreifte  Muskelfasern  enthaltende) 
Gaumenorgan  gewisser  Fische  (Cyprinoiden,  Schleie)  zeigt  sehr  schön 
die  idiomusculäre  Contraction. 

Die  angeführten  Beobachtungen  von  Schiff,  denen  ähnliche  von 
Bennett  Dowler  aus  älterer  Zeit  (Hermann's  Handb.  I.  1.  p.  45, 
Anmerkung)  an  den  Muskeln  eben  verstorbener  Menschen  an  die 
Seite  zu  stellen  sind,  erfuhren  in  der  Folge  mehrfache  Bestätigung 
und  werthvolle  Ergänzungen,  die  freilich  die  ursprüngliche  Deutung 
Schiffs,  der  sich  später  auch  Kühne  anschloss,  wonach  es  sich 
lediglich  um  eine  Folgewirkung  der  verminderten  Erregbarkeit  des 
Muskels  handeln  sollte,  mindestens  zweifelhaft  erscheinen  Hessen.  Es 
gehören  hierher  vor  Allem  Beobachtungen  über  das  Auftreten  des 
„idiomusculären"  Wulstes,  sowie  der  von  ihm  ausgehen- 
den, langsam  fortschreitenden  Contraction swellen  an 
den  Muskeln  lebender  Menschen.  Nachdem  bereits  E.H. 
Weber,  Ed.  Weber  und  Funke  idiomusculäre  Wülste  von  ganz 
gleicher  Beschaffenheit  wie  an  den  Muskeln  von  Enthaupteten  auch 
an  sich  selbst  durch  Aufschlagen  mit  einer  stumpfen  Kante  auf 
den  Biceps  oder  Gastrocnemius  hervorzurufen  vermochten,  eine  Art 
der  Erzeugung  dieses  Phänomens  am  Menschen,  auf  welche  später 
Kühne  als  auf  eine  „unter  Turnern  all-  und  altbekannte"  hin- 
wies, verfolgte  besonders  L.  Auerbach  die  hierher  gehörigen  Er- 
scheinungen eingehender  und  theilte  seine  Beobachtungen  in  einer 
Abhandlung  „Ueber  topische  Muskelreizung"  mit,  welche  sich  in  den 
Jahresberichten  der  schlesischen  Gesellschaft  vom  Jahre  1861  (natur- 
wiss.-med.  Abtheilg.,  Heft  3)  findet.  Er  bewirkte  die  örtliche  Reizung 
durch  Aufschlagen  mit  dem  Percussionshammer  und  berichtet,  dass 
am  Menschen  sehr  allgemein,  und  zwar  an  sehr  vielen  Muskeln  des 
Körpers,  bei  dieser  Reizmethode  ein  annähernd  kegelförmiger  Hügel 
an  der  percutirten  Stelle  entsteht,  der  meist  3 — 5  Sekunden  ziemlich 
unverändert  bestehen  bleibt  und  dann  an  derselben  Stelle  langsam 
wieder  einsinkt.  Geringe  scheinbare  Ortsveränderungen  jenes  Hügels 
bezieht  er  auf  eine  durch  den  mechanischen  Reiz  bedingte  Gesammt- 
verkürzung  der  getroffenen  Muskelbündel.  Bei  manchen,  aber  „sel- 
tenen" Individuen    (Auerbach   führt  vier   derartige  Fälle   an)    trete 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  131 

hierzu  noch  eine  wellenartige  Erscheinung,  welche  er  jedoch  nur  am 
Pectoralis  major  und  an  der  inneren  Hälfte  des  Biceps  bei  starkem 
Aufklopfen  auf  eine  Stelle,  unter  welcher  ein  Knochen  liegt,  erzielen 
konnte.  Diese  wellenartige  Erscheinung  bestehe  in  niedrigeren  Er- 
hebungen, die  zu  beiden  Seiten  des  idiomusculären  Wulstes  auftauchen 
und,  einer  Welle  auf  ruhigem  Wasserspiegel  gleichend,  allmählich  sich 
verflachend,  mit  sehr  massiger  Geschwindigkeit  nach  den  beiden 
Muskelenden  hin  sich  bewegen.  Eine  rückläufige  Bewegung  dieser 
Wellen  sah  er  am  Menschen  nie.  Sehr  wohl  ausgeprägt  fand  er 
letztere  hingegen  bei  dem  Kaninchen,  bei  dem  er  das  von  Schiff 
beschriebene  Wellenspiel  an  den  meisten  Muskeln  durch  leichte  mecha- 
nische Reizung,  als  Auftippen  oder  queres  Streichen  mit  einem 
stumpfen  Körper,  hervorrufen  konnte.  Besonders  geeignet  hierfür  er- 
weisen sich  nach  A.  Pick  (11)  der  gegen  den  Bauch  zu  gelegene  Ab- 
schnitt des  Pectoralis  major  und  namentlich  der  Sternomastoideus. 
Bestreicht  man  diesen  Muskel  mit  einem  Scalpellstiel  etwas  kräftiger  quer 
zur  Faserrichtung,  so  tritt  nach  Ablauf  einer  kurzdauernden  Zuckung 
der  betroffenen  Muskelbündel  an  der  erregten  Stelle  ein  linearer  Wulst 
auf,  während  nach  beiden  Richtungen  von  der  Reizstelle,  zuweilen 
aber  auch  nur  in  einer  Richtung,  eine  flache,  langsam  sich  fort- 
bewegende Welle  gegen  die  Insertionsenden  des  Muskels  fortschreitet. 
Stets  erlischt  nach  dem  Tode  die  wellenförmige  Contraction  früher  als 
der  idiomusculäre  Wulst,  der  noch  mehrere  Stunden  später  hervor- 
gerufen werden  kann.  Bisweilen  scheint  sich  der  idiomusculäre  Wulst 
gewissermaassen  zu  spalten,  indem  an  der  Stelle  des  Reizes  eine  Ver- 
tiefung sich  bildet,  während  beiderseits  davon  je  eine  Welle  entsteht, 
die  nach  beiden  Enden  der  Muskeln  sich  fortbewegt  und  eventuell 
reflectirt  werden  kann.  Auch  am  lebenden  Menschen  ist  Aehnliches 
von  Baierlacher  (12)  beobachtet  worden. 

Aus  diesen  Erfahrungen,  sowie  aus  Beobachtungen  von  Erb  (13) 
an  sehr  erregbaren  Reconvalescenten  nach  schweren  Krankheiten,  wie 
z.  B.  Phthysikern  u.  A.,  bei  denen  ein  Schlag  auf  gewisse  Skeletmuskeln 
einen  umschriebenen  Wulst  bewirkt,  von  welchem  nach  beiden  Seiten 
hin  kleine  Contractionswellen  bis  zu  den  beiden  Enden  der  Muskel- 
fasern verlaufen,  schien  sich  zu  ergeben,  dass  diese  Erscheinungen 
nicht  sowohl  durch  eine  herabgesetzte  Erregbarkeit 
der  Muskeln  bedingt  sind,  sondern  dass  es  sich  viel- 
mehr um  normale  Reiz  Wirkungen  handelt,  die  Auerbach 
geradezu  als  Ausdruck  der  höchsten  Erregbarkeit  betrachtet. 

Analoge  Beobachtungen  an  Kranken  (meist  abgemagerten,  schlecht 
genährten  Individuen)  verdanken  wir  Chwostek  (14)  und  Pick  (1.  c), 
aus  denen  hervorgeht,  dass  sich  beim  Menschen  der  idiomusculäre  Wulst 
regelmässig,  Avenn  auch  nicht  an  allen  Muskeln  und  durch  jeden 
mechanischen  Reiz  hervorrufen  lässt.  Als  besonders  geeignet  erwiesen 
sich  der  Biceps  brachii  und  die  Flexorengruppe  des  Vorderarmes 
hierfür.  Dass  eine  feste  Unterlage  der  gereizten  Muskeln  für  die  Er- 
zielung eines  Reizeffectes  vortheilhaft  ist,  erscheint  leicht  begreiflich 
und  lässt  sich  am  Thier  bei  gleichartiger  Reizung  geeigneter  Muskeln 
vor  und  nach  dem  Anbringen  einer  festen  Unterlage  constatiren. 
Vielleicht  beruht  der  Umstand,  dass  die  Wulstbildung  namentlich  an 
den  Muskeln  der  unteren  Extremitäten  nur  an  sehr  abgemagerten 
Personen,  viel  seltener  dagegen  an  wohlgenährten,  gesunden  Indi- 
viduen beobachtet  wird,  weniger  auf  einem  bestimmten  Erregbarkeits- 

9* 


132  ^iö  Formäuderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

zustand  der  Muskulatur,  als  vielmehr  darauf,  dass  derartige  Muskeln 
dem  einwirkenden  mechanischen  Reize  zugänglicher  sind.  Unter  allen 
Umständen  verdient  es  aber  besondere  Berücksichtigung,  dass,  wenn 
nebst  dem  idiomusculären  Wulste  auch  wellenförmige  Contractionen 
auftraten,  der  Muskel  noch  zuckungs fähig  war,  so  dass  also  die- 
selben Fasern  sowohl  schnell  wie  langsam  sich  fort- 
pflanzende Contra ctionswellen  zu  leiten  vermochten. 
Dasselbe  lässt  sich,  wie  Kühne  zeigte  (1.  c.  p.  618),  auch  an  ganz 
frischen  Froschmuskeln  zeigen,  ja  es  tritt  das  Phänomen  hier  sogar 
noch  regelmässiger  ein  als  bei  den  Muskeln  des  Warmblüters.  Hängt 
man  den  Sartorius  an  dem  einen  Ende  auf  und  legt  an  dem  andern 
Ende  mit  der  Scheere  einen  Querschnitt  so  an,  dass  man  zugleich  den 
Muskel  etwas  spannt,  „damit  das  Wellenspiel  nicht  in  den  ruck  weisen 
Zuckungen  untergehe",  so  sieht  man  „namentlich  bei  durchfallendem 
Lichte,  worin  der  Muskel  in  den  schönsten  Farben  spielt,  die  zarten 
Wellen  scheinbar  in  der  durchsichtigen  Masse  aufsteigen  und  wieder 
herabwallen,  wodurch  zugleich  das  Farbenspiel  des  schillernden  Mus- 
kels in  den  lebhaftesten  Wechsel  geräth". 

Auch  Her  m  a  n  n  (9,  p.  604)  machte  analoge  Beobachtungen  an 
frisch  präparirten  und  auf  einer  Korkplatte  befestigten  Sartorien, 
welche  an  irgend  einer  Stelle  mechanisch  durch  Einstechen  einer 
Nadel  oder  Aufdrücken  eines  feinen  hölzernen  Meisselchens  gereizt 
wurden.  „Man  sieht  dann  häufig  von  dieser  Stelle  aus  ein  zartes 
Wogen  oder  Rieseln  über  die  Fasern  ablaufen",  welches  sich  von  der 
gereizten  Stelle  aus  nach  beiden  Richtungen  erstreckt  und  meist  die 
Reizung  etwas  überdauert.  Es  kann  natürlich  nicht  davon  die  Rede 
sein ,  in  diesen  Fällen  das  Phänomen  aus  einer  verminderten  Erreg- 
barkeit des  Muskels  herzuleiten.  Aus  Versuchen,  welche  Milrad  (15) 
an  Muskeln  anstellte,  deren  Erregbarkeit  durch  verschiedene  chemische 
Substanzen  (Veratrin,  Chloroform,  NaoCOg,  Coffein)  entweder  herab- 
gesetzt oder  gesteigert  wurde,  scheint  sich  zu  ergeben,  dass  zwar  das 
Auftreten  des  idiomusculären  Wulstes  durch  eine  Herabsetzung  der 
Erregbarkeit  begünstigt,  durch  eine  Erhöhung  derselben  beeinträchtigt 
wird,  wenngleich  die  Differenz  zwischen  dem  normalen  und  dem  ver- 
gifteten, bezw.  ermüdeten  Muskel  meist  nur  eine  kleine  und  oft  die 
Fehlergrenze  der  Bestimmung  nicht  überschreitende  ist,  dass  jedoch 
die  langsam  fortschreitenden,  wellenförmigen  Contractionen  stets  nur 
bei  normaler  oder  gesteigerter  Erregbarkeit  beobachtet  werden.  So 
erwähnen  auch  Schiff  wie  Auerbach,  dass  das  Wellenspiel  bei 
Bestreichen  mit  einer  stumpfen  Nadel  nur  an  den  Muskeln  frisch 
gefangener  Frösche  hervortritt,  und  Milrad  bemerkt,  dass  es  fast 
immer  gelingt,  diese  Contractionsform  zu  erzeugen,  wenn  man  die  Er- 
regbarkeit künstlich  steigert,  oder  zu  beseitigen,  wenn  man  jene  herab- 
setzt. Da  sowohl  der  idiomusculäre  Wulst  wie  das  Wellenspiel  auch 
an  curarisirten  Thieren  beobachtet  werden,  so  kann  es  sich  natürlich 
nur  um  eine  Folgewirkung  der  directen  Muskelreizung  handeln,  ob- 
schon  von  mancher  Seite  (freilich  auf  Grund  gänzlich  unzureichender 
Versuche  16)  die  Ansicht  vertreten  wurde,  dass  die  motorischen  Nerven- 
endigungen bei  den  in  Rede  stehenden  Muskelphänoraenen  betheiligt  seien. 

Obschon  zweifelsohne  mechanische  Reize  zur  Erzeugung  des  idio- 
musculären Wulstes  am  besten  geeignet  sind,  so  ist  doch  die  Anwen- 
dung anderer  Reizqualitäten  keineswegs  ausgeschlossen.  So  fand 
schon  Auerbach  (1.  c.  p.  322),  dass  bei  localer  Einwirkung  „schwä- 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Tliätig-keit.  133 

eherer"  faradisclier  Ströme  hügelige  Erhebungen  an  beiden  Polen,  bei 
stärkeren  Strömen  dagegen  ein  markirter  Wulst  über  der  ganzen 
intrapolaren  Strecke  entsteht,  Thatsachen,  welche  später  auch  Mil- 
rad  (1.  c.  p.  266)  bestätigte.  Als  idiomusculären  Wulst  wird  man 
ferner  auch  die  später  genauer  zu  schildernde  Schliessungsdauercon- 
traction  bezeichnen  müssen,  welche  man  an  der  Kathode  bei  Anwendung 
eines  constanten  Stromes  von  hinreichender  Stärke  sowohl  an  quer- 
gestreiften wie  glatten  Muskeln  auftreten  sieht,  und  ebenso  scheint  das 
unter  gleichen  Verhältnissen  zu  beobachtende,  von  der  Anode  aus- 
gehende Wogen  der  quergestreiften  Muskeln  (galvanisches  Wogen, 
Hermann)  dem  Wellenspiel  bei  mechanischer  Reizung  direct  ver- 
gleichbar. 

Eine  ganz  besondere  Bedeutung  für  die  Aufklärung  der  Be- 
ziehungen der  Contractionswellen  zu  den  bei  den  verschiedenen 
Formen  der  Muskelcontraction  auftretenden  Erscheinungen  dürfte,  wie 
Rollett  (7,  p.  201  if.)  richtig  hervorhob,  den  Muskeln  der  In - 
s  e  c t  e  n  zukommen ,  an  denen  zuerst  B  o  w  m a  n  Beobachtungen 
machte,  welche  sich  den  vorstehend  geschilderten  direct  anschliessen. 
Es  handelt  sich  dabei  um  wellenförmige  Contractionen  an  einzelnen 
lebenden  oder  überlebenden  Muskelfasern,  welche  sich  direct  mit 
dem  Mikroskope  beobachten  und  deshalb  (sowie  wegen  der  grossen 
Langsamkeit  ihres  Ablaufs)  Details  erkennen  lassen,  welche  an  einem 
aus  zahlreichen  und  sicher  in  verschiedenen  physiologischen  Zuständen 
befindlichen  Fasern  bestehenden  Gesammtmuskel  stets  verborgen 
bleiben  müssen.  Dazu  kommt  noch,  dass  es  gelingt,  solche  kurze  Con- 
tractionen durch  Behandlung  mit  geeigneten  Härtungsmitteln  während 
ihres  Ablaufes  zu  fixiren,  so  dass  es  möglich  wird,  die  feinsten  Details 
der  den  Contractionsvorgang  begleitenden  Veränderungen  der  Muskel- 
fasern zu  erkennen  Schon  während  des  Lebens  lassen  sich  an 
manchen  Insecten  zweierlei  Bewegungsvorgänge  an  den  quergestreiften 
Muskeln  beobachten ,  solche ,  welche ,  der  Zuckung  der  Wirbelthier- 
muskeln  entsprechend,  in  raschen,  blitzähnlichen  Zusammenziehungen 
eines  Muskelbündels  in  seiner  Totalität  bestehen  und  andererseits  langsam 
über  die  Faser  ablaufende  Knoten  oder  kurze  Wellen,  die  oft  periodisch 
oder  rhythmisch  ohne  sicher  nachweisbaren  äusseren  Reiz  entstehen. 
Es  ist  auch  hier  wieder  wichtig,  hervorzuheben,  dass,  wie  schon 
Wagen  er  (17)  nach  Beobachtungen  an  der  Larve  von  Corethra 
hervorhebt,  dieFasern,  an  welchen  jenes  Wellenspiel  her- 
vortritt, noch  ganz  wohl  im  Stande  waren,  totale  Con- 
tractionen (Zuckungen)  auszuführen.  Er  sah  wiederholt  beide 
Formen  von  Bewegungen  an  derselben  Faser  mit  einander  abwechseln, 
wobei  jedoch  zu  bemerken  ist,  dass  das  Wellenspiel  allerdings  bei 
ganz  lebenskräftigen  Thieren  nicht  vorzukommen  scheint.  Auch 
Lau  1  an i 6  (18),  welcher  C  orethra -Larven  in  den  verschiedensten 
Stadien  des  Absterbens  untersuchte,  unterscheidet  scharf  die  Muskel- 
bewegungen des  lebenskräftigen  Thieres  von  den  Bewegungen,  welche 
an  den  überlebenden  Muskeln  des  absterbenden  Thieres  einti-eten.  Die 
ersteren  (secousses,  contractions  totales  et  simultanees)  sieht  er  als  den 
Ausdruck  der  normalen  Muskelthätigkeit  an;  die  letzteren  („ondes 
musculaires")  als  den  Ausdruck  der  eigenen  Thätigkeit  überlebender 
Muskeln.  Beide  Erscheinungen  sind  in  der  Folge  von  Rollett  (19) 
einer  genaueren  Analyse  unterworfen  worden.  Er  beschreibt  das 
Wellenspiel  an  den  Muskeln  absterbender  Corethra- Larven  mit  fol- 


\^4:  Diß  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

genden  Worten :  „Die  Anfangs  nur  in  geringer  Zahl  an  einzelnen 
Muskelfasern  auftauchenden,  unter  dem  Mikroskope  sichtbaren  Wellen 
treten  allmählich  an  immer  zahlreicheren  Fasern  der  Muskeln  des 
Thieres  zu  Tage  und  wiederholen  sich  dann  an  derselben  Faser  in 
immer  kürzeren  Perioden ,  so  dass  sich  ein  lebhaftes  Wellenspiel  ein- 
stellt, Avelches  erst  nach  geraumer  Zeit,  so  wie  es  gekommen,  auch 
wieder  vergeht.  Die  Wellen  an  den  einzelnen  Fasern  wiederholen  sich 
nur  mehr  in  längeren  Perioden,  die  Zahl  der  Fasern,  an  welchen 
Wellen  ablaufen,  verringert  sich  immer  mehr,  und  nach  einiger  Zeit 
sind  nur  noch  wenige  Fasern  vorhanden,  an  welchen  nur  noch  in 
langen  Perioden  auf  einander  folgende  Wellen  ablaufen,  bis  endlich 
nur  an  einzelnen  Fasern  in  sehr  langen  Perioden  noch  Wellen  auf- 
treten." 

Da,  wie  auch  Rollett  bestätigt,  die  ersten  langsam  ablaufen- 
den Wellen  schon  an  Fasern  auftreten,  welche  noch  totaler  Contrac- 
tionen  (Zuckungen)  fähig  sind,  so  kann  nicht  bezweifelt  werden,  dass 
auch  die  kurzen  Wellen  nur  .,als  durch  die  Besonderheit  der  Reizung 
bedingte,  eigenthümlich  ablaufende  Bewegungsvorgänge  normal  be- 
schaffener Muskelsubstanz"  anzusehen  sind.  Die  grösste  Ueberein- 
stimmung  zeigen  die  eben  beschriebenen  Wellen  an  den  Muskeln  ab- 
sterbender Corethra-Larven  mit  den  seit  Bowman  (20)  oft  unter- 
suchten Bewegungen  frisch  ausgeschnittener  Insectenmuskeln.  Rollett 
untersuchte  diese  letzteren  an  langen,  schmalen  Streifen  von  Muskeln 
einer  grossen  Zahl  von  Käfern ,  an  denen  sich  das  Wellenspiel  oft 
stundenlang  beobachten  lässt.  Gewöhnlich  ist  dasselbe,  wenn  man  die 
Muskelstückchen  recht  rasch  unter  das  Mikroskop  bringt,  gleich  beim 
ersten  Anblick  so  lebhaft  entwickelt,  als  es  überhaupt  werden  kann. 
Auch  hier  treten  die  Wellen  als  kurze,  steil  ansteigende  und  ab- 
fallende und  langsam  dahinrollende  Knoten  der  Fasern  auf  und  ihre 
Länge  liegt  auch  hier  in  engen  Grenzen,  etwa  12 — 24  Querstreifen 
umfassend.  Eine  solche  Begrenzung  bleibt  auch  erhalten,  wenn 
das  Wellenspiel  wieder  weniger  lebhaft  wird,  was  auch  hier  dadurch 
geschieht,  dass  die  Wellen  an  immer  weniger  Fasern  in  immer  längeren 
Perioden  und  endlich  nur  an  einzelnen  Fasern  in  sehr  langen  Perioden 
auftreten.  Wenn  man  ganz  frisch  ausgeschnittene  Käfermuskeln  rasch 
zwischen  Objectträger  und  Deckgläschen  unter  das  Mikroskop  bringt 
und  ein  lebhaftes  Wellenspiel  daran  ablaufen  sieht,  so  bleibt  man,  wie 
Rollett  bemerkt,  häufig  ganz  im  Unklaren  über  den  Ausgangspunkt 
der  Wellen.  Dieselben  laufen  über  die  Fasern  hin,  und  man  sieht  sie 
nur  immer  aus  derselben  Richtung  her  ankommen  und  in  derselben 
Richtung  hin  fortlaufen.  Das  ist  aber  nicht  immer  der  Fall.  Man  ist 
gelegentlich  auch  im  Stande,  an  einzelnen  Fasern  bestimmte  Ausgangs 
punkte  der  fortschreitenden  Wellen  aufzufinden,  die  inmitten  einer  Faser 
liegen.  Diese  Erscheinung  wurde  von  Bowman  und  später  von 
Aeby,  welcher  die  durchsichtigen  Beine  gewisser  kleiner  Spinnenarten 
für  die  Beobachtungen  benutzte,  schon  beschrieben.  An  der  betreff'en- 
den  Stelle  bildet  sich  ein  Wulst,  der,  wie  Aeby  treffend  angiebt, 
auf  dem  Höhenpunkt  seiner  Bildung  einen  Augenblick  stehen  zu 
bleiben  scheint,  dann  sich  plötzlich  in  der  Weise  theilt,  dass  die  aus- 
gebuchtetste Stelle  in  die  frühere  Gleichgewichtslage  rasch  zurücksinkt, 
die  beiden  Wulsthälften  aber  auseinandertreten  und  in  entgegen- 
gesetzter Richtung  gegen  beide  Faserenden  hingleiten ;  hat  man  eine 
solche  Stelle  einmal  aufgefunden,  dann  überzeugt  man  sich  leicht,  dass 


Die  Formändernng  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  135 

sie  durch  geraume  Zeit  einen  stehenden  Ausgangspunkt  immer  neuer 
periodisch  auf  einander  folgender  Wellen  bildet.  Nach  Rollett  hat  es 
den  Anschein,  als  ob  in  vielen  Fällen  die  kurzen  Contractionswellen 
ihren  Ausgangspunkt  an  oder  zunächst  einem  Querschnitt  nehmen, 
was  vielleicht  auf  die  Bedeutung  des  Muskelstromes  oder  der  das  Ab- 
sterben begleitenden  chemischen  Veränderungen  der  Muskelsubstanz 
als  auslösender  Reiz  schliessen  lässt.  In  einzelnen  Fällen  lässt  sich 
mit  aller  Sicherheit  ein  Doyer'scher  Hügel  als  Ausgangspunkt  einer 
Contractionswelle  erweisen,  und  es  scheint,  dass  dies  sogar  für  alle 
in  der  Continuität  einer  Faser  entstehenden  Wellen  gilt. 

Rollett  versuchte  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  dieser  Wellen 
an  hinreichend  langen,  aus  den  Schenkelstreckern  und  Beugern  des 
hintersten  Beinpaares  grösserer  Käfer  herausgeschnittenen  Muskel- 
streifen nach  derselben  Methode  zu  bestimmen,  welche  E.  H.Weber 
zur  Messung  der  Geschwindigkeit  des  Capillarkreislaufes  benutzte, 
indem  die  Zahl  der  Metronomschläge  bestimmt  wurde,  welche  zwischen 
die  Coincidenz  des  Maximums  eines  Knotens  mit  einem  bestimmten 
Theilstrich  am  Anfang  und  Ende  eines  Ocularmikrometers  fielen.  Es 
ergaben  sich  hierbei  Werthe  von  0,08—0,67  mm  (im  Mittel  0.169  mm); 
die  Länge  der  Wellen  schwankte  zwischen  0,08  und  0,115  mm.  Es 
handelt  sich  also,  wie  man  sieht,  um  wahre  „Miniaturwellen",  welche 
sich  mit  äusserst  geringer  Geschwindigkeit  fortpflanzen,  gegen  welche 
selbst  jene  der  langsamsten  Contractionswellen  an  quergestreiften 
Wirbelthiermuskeln,  die  nach  Auerbach  zwischen  314 — 471  mm  pro 
Sekunde  schwankt,  noch  sehr  erheblich  ist.  Leider  ist  es  bisher  nicht 
möglich  gewesen,  die  Leitungsgeschwindigkeit  der  einer  raschen 
Zuckung  zu  Grunde  liegenden  Erregung  an  Insectenmuskeln  zu 
messen.  Sicher  wird  dieselbe  aber  bei  der  kurzen  Zuckungsdauer 
(0,112—0,527  Sekunden,  Rollett)  eine  sehr  beträchtliche  sein,  wenngleich 
nach  Rollett  als  wahrscheinlich  anzunehmen  ist,  dass  bei  den  In- 
sectenmuskeln auch  die  längsten  (am  raschesten  sich 
fortpflanzenden)  Wellen  weit  hinter  jenen  der  Muskeln 
der  Vertebraten  zurückbleiben.  Es  wurde  sehen  oben  er- 
wähnt, dass  sowohl  Schiff  wie  auch  andere  Beobachter  an  quer- 
gestreiften Wirbelthiermuskeln  vielfach  ein  Reflexion  der  ans  Ende 
einer  Faser  gelangten  langsamen  ContractionsAvellen  beobachteten.  Es 
scheint,  dass  etwas  Aehnliches  an  Insectenmuskeln  nicht  oder  nur  sehr 
selten  vorkommt,  wenigstens  ist  es  Rollett  niemals  gelungen,  weder 
an  den  ganzen  Muskeln  von  Corethr alarven,  noch  auch  an  aus- 
geschnittenen Käfermuskeln  irgend  etwas  zu  sehen,  „was  sich  hätte 
als  reflectirte  Welle  deuten  lassen". 

Sowohl  in  dem  Falle,  wenn,  wie  erwähnt  wurde,  die  W^elle  in- 
mitten einer  Faser  entsteht  und  nach  beiden  Seiten  abläuft,  wie  dann, 
wenn  ein  bestimmter  Ausgangspunkt  nicht  sicher  zu  entdecken  ist, 
sieht  man  die  Wellen  noch  unterwegs  und  mitunter  ganz  plötzlich 
ohne  vorhergehende  Verkleinerung  erlöschen.  Eine  Interferenz  zweier 
von  entgegengesetzter  Seite  (den  beiden  Endquerschnitten  einer  Faser) 
her  kommender  Contractionswellen  hat  Rollett  nur  einmal  be- 
obachtet, wobei  die  beiden  Wellen  sich  zunächst  zu  einer  grösseren 
Welle  vereinigten,   um  dann  sofort  zu  verlöschen. 

Einer  Art  von  Summation  verdanken,  wie  Rollett  (19)  wahr- 
scheinHch  gemacht  hat,  auch  jene  schon  erwähnten  „fixirten" 
Contractionswellen  ihre  Entstehung,    die  man    so   häutig  an  den 


igg  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Muskelfasern  in  Alkohol  oder  Osmiumsäure  ertränkter  Insecten  zu  be- 
obachten Gelegenheit  hat.  Dieselben  zeichnen  sich  vor  den  be- 
sprochenen Wellen  lebender  Muskeln  in  der  Regel  durch  ihre 
grössere  Länge  aus,  was  E  n  g  e  1  m  a  n  n  darauf  zu  beziehen  gen  eigt 
ist,  dass  es  sich  dabei  um  Wellen  handelt,  die  fixirt  wurden,  während 
ihre  Fortpflanzgeschwindigkeit  noch  bedeutend  war.  Nach  R  o  1 1  e  1 1 
entstehen  dieselben  jedoch  dadurch,  „dass  eine  ganze  Reihe  auf  ein- 
ander folgender,  kurzer,  lebender  Wellen  successive  partiell  flxirt 
werden,  so  dass  sie  demnach  keine  einheitliche  Bildung,  sondern  „eine 
Summe  von  f  e  s  t  g  e  1  e  g  t  e  n  T  h  e  i  1  e  n  zeitlich  auf  einander 
gefolg  ter  Contr  actio  ns  wellen"  darstellen.  Wenn  eine  be  - 
stimmte  Stelle  einer  Muskelfaser  längere  Zeit  hindurch  den  Ausgangs- 
punkt periodischer  kurzer  Wellen  gebildet  hat,  sieht  man  dann  oft,  wie 
Rollett  beschreibt,  von  den  contrahirten  Muskelabschnitten  einige  im 
verkürzten  Zustande  verharren,  während  die  beiderseits  angrenzenden 
Muskelabschnitte  wieder  erschlaffen.  Es  hat  sich  dann  eine  nur  ein 
kurzes  Muskelsegment  umfassende  dauernde  Contraction  gebildet,  von 
der  nun  die  weiteren  Wellen  stets  ausgehen.  „Dabei  bemerkt  man  aber, 
dass  jede  neue  Welle,  die  an  den  contrahirt  gebliebenen  Abschnitten  ent- 
steht, wieder  einen  neuen  solchen  Abschnitt  anlegt,  während  die  andern 
wieder  erschlaffen ;  auf  diese  Weise  bildet  sich  eine  immer  längere 
fixirte,  contrahirte  Strecke  aus,  bis  schliesslich  die  ganze  Bewegung 
plötzlich  stockt  oder  mit  einer  gegen  das  erschlafft  bleibende  Faserende 
hin  gleichsam  verrinnenden  Welle  aufhört."  An  den  Muskeln  von 
Vertebraten,  an  welchen  Contractionswellen  zwar  auch  beobachtet 
werden,  die  aber  nicht  das  lebhafte  und  lange  dauernde  spontane 
Wellenspiel  zeigen,  sind  solche  fixirte  Wellen  auch  nur  als  seltener 
Befund  constatirt  worden  (Bowman,  I.e.,  Nasse,  21).  Sehr  häufig 
ist  bei  Insectenmuskeln  der  Doyer'sche  Hügel  der  Ausgangspunkt  des 
Wellenspiels  und  dem  entsprechend  auch  die  Stelle,  wo  sich  fixirte 
Contractionswellen  besonders  leicht  bilden.  Bisweilen  kommt  es  hier 
zur  Entstehung  partieller  Contractionen,  der  sogen,  seitlichen 
fixirten  Contractionswellen  (.,ondes  laterales").  Nach  Rollett  ist  dies 
eine  besondere  Eigenschaft  der  Muskelfasern  der  meisten  Chryso- 
meliden  (7,  p.  216),  während  bei  anderen  Insectenmuskeln  das  Auf- 
treten seitlicher  Contractionswellen  ein  sehr  seltenes  Ereigniss  ist 
(Tenebrioniden,  Curculioniden  und  Scarabaeiden).  Es 
scheint,  dass  die  Nervenhügel  der  C  h  r  y  s  o  m  e  l  i  d  e  n  der  1  *^; o  Ormium- 
säure  und  dem  Alkohol  oder  einem  durch  diese  Reagentien  eingeleiteten 
Vorgange  besondere  Angriffspunkte  für  eine  physiologische  Wirkung 
darbieten,  die  erfolgt,  ehe  noch  jene  Agentien  auf  die  Muskelsubstanz 
selbst  einwirken,  und  als  deren  Ergebniss  unmittelbar  vor  dem  Ab- 
sterben der  betreffenden  Fasern  die  dem  Nervenhügel  entsprechende 
seitliche  Contraction  eintritt.  Im  Uebrigen  gilt  für  die  Entstehung 
dieser  seitlichen  Wellen  dasselbe,  was  bereits  über  die  Entwicklung 
der  „fixirten"   Wellen  überhaupt  gesagt  wurde. 

Fassen  wir  die  vorstehend  mitgetheilten  Thatsachen  zusammen, 
so  ergiebt  sich  als  Hauptresultat,  dass  sowohl  die  quergestreif- 
ten Muskelfasern  der  Vertebraten  wie  auch  jene  der 
Evertebraten  die  Fähigkeit  besitzen,  lange  und  kurze, 
rasch  und  langsam  sich  fortpflanzende  Contractionswellen 
zuleiten,  wobei  es  anscheinend  nur  a u f  V e r s c h i e d e n - 
h  e  i  t  e  n    der  Reizung  ankommt.     Mit  Rücksicht  auf  die   normale 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  137 

Function  der  Muskeln  als  locomotorischer  Organe  dürfte  den  kurzen 
Wellen,  wenn  überhaupt,  nur  eine  geringe  Bedeutung  zukommen.  Um 
so  interessanter  sind  dieselben  jedoch  in  theoretischer  Hinsicht.  Die 
enormen  Unterschiede  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  lassen  es  auf 
den  ersten  Blick  fraglich  erscheinen,  ob  es  sich  in  beiden  Fällen  wirk- 
lich um  dieselben  Elementartheile  der  Muskelfasern  handelt,  da  er- 
fahrungsgemäss  Verschiedenheiten  der  Intensität  innerhalb  des  Be- 
reiches der  zur  Auslösung  von  Zuckungen  erforderlichen  Reizstärke 
keine  merklichen  Unterschiede  der  Leitungsgeschwindigkeit  entsprechen; 
auch  ist  nicht  daran  zu  denken,  die  „trägen"  und  „flinken"  Muskel- 
fasern zur  Erklärung  heranzuziehen,  da  die  hier  zu  beobachtenden 
Unterschiede  der  Contractions-  und  Leitungsgeschwindigkeit  nicht  im 
Entferntesten  ausreichen,  um  die  vorhandenen  Difterenzen  zu  erklären. 
Fast  unwillkürlich  lenkt  sich  dagegen  der  Blick  auf  die  beiden  wesent- 
lichen Hauptbestandtheile  jeder  Muskelfaser,  das  Sarkoplasma  und 
die  Fibrillen.  Wir  wissen,  dass  in  vielen  Fällen  dem  Protoplasma 
(Sarkoplasma),  aus  welchem  sich  zuckende  Fibrillen  differenzirt  haben, 
die  eigene  Contractilität  nicht  völlig  mangelt;  so  zeigen  viele  ciliate 
Infusorien  die  Fähigkeit,  sich  vermittels  ihrer  Myoide  sowohl 
zuckend  wie  auch  durch  Contraction  des  Körperplasmas  träge  und 
mehr  dem  Typus  der  amoeboiden  Bewegung  entsprechend  zu  bewegen. 
Die  Möglichkeit,  dass  auch  dem  Bildungsplasma  der  Muskelfasern 
höherer  Thiere  Contractilität  zukommt,  dürfte  um  so  weniger  zu 
bezweifeln  sein,  als  von  mancher  Seite  (Kühne)  die  Fibrillen 
geradezu  als  passive,  elastisch  wirkende  Elemente  angesehen  worden 
sind,  deren  Bedeutung  hauptsächlich  in  der  Wiederverlängerung  des 
Muskels  zu  erblicken  sein  würde.  Wenn  auch  diese  extreme  An- 
schauung keineswegs  als  den  Thatsachen  entsprechend  angesehen  wer- 
den kann,  so  ist  doch  anderseits  ebensowenig  die  Möglichkeit  der 
Contractilität  des  Sarkoplasmas  in  Abrede  zu  stellen.  Giebt  man  dies 
a,ber  zu,  so  ist  nach  aller  Analogie  anzunehmen,  dass  die  Verhältnisse  der 
Erregbarkeit  und  des  Leitungsvermögens  bei  beiden  Elementarbestand- 
theilen  jeder  Muskelfaser  ganz  wesentliche  Verschiedenheiten  darbieten 
werden,  und  zwar  in  dem  Sinne,  dass  die  Fibrillen  viel  rascher  leiten 
(„zuckend"  sich  contrahiren) ,  während  das  minder  erregbare  Sarko- 
plasma, wie  fast  jedes  nicht  weiter  difi^erenzirte  Plasma,  den  Erregungs- 
vorgang nur  langsam  fortpflanzt.  Auf  Grund  der  histologischen  Unter- 
suchung erscheint  es  freilich  ausgeschlossen,  die  Fibrillen  als  überhaupt 
nicht  betheiligt  bei  den  langsam  fortschreitenden  Contractionswellen 
anzusehen,  indessen  ist  es  doch  bemerkenswerth,  dass  das  Wellenspiel 
an  Muskelfasern  gerade  unter  Bedingungen  sich  besonders  leicht  ent- 
wickelt ,  welche  erfahrungsgemäss  für  die  Erregung  des  nicht  weiter 
differenzirten  contractilen  Plasmas  günstig  sind.  So  zeigt  sich  die 
mechanische  Reizung  besonders  erfolgreich,  auch  muss  wenigstens 
bei  Wirbelthiermuskeln  die  Intensität  der  Erregung  eine  viel  grössere 
sein ,  als  zur  Auslösung  einer  Zuckung  erforderlich  ist.  Sehr  be- 
merkenswerth ist  ferner  auch  die  zeitliche  Aufeinanderfolge  der  Ent- 
wicklung der  verschiedenen  Contractionsformen ,  indem  man  zuweilen 
Gelegenheit  hat,  zu  beobachten,  wie  nach  Ablauf  der  dem  Reiz  sich 
unmittelbar  anschliessenden,  scheinbar  gleichzeitig  erfolgenden  Zuckung 
erst  der  idiomusculäre  Wulst  sich  erhebt,  von  dem  dann  noch  später 
die  langsam  verlaufenden  Wellen  ausgehen.  Dies  würde  durchaus  in 
Uebereinstimmung    stehen    mit    der   viel   grösseren    Latenzdauer    und 


]^38  1*16  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

langsameren  Entwicklung  der  Contraction  rein  plasmatischer  Theile. 
Eine  sichere  Entscheidung  der  hier  angeregten  Fragen  Avird  erst  dann 
möglich  sein,  wenn  unsere  Kenntnisse  über  die  functionellcn  Beziehungen 
zwischen  Sarkoplasma  und  Fibrillen  weiter  fortgeschritten  sein  werden, 
als  es  zur  Zeit  der  Fall  ist. 

In  den  bisher  besprochenen  Fällen  haben  wir  es  ausschliesslich  mit 
der  Leitung  des  Erregungsvorganges  innerhalb  einzelner,  viel- 
kerniger, langgestreckter  Zellen,  als  welche  die  quergestreiften  Skelet- 
muskelfasern  aufzufassen  sind,  zvi  thun.  Eine  Conti'actionswelle  hört 
entweder  unterwegs  auf  oder  schreitet  bis  zum  Ende  jeder  Faser  fort, 
wo  sie  eventuell  reflectirt  werden  kann  oder,  wie  in  der  Regel,  einfach 
erlischt.  Jede  noch  so  zarte  sehnige  Inscription  macht  die  Fortpflanzung 
auch  der  stärksten  Erregung  darüber  hinaus  gänzlich  unmöglich,  so  dass 
Reizung  eines  polymeren  Muskels  am  einen  Ende  stets  nur  eine  Contrac- 
tion des  direct  betroffenen  Theilstückes  zur  Folge  hat.  Ebenso  wenig 
ist  eine  Uebertragung  der  Erregung  in  querer  Richtung  von  einer  Faser 
auf  die  benachbarten,  nächstanliegenden  möglich,  und  scheinbare  Aus- 
nahmen (wie  insbesondere  an  vertrocknenden  Muskeln)  sind,  wie 
später  zu  erörtern  sein  wird,  in  anderer  Weise  zu  deuten.  Ganz 
wesentlich  verschieden  gestaltet  sich  dagegen  die  Erregungs- 
leitung  an  muskulösen  Organen,  welche  aus  einkernigen 
M  u  s  k  e  1  z  e  1 1  e  n  zusammengesetzt  sind. 

Ein  coordinirtes  Zusammenwirken  zahlreicher  Muskelzellen  bei 
localisirter  Reizung  ist  hier  offenbar  nur  möglich,  wenn  entweder  die 
Uebertragung  der  Erregung  unter  Vermittlung  von  Nerven  erfolgt, 
oder  wenn  sich  dieselbe  direct  von  Zelle  auf  Zelle  zu  übertragen  und 
fortzupflanzen  vermag.  Es  scheint,  dass  beide  Möglichkeiten  that- 
sächlich  realisirt  sind. 

Was  zunächst  das  Herz  betrifft,  so  hat  hier  zuerst  E  n  g  e  1  m  a  nn  (22) 
die  betreffenden  Verhältnisse  näher  untersucht,  nachdem  bereits  A. 
Fick  (23)  eine  kurze  darauf  bezügliche  Mittheilung  gemacht  hatte. 
Wenn  man  den  vom  Vorhof  getrennten  ruhenden  Ventrikel  des  Frosch- 
herzens an  einer  beliebigen,  noch  so  begrenzten  Stelle  reizt,  so  beob- 
achtet man  stets  eine  darauf  folgende  allgemeine  Contraction  (Systole) 
des  Hohlmuskels,  so  dass  die  Erregung  sich  von  der  gereizten  Stelle 
aus  gleichmässig  nach  allen  Richtungen  hin  durch  Leitung  verbreitet 
haben  musste.  Dazu  ist,  wie  Engel  mann  gezeigt  hat,  nicht  einmal 
Unversehrtheit  des  Ventrikels  nothwendig,  sondern  der  Versuch  ge- 
lingt auch  noch  dann,  wenn  man  die  Herzkammer  eines  eben  ge- 
tödteten  Frosches  mittels  einer  Scheere  in  zwei  oder  mehr,  jedesmal 
nur  durch  eine  ganz  schmale  Brücke  von  Muskelsubstanz  noch  zu- 
sammenhängende Stückchen  zerschneidet ;  nach  einiger  Zeit  contrahiren 
sich  dann  auf  Reizung  irgend  eines  dieser  Stückchen  nach  einander 
auch  die  andern.  Es  ist  ganz  gleichgültig,  an  Avelchen  Stellen  die 
einzelnen  Stückchen  mit  einander  zusammenhängen ;  Bedingung  ist 
nur,  dass  sie  durch  etwas  Muskel  Substanz  verbunden  bleiben. 
Der  Versuch  in  dieser  Form  beweist  also,  „dass  sich  die  Er- 
regung in  der  Herzkammer  von  jedem  Punkte  aus  nach 
jedem  andern  Punkte  längs  jedes  beliebigen  andern 
Punktes  fortpflanzen  kann."  Bei  dem  erwähnten  Versuche 
pflegt  das  volle,  Anfangs  gestörte  Leitungsvermögen  des  einzelnen 
Muskelbrückchens  erst  allmählich,  im  Verlaufe  einiger  Zeit  wieder- 
zukehren,   und    oft   ist   dies  sogar  erst  nach  einer  Stunde  oder  später 


Die  Formänderung  des  Muskels   bei  der  Thätigkeit.  139 

der  Fall.  Hängt  ein  Stück  der  Kammer  noch  mit  der  pulsirenden 
Vorkammer  zusammen,  so  contrahirt  sich,  wenn  das  Leitungsvermögen 
überall  wieder  hergestellt  ist,  nach  jeder  Vorkammersystole  zuerst 
dieses  Stück,  darnach  das  hieran  grenzende  u.  s.  f.  Die  Contraction 
pflanzt  sich  also  in  peristaltischer  Richtung  von  der  Kammerbasis  nach 
der  Spitze  zu  fort.  Zeigt  das  Prcäparat  keine  spontanen  Bewegungen 
mehr,  so  hängt  die  Reihenfolge,  in  Avelcher  die  einzelnen  Stücke  sich 
contrahiren,  nur  davon  ab,  welches  Stück  zuerst  gereizt  wird,  indem 
die  Contraction  von  diesem  aus  nacheinander  auf  alle  anderen  fort- 
schreitet; niemals  überspringt  dieselbe  ein  Stück.  Da  die  Annahme, 
dass  jede  Zelle  mit  ihren  Nachbarn  durch  Nervenfasern  verbunden  ist, 
sowohl  durch  die  histologische  Untersuchung,  wie  insbesondere  durch 
die  geringe  Geschwindigkeit  der  Erregungsleitung  von  vornherein  aus- 
geschlossen erscheint,  so  bleibt  nur  die  zweite  mögliche  Annahme 
übrig ,  dass  die  Erregung  (Contraction)  d  i  r  e  c  t  von  Zelle 
zu  Zelle  in  derselben  Weise  fortschreitet,  wie  inner- 
halb jeder  einzelnen  Zelle. 

Die  zeitlichen  Verhältnisse  des  Contractionsverlaufes  fanden,  soweit 
es  sich  um  die  „Zuckung"  des  Herzmuskels  handelt,  bereits  früher 
Besprechung.  Hier  soll  nur  die  Leitungsgeschwindigkeit,  d.  i.  die 
Schnelligkeit  des  Fortschreitens  der  Erregung  von  Querschnitt  zu 
Querschnitt,  noch  erörtert  werden.  Diese  ist  unter  normalen  Verhält- 
nissen auch  am  Froschherzen  so  gross,  dass  alle  Stellen  sich  wie  bei 
Reizung  eines  quergestreiften  Skeletmuskels  anscheinend  völlig  gleich- 
zeitig zusammenziehen.  Dieser  Schein  kann  bei  sehr  frischen,  kräftigen 
Herzen  auch  noch  nach  Spaltung  der  Kammer  in  mehrere  Stücke 
bestehen.  In  der  Regel  ist  aber  dann  das  wellenförmige  Fort- 
schreiten der  Contraction  ohne  Weiteres  erkennbar.  Oft  scheint 
es,  als  ob  die  Leitung  in  den  Brücken  langsamer  als  in  den  grösseren 
Stücken  erfolge:  denn  jedes  der  letzteren  zieht  sich  scheinbar  auf  ein- 
mal, als  Ganzes  zusammen,  während  zwischen  der  Contraction  von 
zwei  auf  einander  folgenden  Stücken  eine  merkliche  Zeit  vergeht. 
Mittels  eines  Viertelsekunden  schlagenden  Metronoms  bestimmte  Engel- 
mann die  mittlere  Leitungsgeschwindigkeit  an  10 — Ib  mm  langen, 
durch  passende  Einschnitte  in  die  Kammer  hergestellten  Muskelstreifen 
im  Maximum  etwa  gleich  30  mm  in  der  Sekunde,  gewöhnlich  aber  nur 
zu  10 — 20  mm.  Obschon  diese  Werthe  sicher  weit  unter  der  normalen 
Höhe  liegen,  so  lassen  sie  doch  schliessen ,  dass  selbst  im  günstigsten 
Falle  die  Leitungsgeschwindigkeit  unverhältnissmässig  kleiner  ist,  als 
sie  sein  müsste,  wenn  die  Uebertragung  der  Erregung  durch  Nerven 
vermittelt  würde.  In  sehr  auffallender  Weise  wird  die  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit durch  Abkühlung  des  Präparates  vermindert.  Ab- 
kühlung von  17 '^  C.  auf  5*^  C.  genügte  beispielsweise,  um  jene  von 
20  mm  auf  8  mm  herabzudrücken.  Unter  normalen  Verhältnissen 
pflanzt  sich  die  Erregung  stets  von  den  Vorkammern  auf  den  Ven- 
trikel fort.  Dass  hierbei  lediglich  Muskelleitung  im  Spiele  ist,  hat 
neuerdings  Engelmann  (22)  in  überzeugender  Weise  durch  Ver- 
suche am  „suspendirten"  Froschherzen  dargethan ,  welche  nach  dem- 
selben Princip  angestellt  Avurden,  dessen  sich  seiner  Zeit  H  elm hol tz 
zur  Messung  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erregung  im 
Nerven  bediente.  Die  Vorkammern  vertraten  gewissermaassen  die  Stelle 
des  Nerven,  die  Kammer  jene  des  Muskels-,  die  ersteren  wurden  in 
verschiedener  Entfernung  von  der  Kammer  gereizt  und  jedes  Mal  das 


140  Die  Formänderung-  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

Latenzstadium  der  Kammersystole  gemessen.  Erfolgte  die  Leitung 
durch  Nervenfasern,  so  war  eine  merkliche  Differenz  bei  der  Kleinheit 
der  verfügbaren  Strecken  nicht  zu  erwarten,  wohl  aber,  wenn  Zellen- 
leitung im  Muskel  stattfand.  Stets  zeigte  sich  nun  in  der  That  eine 
sehr  erhebliche  Verspcätung  im  Eintritt  der  Ventrikelsystole  bei  Reizung 
des  Vorhofes  in  grösserem  Abstände.  In  einem  gegebenen  Falle,  in 
welchem  allerdings  die  Geschwindigkeit  schon  nicht  mehr  ganz  normal 
war,  betrug  die  Verspätung  etwa  0,09",  was  einer  Leitungsgeschwindig- 
keit von  90  mm  pro  Sekunde  entspricht.  Das  ist  aber,  wie  Engel- 
mann hervorhebt,  ein  Werth,  der  etwa  30  0mal  geringer  ist, 
als  unter  gleichen  Bedingungen  die  Fortpflanzungsge- 
schwindigkeit im  motorischen  Frosch  nerven.  Damit  er- 
scheint aber,  Avie  innerhalb  des  Vorhofes  und  Ventrikels  selbst,  so  auch 
vom  Vorhof  zum  Ventrikel  die  Muskelleitung  sicher  gestellt.  So  sehr 
die  Grösse  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erregung  im  Muskel 
von  verschiedenen  Zusttänden  desselben  (Ermüdung,  Temperatur) 
abhängig  ist,  so  kann  sie  unter  Umständen  doch  erhalten  bleiben,  un- 
geachtet hochgradiger  Veränderungen  der  Muskelsubstanz.  So  zeigt 
sich ,  dass  bei  partieller  Quellung  des  Sartorius  vom  Frosch  die  ver- 
änderte Strecke  das  Vermögen  der  Contractilität  bereits  völlig  verloren 
haben  kann,  ohne  dass  die  elektrische  Reizbarkeit  und  das  Leitungs- 
vermögen erheblich  beeinträchtigt  sind  (Biedermann  24).  Dasselbe 
gilt,  Avie  Engel  mann  (1.  c.)  fand,  auch  für  die  Muskelbalken  des 
Vorhofes  vom  Froschherzen,  welche  „nach  vollständiger  Aufhebung 
ihrer  Contractilität  doch  den  Bewegungsreiz  für  den  Ventrikel  noch 
fortzupflanzen  im  Stande  sind,  und  zwar  mit  einer  Geschwindigkeit 
durchaus  derselben  Ordnung,  wie  wenn  das  Verkürzungsvermögen  er- 
halten wäre"  *). 

Dass  analoge  Verhältnisse  der  Erregungsleitung,  wie  sie  hier  für 
das  Froschherz  geschildert  wurden,  auch  für  den  Herzmuskel  höherer 
Wirbelthiere  gelten,  dürfte  wohl  kaum  zu  bezweifeln  sein,  und  es  ist 
dies  insofern  von  Belang,  als  beispielsweise  bei  Säugethieren  im  All- 
gemeinen eine  viel  weniger  ausgiebige  Berührung  der  einzelnen 
kurzen  und  breiten  Muskelzellen  stattfindet,  die  nur  mit  ihren  abge- 
stumpften Endflächen  und  kurzen  Seitenzweigen  Avirklich  verschmelzen. 
Aehnlichen  Verhältnissen  begegnet  man  auch  wieder  im  Darm  der 
I  n  s  e  c  t  e  n  u  n  d  M  y  r  i  o  p  o  d  e  n ,  in  dessen  Wand  netzartig  verbundene, 
quergestreifte  (einkernige)  Muskelzellen  liegen,  durch  deren  Contraction 
die  normalen,  peristaltischen  Bewegungen  des  Verdauungstractus  ver- 
mittelt werden.  Als  das  geeigneteste  Object  für  die  combinirte  ana- 
tomische und  physiologische  Untersuchung  empflehlt  Engelmann  (25) 
den  Fliegendarm  und  zwar  den  Anfangstheil  des  Enddarmes,  von  der 
Einmündung  der  Malpighi'schen  Gefässe  bis  zum  Rectum.  „Die  Muskel- 
haut besteht  hier  im  Wesentlichen  aus  einer  einzigen  Lage  von  starken, 
quergestreiften,  von  deutlichem  Sarkolemma  (das  den  Herzmuskelzellen 
durchweg  fehlt)  umschlossenen  Circularfasern ,  die  durch  merkliche 
Zwischenräume  von  einander  geschieden  sind."  Jede  Faser  erscheint 
mit  ihren  Nachbarn  durch  einen  oder  mehrere  schief  oder  zuweilen 
quer  verlaufende  Aeste  verbunden,   durch  deren  Vermittlung  die  con- 

*)  Ganz  neuerdings  hat  Kaiser  (Zeitschr.  f.  Biologie  1894)  die  Beweiskraft  der 
betreffenden  Versuche  in  Frage  gestellt,  indem  er  die  beobachteten  Wirkungen  auf 
Stromschleifen  bezieht.  Inwieweit  dies  liegründet  ist,  müssen  weitere  Versuche  zeigen, 
zu  denen  ich  noch  nicht  Zeit  gefunden  habe. 


Die  Formänclerung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  141 

tractile  Substanz  in  der  ganzen  Länge  des  Enddannes  sozusagen  im 
physiologischen  Sinne  ein  Continuum  bildet.  Reisst  man  die  letzten 
Hinterleibssegmente  einer  Fliege  mit  der  Pincette  ab,  so  bleibt  in  der 
Regel  der  Enddarm  daran  hängen  und  zeigt  nun,  frisch  in  0,5  ^/o  NaCl- 
Lösung  untersucht,  lebhafte  peristaltische  Bewegungen:  in  ziemlich 
regelmässigen  Intervallen  von  wenigen  Sekunden  laufen  peristaltische 
Wellen  von  der  Einmündungsstelle  der  Malpighi 'sehen  Gefässe  nach 
abwärts  zum  Rectum,  Anfangs  laufen  die  Wellen  zu  schnell,  als  dass 
es  möglich  wäre,  den  Vorgang  im  Einzelnen  näher  zu  verfolgen. 
Wartet  man  aber  V  4  oder  V2  Stunde,  oder  belastet  man  das  Präparat  mit 
einem  etwas  schwereren  Deckgläschen,  so  pflanzt  sich  die  Contraction 
langsamer  fort,  die  Wellen  folgen  sich  in  grösseren  Pausen,  und  man 
sieht  sie  deutlich  über  die  einzelnen  Fasern  und  ihre  Verbindungs- 
stücke ablaufen.  „Reizt  man,  kurz  nachdem  eine  Contractionswelle 
am  unteren  Ende  des  schmalen  Anfangsstückes  vom  Enddarme  ange- 
kommen, dieses  Ende  mechanisch  mit  einer  Nadelspitze,  so  läuft  so- 
gleich eine  antiperistaltische  Welle  durch  die  Muskelfasern  hinauf  und 
erreicht  die  Einmündungsstelle  der  Malpighi 'sehen  Gefässe,  wenn  sie 
nicht  vorher  durch  Zusammentreffen  mit  einer  von  oben  kommenden 
Welle  erlosch."  Remerkenswerth  ist  auch  der  Umstand,  dass,  wie 
es  scheint,  das  Leitungsvermögen  der  contractilen  Substanz  durch 
den  Contractionsvorgang  selbst  vorübergehend  merklich  herabgesetzt 
wird.  Eine  nach  längerer  Ruhe  ablaufende  Welle  schreitet  mit  an- 
scheinend gleichbleibender  Geschwindigkeit  von  ihrem  Ausgangs- 
punkte fort.  War  aber  kurz  vorher  eine  Welle  abgelaufen,  so  bringt 
die  neue  Reizung  nur  eine  ganz  örtliche  Zusammenziehung  hervor  oder 
doch  nur  eine  Welle,  die  rasch  an  Stärke  abnimmt  und  nahe  ihrem 
Ausgangspunkt  erlischt. 

Bekanntlich  finden  sich  auch  im  Verdauungstract  gewisser  Fische 
(Schleie,  Cobitis)  quergestreifte  Muskelfasern  in  ähnlicher  Anordnung; 
ob  hier  auch  analoge  Beziehungen  der  Erregungsleitung  bestehen,  ist 
bisher  nicht  näher  bekannt  (26).  Dagegen  liegen  sehr  eingehende 
Untersuchungen  über  die  Erregungsleitung  innerhalb  des  contractilen 
Gewebes  gewisser  Medusen  (bei  Aurelia)  vor,  denen  zufolge  ganz 
ähnliche  Verhältnisse  gegeben  zu  sein  scheinen,  wäe  beim  Herzmuskel  (27). 

Die  grösste  Uebereinstimniung  mit  den  bisher  besprochenen  Formen 
einkerniger  quergestreifter  Muskelzellen  zeigen  in  Bezug  auf  die 
Verhältnisse  der  Erregungsleitung  die  so  vielgestaltigen  Verbände 
glatter  Muskelzellen.  Auch  auf  diesem  Gebiete  verdanken  wir 
wieder  Engelmann  die  wichtigsten  Aufschlüsse  (28).  Als  ein  für 
die  genauere  Untersuchung  besonders  geeignetes  Object  erweist  sich 
vor  Allem  der  Ureter  mancher  Säugethiere  (Kaninchen,  Meer- 
schweinchen, Ratte  u.  a.),  der  bekanntlich  einen  zart-n,  beim  Kanin- 
chen etwa  1,3  mm  dicken  Muskelschlauch  darstellt,  der  sich  vom 
Hilus  der  Niere  bis  zur  Blase  längs  des  M  psoas  in  einer  Ausdeh- 
nung von  etwa  11  cm  hinabzieht.  Die  zwischen  der  Adventitia  und 
der  Schleimhaut  gelegene  Muskelhaut  besteht  aus  einer  inneren, 
dünnen  Längsschicht  und  einer  äusseren,  viel  dickeren  Circularschicht. 
Beide  setzen  sich  zusammen  aus  glatten,  membranlosen,  einkernigen 
Faserzellen  von  ungefähr  0,2  mm  Länge,  die  im  physiologisch 
frischen  Zustande  kaum  merkliche  Grenzen  erkennen  lassen.  Die 
Muscularis  macht  dann  selbst  bei  Anwendung  starker  Vergrösserungen 
den  Eindruck   einer   fast   homogenen,    durchscheinenden  Masse.     Erst 


1^2  I^ie  Formänderimg  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

beim  beginnenden  Absterben  kommen  zwischen  den  blassen  Kernen 
feine  Streifen  als  optischer  Ausdruck  der  Zellgrenzen  zum  Vorschein. 
Innerhalb  der  bindegewebigen  Adventitia  befindet  sich  ein  lang- 
maschiges,  zum  grössten  Theil  aus  blassen  Fasern  bestehendes  Nerven- 
geflecht („Grundplexus"  Engelmann '  s),  in  welchem  bemerkens- 
werther  Weise  im  Verlaufe  Nervenzellen  gänzlich  fehlen. 
Engelmann  giebt  an,  dass  die  Anzahl  der  innerhalb  der  Muscularis 
darstellbaren  Nervenendigungen  viel  kleiner  sei,  als  die  der 
glatten  Muskelzellen.  Doch  bedarf  dieser  Punkt  erneuter 
weiterer  Prüfung  mit  Hülfe  der  unterdessen  bekannt  gewordenen 
besseren  Untersuchungsmethoden,  die  wahrscheinlich  einen  sehr  grossen 
Nervenreichthum  enthüllen  werden. 

In  der  Regel  beobachtet  man  an  dem  mit  möglichster  Schonung 
freigelegten  Ureter  spontane  Contractionswellen ,  welche  von  Zeit  zu 
Zeit  (meist  in  Pausen  von  10 — 20  Sekunden)  von  der  Niere  zur  Blase 
peristaltisch  ablaufen.  „Fixirt  man  einen  bestimmten  Punkt  irgendwo 
in  der  Continuität  des  Ureter,  so  sieht  man  in  der  Regel  kurz 
vor  der  Zusammenschnürung  des  betreffenden  Segmentes,  wobei  das- 
selbe dünn,  cylindrisch  und  fast  ganz  weiss  wird,  eine  plötzliche, 
schwache  Erweiterung  derselben  Stelle  erfolgen.  Dabei  verschiebt 
sich  der  Ureter  merklich  nach  unten  (blasenwärts).  Die  Geschwindig- 
keit, mit  welcher  die  Contractionswelle  abläuft,  lässt  sich  wegen  ihrer 
Kleinheit  leicht  bestimmen.  Man  kann  entweder  die  Metronomschläge 
zählen,  welche  ein  auf  Drittel-  oder  Viertelsekunden  gestelltes  Instru- 
ment während  der  Zeit  giebt,  in  welcher  die  Contractionswelle  sich 
von  einem  Punkte  des  Ureter  bis  zu  einem  anderen  fortpflanzt,  wobei 
ein  Beobachter  einen  der  Niere  näher  gelegenen ,  ein  zweiter  einen 
davon  entfernteren  fixirt,  oder  beide  Beobachter  markiren  mittels 
Marey'scher  Tambours  die  Contraction  zweier  von  einander  entfernter 
Punkte  im  Verlauf  des  Ureter.  Es  ergab  sich  bei  kräftigen,  gut  er- 
wärmten Kaninchen  eine  Geschwindigkeit  von  20 — 30  mm  pro  Se- 
kunde; bei  Katzen,  Ratten  scheint  sie  etwas  grösser  zu  sein"  (Engel- 
mann). 

Bei  künstlicher  (etwa  mechanischer)  Reizung  pflanzt  sich  von  der 
gereizten  Stelle  aus  die  Contraction  stets  nach  beiden  Seiten 
hin  fort,  wobei  in  Bezug  auf  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  kein 
merklicher  Unterschied  der  peristaltischen  und  antiperistaltischen  Welle 
zu  constatiren  ist.  Dabei  ist  es  aber  bemerkenswerth,  dass  die  Con- 
traction nur  bei  directer  Reizung  der  Muscularis  entsteht. 
„Weder  durch  Drücken  der  Schleimhaut  oder  der  Adventitia  mit  den 
dai'in  enthaltenen  Nervenstämmchen  noch  auch  der  grösseren  Nerven- 
stämme am  Hilus  und  an  der  Blase  lässt  sich  eine  Contraction  irgend 
eines  Theiles  des  Ureter  auslösen.  Stets  entsteht  bei  localer  Reizung 
auch  nur  eine  örtliche,  beiderseits  langsam  fortschreitende  Contraction. 
Durchschneidet,  zerquetscht  oder  unterbindet  man  den  Ureter  irgendwo 
in  der  Continuität,  dann  folgt  auf  jede  Reizung  oberhalb  oder  unter- 
halb der  getödteten  Stelle  eine  Contraction,  die  sich  in  dem  gereizten 
Stück  nach  beiden  Seiten  hin  fortpflanzt,  niemals  aber  die  todte  Stelle 
überschreitet.  Da  auch  selbst  noch  kurze  ausgeschnittene  Stücke 
des  Ureter  Peristaltik  bei  Reizung  zeigen,  so  kann  mit  Rück- 
sicht auf  den  Bau  nicht  davon  die  Rede  sein,  etwa  Ganglien- 
zellen für  das  Zustandekommen  der  Peristaltik  verantwortlich  zu 
machen,  vielmehr  verhält  sich  der  Ureter  gegen  mechanische  Reizung 


Die  Formänderung  des  Muskels   bei  der  Thätigkeit.  143 

in  allen  Fällen  genauso,  „als  ob  er  eine  einzige  kolossale  hohle 
Muskelfaser  wäre".  Welch  ausserordentlich  grossen  Einfluss  die 
Temperatur  auf  die  Erregbarkeit  und  daher  auch  das  Leitungsver- 
mögen des  Ureter  besitzt,  wurde  schon  früher  hervorgehoben,  avo  zu- 
gleich die  ungemeine  Lebenszähigkeit  der  den  normalen  Ernährungs- 
bedingungen entzogenen  Muskulatur  Erwähnung  fand.  Wie  bei  den 
quergestreiften  IVluskelnetzen  des  Insectendarmes  hat  j  •' d e  C  o  n  - 
tracti  ons  welle  eine  vorübergehende  Herabsetzung  der 
Erregbarkeit  und  des  Leitungsvermögens  des  Muskel- 
schlauches zur  Folge,  die  sich  erst  während  der  folgenden  Diastole 
und  Pause  wieder  herstellt.  Jede  Verminderung  des  Leitungsver- 
mögens macht  sich  immer  zuerst  dadurch  bemerkbar,  dass  die  Con- 
tractions welle,  gleichgültig,  ob  sie  spontan  oder  künstlich  ausgelöst 
war,  um  so  schwächer  wird,  je  weiter  sie  läuft  und  eventuell  schon 
in  nächster  Nähe  der  Reizstelle  erlischt.  Schliesslich  erhält  man  statt 
der  fortschreitenden  Wellen  überhaupt  nur  eine  langanhaltende  Con- 
traction  in  den  unmittelbar  an  die  Reizstelle  grenzenden  Theilen 
ein  Analogon  der  idiomusculären  Contr  actio  n  quer- 
gestreifter Muskeln. 

Mit  dem  Leitungsvermögen  wächst  und  sinkt  die  Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit der  Bewegung,  was  sich  beson- 
ders deutlich  und  leicht  bei  Abkühlung  und  Erwärmung  beobachten  lässt. 
Da  jede  Contractionswelle  den  zeitlichen  Ablauf  der  nächstfolgenden 
beeinflusst,  so  erscheint  es  selbstverständlich,  dass,  wenn  die  spontanen 
Contractionen  in  unregelmässigen  Perioden  auf  einander  folgen,  jene, 
denen  eine  kürzere  Pause  vorausging,  sich  langsamer  fortpflanzen,  als 
die,  welche  auf  eine  lange  Pause  folgen,  was  sich  natürlich  noch  leichter 
bei  künstlicher  Auslösung  von  Contractionswellen  constatiren  lässt. 
Es  lässt  sich  zeigen,  dass  unmittelbar  nach  Ablauf  einer  Contractions- 
welle das  Leitungsvermögen  überhaupt  ganz  aufgehoben  ist  und  erst 
verhältnissmässig  lange  nachher  wieder  die  anfängliche  Höhe  erreicht. 
Das  ersterwähnte  Stadium  dauert  schon  unter  normalen  Verhältnissen 
beim  Kaninchen  länger  als  eine  Sekunde,  kann  aber  bei  Abnahme 
der  Reizbarkeit  leicht  auf  5,  10,  ja  15  Sekunden  ansteigen.  Unter 
normalen  Verhältnissen  ist  höchstens  10  Sekunden  nach  Ablauf  einer 
Contraction    die    normale   Leitungsgeschwindigkeit    wieder   hergestellt. 

Die  Langsamkeit  des  ganzen  Erregungsablaufes  gestattet  natürlich 
auch  leicht  und  sozusagen  unmittelbar,  die  Länge  der  Contrac- 
tionswelle im  Ureter  zu  bestimmen,  indem  man  den  annähernd  ge- 
schätzten Werth  der  Contraction sdauer  mit  der  Fortpflan- 
zungsgeschwindigkeit multiplicirt.  Rechnen  wir  die  erstere  zu 
etwa  Vs  Sekunde,  diese  dagegen  zu  30  mm,  so  ergiebt  sich  die  Wellen- 
länge zu  etwa  1  cm,  ein  Werth,  der  ziemlich  constant  zu  sein  scheint, 
da  erfahrungsgemäss  die  Aenderungen  in  der  Dauer  der  Contraction 
innerhalb  weiter  Grenzen  ziemlich  genau  umgekehrt  proportional  sind 
den  gleichzeitigen  Aenderungen  der  Leitungsgeschwindigkeit.  Mit 
diesem  Resultate  stimmt  nun  vollkommen  überein,  was  die  directe 
Beobachtung  lehrt ,  indem  man  am  blossgelegten  Ureter  un- 
mittelbar sehen  kann,  wie  lang  die  Contractions- 
welle ist. 

An  fettfreien,  etwas  hyperämischen  Uretern  kann  man  leicht  con- 
statiren, wie  bei  jeder  Contraction  immer  etwa  eine  Strecke  von  1  cm 
Länge  scheinbar  gleichzeitig  erblasst  und  mit  der  Zusammenschnürung 


144  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Tliätigkeit. 

wellenartig  Aveiterläuft.  Etwa  in  der  Mitte  dieser  Strecke  erscheint 
die  Erblassung  gewöhnlich  am  stärksten,  der  Ureter  zuweilen  fast 
weiss;  nach  beiden  Seiten  geht  dann  die  Farbe  allmählich  wieder  ins 
Grauröthliche  über.  Wenn  man  hieraus  auf  die  Grösse  der  Contrac- 
tion  der  einzelnen  Querschnitte  schliessen  darf,  so  würde  folgen,  dass 
Verkürzung  und  Erschlaffung  der  Muskelsubstanz  des  Ureter  gleich 
schnell  ablaufen.      (Engelmann.) 

Man  sieht  aus  dem  Vorstehenden,  dass  an  dem  in  Rede  stehenden 
Objecte  sich  mit  Leichtigkeit  eine  Reihe  von  Thatsachen,  den  Verlauf 
und  die  Leitung  des  Contractionsvorganges  betreffend ,  sozusagen  un- 
mittelbar erkennen  lassen,  zu  deren  Feststellung  beim  quergestreiften 
Muskel  die  feinsten  Hülfsmittel  angewendet  werden  müssen,  und  wir 
werden  in  der  Folge  noch  mehrfach  Gelegenheit  haben,  auf  diesen 
Vortheil  hinzuweisen.  Hier  soll  nur  noch  die  Avichtige  Frage  erörtert 
werden,  in  welcher  Weise  die  Leitung  der  Erregung  (Contraction)  in 
dem  aus  zahllosen,  durch  eine  Kittsubstanz  verbundenen  Zellindividuen 
bestehenden  Organ  zu  Stande  kommt. 

Wenn  man  sieht,  dass  mechanische  Reizung  der  Muskelhaut,  an 
welcher  Stelle  des  Ureter  sie  auch  angebracht  sein  möge ,  eine  Con- 
traction hervorruft,  die  von  dem  gereizten  Punkt  nach  beiden  Seiten 
hin  fortschreitet,  mit  einer  Schnelligkeit,  die  tausend-  und  mehr- 
mal  kleiner  ist,  als  die  Leitungsgeschwindigkeit  der  Erregung  im 
Nerven ;  wenn  wir  weiter  sehen ,  dass  das  peristaltische  und  antijaeri- 
staltische  Fortschreiten  der  Bewegung  noch  an  jedem  Stückchen  des 
Ureter  wahrgenommen  werden  kann,  nachdem  es  ausgeschnitten  worden 
ist,  dann  scheint,  wie  Engel  mann  ausführt,  nur  eine  Vorstellung 
möglich :  das  peristaltische  und  antiperistaltische  Fortschreiten  der  Be- 
Avegung  kommt  dadurch  zu  Stande,  dass  die  Erregung,  ohne 
Vermittlung  von  Ganglienzellen  oder  Nervenfasern, 
direct  von  Muskelzelle  auf  Muskelzelle  fortgepflanzt 
wird.  Mit  anderen  Worten:  in  normalem  Zustande  ist  der  Ureter 
physiologisch  eine  einzige  hohle  organische  Muskel- 
faser. Die  neueren  Untersuchungen  über  den  anatomischen  Zu- 
sammenhang glatter  Muskelzellen  scheinen  dieser  Auffassung  durchaus 
das  Wort  zu  reden,  indem  durch  dieselben  wenigstens  eine  Continuität 
des  Sarkoplasmas,  wenngleich  auch  nicht  der  Fibrillen,  wahrscheinlich 
gemacht  wird.  Es  scheint  dies  aber  auch  genügend,  wenn,  wie  kaum 
zu  bezweifeln  sein  dürfte,  jenes  als  Vermittler  der  Erregung  der  Fi- 
brillen fungiren  kann.  Im  Uebrigen  bedarf  es  nicht  einmal  derartiger 
„Plasmabrücken",  denn  nichts  steht,  wie  Engelmann  richtig  bemerkt, 
im  Wege,  denContact  der  nackten,  hüllenlosen  Faserzellen  während 
des  Lebens  so  innig  anzunehmen,  dass  er  einer  physiologischen  Con- 
tinuität gleichkommt.  Damit  ist  aber  gesagt,  dass  eine  molekulare 
Wirkung  sich  von  dem  Platze  ihres  Entstehens  aus  in  jeder  Rich- 
tung durch  den  Ureter  fortpflanzen  kann.  In  ganz  gleicher  Weise  würde 
natürlich  auch  der  Leitungsvorgang  innerhalb  der  oben  besprochenen 
quergestreiften  Muskelzellennetze  aufzufassen  sein.  Es  würde  sich 
demnach  bei  den  erwähnten,  aus  glatten  oder  quergestreiften  einkerni- 
gen Muskelzellen  zusammengesetzten  Theilen  um  Zellverbände  handeln, 
deren  einzelne  Individuen  in  ähnlicher  Weise  functionell  coordinirt  sind, 
wie  dies  auch  schon  von  anderen  reizbaren  Zellaggrcgaten  des  Thier- 
und  Pflanzenkörpers  bekannt  ist.  In  der  That  wird  man  fast  unwill- 
kürlich an  die  coordinirte  Thätigkeit  von  Flimmerzellen  erinnert,  die 


Die  Formänderung   des  Muskels  bei  der  Tliätigkeit.  145 

nachweisbar  in  leitender  Verbindung  mit  einander  stehen,  ^bschon  die 
einzelnen  Elemente  in  last  noch  höherem  Grade  als  die  glatten  Muskel - 
Zellen  als  anatomisch  gesonderte  Individuen  erscheinen.  Wenigstens 
sind  Piasraabrücken  in  diesem  Falle  nicht  nachgewiesen,  deren  Existenz 
bei  manchen  glatten  Muskeln,  sowie  bei  reizbaren  Pflanzengeweben 
zweifellos  sicher  steht.  Begreiflicher  Weise  wird  aber  in  allen  solchen 
Fällen  von  „Zellenleitung"  die  Fortpflanzung  der  Erregung  viel  leichter 
Störungen  unterworfen  sein  und  in  viel  höherem  Grade  von  äusseren 
und  inneren  Bedingungen  abhängen,  als  innerhalb  eines  und  desselben 
Zellkörpers.  Darauf  dürfte  es  daher  wohl  auch  wesentlich  zurück- 
zuführen sein,  dass  gerade  die  peristaltische  Bewegung  glattmuskeliger 
Organe  erfahrungsgemäss  ausserordentlich  leicht  und  durch  die 
verschiedensten  Eingriff"e  gestört  und  beeinträchtigt  wird.  Dies  gilt 
insbesondere  auch  bezüglich  der  Darmbewegung,  die  Engel- 
mann in  gleicher  Weise  aufzufassen  geneigt  ist,  wie  die  Peristaltik 
des  Ureter  (29).  Sieht  man  von  den  so  reich  entwickelten  Nerven- 
und  Gangliengeflechten  der  Darmwand  und  der  viel  mächtigeren  Ent- 
wicklung der  Muskelschichten  ab,  so  zeigt  ja  auch  der  Bau  beider 
Organe  eine  so  weitgehende  Uebereinstimmung ,  dass  von  vorn- 
herein gewiss  die  Vermuthung  gerechtfertigt  erscheint,  dass  auch  die 
Erregungsleitung  und  die  darauf  beruhende  Peristaltik  in  beiden  Fällen 
auf  demselben  Princip  beruhen.  In  dieser  Beziehung  würde  vor  Allem 
der  Nachweis  von  Wichtigkeit  sein,  dass  eine  an  irgend  einer  Stelle 
in  der  Continuität  des  Darmes  ausgelöste  Contractionswelle  sich  unter 
günstigen  Umständen  ebenso  wie  im  Ureterschlauch  nach  beiden  Seiten 
von  der  Reizstelle,  also  peristaltisch  und  antiperistaltisch,  fortzupflanzen 
vermag.  Es  ist  dies  aber  freilich  nicht  immer  und  vor  Allem  nicht 
bei  allen  Thieren  der  Fall.  So  wird  man  kaum  jemals  selbst  unter 
den  günstigsten  Erregbarkeitsverhältnissen  (im  Sommer  bei  hoher  Tem- 
peratur) am  F  r  0  s  c  h  darm  bei  örtlicher  Reizung  etwas  Anderes  er- 
zielen, als  eine  locale  oder  nur  wenige  Millimeter  fortschreitende  Ein- 
schnürung. Viel  eher  gelingt  dies  an  dem  lebhafter  beweglichen  Warm- 
blüterdarm, insbesondere  dem  der  Katze  oder  des  Hundes,  wo  man 
noch  ausserdem  den  Vortheil  hat,  dass  nach  dem  Oefl*nen  des  Abdomen 
die  Därme  in  der  Regel  in  Ruhe  verharren,  was  beim  Kaninchen 
nicht  in  dem  Maasse  der  Fall  ist.  Aber  selbst  hier  lassen  sich  die 
gewünschten  Beobachtungen  nicht  im  Entferntesten  mit  gleicher  Sicher- 
heit anstellen,  wie  etwa  am  Ureter.  Es  scheint  vielmehr  ein  bestimmter 
Zustand  der  Erregbarkeit  des  Darmes  ein  wesentliches  Erforderniss 
für  das  Gelingen  der  Versuche  zu  sein.  Dies  wird  nach  Engelmann 
am  sichersten  erreicht,  wenn  man  die  Thiere  durch  Verblutung  aus 
den  grossen  Halsgefässen  tödtet.  Oeff'net  man  bald  nach  dem  letzten 
Athemzug  den  Bauch ,  so  findet  man  die  Därme  entweder  bereits  in 
dem  gewünschten  Zustand  oder  sie  gerathen  doch  nach  einiger  Zeit 
hinein.  Reizt  man  dann  die  Muskelhaut  einer  Dünndarmschlinge  an 
irgend  einer  Stelle  mechanisch  (durch  Kneipen  mit  der  Pincette),  so 
entsteht  nach  Engel  mann  sofort  eine  kräftige  Contraction  der 
Ringfaserschicht,  welche  von  der  gereizten  Stelle  aus  in  peristal- 
tischer  und  antiperistaltischer  Richtung  mit  einer  geringen 
Geschwindigkeit  (von  etwa  40  mm  pro  Sekunde)  über  den  ganzen 
Dünndarm  abläuft.  Dasselbe  Resultat  erzielte  Engelmann  auch 
bei    Reizung    des   Dickdarmes.     Während    bei    den    ersten    Reizungen 

Biedermaun,  Elektrophysiologie.  10 


146  I^iß  Formänderimg  des  Muskels  bei  der  Tliätigkeit. 

die  Contraction  im  ganzen  Verlauf  stark  bleibt,  zeigt  sich  später 
eine  mit  der  Entfernung  vom  Ausgangspunkt  zunehmende  Schwä- 
chung und  Verlangsamung  der  Welle,  bis  schliesslich  nur  noch 
locale  Einschnürungen  erhalten  werden. 

Es  würde  demnach  also  durchaus  Uebereinstimmung  mit  dem 
Verhalten  des  Ureter  bestehen.  Da  Engelmann  analoge  Beobach- 
tungen auch  am  Magen  und  Darm  von  Ratten,  Mäusen,  Tauben  (hier 
besonders  schön),  am  Oesophagus,  Magen  und  Darm  vom  Frosch,  an 
Uterus  und  Vagina  trächtig  gewesener  Kaninchen  mittheilt,  so  scheint 
der  Schluss  gestattet,  dass  in  allen  Fällen,  wo  peristaltische  Bewegung 
hervorgerufen  werden  kann,  auch  antiperistaltische  Contractionen 
wenigstens  möglich  sind.  Es  muss  aber  freilich  auf  der  anderen 
Seite  zugegeben  werden,  dass  die  Erregungsleitung  innerhalb  der  Darm- 
muscularis  gerade  unter  Umständen  ausbleibt,  wo  man  sie  vielleicht 
am  sichersten  erwarten  würde.  Dies  gilt  vor  Allem  in  Fällen,  wo  die 
Bauchhöhle  unter  erwärmter  NaCl-Lösung  geöffnet  wird ,  wobei  der 
Darm  in  der  Regel  vollkommen  ruhig  bleibt.  Reizt  man  unter  diesen 
annähernd  normalen  Verhältnissen  irgend  eine  Stelle  durch 
leichtes  Quetschen  oder  durch  Fadenumschnürung  mechanisch,  so  tritt, 
wie  van  Braam-Honckgeest  (30)  angiebt  und  Nothnagel  (31) 
bestätigt,  immer  nur  eine  auf  den  Ort  der  Reizung  beschränkte 
locale,  ringförmige  Einschnürung  auf,  nie  eine  von  der  Reizstelle  aus- 
gehende peristaltische  oder  antiperistaltische  Welle.  Da  man  nicht 
wohl  annehmen  kann ,  dass  hier  das  Leitungsvermögen  geringer  ist, 
als  nach  dem  Verbluten  des  Thieres,  so  bleibt,  wenn  man  sich  auf 
Engel  mann's  Standpunkt  stellt,  kaum  eine  andere  Annahme  übrig, 
als  dass  die  Fortleitung  der  Erregung  durch  eine  Art  von  Hemmung, 
die  vielleicht  von  den  Gangliengeflechten  ausgeht,  verhindert  wurde. 
In  der  That  lässt  sich  ja  auch  die  Mitwirkung  nervöser  Einflüsse, 
sei  es  hemmender,  sei  es  bewegender  Natur,  bei  der  Peristaltik  der 
Därme  nicht  leugnen.  Die  Frage  dreht  sich  nur  darum,  ob  die  nor- 
male Bewegung,  d.  i.  das  Fortschreiten  einer  Contractionswelle  in  der 
einen  oder  anderen  Richtung,  auf  jedem  Punkte  der  durch- 
laufenen Strecke  durch  Vermittlung  nervöser  Erregungen  zu 
Stande  kommt.  Dass  solche  bei  der  meist  heerdweise  erfolgenden  Aus- 
lösung von  Contractionen  eine  ganz  wesentliche  Rolle  spielen  dürf- 
ten, kann  ja  wohl  kaum  in  Abrede  gestellt  werden.  Gegen  die  erstere 
Annahme  könnte  nun,  wie  schon  Engelmann  für  den  Ureter  hervor- 
hebt, vor  Allem  die  Langsamkeit  des  Fortschreitens  geltend  gemacht 
werden,  das  mit  dem  Auge  stets  bequem  zu  verfolgen  ist.  Andererseits 
bietet  sie  aber  ebenso  wenig  wie  die  Engelmann '  sehe  Ansicht  eine 
Erklärung  für  das  Beschränktbleiben  des  Reizerfolges  am  ganz  nor- 
malen Darm  oder  für  das  plötzliche  Erlöschen  einer  Contractionswelle, 
wie  dies  z.  B.  Nothnagel  (1.  c.  p.  14)  mehrfach  beobachtete.  Viel- 
leicht wird  man  den  gegebenen  Verhältnissen  am  meisten  gerecht, 
wenn  man  annimmt,  dass  zwar  die  Fortleitung  einer  peristal- 
tische n  W  e  1 1  e  unter  a  1 1  e  n  U  m  s  t  ä  n  d  e  n  a  u  f  M  u  s  k  e  1 1  e  i  t  u  n  g 
beruht,  dass  aber  die  Auslösung  der  Erregung,  wie  auch  Hemmungen, 
welche  an  jeder  beliebigen  Stelle  wirksam  werden  können,  durch 
die  nervösen  Einrichtungen  der  Darmwand  vermittelt  werden.  Mit 
dieser  Auffassung  Avürden  sich  eventuell  auch  die  von  Nothnagel 
beobachteten    auffallenden    Erfolge    der    chemischen   Reizung    des 


Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit.  147 

Darmes  mit  Kali-  und  Na-Salzen  vereinen  lassen.  Leider  ist  es 
nicht  möglich,  die  fragliche  Hypothese  durch  functionelle  Ausschaltung 
der  Ganglienplexus  mittels  specilisch  wirkender  Gifte  zu  prüfen;  doch 
würde  immerhin  die  Wirkung  geringer  Dosen  von  Aether  oder  Chloro- 
form zu  untersuchen  sein,  da  man  ja  wohl  annehmen  könnte,  dass  die 
Ganglienplexus  ihre  Erregbarkeit  früher  einbüssen,  als  die  Muskel- 
elemente selbst.  Vielleicht  beruht  auch  die  Möglichkeit  der  Auslösung 
peristaltischer  und  antiperistaltischer  Wellen  in  einem  gewissen  Stadium 
nach  dem  Verblutungstode  auf  einem  früheren  Absterben  der  Darm- 
ganglien. 

Fassen  wir  das  Gesagte  zusammen,  so  ergiebt  sich,  dass  die  Leitung 
der  Erregung  in  glattmuskeligen  Theilen  nur  ausnahmsweise  leicht  und 
sicher  von  Statten  geht,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  aber  überhaupt 
ausbleibt.  Die  Bildung  einer  „idiomusculären",  wulstför- 
migen,  nur  langsam  wieder  verschwindenden  Contrac- 
tion  am  Orte  des  Reizes  ist  hier  bei  localer  Erregung 
die  Regel. 


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22.  Engelmann,  |pg..^^^^^^.^,^     56.     1894. 

10* 


X48  Die  Formänderung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit. 

23.  A.  Fick,    Sitzungsber.   der  pliys.-med.   Ges.    zu   Würzburg.     1874.     Sitzung    vom 

13.  Juni. 

24.  Biedermann,  Beiträge  zur  allgem.  Muskel-  und  Nervenphysiologie.    XXII.    p.  101. 

(Wiener  academ.  Sitzungsber.     Bd.  97.     Abth.  3.     1888—89.) 

25.  Engelmann,  Pflügers  Arch.     IV.     p.  44. 

26.  Du  Bois  Reymond,  Arch,  für  Physiologie.     1890. 

27.  Romanes,    Philosoph.    Transact.     1866,    1867,    1876  und  1877.    (Abhandlungen 

über  Medusen.) 

28.  Th.  W.  Engelmann,  Pflügers  Arch.     n.     1869.     p.  243. 
29. Pflügers  Arch.     IV.     p.  33. 

30.  Van  Braam-Honokgeest,  Pflügers  Arch.     VI. 

31.  Nothnagel,  Beiträge  zur  Physiol.  und  Pathol.  des  Darmes.     1884.     p.  15. 


C.    Die  elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


Unter  allen  zu  Gebote  stehenden  künstlichen  Reizmitteln  irritabler 
Substanzen  nimmt  zweifelsohne  der  elektrische  Strom  die  erste  Stelle 
ein.  Das  gilt  nicht  nur  in  Bezug  auf  die  leichte  Anwendbarkeit  und 
die  Möglichkeit,  die  Intensität  messbar  aufs  Feinste  abzustufen,  sondern 
vor  Allem  auch  hinsichtlich  der  Eigenart  der  Wirkungsweise, 

So  oft  auch  bei  den  vorstehend  besprochenen  Untersuchungen  an 
Muskeln  der  elektrische  Strom  als  Reizmittel  Verwendung  fand,  so 
handelte  es  sich  doch  fast  ausschliesslich  um  einzelne  oder  rasch  auf 
einander  folgende  Inductionsströme,  weil  es  zunächst  nur  darauf  ankam, 
einen  momentanen,  in  seiner  Stärke  leicht  variablen  Reiz  zu  be- 
sitzen, der  die  reizbaren  Theile  möglichst  wenig  schädigt.  Auf  der 
anderen  Seite  bietet  aber  gerade  die  genauere  Untersuchung  der  durch 
Kettenströme  bedingten  Erregungserscheinungen  an  Muskeln  grosses 
Interesse  vmd  ist  für  die  Auffassung  der  Wirkungsweise  des  elektrischen 
Stromes  überhaupt  von  grösster  Bedeutung. 

In  Bezug  auf  die  Versuchstechnik  erscheint  es  erforderlich, 
einige  methodische  Bemerkungen  vorauszuschicken.  Alle  älteren  Reiz- 
versuche an  thierischen  Theilen,  bei  welchen  der  elektrische  Strom  als 
Erregungsmittel  diente,  sind  derart  angestellt  worden,  dass  man  die 
reizbaren  Theile  über  passend  geformte,  metallische,  in  der  Regel  aus 
Platin  bestehende  Elektroden  brückte  und  vermittels  derselben  den 
Strom  zuführte.  Dieses  Verfahren  hat  jedoch  in  Folge  der  sich  stets 
einmischenden  Polarisationsströme  grosse  Nachtheile,  so  dass  es  unter 
allen  Umständen  geboten  erscheint,  unpolarisirbare  Elektroden  zu  be- 
nutzen, wo  immer  auch  Kettenströme  zur  Verwendung  gelangen.  Ganz 
besonders  wird  dies  unabweisbare  Nothwendigkeit,  wenn  stärkere  Ströme 
länger  geschlossen  bleiben.  Seit  Du  Bois-Reymond  die  Technik 
der  Elektrophysiologie  durch  die  Einführung  der  unpolarisirbaren  Com- 
bination  amalgamirtes  Zink  und  Zinkvitriol,  zunächst  zum  Zwecke  der 
Ableitung  thierisch-elektrischer  Ströme,  bereichert  hat,  fanden  der- 
artige Elektroden  die  ausgedehnteste  Anwendung  bei  Reizversuchen, 
und  man  hat  denselben,  je  nach  Bedarf,  sehr  verschiedene  Formen 
gegeben.  Wenn  es  darauf  ankommt,  einem  quergestreiften  Muskel 
einen  Strom  zuzuführen,  dann  bleibt  vor  Allem  zu  berücksichtigen, 
dass  durch  Verschiebung  des  sich  contrahirenden  Muskels  unter  den 
berührenden  Elektroden   leicht  Fehler    entstehen,    die    nur  vermieden 


150 


Elektrische  Reizung-  der  Muskelu. 


werden  können,  wenn  jene,  mit  dem  Muskel,  beziehungsweise  den  zur 
Insertion  dienenden  Knochen  fest  verbunden,  allen  Bewegungen  zu 
folgen  vermögen.  Für  den  M.  sartorius  des  Frosches,  der  sich 
seines  regelmässig  -  parallelfaserigen  Baues  wegen  vor  Allem  zu  der- 
artigen Versuchen  eignet  und  leicht  völlig  unversehrt  im  natürlichen 
Zusammenhang  mit  dem  Becken-  und  Unterschenkelknochen  präparirt 
Averden  kann,  hat  zuerst  Hering  unpolarisirbare  bewegliche  Elek- 
troden construirt,  die  den  verschiedensten  Zwecken  dienen  können  (1). 
„Eine  5,5  cm  lange  Glasröhre  (Fig.  71)  ist  an  ihrem  oberen  Theile 
mit  einer  geschlitzten  Messinghülse  versehen,  die  oben  zwei  diameti-al 
gegenüberliegende  Spitzen  trägt,  welche  in  den  Löchern  eines  Axen- 
lagers  ruhen,  so  dass  sich  die  vertical  herabhängende  Röhre  um  diese 
Spitzen  sehr  leicht  drehen    und   gleichsam  pendeln  kann.     Das  Axen- 


Fig.  71.     Apparat  zur  Untersuchung  der  polaren  ^Yirkungen  des  elektrischen  Stromes 

im  Muskel  (Doppelmyograph).  —  Eine  unpolarisirbare  bewegliche  Muskelelektrode  für 

sich  gezeichnet.     (Nach  Hering.) 


lager  ist  an  einem  Messingringe  (m)  befestigt,  welcher  auf  einem  hori- 
zontalen Stabe  (q)  von  Bein  oder  Hartgummi  verstellbar  ist.  Ueber 
das  untere  Ende  der  Glasröhre  ist  ein  kurzer  Cylinder  (Ji)  von  Hart- 
gummi geschoben,  dessen  Lichtung  die  Fortsetzung  der  Röhrenlichtung 
bildet  und  welcher  ausserdem  in  querer  Richtung  so  durchbohrt  ist, 
dass  ein  dünner  Knochen,  wie  die  Tibia  oder  das  Os  ilei  des  Frosches 
durch  das  Bohrloch  hindurchgesteckt  und  mittels  einer  Schraube  be- 
festigt werden  kann.  Ein  kleiner  amalgamirter  Zinkstab  wird  von 
oben  in  die  Röhre  gebracht  und  durch  einen  an  seinem  oberen  Ende 
angelötheten  Messingbügel  (b)  getragen,  der  sich  an  der  Messinghülse 
der  Röhre  fixiren  lässt.  Dieser  Bügel  läuft  andererseits  in  einen 
kurzen,  nach  unten  abgebogenen  Kupferdraht  aus,  der  in  einen  dem 
Axenlager  angelötheten  und  mit  Quecksilber  gefüllten  Stahlnapf  (s) 
taucht.  Beim  Hin-  und  Herpendeln  der  Röhre  bleibt  der  Contact  des 
Drahtendes  mit  dem  Quecksilber  erhalten.  Am  unteren  Ende  des 
Stahlnapfes   befindet   sich   ein    Bohrloch   mit   Klemmschraube   zur  Be- 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


151 


festigung  eines  Leitungsdrahtes.  Beim  Gebrauch  wird  der  Hartgummi- 
ansatz und  das  unterste  Stück  der  Glasröhre  mit  Kochsalzthon ,  die 
übrige  Röhre  mit  Zinkvitriollösung  gefüllt  und  sodann  der  Zinkstab 
eingeschoben.  Nachdem  der  Knochen  durch  das  Bohrloch  des  Hart- 
gummiansatzes und  den  Tlion  durchgestossen  ist,  wird  er  mit  der 
Schraube  fixirt.  In  derselben  Weise  wird  der  Knochen  am  anderen 
Ende  des  Muskels  in  einer  ganz  gleichen  Elektrode  befestigt,  so  dass 
nunmehr  der  Muskel  horizontal  zwischen  beiden  Elektroden  ausgespannt 
ist.  Am  unteren  Ende  jeder  Elektrode  ist  ferner  ein  Faden  befestigt, 
welcher  die  Verbindung  mit  einem  Muskelzeiger  oder  Muskelschreiber 
herstellt.  Es  kann  beliebig  die  eine  oder  die  andere  Elektrode  fixirt 
werden,  so  dass  nur  noch  die  andere  der  Verkürzung  des  Muskels 
folgt." 

Nehmen  wir  an,  es  sei  die  den  Beckenknochen  tragende  Elektrode 
fixirt,  so  lässt  sich  die  Bewegung  resp.  Gestaltveränderung  des  ganzen 


Fig.  72.     1 — 8    Zuckungscurven    bei    Reizung    des  Muskels    mit   einzelnen    Inductions- 
schlägen;  9 — 19  Zuckungscurven  (Schliessungszuekungen)  bei  Reizung  mit  dem  Ketten- 
strome (tetanischer  Charakter).     (Nach  Tigerstedt.) 

Muskels  leicht  beobachten  und  eventuell  graphisch  darstellen,  wenn  die 
andere  frei  bewegliche  Elektrode  durch  einen  horizontal  verlaufenden 
Faden,  welcher  über  zwei  Rollen  (R  und  r  Fig.  71)  geschlungen  ist 
und  am  Ende  ein  Gewichtsschälchen  trägt,  mit  einem  langen  Zeiger  .? 
verbunden  wird,  der  an  der  Axe  der  einen,  grösseren  Rolle  be- 
festigt ist.  Da  der  Schreibstift  Kreisbogen  beschreibt,  so  wird 
dadurch  die  Zuckungscurve  auf  der  berussten,  bewegten  Schreib- 
fläche mehr  oder  weniger  verzerrt,  ein  Fehler,  der  jedoch  für  die 
hier  zunächst  in  Betracht  kommenden  Erscheinungen  von  geringem 
Belang  ist.  Wenn  man  nun  unter  den  eben  erörterten  Bedingungen 
die  Wirkung  verschieden  starker  Kettenströme  auf  den  durch 
Curare  entnervten  Sartorius  untersucht,  so  lässt  sich  leicht  fest- 
stellen, dass,  möglichst  günstige  Erregbarkeitsbedingungen  des  Muskels 
vorausgesetzt,  die  dauernde  Schliessung  eines  schwachen  Stromes  immer 
nur  eine  einmalige,  rasch  ablaufende  „Zuckung"  auslöst,  deren  Höhe 
Anfangs  gering,  bei  weiterer  Verstärkung  der  Stromes-Intensität  rasch 
ihrem  maximalen  Werthe    zustrebt.      Von    einer   gewissen  Grenze  der 


152 


Elektrische  Reizung  dei"  Muskeln. 


Stromstärke  ab  bleibt  die  Höhe  der  Schliessungszuckungen  constant; 
dagegen  treten  andere  Vex'änderungen  der  gezeichneten  Curven  hervor, 
die  im  Folgenden  noch  näher  zu  besprechen  sein  werden.  Bei  Ver- 
gleichung  maximaler  durch  einzelne  Inductionsschläge  ausgelöster 
Zuckungen  und  maximaler  durch  den  Kettenstrom  bedingter 
„Schliessungszuckungen"  fällt  unter  sonst  gleichen  Bedingungen  be- 
sonders die  viel  beträchtlichere  Höhe,  sowie  der  abge- 
stumpfte rundliche  Gipfel  der  letzteren  auf.  Dies  macht  sich 
schon  bei  langsamer,  noch  deutlicher  aber  bei  rascher  Bewegung  der 
Schreibfläche  bemerkbar.  Nach  Tigerstedt  (2)  zeigt  der  Verlauf 
jeder  Schliessungszuckung  „tetanischen"  Charakter,  indem  die  ent- 
sprechenden Curven  viel  gestreckter  verlaufen,  als  bei  Zuckungen, 
welche  durch  inducirte  Ströme  ausgelöst  werden  (Fig.  72).  Dass  es 
sich  dabei  aber  nicht  nothwendig  um  einen  wirklichen  „Tetanus",  d.  h. 
um  eine  durch  Summation  entstandene  Contraction,  zu  handeln  braucht, 
bedarf  kaum  besonderer  Erwähnung.  Lassen  schon  diese  Thatsachen 
allein  darauf  schliessen,  dass  ausser  der  Stromes  in  ten  s  ität  auch  die 
Dauer  der  Durchströmung  von  Einfluss  auf  die  Stärke  der  Erregung 
(bezw.  Contraction)  ist,  so  geht  dies  doch  noch  viel  deutlicher  aus 
entsprechenden  Versuchen  an  träge  reagirenden  Muskeln  hervor,  indem 
die  Grösse  des  Erfolges  in  ihrer  Abhängigkeit  von  der 
Dauer  der  Reizwirkung  geradezu  im  umgekehrten  Ver- 
hältnis s  zur  Beweglichkeit  der  Theilchen  einer  irri- 
tablen Substanz  zu  stehen  scheint.  So  ist  die  ausserordent- 
lich geringe  und  oft  ganz  fehlende  Eeiz- 
wirkung  einzelner  Inductionsschläge  auf 
viele  Protisten  und  pflanzliches  Plasma 
allbekannt,  und  ebenso  findet  man  die- 
selben kurzdauernden  Reize,  wenn  über- 
haupt, erst  bei  hoher  Intensität  auf  glatte 
Muskeln  wirkend,  während  sie  rasch 
zuckende  quergestreifte  Fasern  im  All- 
gemeinen leicht  und  sicher  erregen.  In 
einer  überaus  anschaulichen  Weise  kann 
man  dies  an  jedem  erschlafften  (möglichst 
tonusfreien)  Präparate  des  Schliessmuskels 
vonAnodonta  sehen  (3).  Es  lässt  sich, 
wie  schon  oben  erwähnt  wurde,  aus  dem- 
selben leicht  ein  Präparat  gewinnen,  wel- 
ches in  ganz  ähnlicher  Weise  der  elektri- 
schen Reizung  zugänglich  ist,  wie  der 
Sartorius  des  Frosches.  (Fig.  73.)  Man 
kann  dann,  nachdem  die  eine  Schalen- 
unpolarisirbare  Pinselelektroden  beiderseits 
möglichst  nahe  der  Insertionsstelle  des  im  Allgemeinen  parallelfaserigen 
Muskelbandes  anlegen,  wobei,  um  eine  Verschiebung  der  der  anderen, 
beweglichen  Schalenhälfte  entsprechenden  Elektrode  auszuschliessen, 
die  Zuleitung  des  Stromes  an  dieser  Stelle  am  besten  durch  eine  kurze 
Fadenschlinge  erfolgt. 

einen    hinreichend    starken    Strom    durch 

so    beobachtet    man    Gestaltveränderungen, 

der     mehr     oder     weniger     allen     glatten 

Trägheit    der    Reaction,    im    Allgemeinen 


Fig.  73.    Schema  der  elektrischen 

Reizung      des     Muschelschliess- 

muskels. 

hälfte    dauernd    fixirt  ist, 


Schickt    man    hierauf 
den    erschlafften    Muskel , 
welche ,      abgesehen      von 
]\[uskeln    eieenthümlichen 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


153 


mit  jenen  übereinstimmen,  welche  quergestreifte  Muskeln  unter 
analogen  Verhältnissen  darbieten.  Was  zunächst  Form  und  Ver- 
lauf der  Contraction  bei  Schliessung  des  Stromes  betrifft,  so  ent- 
spricht die  etwa  gezeichnete  Curve  natürlich  kaum  jemals  dem  Vor- 
gange, den  man  mit  Rücksicht  auf  den  zeitlichen  Verlauf  der  Zusammen- 
ziehung beim  quergestreiften  Muskel  als  ,,Schliessungs- Zuckung"  zu 
bezeichnen  pflegt.  Abgesehen  von  der  Langsamkeit,  mit  der  sich 
der  ganze  Vorgang  abspielt,  tritt  auch  der  Unterschied  in 
der  Dauer  der  V  e  r  k  ü  r  z  u  n  g  s  -  und  E  r  s  c  h  1  a  f  f  u  n  g  s  -  P  h  a  s  e 
(Stadium    der   steigenden    und   sinkenden  Energie)  beim 


Fig.  74.  Schliessungscon- 
traction  des  Schliessmuskels 
von  Anodonta  (Reizung  mit 
dem  Kettenstrom);  bei  s 
Schliessung,  bei  o  Oefihung. 

Fig.  75.  Einfluss  der 
Schliessungsdauer    auf   die 

Contractionsgrösse  des 
Schliessmuskels  von  Ano- 
donta (Reizung  mit  dem 
Kettenstrom) ;  bei  a  Schlies- 
sungsdauer =  V*  Sek.,  bei 
b  =  1  Sek.,  bei  c  =4  Sek., 

0  Oeffeungscontraction. 
(B  i  e  d  e  r  m  a  n  n.) 


ljüJiAl^±J^jdjLJUUJiJU^-UJLLL±±lAAJ 


Fig.  74. 


Fig.  75. 

glatten  Muschelmuskel  ungleich  schärfer  hervor,  wo- 
durch die  Contractionscurve  ein  eigenthümliches  und  charakteristisches 
Gepräge  erhält.  Es  sind  in  dieser  Beziehung  zwei  Fälle  zu  unter- 
scheiden, je  nachdem  der  Reizstrom  geöffnet  Avird,  bevor  oder  sobald 
der  Muskel  das  Maximum  der  Verkürzung  erreicht  hat,  oder  längere  Zeit 
hindurch  geschlossen  bleibt.  Ersteren  Falls  erhält  man ,  Avenigstens 
unter  gewissen  Umständen,  wie  insbesondere  bei  Benutzung  erwärm- 
ter und  daher  rascher  reagirender  Präparate,  Curven,  die  man  nach 
Form  und  Verlauf  als  gedehnte  Zuckungscurven  zu  bezeichnen  ge- 
neigt sein  könnte,  da  hier  nicht  nur  die  Verkürzung  rasch  zu  beträcht- 
licher Höhe  ansteigt,  sondern  auch  die  Wiederverlängerung  nur  eine 
verhältnissmässig   kurze   Zeit   für    sich   in  Anspruch    nimmt    (Fig.  74). 


254  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

Anderen  Falls  erhält  man  aber  bei  längerem  Geschlossen- 
bleiben des  Stromkreises  Curven^  welche  sich  zwar  im  Moment 
der  Schliessung  rasch  erheben,  ohnejedoch  wieder  abzusinken, 
entsprechend  einer  gleichbleibenden  dauernden  Verkürzung 
des  Muskels.  Es  kann  derselbe  unter  diesen  Umständen  selbst  bei 
minutenlanger  Schliessungsdauer  fast  ebenso  lange  im  Zustande  maxi- 
maler Verkürzung  verharren,  und  zwar  ebensowohl  bei  Reizung  mit 
schwachen  wie  mit  starken  Strömen.  Am  allerdeutlichsten  lässt  sich 
aber  an  dem  in  Rede  stehenden  Präparat  die  Abhängigkeit  der  Con- 
tractionsgrösse  von  der  Schliessungsdauer  erkennen,  wenn  man  den 
Stromkreis  öffnet,  ehe  noch  das  Maximum  der  Verkürzung 
erreicht  ist,  Kettenströme,  die  bei  einer  Schliessungsdauer  von 
3 — 4  Sekunden  eine  maximale  Contraction  des  Muskels  bedingen, 
bewirken  oft  nur  eine  sehr  geringfügige  Verkürzung,  wenn  die 
Schliessungsdauer  nur  etwa  ^/4  Sekunde  beträgt.  Innerhalb  dieser 
Grenzen  fällt  dann  bei  unveränderter  Stromstärke  die 
Schliessung.« contraction  um  so  grösser  aus,  je  länger  der 
Strom  dauert  (Fig.  75).  Hiermit  steht  nun  in  voller  Ueber- 
einstimmung,     dass    einzelne    Inductionsströme    selbst     die 


r 

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uuuJuuuuJu^ 

a_ljLuul..uL^ 

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.JuLuULJLijl 

Fio-.  76.     Contractionscurven  des  Scliliessmuskels  von  Anodonta   bei  Reizung   mit  ein- 
zelnen Schliessungs-  und  Oeffnungsinduetionsströmen  (s  und  o)  von  zunehmender  Stärke 
(a  bei  grösstem  Rollenbestand). 

allerempfindlichsten  Präparate  erst  bei  einer  sehr 
hohen  Intensität  zu  erregen  vermögen,  soweit  dies  wenig- 
stens aus  den  sichtbaren  Gestaltveränderungen  sich  erschliessen  lässt 
(Fig.  76).  Frische  oder  ältere,  aber  noch  in  ziemlich  hohem  Grade 
tonisch  contrahirte  Muskeln  erweisen  sich  inducirten  Strömen  gegen- 
über überhaupt  als  gänzlich  unempfindlich. 

Auch  bei  periodisch  wiederholter  tetanisir  ender 
Reizung  lässt  sich  die  Ueberlegenheit  eines  länger  fliessenden  Stromes 
gegenüber  kurz  dauernden  „Stromstössen"  stets  constatiren.  Schon 
Fick  giebt  an,  dass  rasches  Schliessen  und  Oeffnen  eines  an  sich 
hinreichend  starken  Kettenstromes  mit  der  Hand  den  glatten  Muschel- 
muskel häufig  unerregt  lässt ;  dabei  ist  die  Dauer  des  einzelnen  Strom- 
stosses  noch  immer  sehr  beträchtlich;  wird  dieselbe  noch  mehr  herab- 
gesetzt, so  bedarf  es  immer  stärkerer  Ströme,  um  überhaupt  erregend 
zu  wirken.  Dies  macht  sich  in  besonders  auffallender  Weise  bei 
Reizung  mit  rasch  auf  einander  folgenden  inducirten  Wechselströmen 
bemerkbar,  und  Fick  gedenkt  bereits  der  Thatsache,  „dass  in  dem- 
selben Stromkreis,  der  die  zweite  Spirale  eines  gewöhnlichen  Schlitten- 
apparates schliesst,  ein  Froschmuskel  in  heftigstem  Tetanus  begriffen 
sein  kann,  während  der  Muschelmuskel  keine  Spur  von  Erregung 
zeigt",  und  dass  dies  auch  dann  noch  der  Fall  war,  wenn  die  Ströme 


Elektrische  Reizung  der  Muskeli 


155 


genügend  kräftig  waren,    um    die  Muskeln  der  Hand  des  Experimen- 
tators in  Tetanus  zu  versetzen  (4). 

An  diese  Erfahrungen  am  glatten  Muschelschliessmuskel  schliessen 
sich  naturgemäss  die  Beobachtungen  von  E  n  g  e  1  m  a  n  n  am  Ureter  an  (5). 
Auch  hier  lässt  sich  leicht  zeigen,  dass  die  Schliessungscontraction 
nur  dann  zu  Stande  kommt,  wenn  die  Stromesdauer  eine  gewisse 
Grenze  überschreitet,  die  um  so  tiefer  liegt,  je  stärker  der  Strom  ist. 
Die  beistehende  Tabelle  nach  Engelmann  lässt  dies  sehr  deutlich 
erkennen : 


Stromstärke   in 
Eheochordwiderstand. 


Minimum  der  zur 

Contraction  erforderlichen 

Schliessunffsdauer. 


4000     cm 

500  „ 

50  „ 

25  „ 

15  „ 

12  „ 

11  „ 
10,5    „ 


< 


Viertelsekunde 


Hiermit  steht  in  Uebereinstimmung,  dass  es  „gewaltiger  Strom- 
stärken" bedarf,  um  durch  einzelne  Inductionsströme  am  Ureter  eine 
Contraction  hervorzurufen.  Engel  mann  gelangte  erst  dann  zum 
Ziele,  als  er  metallische  Elektroden  (Zinkdrähte)  nahm,  die  intrapolare 
Strecke  kurz  machte  und  die  primäre  Spirale  des  Du  Bois' sehen 
Schlittenapparates  mit  2 — 4  Grove'schen  Elementen  in  Verbindung 
setzte. 

Es  bot  sich  schon  wiederholt  Gelegenheit,  zu  constatiren,  dass  Er- 
scheinungen ,  deren  Feststellung  am  quergestreiften  Muskel  die  com- 
plicirtesten  Versuchsmethoden  und  die  feinsten  Hülfsmittel  erfordert, 
an  glattmuskeligen  Theilen  ohne  Weiteres  beobachtet  werden  können. 
Dies  gilt  besonders  auch  hinsichtlich  des  Einflusses  der  Stromesdauer 
auf  die  Erregung.  Oben  wurde  schon  erwähnt,  dass  der  immer  sehr 
beträchtliche  Unterschied  der  maximalen  Zuckungshöhe  bei  Reizung 
mit  inducirten  und  Kettenströmen  an  sich  schon  darauf  hinweist,  dass 
letzteren  Falls  die  Dane  r  der  Durchströmung  wesentlich  mit  in  Betracht 
kommt.  Den  genaueren  Nachweis  für  Kettenströme  gleicher  Intensität 
und  verschiedener  Dauer  hat  jedoch  für  den  quergestreiften  Frosch- 
muskel zuerst  Fick  geliefert.  Es  ist  dies  hier  viel  schwieriger,  als 
bei  glatten  Muskelelementen,  da,  wie  von  vornherein  zu  erwarten  war, 
die  Zeiträume,  während  welcher  der  Strom  fliessen  muss,  um  wirk- 
same Erregung  auszulösen,  im  ersteren  Falle  viel  kürzer  sind.  In  der 
That  zeigt  sich  denn  auch  bei  Versuchen,  wo  die  Schliessung  des 
Sti'omes  mittels  eines  der  üblichen  „Schlüssel"  bewerkstelligt  wird, 
niemals  ein  merklicher  Einfluss  der  Schliessungsdauer  auf  die  Höhe 
(Grösse)  der  Schliessungszuckung,  und  es  ist  dies  auch  ohne  Weiteres 
verständlich:  Wenn  erst  einmal  der  Strom  so  lange  dauert,  dass  der 
Muskel   das  Maximum    der  Contraction    erreichen   kann,    so   wird    ein 


256  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

ferneres  Dauern  des  Kettenstromes  für  die  Schliessungszuckung  ohne 
Belang  sein.  Dies  dürfte  aber  voraussichtlich  immer  der  Fall  sein, 
wenn  durch  eine  willkürliche,  Avenn  auch  noch  so  rasche,  Hand- 
bewegung der  Kreis  geschlossen  und  geöffnet  wird. 

Unter  gewissen  Umständen  kann  allerdings  auch  der  quergestreifte 
Stammesmuskel  Eigenschaften  annehmen,  die  es  ermöglichen,  die  relative 
Unwirksamkeit  sehr  kurzdauernder  Reize  ohne  alle  feineren  Hülfsmittel 
nachzuweisen.  Brücke  fand  die  Empfindlichkeit  quergestreifter 
Muskeln  gegen  kurzdauernde  Ströme  bei  Curarevergiftung  ver- 
mindert. Den  Aerzten  ist  es  ferner  seit  lange  bekannt,  dass  an  patho- 
logisch gelähmten  quergestreiften  Muskeln  eine  gewisse  Unwirksamkeit 
der  kurzdauernden,  inducirten  Ströme  bei  völliger  Wirksamkeit  der 
Schwankungen  von  Kettenströmen  hervortritt,  und  diese  Thatsache 
wurde  der  Ausgangspunkt  einer  grossen  Reihe  von  Untersuchungen  (6). 
So  fand  Erb  (1.  c.)  bei  rheumatischer  (Facialparalyse)  oder  durch 
Nervendurchschneidung  bewirkter  Lähmung,  Neumann  im  Er- 
müdungs-  und  Absterbezustand  die  Empfindlichkeit  der  Muskeln 
gegen  kurzdauernde  Ströme  sehr  vermindert  oder  gänzlich  auf- 
gehoben bei  völlig  erhaltener,  ja  sogar  gesteigerter  Erregbarkeit  für 
den  Kettenstrom. 

Mit  diesen  Veränderungen  geht  die  allmähliche  Entwick- 
lung eines  viel  trägeren  Zuckungs Verlaufes  Hand  in  Hand, 
so  dass  sich  auch  hier  wieder  der  oben  angeführte  Satz  als  geltend 
erweist,  dass  langsamer  reagirende  contractile  Substanzen  einer  längeren 
Reizdauer  bedürfen,  als  rasch  reagirende.  In  sozusagen  extremer 
Weise  entwickelt  erscheint  dieses  Verhalten  bei  sehr  vielen  glatten 
Muskeln,  so  dass  man  wohl  berechtigt  ist,  zu  sagen,  dass  der  quer- 
gestreifte Muskel  beim  Absterben  und  insbesondere  bei  beginnender 
Degeneration  sich  in  seinen  physiologischen  Eigenschaften  jenen  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  nähert.  In  einer  überaus  auffallenden  Weise 
machten  sich  die  erwähnten  Unterschiede  in  einer  bisher  nicht  publicirten 
Versuchsreihe  geltend,  welche  L.  Krehl  im  hiesigen  Institut  an 
Fröschen  durchführte ,  denen  der  eine  Ischiadicus  am  Oberschenkel 
durchschnitten  worden  war.  Nach  etwa  ^U  Jahren  ergab  die  Ver- 
gleichung  der  beiden  Gastrocnemii  höchst  auffallende  Verschieden- 
heiten bei  Reizung  mit  tetanisirenden  oder  einzelnen  Inductionsströmen, 
sowie  andererseits  mit  dem  Kettenstrom.  Ersteren  Falls  mussten  die 
Rollen  einander  fast  bis  zur  Berührung  genähert  werden,  ehe  am  ge- 
lähmten Muskel  ein  schwacher  Erfolg  eintrat,  andernfalls  zeigte  sich 
eine  ausserordentlich  starke  Dauerverkürzung  Avährend  der  Schliessungs- 
zeit. Der  Muskel  der  gesunden  Seite  reagirte  dagegen  in  ganz  nor- 
maler Weise. 

Dass  nichtsdestOAveniger  auch  hier  die  Schliessungserregung  eine 
Function  der  Stromesdauer  ist,  zeigte  durch  einwandfreie  Ver- 
suche zuerst  A.  Fick  (7).  Um  der  Dauer  eines  einzelnen  „Strom- 
stosses"  jeden  beliebigen  Werth  geben  zu  können,  bediente  sich 
Fick  federnder  Contacte,  wobei  eine  Metallspitze  sehr  schnell  über 
eine  metallische  Platte  von  wechselnder  Breite  hinübergeführt 
wurde  (Spiral -Rheotom).  Es  ergab  sich  dabei,  dass  auch  bei 
Reizung  eines  normalen  quergestreiften  Frosch- 
muskels  die  Grösse  (Höhe)  der  bei  Schliessung  eines 
K  e  1 1  e  n  s  t  r  o  m  e  s  auftretenden  Zuckung  nicht  nur  von 
der     Stromstärke,      sondern     auch      von     der     Zeit     ab- 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  157 

hängt,  während  welcher  derselbe  in  constanter  Dichte 
den  Muskel  durchflies  st.  Der  Grenzwerth,  unter  welchen  die 
Schliessungsdauer  nicht  sinken  darf,  wenn  die  Zuckungshöhe  maximal 
bleiben  soll,  würde  nach  Fick  etwa  0,001  Sekunde  entsprechen. 
Wenn  dieser  Werth  auch  nur  als  ein  angenäherter  zu  bezeichnen  ist, 
so  ergiebt  sich  aus  demselben  doch,  dass  der  Unterschied  zwischen 
der  zur  Auslösung  einer  wirksamen  Schliessungserregung  nöthigen 
Schliessungsdauer  bei  glatten  Muskeln  und  dem  quergestreiften  Frosch- 
muskel ein  ganz  enormer  ist.  Wir  werden  später  sehen,  dass  ein 
ähnlicher  gradweiser  Unterschied  auch  wieder  zwischen  dem  quer- 
gestreiften Muskel  und  markhaltigen  Nerven  besteht,  indem  zur  Er- 
regung der  letzteren  wieder  eine  noch  viel  kürzere  Schliessungsdauer 
genügt. 

Resumiren  wir  schliesslich  das  Resultat  der  vorstehend  mit- 
getheilten  Erfahrungen ,  so  lässt  sich  sagen ,  dass  ein  Strom 
von  gegebener  Stärke  unter  allen  Umständen  eine 
merkliche  Zeit  fliessen  muss,  um  den  Muskel  aus  dem 
Zustand  der  Ruhe  in  den  der  betreffenden  Stromes- 
intensität entsprechenden,  maximalen  Erregungs- 
zustand überzuführen.  Wirkt  die  Reizursache,  d.  i. 
der  Strom,  zu  kurze  Zeit  ein,  so  erfolgt  nur  eine 
schwache  Contraction,  weil  sich  der  neue  Zustand 
nicht  in  vollem  Maasse  entwickeln  kann;  bei  noch 
kürzerer  Schliessungsdauer  bleibt  aber  jede  Wirkung 
gänzlich  aus,  weil  dann  der  Reiz  nicht  einmal  so  lange 
einwirkt,  um  überhaupt  nur  in  merklichem  Grade  die 
der  Contraction  zu  Grunde  liegenden  Veränderungen 
der  Muskelsubstanz  herbeizuführen.  Die  erforderliche 
Zeit  schwankt  bei  verschieden  rasch  reagirenden  Mus- 
keln innerhalb  sehr  weiter  Grenzen,  ist  aber  ganz  all- 
gemein um  so  grösser,  je  träger  der  C  ontractions  Ver- 
la u  f  ist. 

Ist  damit  eigentlich  schon  bewiesen,  dass  der  Strom  nicht  nur  im 
Momente  seines  Entstehens ,  sondern  auch  während  der  Dauer 
seines  Fliessen s  den  Vorgang  der  Erregung  auslöst,  so  geht  dies 
doch  noch  überzeugender  aus  einer  genaueren  Untersuchung  der 
Formänderungen  eines  Muskels  während  des  dauernden  Ge- 
sell lossenseins  eines  Stromes  hervor.  Für  den  glatten  Muschel- 
muskel wurde  schon  oben  darauf  hingewiesen,  dass  derselbe  unter 
diesen  Umständen  minutenlang  in  gleichbleibender,  dauernder  Ver- 
kürzung verharrt.  Die  Grösse  dieser  „Schliessungsdauer con- 
traction" wächst  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  mit  der  Stärke  des 
reizenden  Stromes,  doch  ist  die  Erscheinung  an  sich  bei  allen  über- 
haupt wirksamen  Intensitätsgraden  deutlich  ausgeprägt,  ja  man  kann 
sagen ,  dass  die  Schliessungsdauer  contraction  überhaupt 
die  einzige  der  dauernden  Schliessung  entsprechende 
Contractionsform  des  glatten  Muschelmuskels  darstellt. 
Vergleicht  man  hiermit  das  Verhalten  des  quergestreiften  Mus- 
kels unter  denselben  Bedingungen,  so  ergeben  sich  bemerkenswerthe 
Unterschiede.  Es  wurde  schon  erwähnt,  dass  hier  unterhalb  einer  ge- 
wissen Grenze  der  Stromstärke  die  Schliessung  immer  nur  eine  ein- 
malige „Zuckung"  auslöst,  wobei  sich  der  Muskel  rasch  verkürzt  und 
fast  ebenso  rasch  wieder  verläi 


J58  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

dauernd  geschlossen  bleibt.  Ist  in  einem  gegebenen  Fall  die 
Schliessungszuckung  erst  maximal  geworden,  so  bedingt  eine  weitere 
Steigerung  der  Stromesintensität  zwar  keine  weitere  Zunahme  der 
Zuckungshöhe,  wohl  aber  Veränderungen  in  der  Form  der  Contractions- 
curve,  welche  der  Ausdruck  einer  während  der  ganzen  Dauer  der 
Durchströmung  anhaltenden  Zusammenziehung  des  Muskels  sind. 
Wundt  (8)  hat  zuerst  beobachtet,  dass  der  Muskel  nach  Ablauf  der 
Schliessungszuckung  nicht  sofort  seine  natürliche  Länge  wieder  erreicht, 
sondern  dass  ein  grösserer  oder  geringerer  Grad  von  Verkürzung  zurück- 
bleibt, die  sich  erst  im  Momente  der  Oeffnung  des  Stromkreises  rasch 
und  plötzlich  ausgleicht,  falls  nicht  diese  letztere  an  sich  den  Muskel 
erregt  und  eine  abermalige,  stärkere  Contraction  (Oeffnungszuckung) 
bewirkt.  Die  Grösse  der  Schliessungsdauercontraction  wächst  auch 
hier  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  mit  der  Stärke  des  reizenden 
Stromes;  sie  ist,  Avenigstens  unter  den  gegebenen  Bedingungen  (bei 
Verzeichnung  der  Gestaltveränderungen  mittels  des  Hering'schen 
Doppelmyographen) ,  bei  schwachen  Strömen  unmerklich ,  tritt  aber 
weiterhin  stets  deutlich  als  ein  besonderer  Curvenabschnitt  hervor, 
indem  der  absteigende  Schenkel  der  Curve  nicht  bis  zur  Abscissenlinie 
reicht,    sondern   mehr    oder   weniger  hoch    über  derselben  verläuft,  so 


Fig.  77.      Sartorius    in    der    Mitte    fixirt    (Doi^pelmyograph).      Aufeinanderfolgende 

Schliessungsreize  bei  gleichbleibender  Stärke   und  Richtung  des  Stromes.     Einfluss 

der  (localen)  Ermüdung  an  der  Kathode. 

lange  der  Strom  geschlossen  bleibt  (Fig.  77,  K).  Bei  Anwendung  sehr 
starker  Ströme  erscheint  dann  die  Schliessungszuckung  eventuell  nur 
als  ein  Haken  angedeutet,  indem  der  Muskel  nach  Erreichung  des 
Maximums  der  Verkürzung  nur  wenig  erschlafft  und  sich  so  dem 
normalen  Verhalten  des  glatten  Muschelmuskels  nähert.  Es  scheint, 
dass  dies  früher  und  in  höherem  Grade  bei  Präparaten  eintritt,  welche 
schon  ermüdet  und  weniger  leistungsfähig  geworden  sind.  Ueberhaupt 
ist  die  Schliessungsdauercontraction  sozusagen  viel  widerstandsfähiger 
als  die  Schliessungszuckung,  wie  sich  unter  Anderem  auch 
daraus  ergiebt,  dass,  wenn  ein  Muskel  durch  wiederholte  Schliessungen 
bei  unveränderter  Stromesrichtung  ermüdet  wird,  die  Anfangszuckung 
ziemlich  rasch  an  Grösse  abnimmt  und  alsbald  ganz  ausbleibt,  während 
die  Dauercontraction  nur  äusserst  langsam  bei  fortschreitender  Er- 
müdung des  Muskels  an  Grösse  abnimmt.  Die  Anfangszuckung  ist 
längst  verschwunden,  wenn  noch  immer  jede  neue  Schliessung  den 
Muskel  zu  dauernder  Verkürzung  in  fast  gleichem  Grade  anregt,  wie 
zu  Anfang  des  Versuches  (Fig.  77,  K)'^  erst  sehr  spät  bleibt  auch 
diese  Stromeswirkung  aus.  In  jedem  solchen  Falle  verhält 
sich  dann  der  quergestreifte  Muskel  ganz  so  wie  von 
Anfang    an    der   glatte  Muschelmuskel:    Es  erfolgt  über- 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  159 

h  a  u  p  t  keine  S  c  h  H  e  s  s  u  n  g  s  z  ii  c  k  u  n  g ,  sondern  nur  eine 
mehr  oder  minder  beträchtliche  Dauercon  tracti  on.  Es 
zeigt  sich  also  auch  in  dieser  Beziehung  wieder  eine  Uebereinstimmung 
des  ermüdeten  quergestreiften  mit  dem  normalen  glatten  Muskel.  Im 
Verein  mit  den  früher  mitgetheiltcn  Thatsaehen  beweist  die  Schliessungs- 
dauercontraction  unwiderleglich,  dass  der  elektrischeStrom  den 
Vorgang  der  Erregung  ebensowohl  beim  quergestreif- 
ten wie  beim  glatten  Muskel  Wcährend  der  ganzen  Dauer 
seines  Fliessens  auslöst. 

Viel  augenfälliger  noch  als  bei  der  Schliessungserregung  macht 
sich  der  Einfluss  der  Stromesdauer  hinsichtlich  der  Oeffnungs- 
erregung  geltend,  so  dass  hier  der  Einfluss  der  Stromes  intens!  tat 
gegenüber  dem  der  Stromesdauer  sehr  in  den  Hintergrund  tritt.  Ist 
die  Stromesintensität  gering  und  die  Schliessungsdauer  kurz,  so  erfolgt 
niemals  eine  Oeffnungserregung ;  Ströme,  deren  Schliessung  der  Curare- 
muskel  mit  maximalen  Zuckungen  und  starker  Dauercontraction  be- 
antwortet, bewirken  oft  bei  der  Oeffnung  noch  keine  Spur  von  sicht- 
barer Erregung,  und  im  günstigsten  Falle  tritt  dann  nach  langer 
Schliessungsdauer  eine  schwache  Oeffnungszuckung  auf.     Obschon  nun 

'iiiiwrimr 

Fig.  78.     Eeihe  von  Zuckungscurven  des  in  der  Mitte  fixirten,   im  Doppelmyographen 

befestigten  Sartorius.     K  =  Kathoden-,    A  =  Anodenhälfte.     Die  Zahlen  entsprechen 

dem  jedesmaligen  Reochordwiderstand.     Einfluss  der  wachsenden  Stromstärke. 

andererseits  starke  Ströme  schon  nach  kurz  dauernder  Schliessung  deut- 
liche Oeffnungserregung  bewirken,  ist  es  dennoch  keineswegs  die  Stro- 
mesintensität, welche  in  erster  Reihe  den  Erfolg  des  Oeffnungsreizes 
beeinflusst,  sondern  wesentlich  die  Dauer  der  Durchströmung. 
Dieselben  Veränderungen,  welche  an  der  Curve  der 
Schliessungscontraction  bei  wachsender  Stromesinten- 
sität zu  beobachten  sind,  treten  auch  an  der  Curve  der 
Oeffnungscon  tracti  on  hervor,  wenn  die  Dauer  der  vor- 
hergehenden Durchströmung  gesteigert  wird  (24). 

Die  einfachste  Art  der  Formänderung,  mit  welcher  ein  querge- 
streifter Muskel  den  Oeffnungsreiz  beantwortet,  ist  wieder  die  Oeffnungs- 
zuckung;  die  Verkürzung  erfolgt  dann  rasch  im  Momente  der  Oeff- 
nung des  Stromkreises,  und  fast  ebenso  rasch  erreicht  der  Muskel 
wieder  seine  ihm  in  der  Ruhelage  zukommende  Länge,  so  dass  ganz 
analoge  Curven  entstehen,  wie  bei  der  Schliessung  schwächerer  Ströme. 
In  dieser  einfachen  Weise  verläuft  aber  die  Oeffnungszuckung  nur 
dann,  wenn  der  Muskel  sehr  erregbar,  der  Strom  nicht  zu  stark  ist,  und 
die  Schliessungsdauer  nicht  zu  lange  ausgedehnt  wird.  Starke  Ströme 
liefern  fast  regelmässig  mehr  oder  weniger  gedehnte  (tetanische) 
Oeffnungszuckungen,  die  dann  stets  der  vorher  bestehenden  Schliessungs- 


IQQ  Elektrische  Eeizuug  der  Muskeln. 

dauercontraction  aufgesetzt  erscheinen,  indem  der  aufsteigende  Schen- 
kel der  Zuckungscurve  sich  von  der  Linie  der  Dauercontraction  als 
Abscisse  erhebt,  während  der  absteigende  zur  ursprünglichen  Abscissen- 
linie  abfällt  (Fig.  78). 

Lässt  man  einen  starken  Strom  so  lange  geschlossen,  bis  jede 
Spur  der  Dauerverkürzung  verschwunden  ist,  so  erreicht  der  Muskel 
nach  Ablauf  der  O  effnungs  zuckung  nicht  sofort  seine  natürliche 
Länge,  sondern  bleibt  dauernd  verkürzt  (O  effnungs  d  au  e  r- 
contr  actio  n)-  die  Schliessung  des  gleichgerichteten 
Stromes  bewirkt  in  diesem  Falle  keine  Verkürzung, 
sondern  eine  Verlängerung  des  Muskels;  man  kann  sich 
leicht  überzeugen,  dass  nicht  nur  die  Höhe  der  Oeffnungsz  uckung, 
sondern  auch  die  Grösse  der  Oeffnungsdauercontracti  on  bis 
zu  einer  gewissen  Grenze  mit  der  Dauer  der  vorhergehenden  Durch- 
strömung wächst.  Bei  gesunkener  Erregbarkeit  des  Mus- 
kels bleibt,  wie  bei  der  Schliessung  so  auch  bei  der 
Oeffnung,  die  Zuckung  ganz  aus,  und  nur  die  Dauer- 
contraction markirt  den  Erfolg  der  Reizung.  Der  Muskel 
verkürzt  sich  dann  bei  der  Oeffnung,  bleibt  längere  Zeit  nach  Unter- 
brechung des  Stromes  verkürzt,  verlängert  sich  aber  rasch  und  sofort 
bei  Schliessung  des  gleichgerichteten  Stromes.  Man  sieht,  dass,  sofern 
es  sich  um  den  quergestreiften  Muskel  handelt,  ebensowohl  bei  der 
Oeffnungserregung  wie  bei  der  Schliessungserregung  drei  Haupt- 
formen der  Verkürzung  unterschieden  werden  können:  1)  die 
einfache  Zuckung,  2)  Zuckung  mit  sich  unmittelbar  an- 
schliessender dauernder  Verkü  r  z  ung  und  endlich  3)  Dauer- 
contraction ohne  vorhergehende  Zuckung.  Von  diesen 
entspricht  1)  dem  schwächsten  Grade  der  Erregung,  3)  ist  eine  Er- 
müdungserscheinung. Wundt  hat  bei  seinen  Versuchen  über  die 
Oeffnungserregung  offenbar  nur  die  dritte  Form  beobachtet;  er  sagt 
nämlich  (8,  p.  142):  „Lässt  man  die  Kette  noch  längere  Zeit  geschlossen, 
so  erfolgt  nun  bei  der  Oeffnung  derselben  eine  Verkürzung;  diese 
geschieht  viel  langsamer  als  die  Verkürzung  bei  einer  Zuckung;  sie 
bleibt  einige  Zeit  auf  ihrem  Höhepunkte,  und  erst  allmählich  tritt 
wieder  eine  geringe  Verlängerung  ein."  Es  muss  dem  gegenüber  be- 
tont werden,  dass  auch  nach  stundenlanger  Durchströmung,  wenn  nur 
für  möglichste  Erhaltung  der  Erregbarkeit  und  des  Leitungsvermögens 
gesorgt  ist,  eine  ausgesprochene  Zuckung  bei  Oeffnung  des  Stromes 
erfolgt. 

Da  die  trägen  glatten  Muskeln  überhaupt  nicht  zucken,  so  er- 
scheint es  fast  selbstverständlich,  dass  wie  bei  Schliessung  so  auch  bei 
Oeffnung  eines  Kettenstromes  der  Charakter  der  Gestaltveränderung 
stets  nur  dem  einer  mehr  oder  weniger  starken  Dauercontraction 
entspricht.  Stellt  man  Versuche  an  dem  tonusfreien,  möglichst  er- 
schlafften Schliessmuskel  von  Anodontaan,  so  bedarf  es  ziemlich 
starker  Ströme  und  längerer  Schliessungsdauer,  um  eine  deutliche 
Oeffnungscontraction  auszulösen,  deren  Curve  dann  in  Folge  der  lang- 
samen Erschlaffung  des  gereizten  Muskels  der  Curve  der  Schliessungs- 
contraction  in  der  Nähe  der  Gipfels  aufgesetzt  erscheint  (Fig.  75  o).  Auch 
am  Ureter  des  Kaninchens  stellte  Engelmann  fest,  dass,  wenn  eine 
Oeffnungscontraction  stattfinden  soll,  die  Schliessungsdauer  eine  gewisse 
zeitliche  Grenze  übersteigen  muss.  Diese  wird  von  starken  Strömen 
früher  als  von  schwachen    erreicht   und    desto    früher,  je   grösser   die 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


161 


Erregbarkeit.  „Bei  grosser  Stromstärke  und  hoher  Reizbarkeit  kann 
schon  nach  einer  Schliessungsdauer  von  weniger  als  ^i  Sek.  OefF- 
nungscontraction  eintreten,  bei  Strömen  von  geringer  Intensität  und 
bei  herabgesetzter  Erregbarkeit  bedarf  es  dazu  nicht  selten  einer 
Schliessungsdauer  von  30—60  Sekunden,"  Im  Uebrigen  nimmt  bei 
einem  gegebenen  Strom  auf  einer  bestimmten  Stufe  der  Erregbarkeit 
dieGesammtdauer  derOeffnungscontraction  mit  wachsender  Schliessungs- 
dauer bis  zu  einer  gewissen  Grenze  zu.  Es  stellt  sich  somit  heraus, 
dass  sowohl  bei  Schliessung  wie  bei  Oeffnung  eines 
Ketten  Strom  es  eine  dauernde  Erregung  nicht  nur  glatter, 
sondern  auch  quergestreifter  Muskeln  herbeigeführt 
wird,  deren  Grösse  im  ersten  Falle  hauptsächlich  von 
der  Strom  es  intensität,  im  andern  Falle  auch  in  hohem 
Grade  von  der  Dauer  der  Durch  Strömung  abhängig  er- 
scheint. 

Sehr  eigenthümlich  gestaltet   sich    in  Bezug  auf  das  Hervortreten 
der   Oeffnungserregung    das    Verhalten    des    noch    in    einem    gewissen 


Fig.  79.     Contractionscurven    des    Schliessmuskels    von    Anodonta   bei  Reizung   mit 

dem    Kettenstrom;    a  unmittelbar   nach   der  Präparation  (starker  Tonus),    b  4  Stunden 

später,  nach  Erschlaffung  des  Muskels;    s  Schliessung;  o  Oeffnung  des  Stromes. 

Grade  tonisch  verkürzten  glatten  Muschelmuskels.  Es  wurde  schon 
erwähnt,  dass  in  jedem  solchen  Falle  die  Schliessung  eines  Ketten- 
stromes, wenn  überhaupt,  nur  eine  sehr  schwache  Erregung  bewirkt. 
Da  nun  der  Oeffnungsreiz  sowohl  am  quergestreiften,  wie  am  tonus- 
freien, glatten  Muskel  stets  viel  schwächer  wirkt,  als  unter  sonst 
gleichen  Verhältnissen  der  Schliessungsreiz,  so  erscheint  es  sehr  auf- 
fallend, dass  der  erste  sichtbare  Reizerfolg  bei  einem  möglichst  frischen, 
stark  „tonischen"  Präparat  des  Muschelmuskels  ausnahmslos  nur  bei 
Oeffnung  des  Stromkreises  eintritt,  während  die  Schliessung  ent- 
weder gänzlich  wirkungslos  bleibt  oder  doch  nur  eine  im  Vergleich 
zur  Oeffnungscontraction  minimale  Verkürzung  bewirkt  (Fig.  79  a). 
Auch  wenn  man  die  Intensität  eines  eben  wirksamen  Stromes  in  der 
Folge  sehr  bedeutend  steigert,  beobachtet  man  keine  wesentliche 
Aenderung  in  dem  Verhalten  des  Muskels,  es  sei  denn,  dass  die 
Oeffnungscontraction  dann  schon  nach  ganz  kurzer  Schliessungsdauer 
kräftig  hervortritt.  Handelt  es  sich  um  überhaupt  wirksame  Strom- 
stärken, so  genügt  in  der  Regel  eine  Zeit  von  1 — 2  Sekunden,  um 
eine   merkliche   Verkürzung    des    Muskels    zu    erzielen;    doch    wächst 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  11 


162  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

innerhalb  gewisser  Grenzen  der  Erfolg,  wenn  bei  unveränderter  Stromes- 
richtung und  -Stärke  die  Schliessungszeit  verlängert  wird.  Bemerkens- 
werth  ist  noch,  dass  bei  mehrmals  wiederholter  Reizung  desselben 
Präparates  die  Grösse  der  Oeffnungscontraction  sehr  rasch  abnimmt ; 
es  scheint  dies  in  Zusammenhang  zu  stehen  mit  dem  ausserordentlich 
langsamen  Abklingen  aller  Erregungserscheinungen  und  so  auch  der 
Oeffnungsdauercontraction,  indem  es  minutenlang  währt,  ehe  bei  immer 
gleichbleibender  Belastung  der  verkürzte  Muskel  seine  ursprüngliche 
Länge  wieder  erreicht  hat.  Es  ist  unter  diesen  Umständen  leicht  er- 
sichtlich, dass  von  einer  Vergleichung  der  Erfolge  bei  wiederholter 
Reizung  eines  und  desselben  Muskels  unter  rasch  wechselnden  Ver- 
suchsbedingungen (wie  beispielsweise  bei  verschiedener  Schliessungs- 
dauer und  Intensität  des  Stromes)  nur  sehr  bedingungsweise  die  Rede 
sein  kann,  indem  bei  der  ungemeinen  Langsamkeit  der  Wieder- 
erschlaffung eigentlich  nur  der  erste  Versuch  Berücksichtigung  ver- 
dient. Man  darf  wohl  annehmen,  dass  auch  andere  glatte  Muskeln  mit 
entwickeltem  „Tonus"  Kettenströmen  gegenüber  ein  ähnliches  Verhalten 
zeigen  werden ,  wie  das  in  Rede  stehende  Präparat.  Morgen  (9) 
stellte  Versuche  an  einem  ringförmigen  Stück  des  Froschmagens  an, 
welches  entweder  noch  im  Zusammenhang  mit  der  Mucosa  oder  nach 
Abpräpariren  der  letzteren  zwischen  zwei  Metallhaken  in  einer  feuchten 
Kammer  aufgehängt  wurde,  so  dass  die  Gestaltveränderungen  des  ent- 
sprechend belasteten  Muskelringes  graphisch  verzeichnet  werden 
konnten.  Es  stellte  sich  bei  Reizung  mit  dem  Kettenstrome  ein  be- 
merkenswerther  Unterschied  heraus,  je  nachdem  die  Schleimhaut  erhalten 
oder  entfernt  war.  Ersteren  Falls  traten  deutliche  Contractionen  sowohl 
beim  Schliessen  wie  Oeffnen  des  Kreises  ein;  je  mehr  aber  die  Erreg- 
barkeit des  in  einem  gewissen  Tonus  verharrenden  Präparates  sank, 
desto  mehr  kam  die  Oeffnungserregung  ins  Uebergewicht,  deren  Grösse 
übrigens  auch  hier  wieder  innerhalb  gewisser  Grenzen  mit  der 
Schliessungsdauer  wächst.  Nach  einer  sehr  langen  (meist  mehrere 
Sekunden  betragenden)  Latenzzeit  steigt  die  Contraction  langsam  an, 
so  dass  sie  meist  erst  nach  ^/2  Minute  ihr  Maximum  erreicht  hatte. 
Dann  beginnt  sofort  die  Erschlaffung,  die  sich  ebenso  langsam  oder 
noch  träger  vollzieht.  Nach  Abtrennung  der  Schleimhaut 
sah  Morgen  die  Schliessungscontraction  in  der  Regel 
ganz  ausbleiben,  und  nur  bei  der  Oeffnung  des  Kreises 
erfolgte  eine  starke  Verkürzung.  Ein  analoges  Verhalten  zeigt 
sich  an  dem  gleichen  Präparat  auch  nach  Vergiftung  des  Thieres  mit 
Morphium.  Dass  etwa  im  gegebenen  Falle  das  Zustandekommen  der 
Schliessungscontraction  an  nervöse  Elemente  (Ganglienzellen?)  geknüpft 
ist,  erscheint  höchst  unwahrscheinlich.  Im  Wesentlichen  dürfte  es  sich 
nur  um  eine  Folge  der  durch  die  Präparation  verstärkten  tonischen 
Contraction  der  Muskelhaut  handeln.  Bernstein,  unter  dessen 
Leitung  die  Arbeit  Morgen' s  ausgeführt  wurde,  macht  hierbei  auch 
auf  den  Umstand  aufmerksam,  dass  Präparate,  welche  sich  spontan  oft 
und  stark  contrahiren,  auch  besonders  starke  Schliessungscontractionen 
geben,  während  dies  bei  schlecht  erregbaren  oder  narkotisirten  Präpa- 
raten nicht  der  Fall  ist. 

Es  wurde  an  anderer  Stelle  bereits  erwähnt,  dass  mehrfach  in 
nicht  zu  kurzen  Pausen  wiederholte,  an  sich  unwirksame  elektrische 
Reize  sich  bei  glatten  Muskeln  leicht  zu  einer  wirksamen  Erregung 
Summiren,  und  Engel  mann  (1.  c.  p.  282)  hat  diese  Thatsache  so- 


Elektrische  Keizung  der  Muskeln. 


163 


wohl  füi'  Schliessungs-  wie  Oeffniingsreize  am  Kaninchenureter  fest- 
gestellt. Das  letztere  gelingt  unter  Umständen  auch  am  glatten 
Muschelschliessmuskel  (Fig.  80).  Bei  Anwendung  stärkerer  Ströme 
sieht  man  dann,  insbesondere  an  nicht  vollständig  erschlafften  Präpa- 
raten, nach  Beendigung  einer  längere  Zeit  hindurch  fortgesetzten 
rhythmischen  Reizung  eine  neuerliche  weitere  Verkürzung  erfolgen, 
über  deren  Natur  als  Oeffnungscontraction  kein  Zweifel  bestehen  kann 
und  deren  Entstehung  durch  S  um raation  an  sich  unwirksamer 
O e ff nungs reize  zu  erklären  ist,  wie  dies  für  das  gleiche  Object 
auch  schon  von  Fick  (4,  p.  44  und  p.  50)  nachgewiesen  wurde.  Ich 
stehe  nicht  an,  in  dieser  Erscheinung  ebenso  ein  Analogon  jener 
„Endzuckung"  zu  erblicken,  welche,  wie  früher  erwähnt  wurde, 
am  Schluss  einer  tetanisirenden  Reizung  quergestreifter  Muskeln  mit 
sehr    frequenten    inducirten    Strömen    bisweilen    hervortritt,    wie    die 


Fig.  80.     Oeffnungscontraction  (o)    des  Muschelschliessmuskels  (Anodonta)   nach    rhyth- 
mischer Reizung    mit    einem    starken    Kettenstrom  (10  Dan.).     Während    der   Reizung 
unvollkommener  Tetanus.     Die  Zeitmarken  entsprechen  Sekunden. 

„Anfangszuckung"  unter  gleichen  Umständen  als  Analogon  der 
Schliessungszuckung  bei  Reizung  mit  dem  Kettenstrome  aufzufassen 
sein  dürfte. 

Als  ein  wesentliches  unterscheidendes  Merkmal  zwischen  den  durch 
einzelne  Inductionsschläge  und  Schliessung  bezw.  Oeffnung  von  Ketten- 
strömen ausgelösten  „Zuckungen"  quergestreifter  Muskeln  wurde  oben 
schon  der  gestrecktere  Verlauf  („tetanische  Charakter")  der  letzteren 
besonders  hervorgehoben.  Der  ganze  Verkürzungsvorgang 
in  allen  seinen  einzelnen  Phasen  (besonders  aber  im 
Stadium  der  absteigenden  Energie)  dauert  entsprechend 
der  grösseren  Dauer  des  Schliessungs-  oder  Oeffnungs- 
reizes  länger.  Es  ist  nun  eine  Frage  von  erheblichem  theoretischen 
Interesse,  wie  sich  das  Stadium  der  latenten  Reizung  in  beiden  Fällen 
verhält.  Sehr  eingehende  Untersuchungen  hierüber  verdanken  wir 
Tigerstedt  (2),  nachdem  bereits  v,  Bezold  (10)  festgestellt  hatte, 
dass  bei  nicht  übermässig  starken  Strömen  die  Schliessungszuckung 
eine  kürzere  Latenzdauer  hat,  als  eine  Schliessungsinductionszuckung. 
Der  Unterschied  beträgt  (beim  nicht  curarisirten  Gastrocnemius)  durch- 
schnittlich nach  Tigerstedt  0,003".  Ich  selbst  habe  die  gleiche 
Thatsache    bei    später    noch    näher    zu    besprechenden  Versuchen    am 

11* 


IQ^  Elektrische  Keizung  der  Muskeln. 

curarisirten  Öartorius  ausnahmslos  beobachtet.  Wie  schon  v.  Bezold 
fand ,  ist  die  Grösse  des  Latenzstadiums  bei  Reizung  mit 
Ketten  strömen  sehr  wesentlich  von  der  Stärke  der- 
selben abhängig-,  und  zwar  um  so  beträchtlicher,  je  schwächer  die 
zur  Reizung  verwendeten  Kettenströme  sind.  Wird  die  Intensität  der 
letzteren  sehr  gesteigert,  so  kann  es  schliesslich  zu  einer  völligen  Aus- 
gleichung des  anfänglich  sehr  beträchtlichen  Unterschiedes  kommen. 
Noch  länger  als  bei  den  S c h  1  i e s s u n g s z u c k  u n g e n  ist  in 
der  Regel  das  Laten  zstadi  u  m  der  Oeffnungserr  egung, 
so  dass  bei  schwächeren  Kettenströmen  der  Unterschied  gegenüber  den 
Inductionszuckungen  noch  viel  ausi:eprägter  hervortritt,  als  bei  diesen 
und  Schliessungszuckungen.  Durch  Steigerung  der  Stromesintensität 
und  der  Schliessungsdauer  lässt  sich  derselbe  aber  auch  in  diesem  Falle 
fast  ganz  ausgleichen.  Fragt  man  nun  nach  der  Ursache  der  kürzeren 
Latenzdauer  von  Schliessungs-  und  Oeffnungs-Inductionszuckungen,  so 
liegt,  wie  es  scheint,  eine  Antwort  sehr  nahe,  wenn  man  sich  erinnert, 
dass  zur  Auslösung  einer  „Zuckung"  eine  gewisse  Steilheit  des  An- 
steigens der  Stromesintensität  im  Muskel  erforderlich  ist.  Nach  einem 
seiner  Zeit  von  Du  Bois-Reymond  aufgestellten  Gesetze  sollte  der 
elektrische  Strom  nicht  erregend  wirken  durch  seine  absolute  Dichte, 
sondern  durch  die  Veränderung  derselben  von  einem  Augenblick  zum 
andern,  und  zwar  wäre  die  Anregung  zur  Bewegung,  die 
diesen  Veränderungen  folgt,  um  so  bedeutender,  je 
schneller  sie  bei  gleicher  Grösse  vor  sich  gehen,  oder  je 
kürzer  sie  in  der  Zeiteinheit  sind.  Wenn  man  nun  andererseits 
Grund  hat,  vorauszusetzen,  dass  in  Folge  der  geringeren  Spannung 
Kettenströme  von  mittlerer  Stärke  ihre  Dichte  im  Muskel  weniger 
steil  als  Inductionsströme  verändern,  so  würde  die  längere  Latenzdauer 
wenigstens  der  S  ch Hess un  gs Zuckungen,  wie  Tigerstedt  (1.  c. 
p.  197)  bemerkt,  von  rein  physikalischen  Facto ren  abhängen  und  eine 
selbstverständliche  Consequenz  des  erwähnten  „allgemeinen  Gesetzes" 
von  D  u  B  o  i  s  -  R  e y  m  0  n  d  sein.  Nun  wurde  aber  bereits  gezeigt,  dass 
Avenigstens  der  erste  Theil  dieses  letzteren  für  den  Muskel  keine 
Geltung  hat.  Es  wird  im  Folgenden  auch  der  zweite  Theil  des 
Gesetzes  als  nicht  allgemein  gültig  zu  erweisen  sein.  Damit  fällt 
aber  doch  nicht  die  Möglichkeit  weg,  die  erwähnten  Unterschiede  des 
Latenzstadiums  in  der  angedeuteten  Weise  zu  erklären. 

Es  handelt  sich  hier  offenbar  nur  um  den  Beginn  der  Contrac- 
tion ,  nicht  um  deren  endgültige  Grösse  und  weiteren  Verlauf.  Ob- 
schon  daher  die  erregende  Wirkung  kurzdauernder  inducirter  Ströme 
zweifellos  geringer  ist,  als  die  von  Kettenströmen,  sofern  man  die 
Grösse  und  Dauer  der  Zuckungen  berücksichtigt,  so  ist  es  doch  leicht 
denkbar,  dass  jener  Grad  der  Stromesdichte,  welcher  zur  Auslösung 
einer,  wenn  auch  kleineren,  Zuckung  erforderlich  ist,  bei  inducirten 
Strömen  rascher  erreicht  Avird,  als  beim  Kettenstrome. 

Dies  führt  unmittelbar  zur  Untersuchung  der  Frage,  wie  sich 
überhaupt  die  Abhängigkeit  der  Reiz  Wirkungen  von  dem 
zeitlichen  Verlauf  der  elektrischen  Bewegung  gestaltet. 
Werfen  wir  hier  einen  vergleichenden  Blick  auf  die  Gesammtheit 
contractiler  Substanzen,  so  ergiebt  sich  unmittelbar  die  Avichtige  That- 
sache,  dass  rasche  Dichtigkeitsschwankungen  eines  Stromes  zwar  ge- 
eignet sind,  rasch  bewegliche  Plasmaarten  (quergestreifte  Muskeln) 
wirksam  zu  erregen,  während  sie  hingegen  trägeren  Theilen  gegenüber 


Elektrische  Keizung  der  Muskeln.  165 

sich  unwirksam  erweisen.  Es  rindet  dies  seinen  klarsten  Ausdruck  in 
dem  bekannten  Umstände,  dass  normale  quergestreifte  Muskeln  bei 
Reizung-  mit  dem  Kettenstrome  ganz  vorwiegend  im  Momente  des  Ent- 
stehens und  Verschwindens  (der  Schliessung  und  Oeffnung)  zucken.  Die 
sichtbaren  Erscheinungen  der  Dauererregung  treten  um 
so  mehr  zurück,  die  erregenden  Wirkungen  de r  S t r o m e s- 
s c h Av a n k u n  g e n  dagegen  um  so  mehr  i  n  d  e n  V o r  d e  r g r u n d , 
je  rascher  beweglich  das  reizbare  Plasma  ist.  Für  diesen 
Satz  bietet  die  Summe  der  Erfahrungen  an  contractilen  Substanzen 
hinreichende  Belege.  In  sehr  charakteristischer  Weise  macht  sich  dies 
auch  dann  geltend,  wenn  man  die  Wirkung  eines  ganz  allmählich 
anschwellenden  Stromes  bei  verschiedenen  irritablen  Gebilden  unter- 
sucht. Schliesst  man  Avie  gewöhnlich  den  Kettenkreis  mit  der  Hand, 
etwa  durch  Eintauchen  eines  Drahtes  in  Quecksilber,  so  steigt  natürlich 
die  Intensität  äusserst  rasch  von  Null  bis  zur  vollen  Höhe  an,  wobei 
übrigens  die  Gestalt  der  Schwankungscurve  im  Einzelnen  unbekannt 
bleibt.  Wenn  man  nun  aber  eine  Vorrichtung  benutzt,  mittelst  deren 
die  Intensität  des  Stromes  ganz  allmählich  von  Null  ab  gesteigert 
werden  kann,  wie  etwa  beim  langsamen  und  gleichmässigen  Ver- 
schieben des  Schlittens  am  Du  Bois' sehen  Rheochord,  so  lässt  sich 
leicht  zeigen,  dass  derselbe  Strom,  dessen  plötzliche 
Schliessung  eine  maximale  Zuckung  mit  anschliessen- 
der Dane rcontr actio n  auslöst,  keine  Spur  von  Verkür- 
zung oder  günstigsten  Falles  eine  schwache  Dane  rcon- 
tr action  des  quergestreiften  Muskels  bewirkt.  Wiederholt 
man  dagegen  denselben  Versuch  an  einem  aus  glatten  Muskelzellen  be- 
stehenden Präparat,  wie  etwa  dem  Schalenschliesser  von  Anodonta, 
so  ergiebt  sich  ein  wesentlich  anderes  Resultat.  Fi  ck  erwähnt  zwar  (4), 
dass  es  ihm  gelungen  sei,  auch  diesen  Muskel  „ohne  alle  Verkürzung 
in  Ströme  von  ziemlich  beträchtlicher  Stärke  einzuschleichen",  doch 
war  hierzu  eine  ausserordentlich  langsame  Steigerung  der 
Stromstärke,  die  sich  über  mehrere  Minuten  erstreckte,  erforderlich. 
Dass  aber  unter  diesen  Umständen  keine  sichtbaren  Erregungserschei- 
nungen auftreten,  kann  wohl  kaum  überraschen,  wenn  man  berück- 
sichtigt, dass  der  Einfluss  der  immer  zunehmenden  Ermüdungsver- 
änderungen der  Muskelsubstanz  an  allen  jenen  Stellen,  avo,  wie  wir 
sehen  Averden,  der  Strom  während  seiner  Dauer  den  Vorgang  der  Er- 
regung auslöst,  sich  in  um  so  höherem  Grade  geltend  machen  muss, 
je  langsamer  die  Intensität  anwächst.  Wirkt  ja  in  jedem  folgenden 
Zeitmomente  der  Strom  auf  Faserstellen  ein,  welche  bereits  während 
der  ganzen  vorhergehenden  Durchströmungszeit  um  so  mehr  modificirt 
Avurden,  je  länger  dieselbe  dauerte.  Uebrigens  lässt  sich  leicht  zeigen, 
dass,  Avie  zu  erwarten  AA^ar,  gerade  der  Muschelmuskel  im  erschlafften 
Zustande  für  Einschleichen  des  Stromes  in  besonders  hohem  Grade 
empfindlich  ist. 

Berindet  sich  ein  Rheochord  im  Reizkreise,  und  schaltet  man  so 
viele  Elemente  ein,  dass  deren  Strom  voraussichtlich  genügen  würde, 
um  ohne  Rheochord  eine  starke  Schliessungscontraction  auszulösen,  so 
beobachtet  man  stets  auch  dann  eine  ganz  analoge,  der  Entstehung 
einer  Schliessungsdauercontraction  entsprechende  Gestaltveränderung 
des  Muskels,  wenn  der  Rheochordschlitten  allmählich  und  möglichst 
gleichmässig  von  der  Nullstellung  aus  vorgeschoben  wird.  Die  Con- 
traction  beginnt,  wenn  der  Strom  eine  gewisse  Intensität  erreicht  hat. 


166 


Elektrische  Keizung'  der  Muskeln. 


worauf  die  Curve  sich  um  so  steiler  erhebt,  je  rascher  das  Vorschieben 
des  Schlittens  erfolgt.  Ich  konnte  auf  diese  Weise  bisweilen  noch 
starke  Wirkungen  erzielen,  wenn  die  Stromesintensität  langsam  während 
2  Minuten  gesteigert  wurde;  allerdings  erfordert  der  Versuch  dann 
sehr  empfindliche  Präparate. 

Mit  Rücksicht  auf  die  vorstehend  mitgetheilten  Erfahrungen  darf 
man  wohl  behaupten,  dass  jede  als  „Zuckung"  zu  bezeichnende 
Grestaltveränderung  eines  geeigneten  Muskels  zu  ihrer  Entstehung 
stets  einer  mehr  oder  weniger  raschen  positiven  oder  negativen 
Dichtigkeitsschwankung  des  Stromes  bedarf,  ob  diese  nun  von  Null 
oder  einem  endlichen  Werthe  ausgeht  und  da,  wie  sich  bei  partieller 
Durchströmung  eines  parallelfaserigen  Muskels  ohne  Weiteres  ergiebt, 
bei  Totalreizung  aber  später  noch  zu  beweisen  sein  wird,  jeder  Zuckung 


Fig.  81.     a,  i,  c  Verschiedene   Formen   von    Schwankungscurven   der  Stromesintensität 
nach  A.  Fick.     Die  Abscissen   bedeuten   die   Zeiten   in   Sekunden,    die  Ordinaten  die 

Stromstärke. 


eine  durch  die  ganze  Länge  des  Muskels  ablaufende  Contractions- 
welle  entspricht,  so  scheint  durch  eine  rasche  Stromschwankung 
vor  Allem  die  Fortleitung  der  Erregung  vom  Orte  der  directen 
Reizung  bedingt  und  vermittelt  zu  werden.  Während  demnach 
die  Stärke  der  Erregung  in  erster  Linie  von  Intensität, 
Dichte  und  Dauer  des  Stromes  abhängt,  ist  die  Aus- 
lösung einer  Contractionswelle  auch  noch  von  der  Art 
(Steilheit)  des  Ansteigens  der  Stromesintensität  im 
Muskel  abhängig. 

Die  vorstehend  mitgetheilten  Sätze  lassen  sich  nach  dem  Vor- 
gange von  Fick  (4,  p.  25  f.)  durch  eine  einfache  graphische  Dar- 
stellung noch  anschaulicher  machen  (Fig.  81).  Die  Abscissen  bedeuten 
die  Zeiten,  die  Ordinaten  entsprechen  der  jeweiligen  Stromstärke. 
Während  nun  in  einem  gegebenen  Falle  ein  Strömungsvorgang,  wie  er 
in  Fig.  81  {a)  dargestellt  ist,  weder  den  quergestreiften  noch  den  glatten 
Muskel  sichtbar   zu  erregen  vermag,    so    kann  ein  Strömungsvorgang 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  167 

wie  etwa  Fig.  81  (ft)  für  den  letzteren  ein  wirksamer  Reiz  sein. 
Zur  Entstehung  der  Schliessungszuckung  beim  quergestreiften 
Muskel  würde  dann  unter  allen  Umständen  ein  höherer  Grad  der 
Steilheit  der  Stromesdichtigkeitscurve  erforderlich  sein.  Bei  Strom- 
schwankungen, welche  vom  Werthe  Null  ausgehen  und  wieder  dahin 
zurückkommen,  sind  beispielsweise  folgende  Fälle  möglich :  Eine  Schwan- 
kung von  der  Form  (Fig.  81,  c  c),  wie  sie  etwa  einem  einzelnen  schwachen 
Inductionsstrom  oder  einem  „Stromstoss"  entspricht,  wirkt  eventuell 
nicht  zuckungserregend,  wohl  aber  eine  von  der  Form  (d),  weil  hier  die 
geringe  Dauer  des  Stromes  durch  grosse  Intensität  aufgewogen  Avird. 
Dagegen  kann  eine  Schwankung  von  der  Form  (e)  auf  dasselbe  Prä- 
parat, welches  (c)  unerregt  Hess,  als  Reiz  wirken,  weil  hier  die  grössere 
Dauer  die  geringere  Intensität  compensirt,  und  dasselbe  würde  vielleicht 
auch  Betreffs  einer  Schwankung  mit  geringerer  Steilheit  des  Anstiegs 
und  Abfalls  gelten  (f). 

Auf  die  verschiedene  Art  des  Ansteigens  der  Stromesintensität 
pflegt  man  gewöhnlich  auch  die  auffallende  Ueberlegenheit  der 
erregenden  Wirkung  des  Oeffnungs  -  Inductionsstromes  zurückzu- 
führen, die  sich  nicht  nur  an  quergestreiften,  sondern  auch  an 
glatten  Muskeln,  ja,  wie  es  scheint,  bei  fast  allen  irritablen 
Gebilden  im  gleichen  Sinne  geltend  macht.  Da  jedoch  die  hierüber 
vorliegenden  Untersuchungen  sich  bisher  fast  ausschliesslich  auf  den 
motorischen  Nerven  beziehen,  so  dürfte  es  zweckmässiger  sein,  die 
Erörterung  der  betreffenden  Thatsachen  an  anderem  Orte  zu  bringen, 
wo  dann  auch  die  wenigen  Erfahrungen  mitgetheilt  werden  sollen,  die 
man  bisher  hinsichtlich  der  Abhängigkeit  der  Erregung  von  der  ge- 
naueren Gestalt  der  Schwankungscurve  der  Stromesintensität  ge- 
wonnen hat. 

Wie  in  mancher  anderen  Beziehung,  so  scheint  auch  dem  Ketten- 
strome gegenüber  das  Verhalten  des  Herzmuskels  eine  Aus- 
nahme zu  bilden.  Nachdem  zuerst  Eckhardt  (11)  beobachtet  hatte, 
dass  die  ganglienfreie  Herzspitze  des  Frosches  rhythmisch  pulsirt, 
wenn  ein  constanter  elektrischer  Strom  durch  dieselbe  geleitet  wird, 
ist  diese  leicht  zu  bestätigende  Thatsache  wiederholt  Gegenstand  der 
Untersuchung  gewesen  (12).  Die  Frequenz  der  Pulsationen  nimmt 
mit  der  Stärke  des  Stromes  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  zu.  Erinnert 
man  sich  der  früher  besprochenen  Erfahrung,  dass  der  Herzmuskel 
auch  andere  continuirlich  einwirkende,  stetige  Reize,  wie  insbesondere 
mechanische  und  chemische,  mit  rhythmischen  Erregungserscheinungen 
beantwortet,  so  kann  die  erwähnte  Wirkung  dauernder  Durchströmung 
kaum  überraschen,  und  es  erhebt  sich  nur  die  Frage,  ob  es  sich  dabei 
wirklich  um  eine  specifische  Eigenthümlichkeit  des  Herzmuskels  han- 
delt und  nicht  vielmehr  um  eine  solche,  die  an  demselben  nur  in  einer 
sozusagen  extremen  Weise  entwickelt  erscheint.  In  der  That  hat 
Hering  (13)  schon  vor  längerer  Zeit  beobachtet,  dass  ein  curarisirter 
Sartorius  vom  Frosch  unter  Umständen  bei  dauernder  Nebenschliessung 
des  eigenen  Längsquerschnittstromes  durch  Eintauchen  in  0,6  ^/o  NaCl, 
sowie  auch  bei  Einwirkung  sehr  schwacher  künstlicher  Ströme  in 
rhythmische  Erregung  geräth,  sich  also  seinerseits  ganz  ähnlich  ver- 
hält, wie,  nach  K  ü  h  n  e '  s  und  meinen  Beobachtungen,  bei  chemischer 
Reizung.  Dabei  handelte  es  sich  aber  nur  um  schwache  Contractionen 
des  gänzlich  unbelasteten  und  noch  überdies  in  Flüssigkeit  getauchten 
Muskels.     Es  ist  mir  aber  später  gelungen,  auch  an  dem  im  Hering  '- 


168 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


Fig.  82.  2  Reihen  rhythmischer  Zuckungen  während 
dauernder  Schliessung  eines  Kettenstromes  (Thermo- 
Sternsäule,  Reochordwiderstand  60)  nach  15  Minuten 
dauernder  Einwirkung  von  Na2C03  (2  *'/o)  auf  das 
tibiale  Ende  des  Sartorius;  b  zweite  Reizung  desselben 
Muskels;  Einfluss  der  Ermüdung. 

sehen  Doppelmyographen  eingespannten,  be- 
lasteten Sartorius  durch  einmalige  dauernde 
Schliessung  eines  Kettenstromes  lange  Serien 
sehr  kräftiger  Zuckungen  auszulösen,  wenn 
vorher  die  Erregbarkeit  der  Muskelsubstanz 
am  Orte  der  directen  Reizung  (wie  Avir  sehen 
werden ,  dem  Kathodenende  des  Muskels) 
durch  Behandlung  mit  nicht  zu  schwachen 
Lösungen  von  NagCOg  (1 — 3'*/o)  local  ge- 
steigert wurde  (14).  Fig.  82,  ft,  zeigt  eine 
solche  Curvenreihe,  welche  nach  13  Minuten 
dauernder  Einwirkung  einer  2  "/o  Lösung 
von  NagCOg  auf  das  tibiale  Ende  eines 
curarisirten  Sartorius  während  der  Schlies- 
sung eines  mittleren,  absteigend  gerichteten 
Stromes  gezeichnet  wurde.  Vor  Ablauf  der 
mächtigen  ersten  Zuckung  beginnt,  lange 
bevor  noch  der  absteigende  Curvenschenkel 
die  Abscisse  erreicht  hat,  neuerdings  eine 
rasche  Verkürzung  („Zuckung" )  des  Muskels. 
Durch  Superposition  von  drei  einander  rasch 
folgenden  Zuckungen  erreicht  derselbe  nahe- 
zu wieder  das  frühere  Maximum  der  Con- 
traction,    und    nun    folgen    in    ganz    regel- 


Elektrische  Keizuno'  der  Muskeln. 


169 


massigem  Rhythmus  25  kräftige,  der  Anfangszuckung  an  Grösse  zu- 
nächst kaum  nachstehende  Einzelzuckungen,  welche,  Anfangs  etwas 
dichter  gedrängt,  später  in  Zwischenräumen  von  etwa  1  Sekunde  aus- 
gelöst werden.  Von  der  20.  Zuckung  an  nimmt  die  Grösse,  der  Ver- 
kürzung rasch  ab,  und  schliesslich  bleibt  nur  eine  spurweise  Dauer- 
contraction  übrig,  die  erst  bei  Oeffnung  des  Stromes  völlig  schwindet. 
Es  scheint,  dass  die  einzelnen  Impulse  sich  Anfangs  rascher  folgen,  als 
später.  Bisweilen  nehmen  die  gewissermaassen  aus  der  Auflösung  der 
Schliessungsdauercontraction  hervorgehenden  rhythmischen  Zuckungen 
im  Verlaufe  einer  Curvenreihe  plötzlich  rasch  an  Höhe  zu,  wobei  die 
Verbindungslinie  der  Gipfelpunkte  zunächst  steil  ansteigt,  um  ebenso 
rasch  unter  Abnahme  der  Zuckungshöhe  wieder  abzusinken  (Fig.  83), 
ein  Verhalten,  welches  an  das  bekannte  treppenartige  Anwachsen  der 
Zuckungen  verschiedener  Muskeln  bei  Reizung  mit  gleichstarken  In- 
ductionsströmen    erinnert.     Da   bei    Anwendung    sehr    starker  Ströme, 


Fig.  83.  Rhythmische  Zuckungs- 
reihe vom  Sartorius.  Dauernde 
Schliessung  des  Stromes.  Allmäh- 
liches Anwachsen  der  Zuckungen. 


/I-jlJL/l. 


-OU. 


J. 


wie  nach  H  e  r  i  n  g '  s  Beobachtungen  auch  selbst  sehr  schwacher,  auch 
ohne  Hinzukommen  einer  künstlichen  Erregbarkeitssteigerung  ganz 
analoge  rhythmische  Erregungserscheinungen  entstehen  können,  die 
meist  nur  weniger  regelmässig  sind,  so  scheint  die  Vermuthung  nicht 
unberechtigt,  dass  ein  dauernd  und  stetig  fliessender  Strom 
in  vielen  Fällen,  vielleicht  sogar  immer,  einen  discon- 
tinuirlichen  Erregungszustand  setzt,  der  nur  deshalb 
zu  einer  scheinbar  stetigen  Contraction  führt,  weil  die 
Bedingungen  des  Versuches  in  der  Regel  derart  sind, 
dass  schwache,  wenig  kräftige  oder  nur  auf  einzelne 
Faserbündel  beschränkte  rhythmische  Con tractionen 
ohne  sichtbaren  mechanischen  Effect  bleiben.  Von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  würde  man  demnach  in  der  That  von 
tetanischen  Schliessungszuckungen  und  von  einem  tetanischen 
Charakter  der  Schliessungsdauercontraction  sprechen  können ,  ja  es 
erscheint  sogar  zweifelhaft,  ob  bei  Reizung  curarisirter  Muskeln  mit 
starken  Kettenströmen  wirklich  einfache,  nicht  tetanische  Schliessungs- 
zuckungen überhaupt  vorkommen;  der  gedehnte  Verlauf  spricht  jeden- 
falls eher  zu  Gunsten  dieser  Anschauung  als  dagegen.  Inwieweit 
hier  jedoch  ein  Rückschluss  auch  auf  die  Wirkungsweise  schwächerer 


170  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

Ströme  gestattet  ist,  muss  vorläufig  unentschieden  bleiben,  ebenso 
wie  es  auch  auf  Grund  der  bis  jetzt  vorliegenden  Erfahrungen  nicht 
möglich  erscheint ,  die  discontinuirliche  Natur  der  Schliessungs- 
dauercontraction  als  Regel  hinzustellen,  wenngleich  Manches 
dafür  zu  sprechen  scheint.  Wenn  bei  dem  Herzmuskel  ganz  regel- 
mässig und  ausnahmslos,  bei  dem  quergestreiften  Skelettmuskel 
wenigstens  unter  gewissen  Bedingungen  der  constante  Strom  während 
seiner  Schliessung  rhythmisch  sich  folgende  Contractionen  auslöst,  so 
ist  dies,  wie  es  scheint,  viel  häufiger  bei  glatten  Muskeln  der  Fall. 
Hier  hat  zuerst  Engelmann  (5)  am  Ureter  des  Kaninchens  eine  Er- 
scheinung beobachtet,  welche,  wie  ich  glaube,  ohne  Bedenken  als  ein 
Analogen  der  vorstehend  erörterten  Thatsachen  gelten  darf.  Ich  meine 
jene  periodisch  von  der  Kathode  des  constanten  Stromes  ausgehenden 
ContractionsAvellen ,  welche  entstehen ,  ohne  dass  merkliche  Verschie- 
bungen des  Reizobjectes  auf  den  Elektroden  nachweisbar  waren.  „Die 
Zahl  der  während  einer  Schliessungsdauer  von  1 — 2  Minuten  beob- 
achteten Contractionen  betrug  bei  Heizung  mit  schwachen  Strömen 
gewöhnlich  weniger  (2 — 3),  bei  Reizung  mit  starken  mehr  (5 — 7).  Die 
Zeiträume,  in  denen  sich  die  Wellen  folgten,  schwankten  zwischen  4 
und  20  Sekunden.  Häutig  waren  die  Perioden  ziemlich  gleich  und 
kurz,  in  anderen  Fällen  von  verschiedener  Dauer.  In  der  Zeit  zwischen 
zwei  Wellen  pflegte,  wenigstens  bei  stärkeren  Strömen,  der  Ureter  an 
der  negativen  Elektrode  nicht  ganz  zu  erschlaffen  (Schliessungsdauer- 
contraction)."  Auch  nach  Oeffnung  des  constanten  Stromes  sah 
Engel  mann  am  Ureter  der  Ratte  (1.  c.  p.  414)  mehrmals  periodische 
Contractionswellen  von  der  Stelle  des  positiven  Poles  ausgehen,  eine 
Erscheinung,  zu  der  als  Analogen  die  Thatsache  gelten  darf,  dass 
auch  am  Sartorius  unter  den  früher  erwähnten  Bedingungen  bisweilen, 
wiewohl  seltener,  die  Auflösung  einer  Oeffnungsdauererregung  in  rhyth- 
mische Einzelzuckungen  beobachtet  wird.  In  der  Regel  kommt  es 
freilich  nur  zu  mehr  oder  weniger  gedehnten  Einzelzuckungen,  über 
deren  tetanische  Natur  eine  sichere  Entscheidung  nicht  möglich  ist. 
Wie  man  sieht,  besteht  also  ein  principieller  Unterschied  hinsicht- 
lich der  am  Herzen ,  sowie  an  anderen  quergestreiften  und  glatten 
Muskeln  bei  constanter  Durchströmung  zu  beobachtenden  Erschei- 
nungen in  keiner  Weise,  und  nur  in  quantitativer  Beziehung  machen 
sich  Verschiedenheiten  insofern  geltend,  als  rhythmische  Erregungs- 
auslösung, welche  im  einen  Falle  ausnahmslose  Regel  ist,  andernfalls 
nur  unter  gewissen  Bedingungen  erfolgt.  Die  sehr  viel  langsamere 
Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Contractionswellen  bei  elektrischer 
Reizung  des  Ureter  erklärt  sich  leicht  durch  die  geringere  Erregbar- 
keit und  trägere  Reaction  der  glatten  im  Vergleich  zu  quergestreiften 
Muskeln.  Besteht  ja  doch,  wie  später  zu  zeigen  sein  wird,  ein  ähn- 
liches Verhältniss  auch  wieder  zwischen  diesen  letzteren  und  den 
motorischen  Nerven,  so  dass  sich  in  gradweiser  Abstufung  dieselben 
Erscheinungen  bei  elektrischer  Reizung  glatter  Muskeln,  des  Herz- 
muskels, quergestreifter  Stammesmuskeln  und  motorischer  Nerven 
wiederholen.  Man  kann  hieraus  zugleich  ersehen ,  dass  die  Aufein- 
anderfolge der  rhythmischen  Erregungsimpulse  im  Allgemeinen  eine 
um  so  raschere  ist,  je  grösser  die  Erregbarkeit  ist.  Es  ergiebt  sich 
dies  nicht  nur  aus  einer  vergleichenden  Betrachtung  der  Reizerfolge 
an  glatten  und  quergestreiften  Muskeln,  Herzmuskel  und  Nerven,  sondern 
auch  aus  den  Erscheinungen,    welche   man    bei  jedem  einzelnen  Reiz- 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  171 

versuche  an  einem  dieser  Gebilde  beobachtet.  Sinkt  die  Erregbarkeit 
unter  dem  Einfluss  des  Stromes  oder  aus  anderen  Gründen  unter 
einen  gewissen  Grenzwerth,  so  hört  unter  allen  Umständen  die  Mög- 
lichkeit rhythmischer  Dauererregung  auf;  es  kommt  bloss  zur  Aus- 
lösung einer  einzigen  „Zuckung"  oder  zur  Entwicklung  einer  wenig- 
stens anscheinend  stetigen  Dauercontraction.  Man  könnte  geneigt  sein, 
in  den  vorstehend  besprochenen  Erscheinungen  eine  Ausnahme  jenes 
Satzes  zu  erblicken,  wonach  die  Auslösung  einer  „Zuckung"  (be- 
ziehungsweise einer  sich  fortpflanzenden  Contractionswelle)  stets  nur 
durch  eine  mehr  oder  weniger  steile  Intensitätsschwankung  des  elek- 
trischen Stromes  vermittelt  wird.  Es  darf  aber  dabei  nicht  vergessen 
werden,  dass  dies  im  Grunde  nur  bedeutet,  dass  die  durch  den  Strom 
(wie  durch  jedes  beliebige  andere  Reizmittel)  gesetzten  Veränderungen 
der  erregbaren  Substanz  mit  einer  gewissen  Raschheit  von  Null  oder 
einem  endlichen  Werthe  anwachsen  müssen,  wenn  es  überhaupt  zur 
Entstehung  einer  Contractionswelle  kommen  soll.  Mehr  oder  weniger 
rasche  Schwankungen  des  Erregungszustandes  einer  irritablen 
Substanz  sind  aber  auch  denkbar  und  kommen  wirklich  vor,  wenn 
die  Reiz  Ursache  an  sich  ganz  stetig  wirkt;  man  braucht  hier  nur 
an  die  Pulsationen  der  Herzspitze  bei  chemischer  oder  mechanischer 
Reizung  zu  erinnern.  Es  hängt  dies  offenbar  wesentlich  nur  von  der 
Natur  und  dem  Erregbarkeitszustand  der  betreffenden  Substanz  ab. 

Nachdem  wir  die  Abhängigkeit  der  Erregung  von  der  Intensität 
des  Stromes,  sowie  von  der  Dauer  und  Art  des  Ansteigens  des  letz- 
teren im  Allgemeinen  kennen  gelernt  haben,  erübrigt  es  noch,  den 
Einfluss  der  Stromesrichtung  näher  ins  Auge  zu  fassen.  Es 
scheint  von  vornherein  klar,  dass  dieselbe  bei  reiner  Längsdurch- 
strömung  eines  parallelfaserigen  Muskels  kaum  eine  Rolle  spielen 
kann,  wenn  dieser  wirklich  geometrisch  regelmässig  gebaut  und  ins- 
besondere an  beiden  Enden  gleich  dick  wäre,  so  dass  die  Dichte  des 
Stromes  allerorts  gleich  sein  würde.  Derartige  Präparate  stehen  aber 
kaum  zur  Verfügung,  und  gerade  der  am  meisten  benützte,  verhältniss- 
niässig  regelmässige  Frosch-Sartorius  bietet,  wie  wir  sehen  werden, 
ein  sehr  abweichendes  Verhalten.  Ehe  aber  hierauf  näher  eingegangen 
werden  kann,  muss  des  ausserordentlich  auffallenden  Einflusses  gedacht 
werden ,  welchen  der  D  u  r  c  h  s  t  r  ö  m  u  n  g  s  w  i  n  k  e  1 ,  d.  i.  der  Winkel 
zwischen  Strom-  und  Faserrichtung,  in  Bezug  auf  die  Erregung  spielt. 

Frühere  Beobachter  waren  bei  ihren  diesbezüglichen  Versuchen 
zu  sehr  widersprechenden  Resultaten  gelangt,  und  speciell  Sachs  (15) 
vertrat  die  Ansicht,  dass  der  Muskel  gleiche  Erregbarkeit  für  quere 
wie  für  longitudinale  Durchströmung  besitze;  doch  giebt  die  von  ihm 
angewendete  Versuchsmethode  begründeten  Zweifeln  Raum,  ob  ein 
den  Muskel  wirklich  in  rein  querer  Richtung  durchfliessender  elektrischer 
Strom  wirksam  zu  erregen  vermag.  Zwei  Nadelspitzen  dienten  in 
diesen  Versuchen  als  Elektroden  und  wurden  so  mit  dem  Muskel  in 
Berührung  gebracht,  dass  ihre  Verbindungslinie  in  genau  querer  Rich- 
tung die  Muskelfasern  schnitt,  also  auch  ein  durch  dieses  Nadelpaar 
gehender  Strom  in  einer  im  Wesentlichen  queren  Richtung  die 
Muskelfasern  durchfliessen  musste.  Dass  aber  unter  diesen  Umständen 
selbst  bei  genauester  Querdurchströmung  longitudinale  Stromfäden 
auftreten  müssen,  ist  fast  selbstverständlich.  Es  kommt  dann 
nur  auf  die  Stärke  des  Reizstromes  an,  ob  dieselben  auch  ihrerseits 
Erregungen  auszulösen  vermögen.     Sachs  war  nun  der  Ansicht,  dass 


172  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

die  Stromstärke,  welche  bei  seiner  Versuchsanordnung  eben  wirksam 
ist,  allein  durch  den  elektrischen  Verbindungsfaden  der  beiden  Elek- 
trodenspitzen wirke,  was,  wie  Lei  eher  (16)  richtig  bemerkt,  nur 
unter  gewissen,  nicht  zutreffenden  Voraussetzungen  gelten  könnte. 

Ein  besseres  Verfahren,  das  schon  1838  Matteucci  angegeben 
hat  und  welches  dann  auf  Hermann's  Anregung  zuerst  von 
Luchsinger  (17)  für  den  Nerven  angewendet  wurde,  besteht  darin, 
das  zu  durchströmende  Object  (Nerv  oder  Muskel)  in  eine  leitende, 
möglichst  indifferente  Flüssigkeit  zu  versenken,  in  welche  auch  die 
stromzuführenden  Elektroden  eintauchen.  In  diesem  Falle  wird  der 
senkrecht  zur  Verbindungslinie  der  Elektroden  liegende  Muskel  ent- 
weder nur  oder  doch  ganz  vorwiegend  von  senkrechten  Strom- 
fäden getroffen,  das  erstere,  wenn  die  Elektroden  linear  bezw. 
flächenhaft,  das  letztere,  Avenn  sie  punktfijrmig  sind.  Tschirj  ew  (18), 
M^elcher  sich  dieser  Methode  bediente,  fand  nun  zwar,  dass  zur  Er- 
regung des  Muskels  bei  querer  Durchströmung  eine  grössere  Strom- 
stärke erforderlich  ist,  als  bei  longitudinaler,  glaubte  jedoch,  dem- 
ungeachtet  mit  Rücksicht  darauf,  dass  nach  Hermann  der  Leitungs- 
widerstand des  Muskels  in  der  Querrichtung  sehr  viel  grösser  ist,  als 
in  der  Längsrichtung  (4 — 9 mal  so  gross),  so  dass  bei  longitudinaler 
Durchströmung  ein  grösserer  Stromantheil  durch  denselben  geht,  als 
bei  querer,  annehmen  zu  müssen,  dass  der  Muskel  für  quere 
Durchströmung  sogar  noch  erregbarer  sei,  als  für  lon- 
gitudinale.  Indessen  müssen  sowohl  diesen  Versuchen  gegenüber, 
wie  auch  gegen  jene,  Avelche  G  i  u  f  f  r  e ,  A 1  b  r  e  c  h  t  und  Meyer  (19 ) 
unter  Hermann's  Leitung  anstellten,  schwerwiegende  methodische 
Bedenken  geltend  gemacht  werden,  die  übrigens  schon  von  Hermann 
selbst  hervorgehoben  wurden.  Tschirjew  band  an  beide  Enden  des 
ausgeschnittenen ,  in  den  Reiztrog  versenkten  Muskels  Seidenfäden, 
durch  welche  dieser  mit  einem  Muskelzeiger  verbunden  werden  konnte, 
oder  benützte  gar  kleine  quadratische  Muskelstückchen;  in  ähnlicher 
Weise  suchte  Giuffre  die  Schwierigkeiten,  welche  durch  die  un- 
regelmässige Form  der  Enden  des  benützten  Muskels  (Sartorius)  be- 
dingt werden,  dadurch  zu  umgehen,  dass  er  nur  den  dui'ch  künstliche 
Querschnitte  begrenzten  parallelfaserigen  Theil  des  Sartorius  in  die 
Flüssigkeit  versenkte.  Da  nun,  wie  später  gezeigt  werden  soll,  die 
erregende  Wirkung  eines  Stromes  ganz  ausserordentlich  vermindert 
wird,  wenn  derselbe  durch  künstliche  Schnittflächen  oder  anderweitig 
verletzte  Faserstellen  ein-  und  austritt,  so  ist  klar,  dass  bei  allen  den 
zuletzt  erwähnten  Versuchen  das  Erregbarkeitsverhältniss  unter  Um- 
ständen sogar  zu  Gunsten  der  Querdurchströmung  verändert  erscheinen 
kann.  Wenn  nichtsdestoweniger  thatsächlich  eine  viel  geringere  Erreg- 
barkeit des  Muskels  bei  reiner  Querdurchströmung  gefunden  wurde,  so 
kann  man  dies  nur  als  einen  Beweis  a  fortiori  ansehen,  dass  die  letztere 
als  ein  schwächerer  Reiz  wirkt  wie  die  Längsdurchströmung. 

Eine  experimentelle  Entscheidung  in  diesem  Sinne  brachten  die 
Untersuchungen  von  D.  Leicher.  Derselbe  bediente  sich  eines 
Apparates,  welcher  im  Wesentlichen  mit  einer  von  Hering  zu  dem- 
selben Zwecke  schon  viel  früher  benützten  Vorriclitung  übereinstimmt 
(Fig.  84).  Der  Muskel  (curarisirter  Sartorius)  wird  mittels  der  beiden 
daran  gelassenen  Knochen  in  ganz  ähnlicher  Weise  zwischen  zwei 
Klemmen  fixirt  wie  bei  dem  He  ring 'sehen  Doppelmyographen  •,  die 
eine  Klemme  ist  fix,  die  andere,  frei  bewegliche,  überträgt  die  Bewegung 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


173 


des  Muskels  auf  einen  Schreibhebel.  Der  „Reiztrog"  besteht  aus 
einem  parallelepipedischen  Hartgummikästchen,  dessen  beiden  kürzeren 
Wände  mit  amalgamirten  Zinkplutten  verkleidet  sind,  die  den  Strom 
zuführen.  In  einiger  Entfernung  von  diesen  befinden  sich  noch  zwei 
Scheidewände  aus  gebranntem  porösen  Thon,  so  dass  jederseits  eine 
Rinne  entsteht,  welche  den  etwa  quadratischen  Innenraum  des  Troges 
abgrenzt.  Während  dieser  letztere  0,6  ^/o  NaCl-Lösung  enthält,  werden 
die  beiden  Rinnen  mit  concentrirter  Zinksulphatlösung  gefüllt.  Der 
Muskel  wird  nun ,  durch  ein  Gewicht  gehörig  gespannt,  in  völlig  un- 


Fig.  84.     Apparat  zur  Querdurchströmung   des  Muskels  (Sartorius)    nach  Hering 
(Catalog  physiologischer  Apparate  von  E.  Rotlie,  Universitätsmechaniker  in  Prag). 


Versehrtem  Zustande  in  den  mittleren  Raum  versenkt,  so  dass  sich, 
wie  man  ohne  Weiteres  sieht,  der  Winkel  der  Durchströmung  einfach 
durch  Drehen  des  Troges  beliebig  ändern  lässt. 

Wie  zu  erwarten  war,  tritt  bei  reiner  Längsdurchströmung 
(Winkel  0)  gerade  wie  ausserhalb  der  Flüssigkeit,  Schliessungszuckung 
bezw.  eine  Schliessungsdauercontraction  hervor,  dagegen  beobachtete 
Lei  eher  bei  den  benützten  Stromstärken  (9  Daniell)  niemals  eine 
wirksame  Oeffnungserregung.  Trifft  ein  Strom  den  Muskel  unter 
einem  Winkel  von  45  ° ,  so  zeigt  sich  derselbe  zwar  wirksam ,  aber 
viel  schwächer,  als  bei  reiner  Längsdurchströmung.  „Lässt  man 
endlich  den  Strom  genau  quer  unter  einem  Winkel  von  90  °  den  Muskel 
durchfliessen ,  so  bleibt  er  in  der  Regel  ganz  in  Ruhe.  Selten  findet 
bei    querer   Durchströmung    eine   schwache  Erregung   statt,    die   trotz 


174  Elektrische  Eeizung  der  Muskeln. 

ihrer  geringen  Grösse  einen  Unterschied  bemerken  lässt,  sobald  die 
Stromesrichtung  verändert  wird."  Die  gänzliche  Unerregbar- 
keit  des  quergestreiften  Muskels  für  genau  senkrecht 
zurFaseraxe  gerichtete  elektrische  Ströme  dürfte  nach 
diesen  leicht  zu  bestätigenden  Versuchen  wohl  als  eine 
hinlänglich  gesicherte  Thatsache  gelten.  Es  ist  selbstver- 
ständlich, dass  sich  die  Versuche  in  reiner  Form  nur  an  einem  mög- 
lichst regelmässig  gebauten,  parallelfaserigen  Muskel  anstellen  lassen, 
und  dass  alle  Präparate  mit  complicirterem  Faserverlauf  von  vornherein 
ausgeschlossen  sind.  Für  glattmuskelige  Theile  liegen  entsprechende 
Versuche  bisher  nicht  vor,  doch  darf  man  wohl  annehmen,  dass  auch 
hier,  sofern  nur  die  contractilen  Fibrillen  parallel  verlaufen,  quere 
Durchströmung  unwirksam  bleibt.  Es  ist  klar,  dass  die  Thatsache 
der  Abhängigkeit  der  Erregung  von  der  Grösse  des  Winkels,  unter 
welchem  die  in  einer  Richtung  gestreckten,  contractilen  Theile  von  den 
Stromfäden  getroffen  werden,  für  die  theoretische  Auffassung  der 
Wirkungsweise  des  Stromes  von  der  grössten  Bedeutung  ist.  Ehe 
jedoch  hierauf  näher  eingegangen  werden  kann,  muss  noch  ein  anderes 
Fundamentalgesetz  der  elektrischen  Erregung  erörtert  werden,  die 
Frage  betreffend,  an  welchen  Punkten  der  unmittelbar 
durchflossenen  Muskelstrecke  der  Strom  bei  seinem 
Entstehen  oder  Verschwinden,  sowie  während  der  Dauer 
seines  Fliessens  den  Erregungsvorgang  auslöst.  Die 
nächstliegende  Annahme,  welche  auch  wenigstens  für  den  inducirten 
Strom  lange  Zeit  ausschliessliche  Geltung  hatte,  scheint  offenbar  die 
zu  sein,  dass  Erregung  gleichmässig  an  jedem  Punkte  der  durch- 
flossenen Strecke  stattfindet,  so  dass  bei  Längsdurchströmung  alle 
Querschnitte  des  Muskels  gleichzeitig  und  sofern  die  Erregbarkeit  über- 
all gleich  ist,  auch  gleich  stark  in  Contraction  gerathen.  Die  blosse 
Betrachtung  eines  durch  Schliessung  oder  Oeffnung  eines  Stromes  ge- 
reizten quergestreiften  Muskels  giebt  hierüber  keinen  sicheren  Auf- 
schluss,  da  man  stets  und  zwar  auch  in  solchen  Fällen  eine  scheinbar 
gleichzeitige  Verkürzung  des  ganzen  Muskels  beobachtet,  wo  es  sich 
sicher  um  ein  wellenförmiges  Fortschi-eiten  der  Contraction  handelt, 
wie  beispielsweise  bei  partieller  Reizung  eines  parallelfaserigen 
Muskels.  Man  muss  daher  zur  Entscheidung  der  vorliegenden  Frage 
entweder  feinere,  zeitmessende  Methoden,  wie  bei  der  Bestimmung  der 
Leitungsgeschwindigkeit,  zu  Hülfe  nehmen  oder  Versuche  an  Muskeln 
anstellen,  bei  welchen,  wie  an  glatten  Faserzellen,  der  Contractions- 
und  Leitungsvorgang  überhaupt  träger  verläuft.  Beides  führt  in  der 
That  zum  Ziele. 

Wenn  bei  totaler  Längsdurchströmung  eines  parallelfaserigen,  quer- 
gestreiften Muskels,  wie  etwa  des  Sartorius,  die  Erregung  (bezw.  Con- 
traction) von  dem  einen  oder  anderen  Pole  aus  sich  wellenförmig 
fortpflanzt,  so  müsste  es  offenbar  möglich  sein,  durch  Auflegen  von 
zwei  Fühlhebeln,  welche  an  verschiedenen  Stellen  des  Muskels  durch 
die  unter  ihnen  weglaufende  Contractionswelle  zu  verschiedenen  Zeiten 
nach  einander  gehoben  werden,  zwei  Verdickungscurven  zu  erhalten, 
welche,  wenn  die  Zeichenspitzen  genau  vertical  über  einander  liegen, 
leicht  erkennen  lassen  müssen,  ob  beide  Fühlhebel  gleichzeitig  stiegen 
oder  nicht;  letzterenfalls  Hesse  sich  noch  aus  der  Richtung  der 
Verschiebung  erkennen,  von  woher  die  Welle  kam.  Nach  diesem 
Princip    hat    es    Aeby   versucht  (20),    die   vorliegende   Frage   experi- 


Elektrische  Eeizung  der  Muskeln.  175 

mentell  zu  entscheiden.  Er  legte  im  Verlauf  des  horizontal  gelagerten 
curarisirten  Muskels  zwei  Hebel  auf  in  einem  gegenseitigen  Abstand 
von  17  mm,  welche  die  bei  der  Thätigkeit  eintretende  Verdickung  des 
Muskels  auf  einer  rasch  rotirenden  Trommel  verzeichneten  und  fand, 
dass  beide  Hebel  vom  Muskel  gleichzeitig  gehoben  wurden,  wenn 
derselbe  durch  Schliessung  oder  Oeffnung  eines  ihn  durchfliessenden 
Kettenstromes  erregt  wurde.  Dies  hätte,  so  scheint  es,  unmöglich  der 
Fall  sein  können,  wenn  die  Erregung  wirklich  nur  von  dem  einen 
Muskel  ende  ausgegangen  wäre.  Das  Ergebniss  dieser  Versuche  steht 
also  in  directem  Widerspruch  mit  der  oben  geäusserten  Vermuthung 
einer  polaren  Erregung  des  Muskels. 

In  anderer  Weise  als  Aeby  versuchte  v.  Bezold  (10)  die  schwe- 
bende Frage  zu  lösen.  Er  bediente  sich  der  gewöhnlichen  myogra- 
phischen  Methoden,  wobei  die  Längenänderung  eines  Muskels  oder 
Muskelstückes  verzeichnet  wird  und  benutzte  das  Latenzstadium  der 
Schliessungs-  und  Oeffnungszuckung  als  Kriterium.  Der  curarisirte 
M.  sartorius  wurde  mit  seinem  oberen  Theile  in  einer  für  seine  Ge- 
stalt passenden  Korkrinne  derart  befestigt,  dass  zwei  Kupferdrähte 
den  Muskel  senkrecht  auf  seine  Längsrichtung  kreuzten  und  einen 
bestimmten  Theil  der  Länge  desselben,  beiläufig  4  mm,  zwischen  sich 
fassend,  an  zwei  Stellen  dieser  Rinne  festklemmten.  Diese  beiden 
Drahtenden  bildeten  zu  gleicher  Zeit  die  Befestigung  des  Muskels  am 
Kork  und  stellten  die  Elektroden  des  Stromes  dar.  Der  zwischen 
diesen  beiden  Drähten  befindliche  Theil  des  Muskels  war  also  die 
vom  Strom  durchflossene  Strecke  des  Muskels.  Trat  der  Strom  durch 
die  dem  schreibenden  Muskelende  nähere  untere  Elektrode  in  den 
Muskel  ein,  war  also,  wie  v.  Bezold  sagt,  der  Strom  im  Muskel 
aufsteigend,  so  zeigte  die  erhaltene  Curve,  dass  zwischen  dem  Momente 
der  Schliessung  und  dem  Beginn  der  Zuckung  eine  längere  Zeit  ver- 
fliesst,  als  wenn  der  Strom  durch  die  untere  Elektrode  austrat  (ab- 
steigend war).  Ersterenfalls  hatte  nach  seiner  Auffassung  die  an  der 
oberen  (negativen)  Elektrode  entstandene  Erregungswelle  erst  die 
beiderseits  fixirte  intrapolare  Strecke  zu  durchlaufen,  ehe  sie  unter 
der  unteren  (positiven)  Elektrode  hindurch  auf  das  bewegliche  Muskel- 
stück übertreten  konnte ;  im  anderen  Falle  ging  die  Erregung  von  der 
unteren  (jetzt  negativen)  Elektrode  selbst  aus  und  konnte  unmittelbar 
auf  das  bewegliche  Muskelstück  übergehen.  Die  Differenz  der  beiden 
Zeiten,  welche  vom  Moment  der  Stromschliessung  bis  zum  Beginn  der 
Zuckung  vergingen,  entsprach  der  Zeit,  welche  die  Erregung  brauchte, 
um  die  intrapolare  Strecke  von  4  mm  Länge  zu  durchlaufen.  In 
analoger  Weise  führte  v.  Bezold  den  Beweis,  dass  bei  der  Oeffnung 
die  Erregung  von  der  positiven  Elektrode  ausgehe.  Aeby  hat  Be- 
zold's  Versuchen  die  Beweiskraft  abgesprochen,  doch  lässt  sich,  wie 
Hering  (1,  p.  248)  bemerkt,  nicht  denken,  wie  anders  die  von  Be- 
zold gefundenen  und  in  immer  gleichem  Sinne  auftretenden  Zeit- 
differenzen bedingt  sein  sollten,  als  durch  die  verschiedene  Richtung 
der  Durchströmung.  Die  auffallenden  Schwankungen  in  der  Grösse 
der  in  Rede  stehenden  Zeitdifferenz,  welche  zwischen  0,005  und  0,025 
(im  Mittel  0,012)  Sek.  betrug,  erldärt  Hering  vielleicht  aus  dem 
Umstände,  dass  das  Leitungsvermögen  des  Muskels  an  der  geklemm- 
ten Stelle  je  nach  der  Stärke  des  hier  stattfindenden  Druckes  in  ver- 
schiedenem Grade  gestört  war,  Muss  man  also  zugeben,  dass  wirklich 
die  Zeit  vom  Momente  der  Schliessung  oder  Oeffnung  bis  zum  Beginn 


176 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


der  Zuckung  eine  längere  Avar,  wenn  der  obere  Draht  bei  der 
Schliessung  die  Kathode,  bei  der  Oeffnung  die  Anode  bildete,  so  kann 
sich  nur  noch  fragen,  inwiefern  die  verschiedene  Richtung  des  Stromes 
zu  dieser  Verschiedenheit  Anlass  geben  kann.  Diese  Frage  aber  wird 
auf  die  einfachste  Weise  durch  die  Bezold'sche  Hypothese  beantwortet. 
Als  nächste  und  einfachste  Consequenz  dieser  Versuche  würde  sich 
daher  die  Folgerung  ergeben: 

„Dass  der  (quergestreifte)  Muskel  bei  der  Schlies- 
sung eines  constanten  Stromes  durch  ihn  zunächst  er- 
regt werde  in  der  Gegend  der  negativen  Elektrode  und 
nicht  in  der  Gregend  der  positiven  Elektrode,  während 
bei  der  Oeffnung  der  im  Muskel  fliessenden  Ströme  die 
unmittelbare  Erregung  am  positiven  Pole  und  nicht  am 
negativen  stattfindet." 

Diese  Versuchsergebnisse  v.  Bezold's  und  die  daraus  abgeleiteten 
Schlussfolgerungen  erhalten  eine  wesentliche  Stütze   durch   die  bereits 


Fiff.  85. 


länger  bekannte  Thatsache,  dass  die  Contractionser  seh  einungen 
bei  Reizung  mit  dem  Ketten  ströme  unter  Umständen  (bei 
gesunkenem  Leitungsvermögen)  auf  die  Gegend  der  Austritts- 
stelle (Kathode)  des  Stromes  beschränkt  bleiben  und 
dass  dies  ausnahmslos  für  die  Schliessungsdauercon- 
t  r  a  c  t  i  0  n  b  e  i  A  n  w  e  n  d  u  n  g  nicht  allzu  s  t  a  r  k  e  r  S  t  r  ö  m  e  gilt. 
In  ersterer  Beziehung  hat  v.  B  e  z  o  1  d  auf  eine  ältere  Beobachtung 
von  Schiff  (21)  hingewiesen,  welcher  fand,  dass,  wenn  ein  ab- 
sterbender Muskel  bereits  aufgehört  hat,  eine  Schliessungszuckung  zu 
geben,  an  dem  negativen  Pole  eines  constanten  Stromes  noch  „eine 
schwach  ausgesprochene,  sehr  beschränkte  und  der 
durch  mechanische  Reize  hervorgerufenen  sehr  an  Deut- 
lichkeit nachstehende  idiomuskuläre  Contraction  auf- 
tritt, die  so  lange  gleich  massig  anhält  wie  der  Strom, 
um  sich  dann  wieder  zu  lösen".  Es  ist  nicht  schwer,  zu  zeigen, 
dass  diese  „idiomuskuläre"  kathodische  Dauercontraction  mit  der  oben 
beschriebenen  Schliessungs dauercontraction  vollkommen  iden- 
tisch ist,  sofern  man  zur  Reizung  nicht  sehr  starke  Ströme  verwendet. 
Schon  Engel  mann  (5)  lieferte  den  directen,  experimentellen  Beweis, 


Elektrisclie  Reizung  der  Muskeln.  177 

dass  auch  am  völligfrischen  Muskel  dieder  Schliessungs- 
zuckung folgende  Dauer contraction  auf  die  Gegend  der 
Kathode  beschränkt  bleibt.  Die  Anordnung  seines  Versuches 
ist  aus  der  nebenstehenden  Abbildung  ersichtlich  (Fig.  85).  Engel- 
mann durchströmte  den  ganzen  S  a  r  t  o  r  i  u  s  und  machte  den  oberen 
Abschnitt  durch  eine  Klemme  unbeweglich,  welche  sich  7  mm  oder 
auch  mehr  unterhalb  der  oberen  Drahtelektrode  befand,  während  die 
untere  Elektrode  ein  in  den  Muskel  eingeführtes  Drahthäkchen  war. 
Der  unterhalb  der  Klemme  befindliche  Muskelabschnitt  war  also 
allein  beweglich  und  verzeichnete  seine  Contraction  auf  einer  langsam 
bewegten  Fläche.  War  nun  der  Strom  im  Muskel  absteigend,  so 
blieb  der  Stift  nach  Ablauf  der  Schliessungszuckung  während  der  Dauer 
der  Schliessung  über  der  Abscisse,  war  dagegen  der  Strom  aufsteigend, 
so  kehrte  er  nach  dieser  Zuckung  ganz  zur  Abscisse  zurück.  Mittels 
derselben  Versuchsanordnung  gelingt  es  übrigens  auch  leicht,  die 
B  e  z  o  1  d  '  sehen  Ergebnisse  zu  bestätigen.  Engel  mann  fand  in  zwei 
Versuchen,  dass  die  Schliessungszuckung  bei  aufsteigendem  Strom 
0,006  und  0,009  Sek.  später  begann,  als  bei  absteigendem,  welche 
Differenz  also  darauf  zu  beziehen  ist,  dass  bei  aufsteigendem  Strom 
die  am  oberen  Muskelende  ausgelöste  Contraction  sich  erst  durch  eine 
7  mm  lange  Muskelstrecke  fortpflanzen  musste,  ehe  sie  auf  den  unteren 
beweglichen  Muskelabschnitt  wirken  konnte.  Sehr  schön  lässt  sich 
die  Thatsache  der  localen  Beschränkung  der  Schliessungsdauer- 
contraction,  sowie  auch  der  Oeffnungsdauer contraction 
mittels  der  folgenden,  der  E  n  g  e  1  m  a  n  n '  sehen  nachgebildeten  Versuchs- 
anordnung zeigen.  Der  curarisirte  M.  sartorius  wird  im  He  ring' sehen 
Doppelmyographen  mit  unpolarisirbaren  Elektroden  eingespannt,  welche 
letztere  in  diesem  Falle  beide  beweglich  bleiben.  Um  die  Gestalt- 
veränderungen der  beiden  Muskelhälften  unabhängig  von  einander  beob- 
achten zu  können,  wird  die  Mitte  des  Muskels  durch  eine  geeignete 
Klemme  fixirt.  Dieselbe  besteht  aus  zwei  nur  5  mm  langen,  von  einer 
Säule  getragenen  Halbrinnen,  welche  mit  einer  Schichte  öligen  Modellir- 
thones  ausgekleidet  sind  (Fig.  71).  Dieser  schmiegt  sich  der  Form  des 
Muskels  innig  an  und  hält  ihn  auch  ohne  erhebliche  Pressung  durch 
blosse  Reibung  genügend  fest,  um  eine  directe  Uebertragung  der  Ge- 
staltveränderungen einer  Muskelhälfte  auf  die  andere  zu  verhindern, 
ohne  zugleich  die  Fortleitung  des  Erregungsvorganges  zu  hemmen.  Die 
unpolarisirbaren  Elektroden  ermöglichen  es,  die  Durchströmung  des 
Muskels  beliebig  lange  fortzusetzen,  ohne  befürchten  zu  müssen,  dass 
während  des  Versuches  die  Intensität  des  Stromes  in  merklich  störendem 
Grade  abnimmt,  was  insbesondere  das  Studium  der  Oeffnungs- 
dauercontraction  wesentlich  erleichtert.  Man  überzeugt  sich  zu- 
nächst, dass  je  nach  der  Richtung  des  den  Muskel  durchfliessenden 
Stromes  abwechselnd  bald  die  eine  und  bald  die  andere  Hälfte  in  den 
Zustand  dauernder  Verkürzung  geräth  (Fig.  88),  und  dass  bei  Verstärkung 
des  Stromes  die  Dauercontraction  erheblich  wächst  (Fig.  78),  ohne  das 
ein  Uebergreifen  derselben  auf  die  andere  (anodische)  Muskelhälfte  erfolgt. 
Beobachtet  man  den  nicht  zu  stark  gespannten  Muskel  mit  blossem  Auge 
oder  mit  der  Lupe,  so  erkennt  man  schon  bei  Anwendung  ganz  schwacher, 
nur  eben  wirksamer  Ströme  nach  Ablauf  der  Schliessungszuckung 
deutlich  die  locale  Wulstung  der  Faserenden  auf  Seite  der  Kathode, 
wie  dies  auch  schon  Engel  mann  beschrieben  hat.  Es  macht  fast 
den    Eindruck,    als    strömte   gewissermaassen    plötzlich  die    contractile 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  12 


178  Elektrische  Reizung'  der  Muskeln. 

Substanz  im  Augenblick  der  Schliessung  aus  der  Umgebung  der  Ka- 
thode nach  dieser  hin,  um  sich  da  anzuhäufen.  An  stark  abgekühlten 
Muskeln,  deren  Leitungsvermögen  durch  die  Kälte  gelitten  hat,  kann 
man,  wie  Hermann  gezeigt  hat,  ohne  Weiteres  erkennen,  Avie  der 
Muskel  sich  bei  der  Schliessung  nach  der  Kathode,  bei  der  Oeffnung 
nach  der  Anode  verzieht.  Stets  betrifft  die  Wulstung  nur  die  äusser- 
sten  Faserenden,  unmittelbar  vor  dem  Uebergang  in  die  Sehne.  Selbst 
noch  bei  ziemlich  starker  Spannung  des  Muskels  sieht  man  hier  eine 
schmale,  wulstige  Verdickung  entstehen,  welche  während  der  ganzen 
Dauer  einer  auch  länger  anhaltenden  Durchströmung  unverändert  be- 
stehen bleibt.  Bei  Verstärkung  des  Reizstromes  nimmt  auch  die 
Schliessungsdauercontraction  an  Stärke  und  Ausdehnung  erheblich  zu, 
ohne  jedoch  selbst  bei  hoher  Strom  Intensität  den  Cha- 
rakter der  localen  Beschränktheit  zu  verlieren.  Es 
kommt  niemals  vor,  dass  von  der  Kathode  aus  sämmt- 
liche  Querschnitte  des  Muskels  bis  zur  Mitte  desselben 
während  der  Durch  Strömung  im  Zustand  dauernd  er  Ver- 
kürzung verharren.  Man  muss  sich  bei  Beurtheilung  der  räum- 
lichen Ausdehnung  einer  Contractionserscheinung  am  Muskel  bei  directer 
Betrachtung  sehr  hüten,  die  wirkliche  Verkürzung  mit  der  nur  passiv 
bewirkten  Verziehung  der  angrenzenden  Theile  zu  verwechseln  Ein 
sehr  einfaches  Hülfsmittel  der  Beobachtung  besteht  darin,  an  der  Ober- 
fläche des  Muskels  feste  Merkzeichen  anzubringen,  deren  gegenseitige 
Lageänderung  bei  der  Verkürzung  die  räumliche  Ausdehnung  der- 
selben zu  beurtheilen  gestattet.  Am  geeignetsten  fand  ich  es,  den 
Muskel  seiner  ganzen  Länge  nach  senkrecht  zur  Faserrichtung  mit 
Tusche  quer  zu  bändern,  so  dass  der  Abstand  zwischen  je  zwei  mit  einer 
feinen  Borste  auf  der  trockenen  Aussenfläche  des  Sartorius  gezogenen 
Querlinien  etwa  ^12  mm  beträgt.  Jede  noch  so  beschränkte  Contrac- 
tion  verräth  sich  dann  sofort  durch  eine  mehr  oder  minder  erhebliche 
Verschmälerung  eines  oder  mehrerer  Querbänder  bezw.  der  sie  trennen- 
den ungefärbten  Zwischenräume.  Lmerhalb  der  nur  passiv  bethei- 
ligten Muskelstrecken  erscheinen  dagegen  die  farbigen  Querbänder 
zwar  mannigfach  verzogen,  ohne  jedoch  schmäler  zu  werden.  An  be- 
sonders stark  gedehnten  Stellen  verbreitern  sie  sich  sogar  oft  erheb- 
lich, Avie  später  noch  gezeigt  werden  wird  (22). 

Bei  graphischer  Verzeichnung  sieht  man  in  Uebereinstimmung  mit 
der  directen  Betrachtung  die  Schliessungsdauercontraction 
stets  nur  an  der  der  kathodischen  Hälfte  des  Muskels  entsprechenden 
Curve  hervortreten,  wenn  nicht  allzu  starke  Ströme  benutzt  werden 
(Fig.  77  und  78),  dagegen  macht  sich  die  Schliessungszuckung  beider- 
seits in  ziemlich  gleicher  Weise  geltend.  Kur  bei  den  schwäch- 
sten eben  wirksamen  Strömen  erscheint  dieselbe  auf  Seite  der 
Kathode  merklich  höher  als  auf  Seite  der  Anode  und  kann  hier 
bisweilen  sogar  nur  als  kleiner  Höcker  angedeutet  sein.  Dieser 
Grössenunterschied,  der  bei  Anwendung  der  schwächsten  Ströme  sehr 
deutlich  ausgesprochen  ist,  erhält  sich  zuweilen  ziemlich  lange,  ver- 
schwindet aber  in  der  Regel,  wenn  anders  die  Erregbarkeit  und  das 
Leitungsvermögen  des  Muskels  nicht  gelitten  haben ,  bei  einer  noch 
immer  als  gering  zu  bezeichnenden  Stromesintensität,  um  völliger 
Gleichheit  der  Zuckungen  beider  Muskelhälften  Platz  zu  machen.  Die 
Vermuthung,  dass  die  mechanischen  Bedingungen  der  Verkürzung  der 
einen  Hälfte  ungünstigere  seien  als  die  der  anderen ,    lässt   sich  leicht 


Elektrische  Keiznng  der  Muskeln.  179 

durch  besondere  Controlversuche  als  unzutreffend  erweisen ,  so  dass 
das  geschilderte  Verhalten  des  Sartorius  gegen  die  schwächsten ,  eben 
wirksamen  Schliessungsreize  nicht  minder  geeignet  ist,  die  Bezold'- 
sche  Ansicht  über  den  Ort  der  directen  Reizung  durch  den  Strom  zu 
bestätigen,  wie  bei  Anwendung  stärkerer  Ströme  die  Thatsache  der 
Localisirung  der  S  chli  es sungsdaue reo  n  tr actio n.  Aus  den  er- 
wähnten Versuchen  geht  übrigens  auch  hervor,  dass  die  Erregungs- 
respective  Contractionswelle  auf  ihrem  Wege  durch  die  intrapolare 
Strecke  erlöschen  kann,  wenn  der  auslösende  ßeiz  sehr  schwach  ist, 
und  dass  sie  sich  auch  bei  etwas  stärkeren  Reizen  in  abnehmendem 
Grade  (mit  Decrement)  auf  die  Anoden-  (bei  Oeffnungserregung  dagegen 
Kathoden-)  Hälfte  fortpflanzt.  Dies  lässt  sich  auch  sehr  deutlich  im 
Verlaufe  einer  grösseren  Serie  von  Zuckungen  erkennen,  welche  durch 
wiederholte  SchHessung  bei  gleichbleibender  Stärke  und  Richtung  des 
Stromes  gewonnen  wurden.  Man  sieht  dann  die  Höhe  der  Zuckungs- 
curven  rascher  abnehmen  als  die  Grösse  der  D  a  u  e  r  c  o  n  t  r  a  c  t  i  o  n  ,  die 
auch  nach  dem  völligen  Ausbleiben  der  Schliessungszuckung  auf  der 
Kathodenseite  bei  jeder  neuen  Schliessung  hervortritt;  andererseits 
macht  sich  aber  auch  im  Verlauf  der  fortschreitenden  „Ermüdung" 
sehr  deutlich  die  ungleichmässige  Abnahme  der  Höhe  der 
Schliessungszuckung  auf  Seite  der  Kathode  und  Anode 
geltend;  während  beide  Curven  Anfangs  fast  gleich  hoch  sind,  er- 
scheint später  die  Zuckung  der  Anodenhälfte  kaum  halb  so  hoch  als  die 
der  Kathodenhälfte  und  bleibt  schliesslich  ganz  aus,  wenn  die  letztere 
noch  immer  deutlich  zuckt  (Fig.  77).  Wächst  die  Stromstärke  über 
eine  gewisse  Grenze  hinaus,  so  flndet  regelmässig  ein  scheinbares 
Uebergreifen  der  zuerst  immer  nur  an  dem  Kathoden- 
ende auftretenden  Schliessungsdauercontraction  über 
die  fixirte  Muskel  mitte  hinaus  statt;  es  macht  sich  diese  Er- 
scheinung meist  schon  bei  Strömen  geltend,  welche  noch  nicht  einmal 
genügen,  um  nach  der  gewöhnlichen  Schliessungszeit  wirksame 
Oeffnungserregung  auszulösen.  Dabei  ist  besonders  bemerkenswerth, 
dass  nicht,  wie  man  vielleicht  von  vornherein  erwarten  könnte,  der 
Grad  der  Dauerverkürzung  auf  Seite  der  Kathode  stets  und  unter 
allen  Umständen  ein  höherer  bleibt,  als  auf  Seite  der  Anode,  sondern 
das  Verhältniss  kehrt  sich  bei  Strömen  von  einer  gewissen 
Stärke  in  der  Regel  um.  Hinsichtlich  der  Schliessungszuckung 
hat  schon  Aeby  (20)  auf  ein  analoges  Verhältniss  aufmerksam  ge- 
macht, indem  er  fand,  dass  das  Verhältniss  der  Zuckungsgrösse  beider 
Muskelhälften  bei  Anwendung  starker  Ströme  und  unter  dem  Ein- 
flüsse fortschreitender  Ermüdung  sich  umkehrt,  indem  die  Zuckungen 
der  Anodenhälfte,  welche  Anfangs  gleich  oder  gar  kleiner  als  die  der 
Kathodenhälfte  waren,  allmählich  diese  letzteren  an  Grösse  übertreffen ; 
ja  es  kann  dann  sogar  der  Fall  eintreten,  dass  gerade  umgekehrt  wie 
bei  Strömen  von  mittlerer  Intensität  die  Kathodenhälfte  nur  mehr  eine 
schwache  Dauercontraction  zeigt,  während  die  Anödenhälfte  noch 
deutlich  bei  jeder  neuen  Schliessung  zuckt. 

Bei  allen  derartigen  Versuchen  ist  die  Assymetrie  des  Sartorius 
sehr  störend,  da,  wie  später  noch  genauer  zu  erörtern  sein  wird,  von 
vornherein  eine  Ungleichheit  der  Reizerfolge  an  beiden  Muskelhälften 
bei  wechselnder  Stromesrichtung  bedingt  wird.  Damit  steht  es  auch 
in  Zusammenhang,  dass  die  vorhin  erwähnte  Ausbreitung  dei- 
Schliessungsdauercontraction    über   beide   Muskelhälften    sich   bei   auf- 

12* 


280  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

steigender  (d.  i,  vom  Knieende  nach  dem  Beckenende  gerichteter) 
Durchströmung  stets  früher  und  in  einem  viel  höheren  Grade  bemerk- 
bar macht,  als  bei  absteigender.  Es  ist  dieser  Umstand  auch  insofern 
noch  besonders  bemerkenswerth,  als  in  Folge  der  zunehmenden  Dichte 
am  schmal  zulaufenden  unteren  Muskelende  und  der  dadurch  be- 
dingten stärkeren  Schliessungserregung  bei  absteigender  Durchströmung 
eher  ein  gegentheiliges  Verhalten  hätte  erwartet  werden  können,  wenn 
bei  Steigerung  der  Stromstärke  die  Grösse  der  Schliessungszuckung 
und  der  Grad  der  Ausbreitung  der  Schliessungsdauercontraction  wirk- 
lich in  erster  Linie  von  der  Stärke  der  Erregung  an  der  Kathode 
abhinge.  Wir  werden  aber  später  sehen,  dass  in  Wirklichkeit  die 
unter  den  genannten  Umständen  auftretende  Dauerverkürzung  der 
anodischen  Muskelhälfte  eine  Erscheinung  sui  generis  darstellt  und 
mit  der  normalen  kathodischen  Schliessungsdaue reo  ntraction 
an  den  Faserenden  in  gar  keinem  ursächlichen  Zusammenhang  steht. 
In  Bezug  auf  dieLocalisation  der  Oeffnungs  erregung  er- 
übrigt noch  die  Bemerkung,  dass  sie  in  ganz  derselben  Weise  wie  die 
Schliessungserregung  an  der  Kathode  zunächst  nur  an  der 
Anode  merklich  wird,  indem  Anfangs  nur  die  entsprechende  Muskel- 
hälfte zuckt  und  erst  wenn  die  Erregung  an  der  Anode  eine  gewisse 
Grösse  erreicht  hat,  pflanzt  sich  die  Contractionswelle  durch  den 
ganzen  Muskel,  wenngleich  mit  einem  merklichen,  sich  in  der  ver- 
schiedenen Zuckungshöhe  beider  Hälften  ausprägenden  Decrement 
fort.  In  gleicher  Weise  erscheint  auch  die  Oeffnungsdauer- 
contraction  auf  die  nächste  Umgebung  der  Eintrittsstelle  des 
Stromes  beschränkt. 

Sieht  man  ab  von  der  eben  erwähnten,  nur  unter  gewissen  Um- 
ständen zu  beobachtenden  Schliessungsdauercontraction  auf  Seite 
der  Anode,  so  ist  nicht  zu  verkennen ,  dass  die  vorstehend  erörterten 
Thatsachen  sämmtlich  sehr  zu  Gunsten  der  von  B  ez  o  Id  vertretenen  An- 
nahme einer  polaren  Erregung  des  Muskels  durch  den  Strom  sprechen. 
Dem  ungeachtet  kann  aber  die  Localisation  der  Schliessungs-  und  (3eff- 
nungsdauercontraction  an  sich  noch  nicht  als  ein  strenger  Beweis 
hierfür  gelten.  Denn  wenn  auch  die  Schliessungsdauercontraction  nur 
auf  die  Umgebung  der  Austrittsstelle  des  Stromes  beschränkt 
erscheint,  so  kann  man  doch  die  Annahme  machen,  und  sie  wurde 
thatsächlich  gemacht  (Brücke  23),  dass  der  Strom  auf  der  ganzen 
Strecke  erregend  wirkt,  wenn  man  weiter  annimmt,  dass  diese  directe 
Erregung  in  der  Gegend  der  Anode  wegen  einer  von  derselben  etwa 
ausgehenden  Depression  der  Erregbarkeit  sehr  bald  wirkungslos  wird. 
Dagegen  spricht  freilich  wieder  die  ausserordentlich  beschränkte  Aus- 
dehnung der  kathodischen  Schliessungsdauercontraction,  die  sich  schon 
bei  blosser  Inspection  stets  leicht  constatiren  lässt.  Immerhin  erscheint 
es  wünschenswerth,  noch  weitere  Beweise  beizubringen  und  insbesondere 
die  Thatsache  über  jeden  Zweifel  sicherzustellen,  dass  bei  jeder 
Schliessungszuckung  eine  Contractionswelle  von  der  Kathode,  bei  jeder 
OefFnungszuckung  dagegen  eine  solche  von  der  Anode  abläuft.  Auch 
hierzu  bietet  die  zuletzt  besprochene  Versuchsanordnung  an  einem  in 
der  Mitte  geklemmten  Muskel  erwünschte  Gelegenheit. 

Ehe  jedoch  hierauf  näher  eingegangen  wird,  erscheint  es  erforder- 
lich, die  für  alle  folgenden  Erörterungen  wichtige  Frage  zu  be- 
sprechen, was  man  bei  elektrischer  Reizung  eines  Muskels 
unter  Kathode  und  Anode  zu  verstehen  hat.     Bei  der  Mehr- 


Elektrische  Eeizung  der  Muskeln.  181 

zahl  der  älteren  Versuchen ,  wo  der  Strom  durch  metallische,  dem 
Muskel  direct  anliegende  Drähte  zugeführt  wurde,  kann  natürlich  über 
die  Bedeutung  des  Ausdruckes  Anode  und  Kathode  kein  Zweifel 
bestehen.  So  ist  auch  bei  den  Bezold  '  sehen  Versuchen  der  Ausdruck 
„die  Schliessungserregung  geht  von  der  Kathode ,  die  OefFnungs- 
erregung  von  der  Anode  aus"  kaum  misszuverstehen.  Anders  verhält 
sich  dies  aber  schon,  wenn  man  den  Strom  zwar  auch  durch  metallische 
Leiter,  aber  unter  Vermittelung  der  Knochen  und  Sehnen  dem  Muskel 
zufuhrt.  Dann  erhält  der  obige  Ausdruck  eine  wesentlich  andere 
Bedeutung.  Denn  es  ist  klar,  dass  die  Erregung  diesfalls  nicht  von 
den  Stellen  ausgehen  kann ,  wo  die  metallischen  Elektroden  den 
thierischen  Theilen  anliegen,  also  den  Knochen  beziehungsweise  Sehnen, 
sondern  hier  bilden  offenbar  die  sehnigen  Enden  der  Muskelfasern 
selbst  die  für  ihn  wesentlichen  Elektroden,  und  wenn  bei  solcher 
Anordnung  von  Elektroden  gesprochen  wird,  so  kann  darunter  nur 
verstanden  werden,  dass  der  Strom  an  den  Stellen  eine  besondere  Wir- 
kung entfaltet,  wo  er  in  dieMuskel fasern  ein- oder  aus  den- 
selben austritt.  Wie  leicht  so  Missverständnisse  entstehen  können, 
ergiebt  sich  besonders  klar  aus  der  Betrachtung  gewisser  von  Aeby 
(20)  und  Brücke  (23)  angestellten  Versuche,  welche  die  Bezold '- 
sehen  Anschauungen  widerlegen  sollten.  Der  Erstere  durchströmte 
die  beiden  noch  durch  das  Becken  vereinten  Schenkel  eines  Frosches 
der  Art,  dass  er  die  als  Elektroden  dienenden  Drähte  mit  den 
unteren  Enden  der  beiden  Schenkel  verband.  Da  jederseits  ein  Stück 
des  Oberschenkelknochens  subcutan  herausgeschnitten  worden  war,  so 
verkürzten  sich  bei  Schliessung  des  Stromes  die  Muskeln  beider  Ober- 
schenkel, aber  am  absteigend  durchströmten  stärker  als  am  aufsteigend 
durchströmten.  Indem  Aeby  dies  daraus  erklärte,  dass  der  erstere 
dem  negativen,  als  dem  seiner  Meinung  nach  stärker  wirkenden  Pole 
näher  lag,  verwechselte  er,  wie  schon  Engelmann  hervorhob,  die 
wesentlichen  oder  natürlichen  Elektroden  der  Muskeln  mit  den  für  sie 
unwesentlichen  künstlichen  Elektroden  des  Gesammtpräparates.  Denn 
offenbar  lag  im  aufsteigend  durchströmten  Oberschenkel  die  eigent- 
liche Anode  am  Knie ,  die  Kathode  am  Becken ,  während  für  den 
anderen  das  Gegentheil  der  Fall  war.  Brücke  benützte  ein  analoges 
Präparat,  nur  entfernte  er  die  ganze  Haut  und  ausser  den  Diaphysen 
der  Oberschenkelknochen  auch  noch  die  Streckmuskeln.  Fasste  er  die 
beiden  Waden  mit  Pincetten,  die  mit  einer  Kette  von  6 — 10  kleinen 
Daniell'schen  Elementen  verbunden  waren,  so  contrahirten  sich  beider- 
seits die  Muskeln  der  Oberschenkel  und  der  Wade.  „Hier  hatten," 
sagt  Brücke,  „von  der  Kathode  keine  Contractionswellen  auf  die 
Beuger  der  Oberschenkel  ablaufen  können.  Man  muss  deshalb  zu- 
geben, dass  sie  sich  unabhängig  von  jeder  Kathodenwirkung  contra- 
hirten und  lediglich,  weil  der  Strom  durch  sie  hindurchging ;  oder  man 
müsste  sich  dann  vorstellen ,  dass  für  die  Oberschenkelmuskeln  der 
Kathodenseite  das  Kniegelenk,  für  die  Anodenseite  der  Rest  des  Beckens 
als  Kathode  wirkt."  Diese  Auffassung  ist  aber,  wie  Hering  bemerkt, 
eben  die,  welche  Engelmann  längst  ausdrücklich  vertreten  hatte, 
denn  für  ihn  ist  Anode  der  Ort,  wo  der  Strom  in  die  Muskelfaser 
eintritt,  Kathode  der  Ort,  wo  er  dieselbe  wieder  verlässt.  Hering 
(1.  p.  241)  drückt  dies  noch  genauer  so  aus:  die  für  den  Mus- 
kel wesentliche  physiologische  Anode  ist  die  Ge- 
woder Strom   in    die  contractile 


182  Elektrische  Eeizung  der  Muskeln. 

Substanz  eintritt,  die  physiologische  Kathode  die  Ge- 
sammtheit  der  Stellen,  wo  er  aus  jener  austritt. 

Dieser  Satz  führt  zu  einer  Ueberlegung,  welche  am  besten  mit 
Hering's  (1)  eigenen  Worten  wiedergegeben  wird.  „Denken  wir 
uns  den  ganzen,  den  Muskel  längs  durchziehenden  Strom  in  einzelne 
Stromfäden  zerlegt,  so  werden  diese  zwar  in  einem  parallelfaserigen 
Muskel  im  Allgemeinen  der  Richtung  und  den  Grenzen  der  einzelnen 
Muskelfasern  parallel  sein,  und  die  Gesammtheit  der  anodischen  Stellen 
wird  im  Allgemeinen  an  einem,  die  der  kathodischen  am  andern  Muskel- 
ende liegen,  im  Besonderen  aber  wird  es  hiervon  zahlreiche  Ausnahmen 
geben.  Zunächst  ist,  ganz  abgesehen  von  etwaigen  sehnigen  Inscrip- 
tionen,  des  Falles  zu  gedenken,  in  welchem  einzelne  Muskelfasern  an 
verschiedenen  Stellen  im  Verlaufe  des  Muskels  endigen,  wenn  auch 
die  Hauptmasse  derselben  nachweisbar  annähernd  so  lang  ist  wie  der 
Muskel  selbst.  Sobald  es  aber  solche  Muskelfasern  giebt,  sind  auch 
die  Ein-  oder  Austrittsstellen  des  Stromes  nicht  mehr  ausschliesslich 
an  den  Muskelenden  zu  suchen,  und  ausser  den  hier  gelegenen  Haupt- 
angriffspunkten der  polaren  Stromwirkung  sind  noch  andere  Angriffs- 
punkte im  Muskel  zerstreut. 

Ferner  ist  ein  absoluter  Parallelismus  zwischen  dem  Verlaufe  der 
Stromfäden  und  dem  der  Muskelfasern  überhaupt  nicht  anzunehmen 
insbesondere  dann  nicht,  wenn  der  Muskel  nicht  gespannt,  oder  wenn 
er  an  irgend  einer  Stelle  gedrückt,  oder  wenn  seine  Oberfläche  nicht 
ganz  von  Resten  anhängender  fester  oder  flüssiger  Leiter  gesäubert  ist. 

In  Muskeln,  welche  schlaff  auf  einer  Platte  liegen ,  verlaufen  be- 
kanntlich die  Fasern  oft  keineswegs  geradlinig,  sondern  wellenförmig, 
besonders  nach  einer  vorausgegangenen  Zuckung  des  Muskels,  weil  die 
Fasern  wegen  der  Reibung  auf  der  Unterlage  sich  nicht  wieder 
strecken  konnten.  An  den  Rändern  jeder  einzelnen  Muskelfaser  findet 
dann  ein  den  Muskel  längsdurchfliessender  Strom  zahllose  Ein-  und 
Austrittsstelleu,  und  es  ist  ganz  falsch,  hier  die  physiologische  Anode 
und  Kathode  ausschliesslich  an  den  Muskelenden  zu  suchen.  Klemmt 
man  den  Muskel  an  irgend  einer  Stelle  seines  Verlaufes  ein,  so 
sind  starke  Einbiegungen  eines  Theiles  der  Muskelfasern  unvermeid- 
lich, besonders  dann,  wenn  der  Muskel  dabei  zwischen  zwei  Branchen 
mit  convexer  Oberfläche  zusammengedrückt  wird.  Das  Gleiche  ist 
der  Fall,  wenn  man  Hebel  oder  Pelotten  auf  den  Muskel  setzt,  die 
ihn  an  den  berührten  Stellen  eindrücken.  In  allen  diesen  Fällen  muss 
nothwendig  ein  Theil  der  Stromfäden  in  zahlreichen  Muskelfasern  an 
den  gedrückten  Stellen  aus  der  contractilen  Substanz  aus-  und  wieder 
in  dieselbe  eintreten." 

Diese  Erörterungen  zeigen  nun  auch,  weshalb  die  negativen  Re- 
sultate der  oben  erwähnten  Versuche  von  Aeby,  bei  welchen  durch 
aufgelegte  Fühlhebel  die  Fortpflanzung  einer  Contractionswelle  bei 
totaler  Durchströmung  eines  parallelfaserigen  Muskels  nachgewiesen 
werden  sollte ,  den  positiven  Ergebnissen  v.  B  e  z  o  1  d  '  s  gegenüber 
nicht  als  beweisend  gelten  können.  Bei  den  Versuchen  Aeby 's  fand 
eine  sehr  beträchtliche  Einbiegung  der  Fasern  an  den  beiden  Stellen 
statt,  wo  die  Hebel  auf  den  Muskel  aufgesetzt  waren.  Aeby  sagt 
selbst,  dass  „der  Hebel  in  die  Oberfäche  des  Muskels  etwas  hinein- 
gepresst  war".  So  konnte  daher  der  Strom  an  der  Einbiegungsstelle 
der  Fasern  sehr  wohl  aus  der  contractilen  Substanz  an  verschiedenen 
Stellen  aus-  und  eintreten  und  daher  direct  erregend  wirken. 


Elektrische  Reizuno:  der  Muskeln. 


183 


Bei  dieser  Sachlage  waren  neue  Versuche  über  die  Polwirkung 
des  elektrischen  Stromes  durchaus  erforderlich.  Der  schon  früher 
erwähnte  Engelman  n'sche  Klemmversuch  am  Sartorius  des  Frosches, 
wobei  zwar  die  Erregung  ungehindert  die  fixirte  Stelle  zu  passiren  vermag, 
die  Möglichkeit  einer  directen  Uebertragung  der  Contraction  der  einen  Mus- 
kelhälfte auf  die  andere  jedoch  unmöglich  gemacht  ist,  giebt  ein  einfaches 
Mittel  an  die  Hand,  den  Verlauf  der  Contractionswelle  graphisch  zu 
verzeichnen  und  so  der  Messung  zugänglich  zu  machen ;  denn  geht 
die  Erregung  bei  Schliessung  eines  Stromes  von  der  Kathode  aus,  so 
muss  nothwendig  an  einem  der  Art  fixirten,  seiner  ganzen  Länge  nach 
durchströmten  Muskel  die  der  Kathode  entsprechende  Hälfte  früher 
zucken ,  als  die  der  Anode  entsprechende.  Die  letztere  wird  sich 
erst  dann  verkürzen,  wenn  die  von  der  Kathode  ausgehende  Con- 
tractionswelle die  geldemmte  Strecke  passirt  hat.  Die  Grösse  der 
Zeitunterschiedes  im  Beginn 
der  Contraction  beider  Hälf- 
ten entspricht  dann  offenbar 
der  Fortpflanzungsgeschwin- 
digkeit der  Erreg ungs-  resp. 
Contractionswelle  vom  Ka- 
thodenende bis  zu  dem  ersten, 
jenseits  der  Klemme  ge- 
legenen Querschnitt. 

Die  Versuchsanordnung 
war  folgende  :  AlsChronoskop 
diente  eine  mit  einer  Schreib- 
feder versehene  Stimmgabel, 
welche  353  Schwingungen  in 
der  Sekunde  machte.  Diese 
wurde  nebst  dem  Doppel- 
myograph  mit  unpolarisir- 
baren  beweglichen  Elektroden 
vor  einem  vertical  stehenden 
Cylinder,  der  mittels  einer 
Kurbel    gedreht    wurde    und 

auf  dessen  berusster  Fläche  die  Zuckungen  beider  Muskelhälften 
verzeichnet  werden  sollten,  der  Art  angebracht,  dass  die  Spitze  der 
Stimmgabelschreibfeder  mit  den  zwei  in  entgegengesetzter  Richtung 
(nach  oben  und  unten)  sich  bewegenden  Muskelschreibstiften  in  einer 
Verticallinie  lag;  es  ist  auf  diese  Weise  ermöglicht,  unabhängig  von 
der  Umdrehungsgeschwindigkeit  des  Cylinders,  den  Zeitunterschied 
im  Beginn  der  beiden  Zuckungen ,  sowie  auch  das  Stadium  der 
latenten  Reizung  zu  messen,  wenn  man  den  Versuch  so  einrichtet, 
dass  genau  im  Momente  der  Schliessung  oder  Oeffnung  des  Reiz- 
stromes die  Stimmgabel  zu  schwingen  beginnt,  was  sich  leicht  durch 
Herausziehen  eines  zwischen  die  Branchen  geschobenen  leitenden 
Keiles  bewerkstelligen  lässt  (Fig.  86). 

Man  erhält  so  bei  Schliessung  eines  Kettenstromes  von  hinreichen- 
der Intensität  zwei  Zuckungscurven ,  die  eine  nach  oben,  die  andere 
nach  unten  gezeichnet,  die  nun  jedesmal  der  Art  gegenein- 
ander verschoben  sind,  dass  die  derKathodenhälfte  des 
Muskels  entsprechende  merklich  früher  von  der  Ab- 
scisse  sich  erhebt  als  die  andere  (Fig.  87  «  und />). 


Fig.  86. 
brechnng 


Kegistrirende  Stimmgabel  zur  Unter- 
(resp.  Schliessung)  eines  Stromes  ein- 
gerichtet.    (Nach  Hering.) 


184 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


Errichtet  man  auf  jeder  der  beiden  Abscissen  in  dem  Punkte, 
wo  sich  die  betreffende  Curve  abhebt,  je  eine  Senkrechte,  so  ergiebt 
die  Zahl  der  zwischen  den  beiden  Senkrechten  eingeschlossenen  Stimm- 
gabelschwingungen unmittelbar  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der 
Contractionswelle,  gemessen  von  dem  Orte  ihres  Entstehens  an  der  Ka- 
thode bis  zu  dem  ersten  jenseits  der  fixirten  Stelle  gelegenen  Muskel- 
querschnitt. Die  Länge  dieser  Strecke  beträgt  je  nach  der  Grösse 
des  Frosches  20 — 27  mm;  darauf  entfallen  4 — 6  Stimmgabelschwin- 
gungen, und  es  berechnet  sich  somit  die  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit der  Schliessungserregung  in  der  Sekunde  zu  1 — 2  m. 

Genau  dasselbe  Verfahren,  wie  es  eben  geschildert  wurde,  kann 
auch  dazu  dienen,  den  zeitlichen  Verlauf  der  Oeffnungserregung 


Fig.  87.     a    Schliessungszuckuug.      Aufsteigende    Stromesrichtung    (die    Kathode    liegt 

am    Beckenende    des    Sartorius).      Die    untere    Linie    entspricht    der    Kathodenhälfte; 

b  Schliessungszuckung.     Absteigende  Stromesrichtung.     Die  obere  Linie  entspricht  der 

Kathodenhälfte  des  Muskels. 


zu  untersuchen.  Da  der  entnervte  Muskel  schwerer  auf  den  Oeffnungs- 
reiz  reagirt,  so  muss  dann  die  Stromstärke  beträchtlich  höher  gewählt 
werden;  ausserdem  kommt  es,  wie  bereits  früher  auseinandergesetzt 
wurde,  sehr  auf  die  Dauer  der  Durchströmung  an;  ausnahmslos 
beginnt  bei  der  Oeffnungserregung  die  Anoden  half  te 
des  Muskels  früher  zu  zucken,  als  die  Kathodenhälfte, 
und  es  erscheinen  die  beiden  Zuckungscurven  in  diesem 
Sinne  gegeneinander  verschoben  (24). 

Kettenströme  von  sehr  kurzer  Dauer  (Stromstösse),  sowie  einzelne 
Inductionsschläge  wirken  im  Allgemeinen  nur  bei  ihrem  Ent- 
stehen, nicht  aber  beim  Verschwinden  erregend.  Schon  Chauveau 
beobachtete  an  den  Muskeln  lebender  Warmblüter,  dass  schwache 
Inductionsströme   und    Flaschenentladungsströme  vorzugsweise    in    der 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  185 

Kathodengegend  erregen,  und  Engelmann  betonte  mit  Nachdruck 
die  völlige  Uebereinstimmung  in  der  Wirkungsweise  sehr  kurz  dauern- 
der Kettenströme  und  einzelner  Inductionsschläge,  indem  er  zeigte, 
dass  ein  durch  ein  längeres  Stück  des  Kaninchenureter  geschickter 
Inductionsschlag  zumeist  bloss  an  der  Stelle  eine  Contractionswelle 
auslöst,  wo  sich  die  Kathode  befindet,  und  dass  nur  bei  sehr  hoher 
Erregbarkeit  und  Strömen  von  bedeutender  Intensität 
bisweilen  scheinbar  gleichzeitig  an  beiden  Polen  die 
Contraction  beginnt.  Ein  analoges  Verhalten  des  quergestreiften 
Muskels  bei  gleicher  Reizung  lässt  sich  ohne  Schwierigkeit  erweisen. 
Bedient  man  sich  als  Versuchsobject  wieder  des  curarisirten  Sartorius 
vom  Frosch  und  reizt  man  mit  einem  einzelnen  Oeffnungsinductions- 
schlag,  so  erhebt  sich  an  dem  im  Doppelmyographen  ein- 
gespannten, in  der  Mitte  geklemmten  Muskel  die  der  Ka- 
thodenhälfte entsprechende  Zuckungscurve  nach  einem 
sehr  kurzen  Stadium  der  latenten  Reizung  stets 
früher  von  der  Abscisse,  als  die  der  Anodenhälfte 
entsprechende  (24). 

Bei  hoher  Intensität  der  Inductionsströme  scheint  jedoch  auch  der 
anodische  OefFnungsreiz  wirksam  werden  zu  können,  was  nach  Engel- 
m  a  n  n's  Erfahrungen  am  Ureter  nicht  überraschen  kann .  R  e  g  e  c  z  y  (25) 
befestigte  den  Sartorius  ähnlich  wie  Engelmann  der  Art,  dass 
die  Mitte  desselben  durch  eine  Elfenbeinzange  schwach  aber  sicher 
fixirt  war,  während  das  obere  Ende  durch  eine  andere  Zange  un- 
beweglich befestigt  wurde;  das  untere  Ende  stand  mit  dem  Zeichen- 
hebel des  Myographen  in  Verbindung.  Die  untere  Elektrode  war  in 
der  den  Muskel  in  der  Mitte  befestigenden  Zange,  die  obere  dagegen 
an  dem  oberen  Muskelende  befestigt  (vergl.  Fig.  85).  Die  Richtung 
des  Inductionsstromes  (übergeschobene  Rollen)  konnte  durch  einen 
Stromwender  verändert  werden.  Es  ergab  sich  kein  Unterschied  in 
der  Grösse  des  Latenzstadiums  bei  Anwendung  des  aufsteigenden  oder 
absteigenden  Stromes,  wie  es  nach  Bezold's,  Engelmann's  und 
meinen  eigenen  Versuchen  mit  Kettenströmen  hätte  erwartet  werden 
dürfen.  Während  daher  bei  schwachen  Inductionsströmen  die  Erregung 
nur  an  der  Kathode  entsteht,  ist  die  Möglichkeit  einer  bipolaren 
Reizung  bei  starken  inducirten  Strömen  durch  die  erwähnten  Versuche 
nahe  gelegt.  Selbstverständlich  würde  die  Erregung  an  der  Kathode  als 
Schliessungs-,  die  an  der  Anode  als  Oeffnungsreizung  aufzufassen  sein. 

Es  wurde  schon  oben  erwähnt,  dass  rein  theoretisch  betrachtet  die 
Stromesrichtung  bei  reiner  Längsdurchströmung  eines  parallelfaserigen 
Muskels  ohne  jede  Bedeutung  für  den  Erfolg  der  Reizung  sein  würde, 
dass  aber  gerade  der  Sartorius  in  dieser  Beziehung  ein  sehr  abweichen- 
des Verhalten  darbietet,  welches,  wie  sich  leicht  zeigen  lässt,  im  Wesent- 
lichen in  seinem  assymetrischen  Bau  und  der  dadurch  bedingten  Ver- 
schiedenheit der  Stromdichte  an  beiden  Enden  begründet  ist.  Bei 
sorgfältiger  Abstufung  der  Stromesintensität  mit  dem  Rheochord  be- 
merkt man  in  allen  Fällen,  dass  an  dem  seiner  ganzen  Länge 
nach  durchströmten  Sartorius  regelmässig  zuerst  die 
Schliessung  des  absteigenden  Stromes  zuckungerregend 
wirkt;  erst  bei  weiterer  Steigerung  der  Stroraesintensität  beginnt 
auch  die  Schliessung  des  aufsteigenden  Stromes  zu  wirken;  ein  mehr 
oder  weniger  deutlicher  Unterschied  zu  Gunsten  der  absteigenden 
Strom esrichtuns:  bleibt    in  vielen  Fällen    auch  weiterhin  noch  bemerk- 


\QQ  Elektrische,  Eeizung  der  Muskeln. 

bar.  In  der  Kegel  aber  verwischt  sich  die  Anfangs  äusserst  auffallende 
Differenz  immer  mehr  und  mehr,  um  endlich  bei  stärkeren  Strömen 
unmerklich  zu  werden.  Umgekehrt  wie  die  Schliessungserregung  ver- 
hält sich  die  Oeffnungserregung,  deren  Entstehen  durch  die  aufsteigende 
Stromesrichtung  begünstigt  wird.  Die  Stelle  der  grössten  Stromdichte 
befindet  sich  bei  Längsdurchströmung  des  Sartorius  am  unteren  Ende 
des  Muskels  und  fällt  daher  bei  absteigender  Stromesrichtung  mit  der 
Austrittsstelle,  bei  aufsteigendem  Strome  mit  der  Eintrittsstelle  des- 
selben in  die  Muskelsubstanz  zusammen.  Da  im  ersteren  Falle  die 
Schliessungszuckung,  im  andern  die  Oeffnungszuckung  früher  eintritt, 
so  gestattet  schon  diese  Thatsache  allein,  allerdings  nur  für  Ströme 
von  nicht  zu  grosser  Intensität,  den  Wahrscheinlichkeitsschluss,  dass 
die  Schliessungserregung  von  der  Kathode,  die  Oeff- 
nungserregung von  der  Anode  ausgeht  (24). 

Auch  in  Bezug  auf  die  Grösse  des  Stadiums  der  latenten 
Reizung  macht  sich  die  verschiedene  Stromdichte  an 
den  beiden  Enden  des  längsdurchströmten  Sartorius 
in  sehr  auffälliger  Weise  geltend.  Dies  gilt  ebenso- 
wohl für  die  Schliessungs-  wie  für  die  Oeffnungs- 
erregung, und  zwar  ist  das  Latenzstadium  immer  dann 
kleiner,  wenn  die  Erregung  an  dem  unteren  (Knie-) Ende 
des  Muskels  entsteht,  vorausgesetzt,  dass  die  Strom- 
stärke in  beiden  Fällen  gleich  ist  (Fig.  87  a  und  h).  Zu  dem- 
selben Resultate  gelangte  in  der  Folge  auch  Tigerstedt  (2,  p.  185  flF.). 

Bei  der  fundamentalen  Wichtigkeit  des  polaren  Erregungsgesetzes 
erscheint  es  wünschenswerth,  dasselbe  in  möglichst  umfassender  und 
eindringlicher  Weise  durch  experimentelle  Thatsachen  zu  stützen.  Ob- 
schon  nun  die  bisher  mitgetheilten  Erfahrungen  wohl  als  genügende 
Beweise  angesehen  werden  können,  so  darf  doch  das  Verhalten 
partiell  verletzter  Muskeln  bei  elektrischer  Durch- 
strömung ganz  besonderes  Interesse  beanspruchen,  da  es  nicht  nur 
einen  unmittelbar  anschaulichen  Beweis  für  die  polare  Erregung  im 
Sinne  v.  Bezold's  liefert,  sondern  auch  für  die  Theorie  der  Wir- 
kungsweise des  Stromes  von  grosser  Bedeutung  ist. 

Präparirt  man  mit  möglichster  Sorgfolt  den  M.  sartorius  eines  stark 
mit  Curare  vergifteten  Frosches  und  spannt  denselben  im  Hering' sehen 
Doppelmyographen  ein,  so  bleibt  nachAbquetschen  des  einen 
oder  andern  Muskel en des  mit  der  Pincette  die  vorher 
bei  beiden  Stromes richtungen  in  annähernd  gleicher 
Stärke  eintretende  Schliessungserregung  entweder 
ganz  aus  oder  erscheint  doch  bedeutend  ge- 
schwächt, wenn  der  Reizstrom  den  Muskel  in  der 
Richtung  vom  unverletzten  zum  verletzten  Ende 
durchfliesst,  während  der  Erfolg  der  Schliessungs- 
reizung nach  Wendung  des  Stromes,  wobei  die  Kathode 
an  das  unversehrte  Muskelende  zu  liegen  kommt,  un- 
verändert bleibt.  Oeffnungserregung  lässt  sich  auch 
nach  lange  andauernder  Durchströmung  nur  äusserst 
selten  erzielen,  wenn  die  Anode  an  der  verletzten  Seite 
liegt  (26)  (Fig.  88).  In  einer  noch  viel  schlagenderen  Weise 
als  bei  mechanischer  Verletzung  macht  sich  der  Einfluss  partieller 
Abtödtung  durch  Wärme  geltend,  indem  nach  Anlegung  eines 
„thermischen  Querschnittes"  die  Erregbarkeit  des  Muskels  für  Ströme 


Elektrisclie  Reizung  der  Muskeln. 


187 


mittlerer  Intensität  jedesmal  ganz  oder  nahezu  aufgehoben  erscheint, 
wenn  die  wirksame  Elektrode  an  dem  wärmestarren  Ende  sich  be- 
findet. Da  sowohl  durch  mechanische  Verletzung  wie  durch  ther- 
mische Abtödtung  eine  Wulstung  des  Muskelendes,  sowie  andere 
Störungen  des  regelmässigen  Faserverlaufes  bedingt  werden,  so  er- 
scheint es  wünschenswerth,  eine  Methode  der  Abtödtung  anzuwenden, 
bei  welcher  dieser  Uebelstand  sich  möglichst  wenig  geltend  macht. 
Als  solche  empfiehlt  sich  nach  dem  Vorgange  K  ü  h  n  e '  s  das  locale 
Gefrierenlassen,  wobei  die  Form  des  Muskelendes  kaum  merklich  ge- 
ändert wird.  Bedient  man  sich  dabei  noch  ausserdem  des  Vortheiles, 
den  das  Versenken  des  Muskels  in  eine  indifi'erente,  von  parallelen 
Stromfäden  durchzogene  Flüssigkeit  gewährt,  so  lassen  sich  nach  dem 


B 


Fig.  88.     Zuckungscurve  des  in  der  Mitte  fixirten,  im  Dopi^elmyograplien  eingespannten 
Sartorius   (U  entspricht  der    unteren,    0  der   oberen   Muskelhälfte).     Einfluss   der  Ver- 
letzung (Abtödtung)    des    einen  (unteren)  Muskelendes.     Das   Zuckungspaar    A  vor,    B 
nach  der  Verletzung  gezeichnet. 

Vorgange  Engelmann's  (27)  und  Bernstein' s  (16)  die  betreffen- 
den Versuche  noch  wesentlich  exacter  gestalten,  da  hierbei  der  Ein- 
fluss der  assymetrischen  Gestalt  des  Muskels  ausgeschaltet  ist. 

Durch  die  oben  erwähnten  zeitmessenden  Versuche  ist  der  Nach- 
weis geliefert,  dass  inducirte  Ströme  auf  den  quergestreiften  Muskel 
ganz  ebenso  einwirken,  wie  Kettenströme  von  sehr  kurzer  Dauer,  und 
dass  demnach  der  Erregungsvorgang  in  der  Regel  nur  an  Stelle  der 
Kathode  ausgelöst  wird.  Wenn  man  die  weitere  Thatsache  berück- 
sichtigt, dass  der  Oefi'nungsschlag  stärker  erregend  wirkt  als  der 
Schliessungsschlag,  so  ist  es  leicht,  die  Reihenfolge  der  Erscheinungen 
zu  begreifen,  welche  man  beobachtet,  wenn  ein  durch  Curare  ent 
nervter  Sartorius  mit  allmählich  an  Stärke  zunehmenden  Schliessungs- 
und Oeffnungsschlägen  gereizt  wird,  so  dass  diese  den  Muskel  der 
ganzen  Länge  nach  durchsetzen. 

Es  wurde  oben  gezeigt,  dass  der  durch  die  Gestalt  des  Muskels 
bedingte  Unterschied  der  Dichte    des  Stromes    an    der  Ein-    und  Aus- 


\QQ  Elektrische  Eeizung  der  Muskeln. 

trittssteile  den  ungleichen  Erfolg  der  Erregung  durch  den  absteigenden 
und  aufsteigenden  Kettenstrom  bedingt;  dies  gilt  nun  auch  ebenso  für 
inducirte  Ströme,  so  dass  die  polare  Wirkung  derselben  auch  hier- 
durch festgestellt  erscheint.  Fast  noch  beweisender  zeigen  dies  Ver- 
suche an  einseitig  verletzten  Muskeln.  Sowohl  Oeffnungs-  wie 
Schliessungsinductionsströme,  deren  Intensität  aus- 
reichend ist,  um  den  unversehrten  Sartorius  maximal 
zu  erregen,  falls  die  Kathode  an  dem  tibialen  Ende  sich 
befindet,  wirken  nach  mechanischer,  thermischer  oder 
c  hemischer  Zerstörung  des  letzteren  erst  dann  wieder 
erregend,  wenn  die  Stromesintensität  durch  weitere 
Annäherung  der  Rollen  bedeutend  verstärkt  wird  (26). 
Wird  die  Verletzung  eines  parallelfaserigen  Muskels  nicht  allein  auf 
das  eine  Ende  beschränkt,  sondern  werden  beide  in  gleicher  Weise 
abgetödtet,  so  bleibt  die  Erregung  sowohl  bei  aufsteigender  wie  ab- 
steigender Stromrichtung  aus,  so  dass  also  eine  von  zwei  künst- 
lichen Querschnitten  begrenzte  Muskelfaser,  welche  in 
ihrer  ganzen  Ausdehnung  von  parallelen  Strom fä den 
gleicher  Dichtigkeit  durchflössen  wird,  stets  unerregt 
bleibt,  ob  nun  die  Stromfäden  der  Länge  nach  oder  rechtwinkelig 
zur  Faseraxe  hindurchgehen.  Unter  gewissen  Umständen,  wenn  irgend 
zur  Entstehung  von  wirksamen  Längscomponenten  Anlass  ge- 
geben ist,  kann  letzterenfalls  sogar  eher  Erregung  eintreten  als  bei 
reiner  Längsdurchströmung.  Mittels  der  früher  beschriebenen  Vor- 
richtung zur  queren  Durchströmung  des  Muskels  lassen  sich  diese 
Thatsachen  leicht  feststellen  und  bieten  nun  auch  sofort  eine  Er- 
klärung dafür,  dass  mehrfach  die  Ansicht  ausgesprochen  wurde,  die 
Quererregbarkeit  des  Muskels  sei  geringer  als  die  Längserregbarkeit. 
Dies  gilt  vor  Allem  bezüglich  der  schon  früher  erwähnten  Versuche 
Giuffre's,  bei  welchen  Muskelstücke  verwendet  wurden,  die  beider- 
seits von  einem  künstlichen  Querschnitt  begrenzt  waren. 

Für  die  Deutung  des  eigenthümlichen  Einflusses,  welchen  örtliche 
Verletzung  (Abtödtung)  der  Faserenden  auf  die  Erregbarkeit  des 
Muskels  bei  Längsdurchströmung  ausübt,  erscheint  die  Thatsache  von 
besonderer  Bedeutung,  dass  zur  Erreichung  des  genannten  Zweckes 
das  völlige  Abgestorbensein  der  Faserenden  gar  nicht  erforderlich  ist, 
sondern  gewisse  chemische  Veränderungen  der  Muskelsubstanz  be- 
reits genügen,  um  die  so  auffallenden  Erscheinungen  bei  elektrischer 
Erregung  herbeizuführen.  Bekanntlich  sind  die  meisten  Kalisalze  als 
heftige  Muskelgifte  zu  bezeichnen,  indem  sie  in  grösserer  Menge  in 
den  Kreislauf  gebracht  oder  auch  local  applicirt  die  Erregbarkeit  des 
quergestreiften  Stammesmuskels  und  des  Herzens  wesentlich  herab- 
setzen, bezw.  aufheben-,  kaum  minder  schädlich  erweisen  sich  für  die 
Muskelsubstanz  auch  die  verschiedensten  Säuren  selbst  schon  in  hohen 
Verdünnungsgraden.  Es  lässt  sich  nun  leicht  zeigen,  dass  locale  Be- 
handlung des  einen  oder  anderen  Sartoriusendes  mit  derartigen,  die 
Erregbarkeit  am  Orte  der  Einwirkung  schädigenden  Substanzen  ein 
ganz  analoges  Verhalten  des  Muskels  dem  Strome  gegenüber  erzeugt, 
wie  örtliche  Abtödtung.  Die  Versuche  wurden  ganz  ebenso  angestellt 
wie  die  früher  beschriebenen.  Die  zu  untersuchenden  chemischen 
Substanzen  wurden  in  wechselndem  Grade  verdünnt  angewendet, 
indem  etwa  das  dünnere  Knieende  des  Sartorius  durch  Auf- 
legen   eines    kleinen,    mit    der    zu    prüfenden   Flüssigkeit    getränkten 


Elektrische  Eeizung  der  Muskeln.  189 

Baumwollbausches,  oder  durch  Eintauchen  des  vertical  hängenden 
Muskels  benetzt  wird.  Am  auffallendsten  sind  die  Wirkungen  bei 
Anwendung  stark  verdünnter  (1 — 2*^/0)  Lösungen  von  saurem  Kalium- 
phosphat oder  einer  daran  reichen  Lösung  von  Fleischextract;  aus- 
nahmslos findet  man  nach  5  — 10  Minuten  dauernder 
Einwirkung  auf  das  tibiale  Muskelende  die  Erregbar- 
keit für  Schliessung  des  absteigenden  und  Oeffnung 
des  aufsteigenden  Stromes  mehr  oder  weniger  ge- 
schwächt, so  dass  die  Contractionsersch einungen  aus- 
bleiben oder  doch  nur  in  geringerem  Grade  eintreten, 
wenn  die  wirksame  Elektrode  an  dem  chemisch  ver- 
änderten Muskelende  sich  befindet  (26).  Es  muss  bemerkt 
werden,  dass  es  sich  auch  hier,  wie  in  den  oben  erwähnten  Versuchen, 
nicht  um  eine  völlige  Aufhebung,  sondern  nur  um  eine  durch  locale 
„Ermüdung"  bedingte  Verminderung  der  Erregbarkeit  für  die  eine 
Stromesrichtung  handelt,  so  dass  starke  absteigende  Ströme  einen  in 
der  geschilderten  Weise  behandelten  Sartorius  allerdings  wirksam  zu 
erregen  vermögen,  obschon  nicht  die  kleinste  wahrnehmbare  Bewegung 
desselben  Muskels  den  Moment  verräth,  in  welehem  ein  schwächerer 
absteigender  Strom  einbricht,  wenngleich  die  Intensität  desselben 
völlig  ausreicht,  um  bei  aufsteigender  Richtung  maximale  Schliessungs- 
erregungen auszulösen.  Lässt  sich  schon  aus  diesem  Resultate  der 
Schluss  ziehen,  dass  es  in  allen  erwähnten  Fällen  nicht  so- 
wohl von  dem  wirklichen  Abgestorbenseinder  contrac- 
tilen  Substanz  an  irgend  einer  beschränkten  Stelle, 
sondern  vielmehr  von  einer  durch  den  Eingriff  be- 
dingten chemischen  Ve ränderung  derselben  abhängt, 
ob  und  in  welchem  Grade  der  Seh  Hess  ungs-  oder 
Oeff  nungsreiz  an  der  betreffenden  Stelle  wirksam 
wird,  so  geht  dies  doch  noch  überzeugender  aus  dem  Umstände 
hervor,  dass  nach  örtlicher  Einwirkung  verdünnter  K  a  1  i  - 
Salzlösungen  die  normale  Erregbarkeit  für  beide  Stromes- 
richtungen durch  Auslaugen  mit  0,6 ''/o  NaCl -Lösung  schon 
nach  kurzer  Zeit  (10 — 15  Minuten)  vollständig  wieder  her- 
gestelltwerdenkann.  Es  braucht  kaum  besonders  hervorgehoben 
zu  werden,  dass  dies  bei  Anwendung  von  Substanzen,  welche  tiefer- 
greifende chemische  und  physikalische  Veränderungen  der  contractilen 
Substanz  bewirken,  wie  z.  B.  Sublimat,  starke  Säuren,  Alkohol  etc., 
ebensowenig  möglich  ist,  wie  nach  mechanischer  oder  thermischer 
Abtödtung  (26). 

In  einem  interessanten  Gegensatze  zu  den  Kalisalzen  stehen  hin- 
sichtlich ihrer  physiologischen  Wirkung  auf  quergestreifte  Muskeln 
die  entsprechenden,  chemisch  so  nahe  stehenden  Na- Salze.  Es 
Avurde  schon  an  anderer  Stelle  hervorgehoben,  dass  insbesondere 
durch  NagCOg,  wenn  es  in  verdünnter  Lösung  angewendet  wird,  die 
Erregbarkeit  gewisser  contractiler  Substanzen  (Saamenfäden,  Flimmer- 
zellen) sehr  erheblich  gesteigert  wird,  und  als  von  der  Möglichkeit 
rhythmischer  Erregung  quergestreifter  Muskeln  durch  den  dauernd  ge- 
schlossenen Kettenstrom  die  Rede  war,  wurde  erwähnt,  in  wie  hohem 
Grade  diese  Wirkungen  begünstigt  werden,  wenn  vor  der  elektrischen 
Reizung  die  Erregbarkeit  des  kathodischen  Muskelendes  durch  Be- 
handlung mit  NaäCOa  gesteigert  wird.  Taucht  man  das  Beckenende 
eines  curarisirten  unverletzten  Sortorius  in  eine  0,5 — 1  "^/o  Lösung   des 


190 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


genannten  Salzes,  so  zeigt  sich  schon  nach  kurzer  Zeit  die 
Erregbarkeit  des  Muskels  für  Schliessung  schwacher, 
aufsteigender  Ströme  ganz  ausserordentlich  gesteigert, 
während  der  absteigende  Strom  noch  in  völlig  nor- 
maler Weise  erregend  wirkt,  jedoch  Oeffnungserre- 
gungen  bereits  bei  einer  so  geringen  Stromstärke  und 
nach  so  kurzer  Schliessungsdauer  auslöst,  wie  esan 
einem    normalen   Muskel    niemals    beobachtet    wird   (26). 

(Fig.  89.)  Bisweilen 
tritt  unter  diesen  Um- 
ständen bei  Anwendung 
schwacher  absteigender 
Ströme  die  OefFnungs- 
zuckung  sehr  bedeutend 
verspätet  ein,  so  dass 
das  an  sich  ziemlich 
lange  Latenzstadium  der 
Oeffnungserregung  hier 
ohne  alle  weiteren 
Hülfsmittel  direct 
zu  beobachten  ist.  Wir 
werden  später  einer 
analogen  Erscheinung 
auch  bei  indirecter  Mus- 
kelreizung wieder  be- 
gegnen. Die  Bedeutung, 
welche  die  eben  erörter- 
ten Thatsachen  für  die 
Theorie  der  Stromes- 
wirkung und  insbeson- 
dere für  das  Gesetz  der 
polaren  Erregung  be- 
sitzen ,  ist  unmittelbar 
klar  und  bedarf  kaum 
noch  einer  eingehenden 
Besprechung.  Sie  lie- 
fern zunächst  ein  Mittel, 
den  Satz,  dass  die  elek- 
trische Erregung  des 
Muskels  eine  polare  Wirkung  des  Stromes  ist,  ebenso  schlagend  zu 
beweisen,  wie  es  durch  zeitmessende  Versuche  früher  geschehen  ist; 
denn  würden  wirklich  alle  Querschnitte  der  intrapolaren  Strecke  gleich- 
zeitig erregt,  so  könnte  niemals  eine  so  ausserordentliche  Verschieden- 
heit in  der  erregenden  Wirkung  beider  Stromesrichtungen  vorhanden 
sein,  wie  es  der  Fall  ist,  wenn  ein  einseitig  verletzter  oder  chemisch 
veränderter  Sartorius  seiner  ganzen  Länge  nach  durchströmt  wird.  Es 
zeigte  sich,  dass  die  Erregung  nur  dann  unverändert  bleibt,  wenn  die 
wirksame  Elektrode  an  dem  unversehrten  Muskelende  sich  befindet;  sie 
kann  anderenfalls  im  positiven  oder  negativen  Sinne  verändert  werden, 
wenn  die  Erregbarkeit  local  gesteigert  oder  herabgesetzt  wird.  Man 
kann,  wenn  die  Richtigkeit  des  Satzes  zugegeben  wird,  dass  die  elek- 
trische Erregung  eines  Muskels  eine  polare  Wirkung  des  Stromes  ist, 
nicht  bezweifeln,  dass  die  Grösse  sowohl  der  Schliessungserregung  wie 


Fig.  89.  Zuckungscurven  des  in  der  Mitte  fixirten,  im 
Doppelmyographen  befindlichen  Sartorius;  a,  b  normal, 
c,  d  nach  einseitiger  Behandlung  mit  NagClß  (am  oberen 
Muskelende).  Enorme  Verstärkung  der  aufsteigenden 
Schliessungszuckung;  Oeffnungszuckung  bei  schwachem 
absteigenden  Strom. 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  191 

auch  der  Oeffnungserregung  ab-  oder  zunehmen  muss,  wenn  die  Er- 
regbarkeit der  contractilen  Substanz  an  der  Aus-  bezw.  Eintrittsstelle 
ab  oder  zunimmt.  Ob  die  Erregbarkeit  in  allen  übrigen  Querschnitten 
des  Muskels  dabei  unverändert  geblieben  oder  im  positiven  oder  nega- 
tiven Sinne  verändert  ist,  ist  zwar  für  die  Fortleitung  des  Erre- 
gungsprocesses  von  dem  Orte  seiner  Entstehung  aus  von  wesentlicher 
Bedeutung,  beeinflusst  jedoch  nicht  im  Geringsten  die  Intensität  des 
an  der  Kathode  oder  Anode  ausgelösten  Erregungs Vorganges.  Man 
kann  sich  einen  an  beiden  Enden  gleich  dicken  parallelfaserigen 
Muskel  vorstellen,  dessen  sämmtliche  Querschnitte  normal  und  hoch- 
gradig erregbar  sind  mit  alleiniger  Ausnahme  der  Faserenden  auf  der 
einen  Seite,  an  welcher  Stelle  die  Erregbarkeit  der  contractilen  Sub- 
stanz durch  irgend  ein  Mittel  vermindert  worden  wäre;  wir  sind  dann 
theoretisch  zu  der  Erwartung  berechtigt,  dass  bei  Längsdurchströmung 
eines  solchen  Muskels  der  Erfolg  des  Schliessungs-  wie  auch  des 
Oeffnungsreizes  sich  in  hohem  Grade  von  der  Stromesrichtung 
abhängig  zeigen  würde,  da  ein  und  derselbe  Reiz  im  einen  Falle  auf 
normal  erregbare,  im  anderen  auf  „ermüdete"  Substanz  einwirken 
würde.  Je  hochgradiger  die  örtliche  Herabsetzung  der  Erregbarkeit 
an  dem  einen  Muskelende  ist,  desto  deutlicher  wird  natürlich  auch 
die  Differenz  in  der  erregenden  Wirkung  der  beiden  Stromesrich- 
tungen hervortreten  müssen.  Es  dürfte  aber  auch  die  Ausd  ehnung 
der  „localen  Ermüdung"  nicht  ohne  Einfluss  auf  den  Reizeffect 
sein,  wie  aus  der  folgenden  Betrachtung  hervorgeht.  Wenn  man  sich 
die  eine  Muskelhälfte  in  gleich  grosse  Zonen  getheilt  denkt  und  an- 
nimmt, dass  nur  die  Erregbarkeit  der  Endzone  herabgesetzt,  die  der 
übrigen  aber  normal  geblieben  ist,  so  wird  es  offenbar  gelingen,  einen 
Reiz  zu  finden,  dessen  Stärke  eben  ausreichend  ist,  um  in  der  ersteren 
einen  Erregungsvorgang  auszulösen,  der  sich  durch  Leitung  von  hier 
aus  noch  fortzupflanzen  vermag  und  auf  diese  Weise  zu  einer  merk- 
lichen Gestaltveränderung  entweder  des  ganzen  Muskels  oder  doch 
zum  mindesten  der  betreffenden  Muskelhälfte  führt.  Derselbe  Minimal- 
reiz wii'd  aber  dann  unvermögend  sein,  diesen  Effect  hervorzubringen, 
wenn  auch  die  Erregbarkeit  der  unmittelbar  an  den  Endquerschnitt 
grenzenden  Zonen  in  demselben  Maasse  herabgesetzt  ist.  Denn  es 
wird  dann  die  in  derselben  Stärke,  wie  vorhin,  ausgelöste  Erregung 
sclion  innerhalb  einer  ganz  kurzen  Strecke  erlöschen  oder  doch  nur 
zur  Entstehung  einer  schwachen  Dauercontraction  Veranlassung  geben. 

Ein  Muskel,  wie  er  bei  den  vorstehenden  Betrachtungen  voraus- 
gesetzt wurde,  lässt  sich  nun  in  der  That  künstlich  darstellen.  Es 
gelingt  in  schonendster  Weise  durch  Behandlung  des  einen  oder  anderen 
Sartoriusendes  mit  schwachen  Lösungen  gewisser  Salze  (insbesondere 
des  sauren  Kaliumphosphates  und  Fleischsaftes,  dessen  Wirkung  höchst- 
wahrscheinlich dem  Gehalte  an  dem  genannten  Salze  zuzuschreiben 
ist),  welche  die  Structur  des  eingetauchten  Muskelabschnittes  nicht 
wesentlich  alteriren,  die  Erregbarkeit  partiell  herabzusetzen,  und  man 
hat  dann  Gelegenheit,  sich  von  der  Uebereinstimmung  der  beobachteten 
Thatsachen  mit  den  theoretischen  Folgerungen  zu  überzeugen. 

In  noch  viel  vollkommener  Weise  lässt  sich  aber  durch  den 
elektrischen  Strom  selbst  und  zwar  durch  oft  wiederholte 
.Schliessung  bei  unveränderter  Stromesrichtung  ein  Zustand  des  Mus- 
kels herbeiführen,  in  welchem  derselbe  bloss  bei  einer  und  zwar 
der     entgegengesetzten     Stromesrichtung     auf     den      Schliessungsreiz 


192  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

reagirt,  ohne  dass  äusserlich  wahrnehmbare  Veränderungen  vorhanden 
sind.  Es  ist  kaum  zu  bezweifeln ,  dass  auch  dieser  Zustand 
durch  eine  auf  die  Austrittsstelle  des  Stromes  aus 
der  contractilen  Substanz  beschränkte  locale  Er- 
müdung erklärt  werden  niuss,  indem  zur  Zeit  kein  Grund 
vorhanden  ist,  Erregbarkeitsänderungen  der  intrapolaren  Muskel- 
strecke, weder  im  positiven,  noch  im  negativen  Sinne  anzunehmen, 
während  es  andererseits  zweifellos  sichersteht,  dass  an  der  („physio- 
logischen") Kathode  der  Vorgang  der  Erregung  nicht  nur  im  Augen- 
blicke der  Schliessung  erfolgt,  sondern  continuirlich,  wenn  auch  in 
abnehmender  Stärke,  andauert,  solange  der  Strom  geschlossen  bleibt; 
es  muss  daher  als  feststehend  betrachtet  werden,  dass  zum  minde- 
sten jene  Muskelstrecke,  über  welche  sich  die  Schlies- 
sungsdauercontraction  erstreckte,  in  höherem  Grade 
ermüdet  sein  wird,  als  der  Rest  des  Muskels,  an  dem  man 
während  einer  länger  andauernden,  nicht  allzu  starken  Durchströmung 
keinerlei  Erregungserscheinungen  wahrzunehmen  vermag. 

Der  Unterschied  zwischen  localer  und  allgemeiner  Ermüdung  eines 
Muskels  tritt  besonders  deutlich  hervor,  Avenn  man  das  Verhalten  eines 
durch  Tetanus  ermüdeten  Muskels  mit  dem  eines  durch  den  Ketten- 
strom polarisirten  vergleicht,  indem  man  gleich  starke  Reize  (am  besten 
einzelne  Inductionsschläge),  von  deren  Wirksamkeit  am  normalen  Mus- 
kel man  sich  vorher  überzeugt  hat,  auf  verschiedene  Stellen  einwirken 
lässt,  und  den  Unterschied  der  Zuckungsgrösse  vor  und  nach  der  Er- 
müdung bestimmt;  man  findet  im  ersteren  Falle  die  Erregbai'keit  des 
ganzen  Muskels  sehr  vermindert,  für  schwächere  (vorher  jedoch  wirk- 
same) Reize  sogar  ganz  aufgehoben,  Avähreud  ein  polarisirter  Muskel 
auf  Reize,  die  in  der  Continuität  desselben  einwirken,  ebenso  gut 
reagirt,  wie  vor  der  Durchströmung,  obgleich  die  Schliessung  des  dem 
„polarisirenden"  gleich  gerichteten  Stromes  keine  Spur  einer  Contraction 
bewirkt,  falls  derselbe  wieder  dieselben  Austrittsstellen  hat  Avie  zuvor. 
Daraus  geht  hervor,  dass  die  Ursache  des  Ausbleibens  der  Erregung 
in  diesem  Falle  nur  in  Veränderungen  gesucht  werden  kann,  die  eben 
an  den  Austi^ittsstellen  des  Stromes  aus  der  Muskelsubstanz,  beziehungs- 
weise in  der  nächsten  Umgebung  derselben,  localisirt  sind.  Dasselbe 
beweist  ferner  auch  der  Reizerfolg  bei  Schliessung  eines  dem  polari- 
sirenden entgegengesetzt  gerichteten  Stromes,  wobei  die  Erregung  an 
jener  Stelle  ausgelöst  wird,  wo  sich  vorher  die  Anode  befand.  Die 
dann  zu  beobachtende  Schliessungszuckung  des  polarisirten  Muskels 
ist  sogar  beträchtlich  grösser  als  vor  der  Durchströmung  (Volta'sche 
Alternative).  Ist  dies  richtig,  so  muss  auch  der  Erfolg  einer  Reizung 
durch  den  Inductionsstrom  verschieden  ausfsillen,  wenn  man  ihn  das 
eine  Mal  durch  die  ganze  Länge  eines  normalen  Muskels,  das  andere 
Mal  aber  nach  Polarisirung  desselben  hindurchgehen  lässt,  wobei  da- 
für zu  sorgen  ist,  dass  im  einen  wie  im  anderen  Falle  die  Aus-  be- 
ziehungsweise Eintrittsstellen  des  Stromes  nicht  gändert  werden.  Denn 
da  durch  zeitmessende  Versuche  festgestellt  ist,  dass  schwächere  Induc- 
tionsschläge ausschliesslich  an  der  Kathode  den  Erregungsvorgang  aus- 
lösen, so  kann  man  sich  mit  Vortheil  derselben  bedienen,  um  die  Er- 
regbarkeit des  Kathodenendes  eines  polarisirten  Muskels  zu  untersuchen, 
indem  man  sie  durch  die  ganze  Länge  desselben  hindurchschickt. 

Es  stellte  sich  auch  bei  diesen  Versuchen  eine  vollständige  Ueber- 
einstimmung  in  dem  Verhalten  eines  Sartorius,  dessen  eines  Ende  durch 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  193 

die  Einwirkung  gewisser  chemischer  Substanzen  in  einen  Zustand 
herabgesetzter  Erregbarkeit  versetzt  wurde  und  eines  solchen  heraus, 
der  durch  andauernde  Durchströmung  in  unveränderter  Richtung 
polarisirt  worden  war ;  um  nicht  bereits  Gesagtes  zu  wiederholen,  ver- 
weise ich  auf  das,  was  bereits  oben  hierüber  mitgetheilt  wurde. 

Wenn  man  endlich  noch  berücksichtigt,  dass  auch  die  Reihenfolge 
der  Ermüdungserscheinungen  nach  Einwirkung  eines  constanten  Stromes 
genau  dieselbe  ist,  wie  nach  einseitiger  Verletzung,  Erwärmung  oder 
chemischer  Abtödtung  eines  Muskels,  indem  vor  dem  gänzlichen  Weg- 
fall der  Schliessungszuckung  in  beiden  Fällen  eine  verschiedengradige 
Abnahme  der  Zuckungsgrösse  beobachtet  wird,  während  die  Schliessungs- 
dauercontraction  sich  am  längsten  erhält,  so  dürfte  es  wohl  kaum 
mehr  einem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  locale  Erregbarkeits- 
herabsetzung, welche  in  dem  einen  Falle  durch  die  an 
der  Austrittsstelle  des  Stromes  erfolgende  Dauererre- 
gung, im  anderen  aber  durch  eine  in  verschiedenerWeise 
zu  bewerkstelligende  chemische  Veränderung  der  Mus- 
kelsubstanz bedingt  wird,  die  einzige  Ursache  dafür  ist, 
dass  der  Muskel  gar  nicht  oder  nur  in  geringerem  Grade 
erregt  wird,  wenn  der  Strom  an  dem  derartig  veränder- 
ten Muskelende  aus-  oder  eintritt,  während  andernfalls 
sowohl  Seh  Hess  ungs-  Avie  auch  Oeffnungserr  egung  in 
normaler  Weise  erfolgt. 

Als  interessanten  Beweis  für  die  Richtigkeit  des  vorstehenden 
Satzes  sei  schliesslich  noch  folgende  Thatsache  angeführt:  es  kommt 
bei  Präparation  des  Sartorius  bisweilen,  wenn  auch  selten,  vor,  dass 
sich  die  Fasern  an  ganz  umschriebenen  Stellen  bleibend  contrahiren, 
so  dass  ein  „idiomuskulärer"  Wulst  entsteht,  der  bald  in  der  Mitte, 
bald  an  dem  einen  oder  anderen  Ende  des  Muskels  auftritt;  besonders 
häufig  ist  das  erstere  der  Fall;  es  muss  dahingestellt  bleiben,  ob  dies 
mit  der  von  Kühne  seiner  Zeit  behaupteten  grösseren  Erregbarkeit 
des  Sartorius  an  der  Eintrittsstelle  seiner  Nerven  zusammenhängt.  Ist 
nun  die  Wulstbildung  auf  das  untere  Sartoriusende  beschränkt,  so  be- 
obachtet man  bei  Längsdurchströmung  des  Muskels  das  interessante 
Verhalten,  dass  nur  der  aufsteigende  Strom  in  normaler 
Weise  Schliess  ungserr  egung  auslöst,  während  der  sonst 
stärker  wirksame  absteigende  Strom  entweder  gar  nicht 
(bei  mittelstarken  Strömen)  erregend  wirkt  oder  doch 
in  viel  geringerem  Grade,  als  der  aufsteigende.  Durch 
Versuche  an  stark  abgekühlten  Muskeln  ist  es  Hermann  (28)  gelungen, 
diese  Thatsache  des  „polaren  Versagens"  am  idiomuskulären  Wulste 
noch  sicherer  festzustellen. 

Dies  ist  auch  dann  noch  der  Fall,  wenn  bereits  keine  Spur  localer 
Contraction  mehr  vorhanden  ist;  denn  diese  verschwindet  bisweilen 
nach  einiger  Zeit  von  selbst,  besonders  aber  dann,  wenn  man  den 
Muskel  in  0,6  °/o  Kochsalzlösung  badet. 

Es  muss  demnach  hier  in  ganz  ähnlicher  Weise  wie  durch  die 
Schliessungsdauercontraction  bei  Einwirkung  des  constanten  Stromes, 
durch  die  einer  mechanischen  Reizung  (vielleicht  Dehnung?)  unter 
Umständen  folgende  partielle  Dauererregung  ein  Zustand  herabgesetzter 
Erregbarkeit  an  dem  Orte  der  idiomuskulären  Contraction  zu  Stande 
gekommen  sein,  was  ja  im  Grunde  eine  nothwendige  Folge  des  Um- 
standes  ist,  dass  jede  Erregung  mit  StoflPverbrauch  einhergeht. 

Biedermann,  Elektiophysiologie.  13 


194  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

Es  wurde  bereits  zu  wiederholten  Malen  hervorgehoben,  dass  auch 
das  Verhalten,  welches  ein  Sartorius,  dessen  eines  Ende  mechanisch 
oder  durch  Wärme  abgetödtet  wurde,  dem  elektrischen  Strome 
gegenüber  darbietet,  sich  durch  die  Annahme  einer  auf  den  Ort  des 
Eingriffes  beschränkten  Erregbarkeitsverminderung  befriedigend  er- 
klären lasse,  und  es  obliegt  mir  jetzt  noch,  diese  Anschauung  näher 
zu  begründen. 

Da  es  als  eine  wohlbegründete  Thatsache  angesehen  werden  kann, 
dass  eine  unversehrte,  allseitig  vom  Sarkolemm  umhüllte  Muskelfaser 
jedesmal  dann  erregt  wird,  wenn  ein  elektrischer  Strom  an  irgend 
einem  Punkte  ihrer  Oberfläche  austritt,  und  da  ferner  die  Beschaö^en- 
heit  des  Leiters,  durch  welchen  der  Aus-  oder  Eintritt  des  Stromes 
erfolgt,  erfahrungsgemäss  gleichgültig  ist,  wenn  man  von  der  unver- 
meidlichen Polarisation  metallischer  Elektroden  absieht,  so  scheint  auf 
den  ersten  Blick  das  Verhalten  eines  einseitig  verletzten  Muskels  eine 
Ausnahme  von  der  allgemeinen  Regel  zu  bilden,  indem  sich  heraus- 
stellt, dass  sowohl  die  Schliessungs-  wie  auch  die  Oeffnungserregung 
ausbleibt  oder  doch  nur  in  geschwächtem  Maasse  eintritt,  wenn  der 
Strom  aus  lebender,  unversehrter  Muskelsubstanz  in  abgestorbene  über- 
tritt oder  umgekehrt. 

Es  lässt  sich  leicht  zeigen,  dass  die  todte  contractile  Substanz 
als  solche  dem  Strome  gegenüber  sich  ganz  ebenso  verhält,  wie  irgend 
ein  anderes  als  indifferenter  Leiter  dienendes  thierisches  Gewebe 
(Sehne,  Knochen  etc.);  man  kann  die  Thonspitzen  unpolarisirbarer 
Elektroden  mit  abgestorbenem  Muskelfleisch  umhüllen  und  mittels 
derselben  den  Strom  der  unversehrten  Oberfläche  eines  Muskels  zu- 
führen, ohne  das  Zustandekommen  des  Erregungsvorganges  zu  hindern 
oder  zu  erschweren. 

Es  müssen  demnach  an  der  Orenze  zwischen  abgestorbenem 
und  lebendem  Faserinhalt  in  der  Continuität  eines  Muskels 
noch  ganz  besondere  Verhältnisse  in  Betracht  kommen,  welche  die 
Erregung  zu  hemmen  im  Stande  sind. 

Dass  die  Gesammterregbarkeit  des  Muskels  durch  ein- 
seitige Abtödtung  nicht  geschädigt  wird,  lehrt  der  einfache  Versuch 
der  Stromwendung;  allein  es  muss  bemerkt  werden,  dass  allerdings 
hinreichender  Grund  zu  der  Annahme  vorliegt,  dass  in  nächster 
Nähe  einer  verletzten  Stelle  die  Erregbarkeit  mehr 
oder  minder  herabgesetzt  ist.  Dem  scheint  zwar  der  Ver- 
such zu  Avidersprechen ,  dass ,  Avenn  man  eine  Brücke  aus  Koch- 
salzthon  bildet,  welche  die  Epiphyse  der  tibia  (oder  des  Becken- 
knochens, wenn  das  obere  Sartoriusende  verletzt  wurde)  mit  einem 
jenseits  der  verletzten  Stelle  gelegenen  Punkte  der  Muskeloberfläche 
in  leitende  Verbindung  setzt,  der  Muskel  bei  Schliessung  eines  ab- 
steigenden (beziehungsweise  eines  aufsteigenden)  Stromes  fast  ebenso 
stark  zuckt,  wie  vor  der  Verletzung,  allein  es  ist  zu  bedenken,  dass 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  der  Zustand  hochgradiger  Erregbar- 
keitsherabsetzung auf  die  nächste  Umgebung  der  verletzten  Stelle 
beschränkt  ist;  Avenigstens  dürfte  dies  in  der  ersten  Zeit  nach  dem 
einfachen  Zerdrücken  der  Faserenden  auf  der  einen  Seite  zutreffend 
sein.  Dass  aber  überhaupt  die  Erregbarkeit  an  der  Grenze  abgestorbenen 
und  lebenden  Faserinhaltes  vermindert  sein  muss,  geht  schon 
aus  dem  Umstände  hervor,  dass  ja  der  Process  des  Absterbens  unauf- 
haltsam durch  die  ganze  Länge  einer  Faser  hindurch  fortkriecht,  wenn 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  195 

er  einmal  an  irgend  einer  Stelle  eingeleitet  wurde,  und  dass  demnach 
abgestorbener  und  lebender  Faserinhalt  niemals  unvermittelt  an- 
einandergrenzen,  sondern  dass  ausgehend  von  jenem  Querschnitte  des 
Muskels,  dessen  Structur  durch  den  gesetzten  Eingriff  zerstört  wurde 
und  der  völlig  abgestorben  ist,  in  den  darauf  folgenden  Querschnitten 
nahe  zusammengedrängt  alle  nur  möglichen  Stadien  des  Ab- 
sterbens  und  dem  entsprechend  auch  der  Erregbarkeitauf- 
einander  folgen,  wie  dies  bereits  Hermann*)  hervorgehoben  hat. 

Wenn  es  richtig  ist,  dass,  wie  oben  schon  erwähnt  wurde,  auch 
die  Ausdehnung  der  „localen  Ermüdung"  von  Einfluss  darauf  ist, 
ob  ein  elektrischer  Reiz  von  gegebener  Grösse  eine  Gestaltveränderung 
des  Muskels  zur  Folge  hat  oder  nicht,  so  kann  man  wohl  voraussetzen, 
dass  die  langsame  Abtödtung  des  einen  oder  anderen  Sartoriusendes 
durch  Eintauchen  in  erwärmtes  Wasser  die  Erregbarkeit  des  Muskels 
für  die  eine  Stromesrichtung  in  vollkommenerer  Weise  herabzusetzen 
vermöchte  als  die  einfache  mechanische  Verletzung;  denn  es  dürfte 
nicht  zu  bezweifeln  sein,  dass  gerade  hier  durch  die  locale,  nur  lang- 
sam sich  steigernde  Einwirkung  erhöhter  Temperatur  eine  möglichst 
vollkommene  Abstufung  der  Erregbarkeit  der  dem  wärmestarren  Ab- 
schnitte des  Muskels  zunächst  gelegenen  Querschnitte  erreicht  werden 
kann.  Das  Versuchergebniss  bestätigt  denn  auch  in  der  That,  wie 
oben  gezeigt  wurde,  diese  Voraussetzung. 

Nachdem  für  den  quergestreiften  Skeletmuskel  die  ausnahmslose 
Gültigkeit  des  polaren  Erregungsgesetzes  über  jeden  Zweifel  sicher- 
gestellt erscheint,  kann  von  vornherein  kaum  bezweifelt  werden,  dass 
dasselbe  auch  auf  den  Herzmuskel,  sowie  auf  glatte  Muskeln  Anwendung 
findet.  Mit  Rücksicht  auf  die  Zusammensetzung  des  Herzmuskels,  sowie 
aller  glattmuskeligen  Theile  aus  zahllosen,  dicht  an  einander  grenzenden 
ZelUndividuen,  welche  unter  einander  durch  eine  Kittsubstanz  ver- 
bunden sind,  erscheint  jedoch  die  Frage  gerechtfertigt,  was  man  in 
Hinblick  auf  die  früher  gegebenen  Definitionen  in  diesem  Falle  unter 
„physiologischer  Anode  oder  Kathode"  zu  verstehen  hat.  Stellt  man 
sich,  um  an  einen  einfachen  Fall  anzuknüpfen,  ein  aus  parallel  zu  ein- 
ander verlaufenden  Faserzellen  gebildetes  Band  vor,  wie  es  annähernd 
ein  Präparat  des  Muschelschliessmuskels  darstellt,  so  würde  von  vorn- 
herein zu  erwarten  sein,  dass  ein  derartiges  Präparat  bei  Längsdurch- 
strömung  sich  ähnlich  verhielte,  wie  etwa  ein  polymerer,  quergestreifter 
Muskel,  dessen  einzelne  Theilstücke  nicht  nur  im  anatomischen,  son- 
dern auch  im  physiologischen  Sinne  als  selbstständige  Individuen  zu  be- 
trachten sind.  In  sehr  anschaulicher  Weise  lässt  sich  dies  an  dem 
Musculus  rectus  abdominis  des  Frosches  zeigen.  Wird  derselbe  frei 
präparirt  und  zwischen  Kork  massig  gespannt  durchströmt ,  so 
zeigt  sich,  wie  zu  erwarten  war,  bei  und  während  der  Schliessung  an 
der  der  Anode  zugewendeten  Seite  jeder  sehnigen  Inscription  eine 
namentlich  im  durchfallenden  Lichte,  bei  Lupenvergrösserung  sehr 
deutliche  und  scharf  begrenzte  Wulstung  der  Faserenden,  entsprechend 
der  kathodischen  Schliessungsdauercontraction.  Dieselbe  verschwindet 
sofort  im  Momente  der  Oeffnung  des  Stromkreises,  um  eventuell  einer 
anodischen  Oeffnungsdauercontraction  an  der  anderen  Seite  der  In- 
scription Platz  zu  machen.     Es    ist  selbstverständlich,    dass    auch    die 


Hermann,  Weitere  Unters,  z.  Phys.  cl.  Nerven  u.  Mu.skeln.  Berlin  1867.  p.  5 f. 

13* 


J96  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

Schliessungs-  und  Oeffnungszuckung  jedes  Theilstückes  von  denselben 
Stellen  ausgeht. 

Das  ganze  gegliederte  Muskelband  wird  also  an  so 
vielen  Stellen  in  der  Continuität  erregt,  als  Theil- 
stücke  vorhanden  sind,  indem  jedes  Glied  der  Muskel- 
kette seine  zugehörige  Kathode  und  Anode  besitzt. 
Würden  nun  benachbarte  Zellindidduen  des  Herzens  oder  irgend 
eines  glattmuskeligen  Theiles  sich  ähnlich  verhalten,  wie  die  Glieder 
eines  polymeren  Muskels ,  und  spielte  demnach  die  Zwischen-  oder 
Kittsubstanz  dieselbe  Rolle,  wie  die  sehnigen  Inscriptionen,  so  müsste 
man  erwarten,  dass  der  elektrische  Strom  in  der  Continuität  der 
Theile  an  so  vielen  Stellen  bei  der  Schliessung  (bezw.  Oeffnung)  er- 
regend wirkt,  als  einzelne  Zellen  vorhanden  sind.  Denn  offenbar 
Avürde  dann  jede  der  letzteren  ihre  eigene  Kathode  und  Anode  haben, 
so  dass  bei  der  geringen  Länge  der  betreffenden  zelligen  Elemente 
die  Erregung  (Contraction)  thatsächlich  auf  der  ganzen  durchflossenen 
Strecke  an  zahllosen  Punkten  gleichzeitig  beginnen  würde.  Dieser 
theoretischen  Folgerung  entspricht  nun  aber  das  Verhalten  derartiger, 
aus  einkernigen  Zellen  aufgebauter  Muskeln  in  keiner  Weise.  Durch 
Engelmann 's  classische  Untersuchungen  (5)  wissen  wir ,  dass  der 
Ureter  sowohl  wie  das  Herz  sich  nicht  nur  in  Bezug  auf  die  Leitung 
des  Erregungsvorganges,  sondern  auch  hinsichtlich  der  polaren 
Erregung  durch  den  elektrischen  Strom  „wie  eine  einzige, 
kolossale  hohle  Muskelfaser"  verhalten.  Es  beweist  dies  aufs  Neue, 
dass  die  Kittsubstanz  nicht  eine  Trennung  der  Zellen  im  Sinne  in- 
differenter Scheidewände  bedingt,  sondern  sozusagen  die  Continuität 
der  Substanz  vermittelt.  Denkt  man  sich  daher  eine  Reihe  mit  den 
Enden  an  einander  stossender  Muskelzellen  der  Länge  nach  durch- 
strömt, so  verhalten  sie  sich  dem  Strom  gegenüber  wie  eine  einzige 
Muskelfaser,  und  die  Kittleisten  bilden  ebenso  wenig  secundäre  Ka- 
thoden und  Anoden,  wie  etwa  die  Zwischenscheiben  innerhalb  der 
quergestreiften  Fibrillen.  Im  einen  wie  im  andern  Falle  be- 
steht im  physiologischen  Sinne  Continuität  der  Sub- 
stanz, Dies  lässt  sich  in  sehr  anschaulicher  Weise  sowohl  am  Herz- 
muskel wie  an  verschiedenen  glattmuskeligen  Theilen  beweisen.  Be- 
dient man  sich  des  vom  Vorhof  getrennten  Ventrikels  des  Frosch- 
herzens (der  „Herzspitze")  als  Untersuchungsobject,  so  befindet  man 
sich  in  Folge  der  assymetrischen  Form  des  Präparates  in  ähnlicher 
Lage  wie  beim  Sartorius,  indem  die  Stromdichte  bei  directem  Anlegen 
der  Elektroden  an  beiden  Enden  (Spitze  und  Basis)  sehr  ungleich 
ausfallen  würde.  Es  erscheint  daher  zweckmässig,  die  Herzspitze 
nach  dem  Vorgange  Engel  mann 's  (27,  p.  101)  in  ein  mit  indiffe- 
renter Flüssigkeit  gefülltes  Reizkästchen  zu  versenken ,  wobei  dann 
während  der  Dauer  der  Durchströmung  annähernd  gleiche  Strom- 
dichte an  allen  Stellen  des  Präparates  herrscht.  Engelmann 
benutzt  ein  13  cm  langes,  4  cm  breites  und  3  cm  hohes  Glasgefäss, 
das  etwa  V/2  cm  hoch  mit  einer  wässerigen  Lösung  von  NaCl  (0,5  °/o) 
und  arabischen  Gummi  (2  ^lo)  gefüllt  wird  und  in  welches  die  Elek- 
troden tauchen.  Schliesst  man  nun  einen  Kettenstrom  oder  schickt 
einen  einzelnen  Inductionsschlag  hindurch ,  so  zeigt  sich ,  dass ,  wenn 
die  Längsaxe  des  Ventrikels  parallel  der  Stromesrichtung  liegt,  die 
Schnittfläche  daher  senkrecht  zu  dieser  steht,  aufsteigend  (d.  h.  von 
der  Herzspitze  nach  der  Basis  hin)   gerichtete  Ströme  unmittelbar  und 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  197 

kurze  Zeit  nach  Anlegung  des  Schnittes  unwirksam  sind  oder  doch 
schwächer  erregend  wirken  als  absteigend  gerichtete.  Nach  wenigen 
Minuten  wird  jedoch  die  Erregbarkeit  für  aufsteigende  Ströme  wieder 
merklich  und  nimmt  nun  rasch  zu,  um  bei  Anfrischung  der  Wund- 
fläche wieder  auf  Null  zu  sinken  u.  s.  w.  Die  gleiche  Abhängigkeit 
des  Reizerfolges  von  der  Richtung  des  Stromes  tritt  auch  hervor  nach 
Verletzung  der  einen  oder  der  andern  Seitenfläche  des  Präparates, 
sofern  dasselbe  so  gelagert  wird,  dass  die  Wundfläche  lotrecht  zur 
Richtung  des  Stromes  steht. 

Um  einen  kurzen  Ausdruck  einzuführen,  soll  nach  dem  Vorschlag 
Hermann's  diejenige  Richtung  des  Reizstromes,  bei  welcher  derselbe 
nach  der  Wundfläche  hin  gerichtet  ist,  als  „at terminal"  („ad- 
mortal")  und  die  andere  als  „abterminal"  („abmortal") 
bezeichnet  werden.  Dann  lässt  sich  das  beobachtete  Verhalten 
kurz  so  ausdrücken :  Unmittelbar  nach  der  Verletzung 
der  Herzspitze  ist  die  Schliessung  atterminaler  Ströme 
wirkungslos,  wogegen  unter  gleichen  Verhältnissen 
die  Schliessung  abterminaler  erregend  wirkt.  Es  be- 
steht hier  off'enbar  eine  vollkommene  Analogie  mit  dem  Verhalten 
des  einseitig  verletzten  (oder  sonstwie  chemisch  veränderten)  Sar- 
torius,  und  dieselben  Schlussfolgerungen  werden  in  beiden  Fällen  zu 
ziehen  sein.  Zunächst  beweisen  die  Vei'suche  schlagend,  dass  die 
Contractionen  des  Herzens  bei  elektrischer  Reizung  ausschliesslich  von 
dem  Orte  ausgehen,  wo  der  Strom  aus  dem  lebenden  Muskelgewebe 
in  das  angrenzende  fremde  Medium  austritt,  sei  dies  nun  Salzlösung 
oder  abgestorbene  Muskelsubstanz.  Hier  liegt  die  physiologi- 
sche Kathode  der  Präparate,  und  hier  allein  entsteht  die 
Schliessungserregung.  Nur  unter  dieser  Voraussetzung  ist  der  Ein- 
fluss  örtlicher  Verletzung  auf  die  Erregbarkeit  für  Schliessung  atter- 
minaler Ströme  bei  fehlendem  Einfluss  auf  die  Erregbarkeit  für  ab- 
terminale Schliessung  verständlich.  Es  gilt  aber  für  die  aus  zahllosen 
unregelmässig  durcheinander  geflochtenen  Zellen  gebildete  Herzspitze 
ganz  dasselbe  wie  für  den  annähernd  parallelfaserigen,  monomeren 
Sartorius.  Wie  hier,  pflanzt  sich  auch  die  Erregung  bei  der  Schliessung 
von  ihrem  Ausgangspunkte  stets  auf  die  ganze  übrige  Muskelmasse 
durch  Leitung  (von  Zelle  zu  Zelle)  fort,  wobei  die  Lage  der  Kathode 
an  der  Oberfläche  des  Präparates  vollkommen  gleichgültig  erscheint, 
während  dagegen  die  Erregbarkeit  der  betreffenden  Stelle  von  wesent- 
lichem Einfluss  auf  den  Reizerfolg  ist.  Tritt  der  Strom  an  einer  ver- 
letzten Stelle  aus,  so  findet  die  Erregung  an  einer  minder  erregbaren 
Stelle  statt,  und  es  erklärt  sich  der  Erfolg  ganz  ebenso,  wie  unter 
gleichen  Umständen  beim  Sartorius.  Als  bemerkenswerther  Unter- 
schied bleibt  nur  die  rasche  Wiederherstellung  des  nor- 
malen Verhaltens  bestehen.  Nach  Engelmann  ergiebt  sich  die 
Erklärung  dieses  Verhaltens  ungezwungen  unter  der  Voraussetzung, 
dass  die  einzelnen  Zellen,  obschon  im  Leben  mit  ihren 
Nachbarn  leitend  verbunden,  doch  jede  für  sich  ab- 
sterben; mit  anderen  Worten,  dass  der  Process  des  Ab- 
sterbens  nicht  wie  der  der  Erregung  von  Zelle  auf  Zelle 
üb  ergreift.  Sind  die  oberflächlich  gelegenen  Zellen  ganz  abge- 
storben, so  wird  die  Kathode  nicht  mehr  an  der  Grenze  von  ab- 
sterbender, also  weniger  reizbarer  Muskelsubstanz  einerseits,  und  um- 
gebender Flüssigkeit  oder  abgestorbener  Zellsubstanz  anderseits  liegen, 


198  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

sondern  tiefer:  an  der  Grenze  lebender  und  abgestorbener  Zellen, 
d.  h.  an  der  Demarcations fläche.  Ein  analoges  Verhalten 
würde,  wie  leicht  zu  ersehen,  auch  jeder  polymere  quergestreifte 
Stammesmuskel  darbieten.  Eine  weitere  Bestätigung  dieser  Anschau- 
ung werden  wir  später  bei  Betrachtung  der  elektromotorischen  Wir- 
kungen des  Herzens  kennen  lernen. 

Um  am  gänzlich  unversehrten,  in  diastolischer  Erschlaffung  ver- 
harrenden Herzmuskel  das  Gesetz  der  polaren  Erregung  zu  demon- 
striren ,  bietet  sich  noch  eine  andere  Versuchsmethode  dar,  nämlich 
die  sogenannte  monopolare  Reizung.  Da  die  Erregung  durch 
den  elektrischen  Strom  in  erster  Linie  von  der  Dichte  desselben  an 
der  Ein-  resp.  Austrittsstelle  abhängt,  so  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass 
man  durch  Herabminderung  derselben  am  einen  Pole  bei  gleichzeitiger 
möglichster  Steigerung  am  anderen  sich  über  die  Gesetze  der  polaren 
Stromwirkungen  ebenfalls  Aufschluss  zu  verschaffen  vermag.  Ja,  es 
gelingt  auf  diesem  Wege,  wie  Kühne  (28)  gezeigt  hat,  eine  so 
localisirte  elektrische  Erregung  zu  bewirken,  wie  sonst  höchstens 
durch  mechanische  Reizung.  Denkt  man  sich  an  der  Oberfläche  eines 
irgendwie  gestalteten  Leiters  zwei  punktförmige,  stromzuführende  Elek- 
troden angelegt,  so  wird  bekanntlich  das  ganze  Innere  desselben  von 
Stromfaden  durchflössen,  deren  Dichte  an  den  Berührungsstellen  am 
grössten  ist  und  von  da  aus  sehr  rasch  abnimmt.  Sorgt  man  nun 
durch  Anwendung  einer  flächenhaft  ausgedehnten  Elektrode  dafür, 
dass  entweder  an  der  Ein-  oder  Austrittsstelle  des  Stromes  die  Dichte 
desselben  und  damit  auch  die  erregende  Wirkung  möglichst  gering 
oder  gänzlich  unzureichend  ist,  so  bleibt  schliesslich  unmittelbar  an  der 
Berührungsstelle  nur  die  Wirkung  der  anderen  Elektrode  übrig,  die  man 
nun  durch  möglichste  Begrenzung  der  Berührungsfläche  so  zu  sagen 
localisiren  kann.  Enthäutet  man  beispielsM'eise  an  einem  mit  Curare  ver- 
gifteten Frosch  die  ventrale  Fläche  eines  Oberschenkels,  und  legt  die 
eine  (indifferente)  Elektrode  mit  breiter  Fläche  an  die  Kehlhaut,  wäh- 
rend die  andere,  möglichst  fein  zugespitzte  Pinselelektrode  irgend  einen 
Punkt  der  feuchten  Muskeloberfläche  berührt,  so  treten  sehr  charakte- 
ristische Reizerfolge  hervor,  welche  durchaus  verschieden  sind, 
je  nachdem  die  Berührung  mit  der  Kathode  oder  Anode 
erfolgt.  Ersterenfalls  beobachtet  man  bei  Anwendung  schwacher 
Ströme,  wie  im  Momente  der  Schliessung  des  Kreises  die  unmittelbar 
unter  der  Pinselspitze  verlaufenden  Faserbündel  zusammenzucken,  wo- 
durch sich  für  einen  kurzen  Augenblick  eine  schmale  Längsfurche  an  der 
ebenen  glatten  Muskeloberfläche  bildet,  während  sich  an  der  Berüh- 
rungsstelle selbst  ein  kleiner,  aber  scharf  begrenzter 
Querwulst  erhebt,  der  nun,  vorausgesetzt  dass  die  Berührung  eine 
stetige  ist,  während  der  ganzen  Schliessungsdauer  unverändert  bleibt. 
Dass  es  sich  hier  um  die  kathodische  Schliessungsdauercontraction 
handelt,  kann  nicht  bezweifelt  werden.  Wird  die  Intensität  des  Reiz- 
stromes verstärkt,  so  nimmt  sowohl  die  Zuckung,  wie  auch  die  Dauer- 
contraction  an  Stärke  zu,  ohne  dass  jedoch  die  letztere  auch  bei  dieser 
Reizraethode  den  Charakter  der  localen  Beschränktheit  verlieren  würde. 
Dies  lässt  sich  besonders  klar  erkennen,  wenn  man,  wie  oben  bereits 
erwähnt  wurde,  an  der  Oberfläche  des  Muskels  feste  Merkzeichen  an- 
bringt, deren  gegenseitige  Lageänderung  bei  der  Verkürzung  die 
räumliche  Ausdehnung  derselben  zu  beurtheilen  gestattet.  So  kann 
man  den  zu  untersuchenden  Muskel   senkrecht   zur  Faserrichtung  mit 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  199 

Tusche  quer  bändern,  so  dass  der  Abstand  zwischen  je  zwei  mit  einer 
feinen  Borste  gezogenen  Querlinien  etwa  ^',2  mm  beträgt.  Jede  auch 
noch  so  beschränkte  Contraction  verräth  sich  dann  sofort  durch  eine 
mehr  oder  minder  erhebliche  Verschmälerung  eines  oder  mehrerer 
Querbänder,  bezw.  der  sie  trennenden  ungefärbten  Zwischenräume. 
Innerhalb  nur  passiv  betheiligter  Muskelstrecken  erscheinen  dagegen 
die  farbigen  Querbänder  zwar  mannigfach  verzogen,  ohne  jedoch 
schmäler  zu  werden.  Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  bei  der  ge- 
schilderten monopolaren  Reizraethode,  wo  die  Stromfäden  im  Allge- 
meinen nicht  durch  die  natürlichen  Enden  des  Muskels  ein-  oder  aus- 
treten, sondern  die  Fasern  in  der  verschiedensten  Richtung,  quer  und 
schräg  durchsetzen,  wodurch  ihre  Wirkung  theilweise  beeinträchtigt 
wird,  die  Versuchsbedingungen  gegenüber  der  gewöhnlichen  bipolaren 
Methode  weniger  übersichtlich  und  die  Resultate  namentlich  in  Hin- 
blick auf  die  Möglichkeit  des  Wirksamwerdens  secundärer,  kathodischer 
oder  anodischer  Stellen  in  der  Umgebung  der  Reizelektrode  oft  schwer 
zu  deuten  sind.  Dem  ungeachtet  bietet  das  Verfahren  in  manchen 
Fällen,  wo  sich  die  bipolare  Methode  nicht  gut  anwenden  lässt,  gewisse 
Vortheile.  Dies  gilt  in  erster  Linie  von  zahlreichen  glattmuskeligen 
Theilen,  nicht  minder  aber  auch  vom  Herzmuskel,  dessen  coraplicirter 
und  verwickelter  Faserverlauf  es  von  vornherein  unmöglich  macht, 
alle  einzelnen  Elemente  der  Länge  nach  zu  durchströmen.  Vielmehr 
werden  die  in  den  verschiedensten  Richtungen  durch  einander  gefilzten 
Zellen  unter  allen  Umständen  auch  in  den  verschiedensten  Richtungen 
und  unter  den  verschiedensten  Winkeln  von  Stromfäden  getroffen. 
Nach  dem  oben  Mitgetheilten  ist  dies  aber  auch  für  den  schliesslichen 
Erfolg  ziemlich  belanglos.  Versetzt  man  nach  dem  Vorgange  Bern- 
stein '  s  den  Ventrikel  eines  Froschherzens  dadurch  in  dauernden 
diastolischen  Stillstand,  dass  man  ihn  vom  Vorhof  durch  Abquetschen 
trennt,  so  erscheint  er  prall  mit  Blut  gefüllt  und  reagirt  auf  jeden 
mechanischen  Reiz  mit  einer  kräftigen  Totalcontraction.  Legt  man 
nun  wieder,  wie  in  dem  schon  erwähnten  Falle,  die  eine  Elektrode 
eines  Kettenstromes  mit  breiter  Fläche  an  irgend  einer  indifferenten 
Stelle  des  Froschkörpers  an  und  berührt  mit  der  Spitze  der  andern 
die  Oberfläche  des  Ventrikels,  so  zeigt  sich  ausnahmslos,  dass  bei 
Anwendung  eben  wirksamer  Ströme  die  Schliessung  des 
Stromkreises  nur  dann  erregend  wirkt,  wenn  die  Be- 
rührung des  Herzens  mit  der  Kathode  erfolgt,  niemals 
aber  im  andern  Falle  bei  Berührung  mit  derAnode;  bis- 
weilen findet  man  dann  aber  die  Oeffnung  (wenigstens 
nach  längerer  Schliessungsdauer)  wirksam.  Wenn  so  die 
Gültigkeit  des  polaren  Erregungsgesetzes  für  den  Herzmuskel  nicht 
bezweifelt  werden  kann,  so  lässt  sich  dasselbe  an  geeigneten  Objecten 
auch  für  glatte  Muskeln  constatiren. 

Als  solches  erweist  sich  unter  anderem  der  Schaalenschliess- 
muskel  von  Anodonta,  dessen  Verhalten  dem  Strome  gegenüber 
bereits  mehrfach  Erwähnung  fand,  und  der  wegen  seines  im  Allge- 
meinen sehr  regelmässigen,  parallelfaserigen  Baues  am  ehesten  eine  Ver- 
gleichung  mit  dem  Sartorius  des  Frosches  gestattet.  Es  wurde  schon 
oben  hervorgehoben,  dass  ein  möglichst  tonusfreies  Präparat  des 
Schliessmuskels  während  der  ganzen  Dauer  der  Durchströmung 
verkürzt  bleibt.  Es  ist  nun  nicht  schwer,  sich  schon  durch  die  blosse 
Inspection    von    der  Thatsache    zu    überzeugen,    dass    weder    bei   der 


200 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


Schliessung"  des  Stromes,  noch  bei  der  Oeffnung  (falls  diese  letztere 
von  Erfolg  begleitet  ist)  die  ganze  intrapolare  Strecke  gleichmässig 
dauernd  contrahirt  ist,  sondern  ersterenfalls  vorwiegend  die  kathodische, 
anderenfalls  die  anodische  Hälfte  desselben.  Man  hat  es  hier  zweifel- 
los mit  einer  ganz  analogen  Erscheinung  zu  thun,  wie  bei  dem  quer- 
gestreiften M.  sartorius  des  Frosches,  wo  die  entsprechende  Localisirung 
der  Schliessungs-  beziehungsAveise  OefFnungsdauercontraction  bereits 
seit  lange  bekannt  ist  und  immer  als  wesentliche  Stütze  für  den  Satz 
von  der  polaren  Erregung  durch  den  elektrischen  Strom  angesehen 
wurde.  Genaueren  Aufschluss  giebt  noch  die  Anwendung  der  graphi- 
schen Methode  bei  gesonderter  Verzeichnung  der  Contraction  jeder 
der  beiden  Muskelhälften,  welche  sich  hier  in  ähnlicher  Weise  wie 
beim  Sartorius  ermöglichen  lässt,  indem  man  die  Muskelmitte  fixirt. 
Während  sich  aber  beim  quergestreiften  Muskel  in  der  Regel  im 
Augenblick    der    Schliessung,    Avie    auch    eventuell    bei   Oeffnung    des 


Fig.  90.     Localisation    der    Schliessungsdauercontraction   an   der  Kathode  (K)  hei 

Reizung    des    in    der    Mitte    fixirten    Muschelschliessmuskels.     {S  =  Schliessung; 

0  =  Oeffnung.) 


Stromes  eine  Contractionswelle  von  der  Kathode,  beziehungsweise 
Anode  aus  mit  grosser  Geschwindigkeit  durch  die  ganze  Länge  des 
Muskels  fortpflanzt  und  zur  Entstehung  einer  zu  beiden  Seiten  der 
fixirten  Mitte  annähernd  gleich  starken  Schliessungs-  oder  Oeffnungs- 
Zuckung  führt,  tritt  beim  Muschelmuskel  nur  eine  mehr 
oder  minder  beschränkte  örtliche  Dauercontraction 
auf,  welche  der  Schliessungs-  und  Oeffnungsdauer- 
contraction  des  quergestreiften  Muskels  entspricht, 
und  wie  diese  ausbleibt,  wenn  der  Aus-  oder  Eintritt 
des  Stromes  durch  eine  Schicht  abgestorbener,  con- 
tractiler  Substanz  erfolgt  (3).  Ein  Blick  auf  die  beistehenden 
Curven  (Fig.  90)  beweist  dies  zur  Genüge.  Wie  beim  Herzmuskel, 
gleicht  sich  auch  hier  der  unmittelbar  nach  der  Verletzung  höchst 
auffallende  Unterschied  der  Wirkungsweise  beider  Stromesrichtungen 
allmählich  aus  und  wird  schliesslich  unmerklich.  Die  Erklärung  muss 
wohl  ebenfalls  in  dem  isolirten  Absterben  der  einzelnen  Faserzellen 
gesucht  werden. 

Wenn    die   vorstehend  erörterten  Befunde  am  Schliessmuskel  von 
Anodonta   noch   in    fast  vollkommener  Uebereinstimmung  mit  den  Er- 


Elektrische  Keizixng-  der  Muskeln.  201 

fahrungen  über  die  polaren  Stromes  Wirkungen  am  quergestreiften 
Stammesmuskel  und  am  Herzen  stehen,  so  gilt  dies  schon  nicht  in 
gleichem  Maasse  hinsichtlich  anderer,  aus  glatten  Spindelzellen  be- 
stehender Theile,  bei  deren  Reizung  mit  Kettenströmen  eine  Reihe 
von  Erscheinungen  auftreten,  welche  in  mancher  Beziehung,  wenigstens 
auf  den  ersten  Blick,  viel  Abweichendes  zeigen  und  sogar  den  Ge- 
danken aufkommen  lassen,  es  möchte  das  polare  Erregungsgesetz 
nicht  für  alle  Muskelarten  strenge  Geltung  haben  (31). 

An  der  Innenseite  des  Integumentes  der  H  o  1  o  t  h  u  r  i  e  n  verlaufen 
durch  die  ganze  Länge  des  Körpers  schöne  parallelfaserige  Längsmuskel- 
züge  in  Form  von  fünf  platten  Bändern,  welche  aus  einzelnen,  beider- 
seits zugespitzten  Spindelzellen  bestehen  und  nach  Eröffnung  des 
Thieres  (bei  Holoth  uria  Poli)  als  weissliche  oder  röthlich  gefärbte, 
durchscheinende  Streifen  hervortreten.  Zwischen  je  zwei  Längsmuskel- 
bändern  sieht  man  viel  dünnere  und  zartere  Ringmuskelzüge  verlaufen, 
Avelche  rechtwinkelig  zu  jenen  eine  vollständige  Umhüllung  des  Körpers 
bilden  und  aus  ähnlichen  Spindelzellen  bestehen  wie  jene.  An  dem 
der  Länge  nach  aufgeschnittenen  und  gehörig  ausgespannten  Haut- 
muskelschlauch lassen  sich  übrigens  die  Längsmuskelbänder  in  ihrem 
ganzen  Verlauf  oder  doch  streckenweise  leicht  isoliren,  indem  man 
eine  Sonde  am  einen  Ende  unter  dem  Muskel  hindurchführt  und  die- 
selbe dann  gegen  die  Unterlage  drückend,  stetig  längs  des  Muskel- 
streifens vorschiebt.  Man  kann  dann,  wie  beim  Muschelmuskel,  auch 
an  dem  ganz  isolirten,  frei  ausgespannten  Muskelbande  Reizversuche 
anstellen.  In  allen  Fällen  erscheint  die  lang  anhaltende  tonische 
Contraction,  in  welche  diese  Muskeln  namentlich  nach  mechani- 
schen Insulten  gewöhnlich  verfallen,  recht  störend;  doch  nach  einiger 
Ruhe  unter  Seewasser  tritt  stets  wieder  soweit  Erschlaffung  ein,  dass 
Reizversuche  möglich  sind;  ein  gewisser  Grad  von  „Tonus" 
bleibt  aber  (und  es  ist  dies  wesentlich  mit  zu  berücksichtigen) 
immer  bestehen.  Setzt  man  nun  zAvei  fein  zugespitzte  Pinselelek- 
troden gleichzeitig  an  zwei  nicht  zu  nahe  bei  einander  liegenden 
Punkten  eines  entweder  noch  in  situ  befindlichen  oder  frei  zwischen 
Kork  ausgespannten  Längsmuskelbandes  auf  oder  legt  man  die 
eine  Elektrode  an  irgend  eine  indifferente  Stelle  des  Präparates, 
während  nur  die  andere  mit  dem  Muskel  in  Berührung  gebracht  wird, 
so  beobachtet  man  in  beiden  Fällen  an  der  Aus-  bezw.  Eintrittsstelle 
des  Stromes  überaus  charakteristische  Gestaltveränderungen  des  Mus- 
kels, welche  an  den  beiden  Polen  durchaus  verschieden  sind  (29). 

An  der  Kathode  entsteht  sofort  bei  Schliessung  des  Kreises,  genau 
unter  der  berührenden  Pinselspitze  und  von  dieser  aus  senkrecht  zur 
Faserrichtung  sich  erstreckend,  ein  schmaler  Querwulst,  welcher  unter 
Umständen  (bei  nicht  zu  schwachen  Strömen)  die  ganze  Breite  des 
Muskelbandes  durchsetzt  und  sich  ziemlich  scharf  von  der  Umgebung 
abhebt.  Dieser  „idiomusculäre"  kathodische  Wulst  bleibt  während  der 
Schliessungsdauer  bestehen  und  pflanzt  sich,  was  besonders  hervor- 
zuheben ist,  niemals  vom  Orte  seiner  Entstehung  aus  fort.  Die  Ge- 
sammtverkürzung  des  Muskelbandes,  welche  durch  diese  örtliche 
Zusammenziehung  bewirkt  wird,  ist  immer  sehr  unerheblich,  in- 
dem im  Wesentlichen  nur  die  der  Reizelektrode  zunächst  gelegenen 
Theile  des  Muskels  zur  Bildung  der  localen  Verdickung  beitragen. 
Es  hängt  dies  natürlich  auch  mit  von  der  Stärke  des  zur  Reizung 
benützten  Stromes  ab,  so  dass  innerhalb  gewisser  Grenzen  der  katho- 


202  Elektrische  Eeizung  der  Muskeln. 

dische  Wulst,  der  ja  ohne  Zweifel  der  Schliessungsdauercontraction  bei 
quergestreiften  Muskeln  entspricht,  mit  der  Stromstärke  an  Grösse 
zunimmt  und  dann  auch  eine  grössere  Muskelstrecke  umfasst.  Bei 
Anwendung  der  schwächsten,  eben  wirksamen  Ströme  contrahiren  sich 
örtlich  nur  die  obersten  Faserschichten,  so  dass  der  kathodische  Wulst 
nicht  die  ganze  Dicke  des  Muskels  durchsetzt. 

Sehr  bemerkenswerth  ist  in  allen  Fällen  die  scharfe  Begrenzung 
der  kathodischen  Dauercontraction ,  die  sich  kammförmig  mit  beider- 
seits steil  abfallenden  Bändern  über  die  Muskeloberfläche  erhebt. 

Ganz  wesentlich  verschieden  gestaltet  sich  der  unter  gleichen 
Verhältnissen  zu  beobachtende  Reizerfolg  an  der  Eintrittsstelle  des 
Stromes.  Hier  sieht  man  an  der  Stelle,  wo  die  anodische  Pinselspitze 
die  glatte  ebene  Muskeloberfläche  berührt,  bei  Schliessung  des  Stromes 
eine  mehr  oder  weniger  tiefe  Rinne  oder  Furche  entstehen,  welche 
quer  über  den  Muskel  verläuft  und  in  Bezug  auf  Länge  und  Breite 
etwa  dem  Querwulste  entspricht,  Avelcher  unter  gleichen  Umständen 
an  der  Kathode  entsteht  oder  (bei  monopolarer  Reizung)  entstanden  sein 
würde.  Man  sieht  sehr  deutlich,  wie  im  Augenblick  der  Schliessung 
die  Muskelmasse  von  der  anodischen  Stelle  verdrängt  wnrd  und  so  zu 
sagen  abfliesst,  während  sich  zu  beiden  Seiten  der  vertieften  Rinne 
je  ein  Wulst  erhebt,  von  ähnlichem  Aussehen,  wie  die  kathodische 
Dauercontraction.  Die  Gestaltveränderung  des  Muskels,  welche  sich 
daraus  ergiebt,  lässt  sich  demgemäss  charakterisiren  als  eine  unter 
der  Elektrode  entstehende  vertiefte  Rinne,  die  beider- 
seits von  einem  Querwulste  begrenzt  wird. 

Unter  gewissen,  noch  näher  zu  bezeichnenden  Umständen  gewinnt 
es  den  Anschein,  als  seien  die  beiden  Wülste  lediglich  durch  die  von 
der  Anode  weggedrängte  Muskelsubstanz  gebildet.  Macht  man  aber 
den  Versuch  an  frischen ,  gut  erregbaren  Präparaten ,  so  rindet  man 
ausnahmslos,  dass  beiderseits  von  der  Anode  eine  sehr  deut- 
liche und  über  verhältnissmässig  weite  Strecken  aus- 
gedehnte Contraction  des  Muskels  eintritt,  die  in  unmittel- 
barer Nähe  der  vertieften  Rinne  am  stärksten  ausgeprägt,  nach  beiden 
Seiten  hin  allmählich  an  Stärke  abnimmt.  Es  verlängert  sich  mit 
anderen  Worten  bei  Schliessung  des  Stromes  der  Muskel  unmittelbar 
an  der  Anode,  indem  er  daselbst  erschlafft,  während  in  Folge  der  in 
der  Umgebung  sich  geltend  machenden  Erregung  ein  Hindrängen  der 
Muskelsubstanz  nach  der  erschlafften  Stelle  erfolgt.  Für  den  Ge- 
sa m  m  t  m  u  s  k  e  1  ergiebt  sich  daraus  e  i  n  e  o  f t  s  e  h  r  b  e  t  r  ä  c  h  t  - 
liehe  und  jedenfalls  immer  viel  bedeutendere  Verkür- 
zung, als  bei  kathodischer  Reizung. 

Da  die  flachen  Längsmuskelbänder  der  Holothurien  eine  ziemliche 
Breite  besitzen,  so  machen  sich,  wenn  die  Pinselspitze  etwa  auf  die 
Mitte  des  Muskels  aufgesetzt  wird ,  die  geschilderten  Reizerfolge  nur 
an  einem  Theil  der  Faserzüge  geltend.  Viel  aufftillender  und  selbst 
aus  grösserer  Entfernung  bemerkbar  werden  aber  die  Gestaltverände- 
rungen, wenn  man  mit  der  Spitze  des  Pinsels  senkrecht  zur  Faser- 
richtung leicht  über  den  Muskel  hinstreift. 

Dieselben  Erscheinungen  wie  bei  elektrischer  Reizung  der  Längs- 
muskelbänder treten ,  wenn  auch  entsprechend  der  grösseren  Zart- 
heit minder  augenfällig,  an  den  dünnen  Bündeln  der  Ringmuskeln 
hervor.  Berührt  man  eine  ganz  ebene  Stelle  derselben  mit  der  Kathode, 
so  sieht  man,   wie   sich    unter  der  Pinselspitze    sofort   bei  Schliessung 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  203 

des  Stromes  ein  kleiner  länglicher  Wulst  erhebt,  dessen  Längsaxe 
senkrecht  zum  Faser  verlauf  des  gereizten  Muskelbündels  steht.  Die 
ganze  Erscheinung  ist  unverkennbar  nur  im  verkleinerten  Maassstabe 
dieselbe  wie  die  kathodische  Dauercontraction  bei  Reizung  eines 
Längsmuskelbandes. 

Hier  wie  dort  fällt  die  scharfe  Begrenzung  des  Wulstes,  sowie  die 
geringe  Gesammtverkürzung  des  Muskels  auf,  welche  durch  die  locale 
Erregung  bedingt  wird.  Im  Gegensatze  hierzu  ist  die  Gesammt- 
verkürzung der  Ringmuskeln  eine  sehr  beträchtliche,  wenn  monopolar 
mit  der  Anode  gereizt  wird.  Um  sich  von  der  völligen  Uebereinstim- 
mung  des  Reizerfolges  an  Ring-  und  Längsmuskeln  auch  in  diesem 
Falle  zu  überzeugen,  bedarf  es  vorsichtiger  Abstufung  der  Stromstärke 
und  einer  sehr  fein  zugespitzten  Pinselelektrode.  Berührt  man  nur  ein 
einzelnes  Ringfaserbündel  etwa  in  der  Mitte  zwischen  je  zwei  Längs- 
muskelbändern,  so  ist  die  auffallendste  Erscheinung  bei  Schliessung  des 
Stromes  die  Bildung  einer  parallel  der  Faserrichtung  verlaufenden 
Furche,  deren  Entstehung  sich  leicht  durch  die  starke  Contraction 
des  gereizten  Faserzuges  erklärt.  Wendet  man  Lupenvergrösserung 
an,  so  kann  man  sich  leicht  überzeugen,  dass  die  Muskelfasern  un- 
mittelbar unter  der  anodischen  Pinselspitze  an  der  Contraction  nicht 
theilnehmen,  sondern  dass  ganz  wie  unter  gleichen  Umständen  an  den 
Längsmuskeln,  daselbst  eine  mehr  oder  weniger  deutliche,  quer  zur 
Faserung  verlaufende  Rinne  entsteht,  zu  deren  beiden  Seiten  das 
Muskelbündel  sich  verkürzt.  Bisweilen  erscheinen  auch  die  diese 
Furche  beiderseits  begrenzenden  Querwülste  ganz  deutlich  ausgeprägt. 
Immerhin  bedarf  es  besonderer  Aufmerksamkeit,  um  eine  Erscheinung 
wahrzunehmen,  welche  bei  Reizung  der  Längsmuskeln  sich  so  zu  sagen 
unmittelbar  aufdrängt.  Während  hier  bei  anodischer  Reizung  in  Folge 
der  grossen  Länge  der  Muskelbänder  die  Gesammtverkürzung  der- 
selben gegenüber  der  localen  Gestaltveränderungen  zurücktritt,  verhält 
sich  dies  gerade  umgekehrt  bei  den  schmalen,  kurzen  Ringfaserzügen, 
bei  welchen  der  Totaleffect  mehr  auffällt,  als  die  localen  Veränderungen. 
In  besonders  instructiver  Weise  macht  sich  dies  an  Stellen  bemerkbar, 
wo,  sei  es  durch  Contraction  umliegender  Theile  und  dadurch  be- 
wirkte Faltung  der  Haut  oder  durch  locale  stärkere  ErschlaiFung, 
einzelne  Partien  sich  blasig  hervorwölben.  Berührt  man  eine  solche 
Stelle,  wo  die  Ringfasern  nach  aussen  convex  gekrümmt  erscheinen, 
mit  der  Anode,  so  bildet  sich  bei  der  Schliessung  sofort  parallel  der 
Faserrichtung  eine  segmentale  Einschnürung,  welche  unmittelbar  an 
die  ganz  ähnliche  Erscheinung  erinnert,  welche  man  unter  analogen 
Verhältnissen  am  Darm,  insbesondere  am  Dickdarm  der  Pflanzenfresser 
beobachtet.  Dadurch  wird  aber,  wie  leicht  ersichtlich,  eine  genauere 
Untersuchung  der  an  der  Berührungsstelle  selbst  entstehenden  localen 
Veränderungen  so  gut  wie  unmöglich  gemacht.  Dagegen  treten  die- 
selben bei  kathodischer  Reizung  auch  in  diesem  Falle  überaus  deutlich 
hervor,  indem  bei  kaum  merklicher  Gesammtverkürzung  an  der  Aus- 
trittsstelle des  Stromes  ein  kleiner,  aber  scharf  begrenzter  Querwulst 
sich  erhebt. 

Ein  nicht  minder  bemerkenswerthes  und  charakteristisches  Verhalten 
zeigen  bei  elektrischer  Reizung  mit  dem  Kettenstrome  die  glatten  Mus- 
keln des  Kauapparates  von  Echinus  esculentus,  die  sich  ausser- 
dem noch  durch  eine  viel  raschere  Reaction  vor  den  Holothurienmuskeln 
auszeichnen  (29).    Bekanntlich  besteht  das  Kalkskelet  der  sogenannten 


204  Elektrische  Keizung  der  Muskeln. 

Laterne  des  Aristoteles  aus  5  gleichartigen  Theilen,  von  denen  jeder  wieder 
aus  mehreren  Stücken  zusammengesetzt  ist.  Diese  Theile  sind  unter  ein- 
ander theils  durch  Bänder,  theils  durch  mächtig  entwickelte  Muskeln  von 
zum  Theil  sehr  regelmässigem  Bau  verbunden.  Dies  gilt  in  erster  Linie 
von  den  5  zwar  kurzen,  aber  ganz  parallelfaserigen  Muskeln,  welche 
an  der  nach  innen  gekehrten  Basalfläche  der  Laterne  5  längliche,  be- 
wegliche Kalkbügel  mit  einander  verketten,  die  von  der  centralen 
Schlundhöhle  aus  in  radialer  Richtung  gegen  die  Peripherie  verlaufen, 
wo  sie  sich  auf  den  Seitenflächen  der  Laterne  nach  unten  krümmen. 
Nebst  diesen,  einen  vollkommen  geschlossenen  Ring  bildenden  5  Mus- 
keln, deren  jeder  bei  grossen  Exemplaren  eine  Länge  von  etwa  1,5  cm 
und  eine  Breite  von  beiläufig  4  mm  erreicht,  bieten  auch  noch  die 
anderen  grösseren  Muskeln,  welche  sich  theils  an  den  Kiefern  inseriren 
und  die  darin  steckenden  Zähne  bewegen,  theils  die  Zwischenräume 
zwischen  jenen  ausfüllen,  sehr  geeignete  Versuchsobjecte.  Einer  eigent- 
lichen Präparation  bedarf  es  für  die  ersten  orientirenden  Versuche 
gar  nicht.  Es  genügt,  den  Seeigel  mit  der  Scheere  in  eine  obere  und 
untere  Hälfte  zu  zerschneiden  und* hierauf  an  dem  ovalen,  die  Laterne 
enthaltenden  Theilstück  noch  soviel  von  der  Schaale  abzubrechen,  um 
mit  den  Elektroden  bequem  heranzukommen.  Entfernt  man  nach 
Ausziehen  der  Zähne  mittels  einer  Pincette  noch  die  die  Muskeln 
theils  umhüllenden,  theils  verbindenden  Membranen,  so  ist  das  Prä- 
parat für  den  Versuch  genügend  vorbereitet.  Taucht  man  dasselbe  in 
ein  Gefäss  mit  Seewasser,  welches  sich  für  diese  Muskeln  als  ebenso 
indifferent  erweist,  wie  für  jene  der  Holothurien,  so  dass  nur  die  Basis 
der  Kalkpyramide  mit  dem  Muskelringe  frei  herausragt,  und  berührt 
nun  monopolar  mit  der  fein  zugespitzten  Kathode  irgend  einen  Punkt 
in  der  Continuität  eines  der  5  Muskeln,  während  die  andere  unpolari- 
sirbare  Elektrode  in  das  Wasser  des  Gefässes  taucht,  so  lässt  sich  die 
Bildung  eines  idiomuskulären  localen  Wulstes  hier  noch  viel  schöner 
beobachten,  als  an  den  Längsmuskeln  der  Holothurien.  Bei  gehöriger 
Abstufung  der  Stromstärke  bietet  sich  die  Erscheinung  in  den  ver- 
schiedensten Graden  der  Entwicklung  dar.  Die  durchscheinende  Be- 
schaffenheit der  platten,  dünnen  Muskeln,  sowie  die  Raschheit  der 
Reaction  sind  hierbei  sehr  günstig,  und  es  dürfte  kaum  ein 
anderes  Object  geben,  das  auch  nur  annähernd  so  schön  die  ört- 
lichen Erregungserscheinungen  an  der  Kathode  zu  demonstriren  ge- 
stattete. Ausserordentlich  scharf  und  so  zu  sagen  plastisch  hebt  sich 
die  contrahirte  Stelle  von  der  Umgebung  als  ein  weisslicher,  undurch- 
sichtiger Wulst  von  eigenthümlich  mattem  Glänze  ab,  der  bei  Schlies- 
sung des  Stromes  rasch  entsteht  und  während  der  Schliessungsdauer 
unverändert  bestehen  bleibt,  um  sich  erst  nach  Oeffnung  des  Kreises 
allmählich  auszugleichen.  Reizt  man  mit  einem  eben  nur  wirksamen 
Strom,  so  erscheint  die  Contraction  immer  nur  auf  die  nächste  Um- 
gebung der  Austrittsstelle  beschränkt,  gewinnt  aber  bei  Steigerung  der 
Stromesintensität  an  Stärke  und  Ausdehnung,  bis  endlich  der  katho- 
dische Wulst  an  Stelle  der  Elektrode  die  ganze  Dicke  des  Muskels  in 
Form  einer  knotigen  Anschwellung  durchsetzt.  Da  die  Muskelsubstanz 
zur  Bildung  der  letzteren  sozusagen  von  beiden  Seiten  herangezogen 
wird,  so  ergiebt  sich  daraus  eine  nicht  unerhebliche  Gesammtverkür- 
zung  des  Muskels.  Doch  ist  dieselbe  niemals  so  stark,  wie  bei  mono- 
polarer anodischer  Reizung. 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  205 

Hier  tritt  bei  Schliessung  des  Stromes  sofort  eine  sehr  kräftige 
Zusamraenziehung  des  ganzen  Muskels  ein,  wobei  sich  die  beweglichen 
Insertionsstellen  nach  Möglichkeit  nähern.  Der  Muskel  erscheint  straff 
gespannt  und  wie  es  zunächst  den  Anschein  hat,  in  allen  seinen  Theilen 
gleichmässig  verkürzt.  Gerade  dieser  letztere  Umstand  ist  mit  Rücksicht 
auf  das  früher  geschilderte  Verhalten  bei  kathodischer  Reizung  in  hohem 
Grade  auffallend.  Dazu  kommt  noch,  dass  sich  an  der  Anode  selbst  nicht 
nur  keine  stärkere  locale  Contraction  entwickelt,  sondern  dass  daselbst 
beiAnwendungnureinigermaassen  stärkererStröme  so- 
gar eine  C  ontinuitätstrennung  des  Muskels  erfolgt.  Legt 
man  die  Elektrode  (Anode)  an  irgend  eine  Stelle  des  freien  scharfen 
Randes  eines  Muskels,  so  spannt  sich  derselbe  bei  der  Schliessung  so- 
fort sehr  stark  an,  und  bald  darauf  sieht  man  bei  Lupenvergrösserung 
an  der  Pinselspitze  eine  verdünnte,  durchsichtige  Stelle  entstehen, 
worauf  alsbald  zunächst  die  unmittelbar  berührten  Fasern  daselbst 
reissen  und  sich  nach  beiden  Seiten  zurückziehen.  Folgt  man  mit  der 
Pinselspitze,  so  lässt  sich  unter  Umständen  der  ganze  Muskel  der 
Quere  nach  durchtrennen,  indem  die  Fasern  in  dem  Maasse,  als  man 
immer  tiefere  Schichten  trifft,  an  der  berührten  Stelle  einreissen. 

Für  die  richtige  Beurtheilung  dieser  auf  den  ersten  Blick  sehr 
auffallenden  Thatsache  scheint  nun  der  Schlüssel  in  dem  oben  ge- 
schilderten Verhalten  der  Holothurienmuskeln  gegeben  zu  sein.  Dar- 
über, dass  bezüglich  der  kathodischen  Reizerfolge  in  beiden  Fällen 
eine  fast  vollkommene  Uebereinstimmung  besteht,  kann  wohl  kaum  ein 
Zweifel  obwalten.  Aber  auch  das  scheinbar  ganz  abweichende  Er- 
gebniss  monopolarer,  anodischer  Reizung  der  Echinusmuskeln  ist 
im  Grunde  auf  analoge  Veränderungen  zurückzuführen,  wie  sie 
in  so  klarer  Weise  an  den  Längsmuskeln  der  Holothurien  hervor- 
treten. Hier  sahen  wir  an  der  Eintrittsstelle  des  Stromes  selbst  eine 
locale  Erschlaffung  entstehen,  welche  sich  durch  die  Bildung  einer 
verdünnten  Stelle  markirte,  von  der  aus  nach  beiden  Seiten  hin  eine 
bei  frischen  Präparaten  sehr  starke  Contraction  sich  entwickelte  und 
so  zu  einer  sehr  beträchtlichen  Gesammtverkürzung  des  Muskels 
fiihrte.  Denkt  man  sich  nun  einen  kurzen,  zarten  Muskel  von  gleichen 
oder  ähnlichen  Eigenschaften  zwischen  zwei  Insertionsstellen  ausgespannt, 
welche  bei  der  Contraction  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  einander 
genähert  werden  können,  so  wird  offenbar  der  Erfolg  der  kathodischen 
Schliessungsreizung  sich  hier  ganz  ebenso  zu  äussern  vermögen,  wie 
bei  den  auf  einer  nachgiebigen  Unterlage  ausgespannten  Holothurien- 
mukeln.  Ganz  anders  aber  wird  sich  dies  bei  monopolarer  anodischer 
Reizung  verhalten.  Tritt  dann  der  Strom  irgendwo  in  der  Continuität 
des  Muskels  ein,  und  erfolgt  bei  der  Schliessung  eine  örtliche  Er- 
schlaffung oder  bleibt  die  betreffende  Stelle  auch  nur  unerregt,  während 
beiderseits  davon  eine  kräftige  Contraction  erfolgt,  so  muss  offenbar, 
wenn  die  Insertionspunkte  nicht  weiter  genähert  werden  können,  an 
der  Stelle  des  geringsten  Widerstandes  eine  Continuitätstrennung  er- 
folgen. 

Das  Zerreissen  an  der  Anode  würde  demnach  darauf  zu  beziehen 
sein,  dass  bei  monopolarer  anodischer  Reizung  in  der  Continuität  an 
der  Elektrode  selbst  eine  Erschlaffung,  beiderseits  aber  ein  starker 
Spannungszustand  entsteht,  wenn  sich  '  der  Muskel,  den  gegebenen 
mechanischen  Bedingungen  zufolge,  nicht  weiter  zu  verkürzen  ver- 
mag.    Auf  diesem  Umstände  beruht  es  wohl   auch,    dass   es   bei   den 


206  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

in  situ  gereizten  Echinusmuskeln  nicht  wie  bei  denen  der  Holothurien 
an  der  Anode  zur  Entstehung  einer  vertieften  Rinne  mit  wallartig  auf- 
geworfenen Rändern  kommt,  sondern  dass  nur  eine  scheinbar  an  allen 
Punkten  gleichmässige  Spannung  sich  bemerkbar  macht. 

Die  beiden  im  Vorstehenden  ausführlich  besprochenen  Fälle  er- 
öffnen nun  auch  das  Verständniss  für  jene  complicirteren  Fälle,  wo, 
wie  beispielsweise  im  Hautmuskelsehlauch  vieler  Würmer,  sowie  im 
Darm  von  Wirbelthieren ,  zwei  flächenhaft  angeordnete  Systeme  von 
glatten  Muskelzellen  unmittelbar  über  einander  liegen,  wobei  die  Rich- 
tung der  Faserung  in  beiden  rechtwinklig  auf  einander  steht  (30).  Bringt 
man  einen  am  besten  durch  verdünnten  Alkohol  (5 — 7  **/o)  gelähmten, 
möglichst  grossen  Regenwurm  auf  eine  leitende  Unterlage  aus  mehrfach 
zusammengelegtem  Filtrirpapier  oder  Kochsalzthon,  welche  mit  der 
einen  (indifferenten)  Elektrode  in  Verbindung  steht,  und  berührt  man 
mit  der  andern,  fein  zugespitzten  Pinselelektrode  die  Mitte  der  dor- 
salen Fläche  eines  der  breiten  Segmente  am  Vorderende  des  Wurmes, 
so  sieht  man  bei  genügender  Stromstärke  und  unter  Voraussetzung 
einer  möglichst  vollständigen  Lähmung  der  Willkürbewegungen  und 
Reflexe  das  direct  berührte  Segment,  und  zwar  nur  dieses  allein,  sich 
ringförmig  einschnüren  und  in  diesem  Zustand  verharren,  so  lange 
der  Strom  geschlossen  bleibt.  War  der  Strom  stark  und  die  Erreg- 
barkeit der  Muskeln  eine  hohe ,  so  kann  diese  durch  Contraction  der 
Ringmuskeln  bewirkte  Einschnürung  fast  bis  zum  Verschwinden  des 
Lumens  der  Körperhöhle  gehen,  wodurch  dann  natürlich  die  umgeben- 
den Theile,  insbesondere  die  nächst  angrenzenden  Segmente  passiv 
mehr  oder  weniger  verzogen  werden.  Immer  jedoch  bleibt  der  Reiz- 
erfolg auf  das  direct  berührte  Segment  beschränkt,  und  es  findet  keine 
Fortpflanzung  der  Contraction  etwa  in  Form  einer  peristaltischen 
Welle  statt.  Nebst  der  erwähnten  passiven  Verziehung  der  angrenzen- 
den Theile  des  Hautmuskelschlauchs  fehlt  aber  kaum  jemals  eine 
zweifelsohne  activ  durch  Contraction  der  Längsmuskeln  bewirkte  Ab- 
nahme der  Höhe  der  benachbarten  Segmente,  die,  am  stärksten  in 
unmittelbarer  Nähe  der  Einschnürung,  weiterhin  allmählich  abnimmt 
und  sich  auch  niemals  an  der  ganzen  Peripherie  der  betreffenden  Seg- 
mente, sondern  nur  an  der  der  Reizstelle  entsprechenden  Seite  geltend 
macht.  Es  handelt  sich  daher  um  eine  wohl  zum  grössten  Theil  activ, 
theilweise  aber  auch  passiv  bewirkte  einseitige  Verziehung  der  dem 
anodisch  gereizten  Segment  benachbarten  Körperringe.  Dass  hier  nun 
wirklich  eine  Verkürzung  der  Längsmuskeln  vorliegt,  geht  —  ab- 
gesehen von  der  oft  sehr  beträchtlichen  räumlichen  Ausbreitung  der 
betreffenden  Veränderungen  zu  beiden  Seiten  der  Ringmuskelcontrac- 
tion  —  ganz  unzweifelhaft  aus  der  schon  erwähnten,  meist  sehr  be- 
deutenden Abnahme  der  Höhendimension  der  betreffenden  Segmente 
hervor,  und  es  bleibt  nur  fraglich,  wie  sich  in  dieser  Beziehung  das 
direct  gereizte  Segment  selbst  verhält.  Es  scheint  nun,  dass 
hier  zwar  — wie  ohne  weiteres  ersichtlich  —  eine  oft  maximale 
Erregung  der  Ringmuskeln  vorhanden  ist,  dass  da- 
gegen eine  merkliche  Verkürzung  der  Längsmuskeln 
durchaus  fehlt.  Dies  lässt  sich  allerdings  vielleicht  nicht 
mit  voller  Bestimmtheit  aus  dem  Umstand  allein  erschliessen,  dass 
keine  Abnahme  der  Höhe  des  betreffenden  Segmentes  eintritt,  da 
ja  beide  Muskelschichten  antagonistisch  sowohl  in  Bezug  auf 
Veränderungen    der   Länge    (Höhe)    des    Segmentes,    als    der    Breite 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  207 

wirken,  doch  scheint  anf  der  anderen  Seite  der  Umstand  aus- 
schlaggebend zu  sein,  dass  Fälle  beobachtet  werden,  wo  die  Contrac- 
tion  der  Ringmuskeln  vergleichsweise  schwächer  entwickelt  ist,  als  die 
Zusammenziehung  der  Längsmuskeln  beiderseits  von  dem  mit  der 
Anode  berührten  Ringe,  so  dass  dieser  letztere  sich  nur  in  geringem 
Maasse  zusammenschnürt;  gleichwohl  nimmt  die  Höhe  dieses  Segmentes 
nicht  ab,  während  dies  bei  den  Nachbarsegmenten  in  hohem  Grade 
der  Fall  ist.  Jedes  Mal  aber  lässt  sich  hier  auch  noch  eine  andere 
Thatsache  feststellen,  welche  für  die  Auffassung  der  anodischen  Reiz- 
erfolge von  Bedeutung  zu  sein  scheint. 

Ist  die  Contraction  der  Ringmuskeln  eine  starke,  so  gewinnt  es 
den  Anschein,  als  sei  die  Erregung  an  allen  Stellen  des  Muskelringes 
in  annähernd  gleicher  Weise  entwickelt,  als  habe  sich,  von  der  Anode 
ausgehend,  der  Erregungs-  beziehungsweise  Contractionsvorgang  nach 
beiden  Seiten  hin  von  Querschnitt  zu  Querschnitt  fortgepflanzt.  Diese 
Vorstellung  scheint  aus  einer  unbefangenen  Betrachtung  des  Reiz- 
erfolges sich  unmittelbar  zu  ergeben.  Ist  jedoch  die  ringförmige  Ein- 
ziehung nicht  eine  maximale,  so  dass  die  von  der  Anode  berührte 
Stelle  des  Segmentes  stets  deutlich  sichtbar  bleibt,  so  lässt  sich  meist 
ohne  Schwierigkeit  (besonders  bei  Lupenvergrösserung)  erkennen,  dass 
an  der  Eintrittsstelle  des  Stromes  selbst,  sowie  in  deren 
allernächster  Umgebung  nicht  nur  die  Contraction  der 
Längs muskeln  fehlt,  sondern  dass  daselbst  auch  keine 
irgend  merkliche  Zusammenziehung  der  Ring  muskeln 
erfolgt.  Besonders  deutlich  lässt  sich  dieses  erkennen,  wenn  durch 
Verdunstung  die  Oberfläche  des  Wurmes  etwas  trocken  und  in  Folge 
davon  auch  minder  elastisch  geworden  ist.  Dann  sieht  man  sehr 
schön,  wie  durch  Faltung  der  Epidermis  an  der  Oberfläche  des  con- 
trahirten  Ringes  zarte  Querrunzeln  entstehen,  welche  sich  beiderseits 
von  der  Elektrode  sehr  deutlich  ausprägen,  in  der  nächsten  Umgebung 
der  anodischen  Pinselspitze  aber  durchaus  fehlen.  Die  letztere  muSs 
bei  diesem  Versuch  nur  eben  feucht  sein,  um  eine  Benetzung  der 
Reizstelle  zu  vermeiden.  Man  kann  sogar  in  jedem  solchen 
Falle  eine  direct  erschlaffende  (hemmende)  Wirkung 
der  Anode  nachweisen,  Avenn  man  die  Pinselspitze,  während  der 
Strom  geschlossen  bleibt,  nach  einer  Stelle  desselben  gereizten  Seg- 
mentes verschiebt,  wo  in  Folge  der  Contraction  bereits  deutliche  Quer- 
runzeln ausgebildet  sind.  Sobald  eine  solche  Stelle  mit  der  Anode 
berührt  wird,  sieht  man,  wie  sich  dieselbe  sofort  glättet,  und  hat  ganz 
den  Eindruck,  als  ob  ungeachtet  der  Contraction  benachbarte  Theile 
des  Muskelringes  an  der  berührten  Stelle  selbst  eine  Erschlaffung 
und  Verlängerung  einträte. 

Gar  nicht  selten  hat  man  Gelegenheit,  dieses  Ausbleiben  der  Con- 
traction sowohl  der  Längs-  wie  der  Ringmuskeln  an  der  Anode  selbst 
dadurch  noch  deutlicher  markirt  zu  sehen,  dass  sich  um  die  Pinsel- 
spitze herum  eine  kleine  flache  Delle  oder  Vertiefung  bildet,  deren 
Entstehung  sich  leicht  erklären  lässt.  Offenbar  wird ,  wenn  an  zwei 
sich  rechtwinklig  kreuzenden,  etwa  gleich  breiten  Muskelfaserzügen 
an  der  Kreuzungsstelle  keine  Erregung  erfolgt,  während  sich  dagegen 
die  jenseits  der  Deckfläche  gelegenen  Arme  des  Kreuzes,  und  zwar 
um  so  stärker  verkürzen,  je  näher  der  betreffende  Querschnitt  der 
Kreuzungsfläche  liegt,  eine  von  vier  gleich  grossen  Wülsten  umgrenzte 
Vertiefung    von    quadratischer   Form    entstehen.     Ohne    dass    nun    die 


208  Elekti'ische  Reizung  der  Muskeln. 

Erscheinung  an  dem  gereizten  Wurmsegmente  wirklich  in  dieser 
schmatischen  Form  sich  zeigte,  was  ja  schon  durch  die  anatomischen 
Verhältnisse  ausgeschlossen  ist,  kann  man  doch  oft  genug  sehen,  dass 
das  mit  der  Anode  berührte  Segment  an  dieser  Stelle  eingezogen  und 
von  etwas  gewulsteten  Rändern  umgeben  erscheint,  welche  letztere 
theils  auf  die  sich  contrahirenden  Theile  des  Ringmuskels  an  dem- 
selben Segmente,  theils  auf  die  ebenfalls  verkürzten  Längsmuskeln  der 
nächst  benachbarten  Segmente  zu  beziehen  sind. 

Noch  deutlicher  lässt  sich  die  ganze  Erscheinung  oft  machen, 
wenn  man  bei  geschlossenem  Strom  mit  der  Pinselspitze  wiederholt 
leicht  über  zwei  benachbarte  Segmente  senkrecht  zur  Faserrichtung 
der  Ringmuskeln  hinstreift,  da  dann  sowohl  der  unerregt  bleibende 
Flächenraum,  wie  auch  das  Gebiet  der  Contraction  grösser  werden 
und  sich  daher  schärfer  von  einander  abheben. 

Am  überzeugendsten  tritt  übrigens  die  erwähnte  local  hemmende 
Wirkung  der  Anode  an  solchen  Stellen  hervor,  wo  entweder  die  Längs- 
oder die  Ringmuskeln  oder  beide  aus  irgend  welchem  Grunde  dauernd 
contrahirt  erscheinen.  An  dem  direct  berührten  Segmente  lässt  sich 
die  örtliche  Erschlaffung  beider  Fasersysteme  dann  immer  sehr  deut- 
lich und  in  ganz  unverkennbarer  Weise  wahrnehmen. 

Nicht  minder  charakteristisch  als  an  der  Anode  erscheinen  bei 
elektrischer  Reizung  des  Hautmuskelschlauchs  von  Lumbricus  auch 
die  an  der  Kathode  bei  der  Schliessung  hervortretenden  Veränderungen. 
Man  könnte  sich  eigentlich  begnügen,  zu  sagen,  dass  sie  sich  in  gerade 
gegentheiliger  Weise  äussern,  doch  dürfte  es  immerhin  nicht  über- 
flüssig sein,  etwas  näher  darauf  einzugehen. 

Richtet  man  seine  Aufmerksamkeit  bloss  auf  das  mit  der  Elektrode 
berührte  Segment,  so  tritt  der  Gegensatz  des  anodischen  und  des 
kathodischen  Reizerfolges  in  auffallendster  Weise  hervor,  und  man 
könnte  sich  —  wenigstens  bei  nicht  sehr  aufmerksamer  Untersuchung  — 
veranlasst  sehen,  den  Sachverhalt  einfach  so  auszudrücken,  dass  bei 
Schliessung  des  Stromes  an  der  Anode  ausschliesslich  die  Ringmuskeln, 
an  der  Kathode  ausschliesslich  die  Längsmuskeln  erregt  werden. 

Es  wurde  jedoch  bereits  gezeigt,  dass  die  Verhältnisse  bei  ano- 
discher Reizung  keineswegs  so  einfache  sind ,  und  ebenso  wenig  ist 
dies  bei  kathodischer  Erregung  der  Fall.  Darüber,  dass  die  Längs- 
muskeln des  direct  gereizten  Segmentes  erregt  werden,  kann  aller- 
dings nicht  der  geringste  Zweifel  bestehen,  fraglich  bleibt  aber 
aus  gleich  zu  erörternden  Gründen  doch ,  ob  nicht  auch  die  Ring- 
muskeln, wenigstens  örtlich,  an  der  Berührungsstelle  selbst  miterregt 
werden.  , 

Für  eine  genauere  Untersuchung  empfiehlt  es  sich  zunächst,  nicht 
allzu  starke  Ströme  zu  verwenden,  da  die  Beurtheilung  sonst  nicht 
unwesentlich  erschwert  wird.  Es  sei  auch  hier  wieder  bemerkt,  dass 
die  Resultate  der  bipolaren  Reizung  genau  mit  denen  der  monopolaren 
übereinstimmen.  Die  auffälligste  Veränderung  ist,  wie  schon  erwähnt, 
die  Verkürzung  (Abnahme  der  Höhe)  des  betreffenden  Körperringes. 
Dieselbe  macht  sich  jedoch  in  der  Regel  nicht  in  der  ganzen  Peripherie 
gleichmässig  geltend,  sondern  erscheint  im  Wesentlichen  auf  die  nächste 
Umgebung  der  Kathode  beschränkt.  Hier  erscheint  in  Folge  der  Längs- 
muskelcontraction  das  betreffende  Segment  wulstförmig  gewölbt  und 
reliefartig   zwischen    den   benachbarten   Theilen   hervortretend.     Diese 


Elektrische  Keizung  der  Muskeln.  209 

letzteren  nehmen  bei  AnAvendung  stärkerer  Ströme  ebenfalls  und  in 
gleicher  Weise  an  der  Erregung  Theil ,  so  dass  dann  bei  Schliessung 
des  Stromes  durch  die  über  mehrere  Segmente  sich  erstreckende  Längs- 
muskelcontraction  ein  mehr  oder  weniger  stark  hervorspringender,  im 
Wesentlichen  auf  die  direct  gereizte  Stelle  beschränkter  Wulst  ent- 
steht, der  sich  unter  der  Kathode  selbst  am  steilsten  erhebt  und 
beiderseits  ziemlich  rasch  abfällt.  Untersucht  man  bei  geeigneter 
Stromstärke  das  kathodische  Erregungsgebiet  mit  der  Lupe  und  achtet 
besonders  auf  das  Entstehen  der  Reizwirkung  im  Momente  der  Schliessung 
an  dem  direct  mit  der  Elektrode  berührten  Segmente,  so  ist  es  in  der 
Regel  nicht  schwer,  sich  mit  voller  Bestimmtheit  davon  zu  überzeugen, 
dass  daselbst  auch  eine  örtlich  auf  die  kathodische 
Stelle  beschränkte  Contraction  der  Ringmuskeln  er- 
folgt, die  bei  minder  aufmerksamer  Beobachtung  nur  deshalb  un- 
bemerkt bleibt,  weil  sie  ihrer  räumlichen  Beschränktheit  wegen  zu 
keiner  merklichen  Verkleinerung  des  Durchmessers  des  Muskelringes 
führt.  Diese  Wirkung  ist  bei  Anwendung  nicht  übermässig  starker 
Ströme  auf  das  direct  gereizte  Segment  beschränkt,  und  man  sieht 
in  Folge  dessen  an  der  Berührungsstelle  oft  ganz  deutlich  eine  stärkere 
höckerförmige  Hervorragung  entstehen,  welche  ohne  Zweifel  auf  die 
sich  deckende  locale  Contraction  der  Längs-  und  Ringmuskeln  zurück- 
zuführen ist.  Für  den  sicheren  Nachweis  der  letzteren  ist  der  Um- 
stand von  wesentlicher  Bedeutung,  dass  am  Hautmuskelschlauch  die 
Ringmuskelschicht  umgekehrt  wie  am  Darme  der  Wlrbelthiere  nach 
aussen  gelegen  und  daher  der  Beobachtung  direct  zugänglich  ist. 
Andernfalls  würde  es  schwer  sein,  über  die  Veränderungen  der  Ring- 
muskeln, insbesondere  bei  kathodischer  Reizung,  sicheren  Aufschluss 
zu  erhalten  (Fürst,  30). 

Im  Vorstehenden  wurden  bisher  nur  die  Erscheinungen  der 
Schliessungserregung  näher  berücksichtigt.  Es  erübrigt,  nun  noch 
einige  Worte  über  die  bei  Oeffnung  des  Stromkreises  hervortretenden 
polaren  Veränderungen  zu  sagen.  Wie  fast  immer,  so  lässt  sich  auch 
hier  constatiren,  dass  zur  Auslösung  wirksamer  Oeffnungserregung  im 
Allgemeinen  stärkere  Ströme  und  eine  längere  Schliessungsdauer  er- 
forderlich sind.  Dass  auch  individuelle  Verschiedenheiten  der  Erreg- 
barkeit der  Präparate  wesentlich  mit  in  Betracht  kommen,  bedarf 
kaum  besonderer  Erwähnung.  Im  Allgemeinen  sind  jedoch  die  Oeff- 
nungsreizerfolge  —  wenigstens  bei  Lumbricus  —  niemals  so  scharf 
ausgeprägt  wie  die  Folgewirkungen  der  Schliessung  des  Stromes. 
Am  sichersten  lässt  sich  noch  das  Auftreten  einer  der  ano- 
dischen Schliessungswirkung  ähnlichen  Ringmuskel- 
contraction  an  dem  vorher  kathodisch  gereizten  Seg- 
ment bei  Oeffnung  des  Kreises  feststellen;  doch  gelingt  es 
kaum,  mit  W)ller  Sicherheit  zu  entscheiden,  ob  sich  auch  in  diesem 
Falle  wie  bei  der  anodischen  Schliessungsreizung  die  Contraction  zu 
beiden  Seiten  einer  erschlafften  Stelle  ausbreitet.  Noch  schwieriger 
lässt  sich  über  die  Art  der  Betheiligung  der  Längsmuskeln  bei  der 
Oeffnungswirkung  Aufschluss  erlangen,  welche  unter  Umständen  nach 
starker  anodischer  Reizung  eines  Segmentes  eintritt.  Es  ist  dies  hier 
zum  Theil  mit  bedingt  durch  die  verhältnissmässig  langsame  Aus- 
gleichung des  Schliessungsreizerfolges,  wodurch  —  wenigstens  zeit- 
weise —  so  zu  sagen  eine  Uebereinanderlagerung  der,  wie  man  wohl 
annehmen  darf,  antagonistischen  Folgewirkungen  der  Schliessung  und 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  14 


210  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

Oeffnung  des  Stromes  eintritt,  was  wieder  die  Beurtlieilung  des  Sach- 
verhaltes Avesentlich  erschwert. 

Ebenso  charakteristisch,  wie  am  Hautmuskelschlauch  des  Regen- 
wurmes, gestalten  sich  die  Erfolge  der  elektrischen  Reizung  auch  am 
Blutegel  und  besonders  schön  bei  Aren icola  (29).  Auch  hier  sind 
die  am  meisten  hervortretenden  Erscheinungen  bei  der  Schliessung  des 
Stromes  einerseits  (an  der  Anode)  die  Contraction  der  Ringmuskeln 
des  direct  mit  der  Elektrode  berührten  Segmentes,  andererseits  (an 
der  Kathode)  die  starke  Verkürzung  desselben  in  Folge  der  Contraction 
der  Längsmuskeln.  Der  geringe  Abstand  der  den  Wurmkörper  um- 
greifenden Querfurchen  bedingt  es,  dass  beim  Egel  insbesondere  der 
kathodische  Reizerfolg  sich  über  eine  grössere  Anzahl  von  Segmenten 
erstreckt,  während  an  einem  langen  Körperring,  wie  beispielsweise 
gerade  am  Vorderende  von  Lumbricus  die  kathodische  Contraction 
der  Längsmuskeln,  wenigstens  bei  schwacher  Reizung,  oft  nur  seg- 
mental entwickelt  erscheint.  Die  platte  Körperform  des  Egels  lässt 
ferner  die  locale  Beschränktheit  des  kathodisehen  Reizerfolges  auf  die 
gereizte  Rückenfläche  des  Wurmes  besonders  deutlich  hervortreten. 
Niemals  sieht  man  auch  hier  eine  wellenförmige  Fortpflanzung  der 
Contraction  über  grössere  Abschnitte  des  Wurmleibes.  Vielmehr  bleibt 
dieselbe  in  der  bei  der  Schliessung  vorhandenen  Ausdehnung  während 
der  ganzen  Schliessungsdauer  bestehen,  und  es  gilt  dies  in  gleicher 
Weise  für  die  anodische  Ring-  wie  für  die  kathodische  Längsmuskel- 
contraction.  Dass  die  letztere  auch  bei  dem  Egel  nicht  allein  vor- 
handen, sondern  von  einer  gleichzeitigen  örtlichen  Verkürzung  der 
Ringniuskeln  an  der  Berührungsstelle  der  Elektrode  begleitet  ist,  lässt 
sich  in  jedem  Falle  mit  Sicherheit  erkennen.  Es  entsteht  in  Folge  der- 
selben gerade  unter  der  Pinselspitze  ein  kleiner,  aber  deutlicher,  quer 
zur  Faserung  der  Ringmuskeln  verlaufender  Wulst,  welcher  der  durch 
die  Contraction  der  Längsmuskeln  erzeugten  Verdickung  gewisser- 
maassen  aufgesetzt  erscheint.  Zu  beiden  Seiten  des  kleinen,  ziemlich 
scharf  begrenzten  Ringmuskelwulstes  lässt  sich  an  demselben  Ring- 
faserzuge keine  Spur  von  Erregungserscheinungen  erkennen.  Wenn 
bereits  vor  der  Schliessung  eine  merkliche  („tonische")  Contraction 
daselbst  bestand,  so  sieht  man  dieselbe  allerdings  an  der  Austi-ittsstelle 
selbst  zu  jenem  localen  Wulst  sich  steigern.  Zu  beiden  Seiten  des- 
selben macht  sich  dann  jedoch  ganz  deutlich  eine  Erschlaffung  der 
Ringmuskeln  geltend,  so  dass  bisweilen  die  seitlichen  Theile  des  be- 
treffenden Segmentes  sich  convex  fast  blasenförmig  nach  aussen  wölben, 
wodurch  eine  ganz  eigenthümliche ,  ziemlich  complicirte  Gestaltsver- 
änderung des  Hautmuskelschlauchs  in  der  Umgebung  der  Elektrode 
herbeigeführt  wird.  Auch  der  durch  die  örtliche  Zusammenziehung 
der  Längsmuskeln  bedingte  Wulst  erscheint,  obschon  er  sich,  wie  er- 
wähnt, stets  über  mehrere  Körpersegmente  erstreckt,  nach  beiden 
Seiten  hin  ziemlich  scharf  begrenzt  (Fürst,  1.  c). 

Bei  Oeffnung  des  Stromkreises  gleichen  sich  die  geschilderten 
Veränderungen  entweder  einfach  aus,  oder  es  macht  sich  (bei  stärkeren 
Strömen  und  längerer  Schliessungsdauer)  eine  Oeffnungserregung  in 
ähnlicher  Weise  geltend  wie  beim  Regenwurm ,  indem  eine  über 
grössere  Abschnitte  des  vorher  gereizten  Segmentes  sich  erstreckende 
Verkürzung  der  Ringmuskeln  zu  einer  mehr  oder  weniger  starken 
segmentalen  Einschnürung  führt,  eine  Veränderung,  deren  Aehnlich- 
keit  mit  dem  Erfolg  der   anodischen  Schliessungsreizung  sofort  in  die 


Elektrische  Eeizung  der  Muskeln.  211 

Augen  springt,  obschon  es  schwer  ist,  eine  vollkommene  Ueberein- 
stimmung  in  beiden  Fällen  nachzuweisen.  Während  bei  Berührung- 
beliebiger  Punkte  der  Oberfläche  des  Hautmuskelschlauchs  von  Hirudo 
mit  der  Kathode  in  Folge  der  gleichzeitigen  Verkürzung  der  Längs- 
und Ringmuskeln  so  zu  sagen  ein  Herandrängen  der  Muskelsubstanz 
nach  der  Austrittsstelle  des  Stromes  von  allen  Seiten  her  erfolgt, 
beobachtet  man  bei  der  anodischen  Reizung  ein  gerade  gegentheiliges 
Verhalten.  Fast  deutlicher  noch  als  bei  Lumbricus  sieht  man  bei 
Hirudo  im  Momente  der  Schliessung  das  mit  der  Anode  berührte  Seg- 
ment an  der  Berührungsstelle  selbst  unerregt  bleiben  oder,  wenn  ein 
merklicher  Tonus  vorhanden  war,  erschlaffen.  Für  die  Contraction 
beziehungsweise  Erschlaffung  der  Ringmuskeln  hat  man  in  diesem 
Falle  ein  gutes  Merkzeichen  in  dem  gegenseitigen  Abstände  der  zarten 
Querlinien  der  Haut,  durch  welche  jedes  Segment  senkrecht  zur  Faser- 
richtung der  Ringmuskeln  parallel  gestreift  erscheint.  Bei  jeder  Ver- 
kürzung der  Ringmuskeln  nähern  sich  an  den  verkürzten  Stellen  diese 
Querstreifen,  bei  jeder  Verlängerung  wird  ihr  Abstand  grösser.  Das 
letztere  ist  nun  in  ganz  unverkennbarer  Weise  bei  Schliessung  des 
Stromes  in  der  nächsten  Umgebung  der  anodischen  Pinselspitze  der 
Fall,  während  weiterhin  eine  starke  Contraction  und  in  Folge  dessen 
eine  ringförmige  Einziehung  des  betreffenden  Segmentes  erfolgt. 

Dasselbe  gilt  nun  an  gleicher  Stelle  auch  von  den  Längsmuskeln. 
Auch  diese  bleiben  an  der  Elektrode  selbst  unverkürzt,  die  Höhe  des 
Segmentes  ändert  sich  nicht.  Dagegen  macht  sich,  wie  am  Regen- 
wurm, beiderseits  von  der  ringförmigen  Einschnürung  eine  je  nach 
der  Stromstärke  mehr  oder  weniger  ausgebreitete  Contraction  der 
Längsmuskeln  an  den  betreffenden  Segmenten  geltend,  welche  am 
stärksten  in  unmittelbarer  Nähe  des  mit  der  Anode  berührten  Körper- 
ringes entwickelt  nach  aussen  hin  allmählich  abnimmt. 

Alle  im  Vorstehenden  mitgetheilten  Thatsachen  weisen  überein- 
stimmend darauf  hin,  dass  sogenannte  glatte  Muskeln  sehr  verschiede- 
ner wirbelloser  Thiere  in  Bezug  auf  ihr  Verhalten  bei  elektrischer  Rei- 
zung eine  sehr  weitgehende,  man  könnte  wohl  sagen  vollständige  Ueber- 
einstimmung  darbieten.  Im  Allgemeinen  erweist  sicli  auch  hier  das 
polare  Erregungsgesetz  als  geltend,  obschon  gewisse  Erscheinungen 
hervortreten,  für  welche,  wie  es  zunächst  scheint,  am  quergestreiften 
Muskel  alle  Analogien  fehlen.  Als  durchgreifende  Regel  gilt  vor  Allem 
wieder  der  Satz ,  dass  bei  Schliessung  eines  genügend 
starken  Stromes  an  der  physiologischen  Kathode  Er- 
regung und  Contraction  erfolgt.  Dort,  wo  es  zunächst 
den  Anschein  hatte,  als  handle  es  sich  um  eine  Ausnahme  von  dieser 
Regel  (wie  insbesondere  an  den  Ringfasern  des  Hautmuskelschlauches 
der  Würmer),  lässt  sich  nichtsdestoweniger  bei  genauerer  Prüfung  die 
Geltung  des  erwähnten  Gesetzes  nachweisen.  Als  besonders  bemerkens- 
werth  muss  hierbei  der  Umstand  erwähnt  werden,  dass  die  katho- 
dische Schliessungserregung  in  allen  Fällen  nur  auf  die 
Austrittsstelle  des  Stromes  und  deren  nächste  Umgebung 
in  Form  eines  localen  „idiomuskulären"  Wulstes 
(Schliessungsdauercontraction)  beschränkt  bleibt.  Nie- 
mals ist  eine  wellenförmige  Fortpflanzung  der  Contraction  zu  be- 
merken. 

In  Uebereinstimmung  mit  dem  polaren  Erregungsgesetz  steht 
ferner    auch    die    weitere    Thatsache,    dass    bei    Schliessung    des 

14* 


212  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

Stromes  Örtlich  an  der  Anode  keine  Erregung,  wohl 
aber  Hemmung  eines  bereits  bestehenden  Erregungs- 
zustandes eintritt,  während  dagegen  an  gleicher  Stelle 
unter  Umständen  Oeffnungserregung  erfolgt.  Wenn  dem 
ungeachtet  bei  monopolarer  anodischer  Reizung  fast  stets  eine  oft  sehr 
starke  Gesammtverkürzung  der  Muskelzüge  eintritt,  so  konnte  nach- 
gewiesen werden,  dass  die  zu  Grunde  Hegende  Erregung  bei  Schlies- 
sung des  Stromes  nicht  von  der  Anode  selbst  ausgeht,  sondern  viel- 
mehr in  der  Umgebung  derselben  in  einer  noch  näher  zu  er- 
örternden Weise  entsteht.  Hierauf  muss  bei  elektrischer  Reizung  des 
Hautmuskelschlauches  der  Würmer  die  auf  den  ersten  Blick  so  auf- 
fallende Thatsache  bezogen  werden,  dass  bei  Schliessung  des  Stromes 
an  der  Anode  eine  unter  Umständen  maximale  Einschnürung  des  direct 
berührten  Segmentes  erfolgt,  und  in  gleicher  Weise  erklärt  sich  die 
starke  Verkürzung  der  E  c  h  i  n  u  s  -  und  H  o  1  o  t  h  u  r  i  e  n  m  u  s  k  e  1  n  bei 
monopolarer  anodischer  Reizung,  sowie  das  nicht  minder  auffallende 
Zerreissen  der  ersteren  an  der  Eintrittsstelle  des  Stromes. 

Von  dem  gewonnenen  Standpunkte  aus  lassen  sich  nun  auch  die 
auf  den  ersten  Blick  so  sehr  überraschenden  und  scheinbar  sehr  ab- 
weichenden Reizerfolge  am  Darm  der  Wirbelthiere  leicht  und  be- 
friedigend erklären  (31).  Berührt  man  bei  genügender  Intensität  des 
Reizstromes  eine  beliebige  Stelle  der  Oberfläche  einer  ruhig  daliegenden 
Dünndarmschlinge  irgend  eines  Säugethieres  mit  der  anodischen  Pinsel- 
spitze, während  sich  die  Kathode  wieder  an  einer  indifferenten  Körper- 
steile  (Leber,  Magen  etc.)  befindet,  so  sieht  man  ganz  ähnlich  wie  beim 
Hautmuskelschlauch  der  Würmer  sofort  eine  ringförmige  Einschnürung 
entstehen,  welche  unter  Umständen  zum  völligen  Verschluss  des  Darm- 
rohres an  der  betreffenden  Stelle  führen  kann.  Diese  Contraction 
bleibt  während  der  Dauer  der  Schliessung  bestehen,  vorausgesetzt, 
dass  sich  die  letztere  nicht  über  eine  allzu  lange  Zeit  erstreckt,  und 
gleicht  sich  nach  Oeffnung  des  Stromes  ziemlich  rasch  wieder  aus. 
Besonders  schön  lässt  sich  dieser  Erfolg  der  Reizung  an  Darmschlingen 
beobachten,  welche  entweder  durch  flüssigen  oder  gasförmigen  Inhalt 
massig  ausgedeKnt  sind.  Solange  der  blossgelegte  Darm  noch  wenig 
abgekühlt  und  daher  noch  sehr  erregbar  ist,  pflegen  bei  Schliessung 
des  Stromes  neben  der  localen  Contraction  der  Ringmuskeln  an  der 
Anode  auch  mehr  oder  minder  deutliche  peristaltische,  beziehungsweise 
antiperistaltische  Bewegungen  in  der  Umgebung  der  direct  gereizten 
Stelle  aufzutreten,  von  denen  sich  in  diesem  Falle  kaum  mit  Sicher- 
heit sagen  lässt,  ob  sie  direct  durch  Stromzweige  verursacht  oder  von 
dem  primären  Reizorte  aus  fortgeleitet  sind.  Es  wird  später  noch  zu  er- 
wähnen sein,  dass  die  Anode  unter  Umständen  in  der  That  der  Ausgangs- 
punkt peristaltisch  nach  beiden  Seiten  hin  fortschreitender  Contractionen 
werden  kann,  während  in  anderen  Fällen  eine  bloss  locale  Einschnürung 
hervortritt.  Verschiedene  Abschnitte  des  Darmes  verhalten  sich  in 
dieser  Beziehung  ganz  gleichartig  und  machen  sich  höchstens  grad- 
weise Unterschiede  bemerkbar,  die  durch  die  verschiedene  Entwicklung 
der  Ringmuskelschicht  bedingt  sind.  So  kommt  es  an  den  dünn- 
wandigen und  gewöhnlich  stark  gefüllten  Colon  der  Pflanzenfresser 
meist  nicht  zu  einer  die  ganze  Peripherie  umgreifenden  Einschnürung, 
sondern  nur  zur  Bildung  mehr  oder  weniger  tiefer  segmentaler  Furchen. 

Ganz  wesentlich  verschieden  gestaltet  sich  der  Erfolg  nach  Wen- 
dung   des    Stromes    bei    kathodischer    Reizung    des    Darmes.      Wenn 


Elektrische  Reizung  der  Muskelu.  213 

Schillbach,  Avelcher  zuerst  die  Folgeerscheinungen  der  elektrischen 
Reizung  des  Darmes  näher  untersuchte,  in  diesem  Falle  kurzweg  von 
einer  localen  Contraction  spricht  und  den  Unterschied  in  der  Wirkungs- 
weise beider  Elektroden  im  Wesentlichen  nur  darin  erblickt,  dass  „an 
der  Anode  peristaltische  Wellen  besonders  in  aufsteigender  Richtung", 
an  der  Kathode  dagegen  meist  locale  Contractionen  hervortreten,  so 
kann  man  dem  nicht  ganz  beistimmen.  Denn  einerseits  ist  das 
Auftreten  einer  nur  auf  den  Ort  der  directen  Reizung  be- 
schränkten Contraction  auch  an  der  Anode  ein  überaus  häufiger 
Befund,  und  auf  der  anderen  Seite  muss  hervorgehoben  werden, 
dass  die  sichtbaren  Erregungserscheinungen  an  Stelle 
der  Kathode  immer  einen  von  dem  Reizerfolg  an  der 
Anode  ganz  wesentlich  verschiedenen  Charakter  zeigen. 
Während  die  ganz  typische,  ringförmige  Einschnürung  an  der  Anode 
niemals  fehlt  und  sowohl  am  Dünndarm  wie  auch  am  Colon  oder 
Rectum  in  gleicher  Weise  hervortritt,  sind  die  Erregungserschei- 
nungen an  der  Kathode  sowohl  bei  verschiedenen  Thierspecies, 
wie  auch  an  verschiedenen  Darmabschnitten  eines  und  desselben 
Thieres  in  sehr  wechselndem  Grade  entwickelt.  Bei  Kaninchen, 
Meerschweinchen,  Mäusen  sieht  man  bei  Schliessung  eines  Stromes, 
der  an  der  Anode  eine  vollkommene  Zuschnürung  des  Darmrohres 
bewirkt,  an  der  Berührungsstelle  der  Kathode  eine  kaum  merkliche 
Veränderung  eintreten,  und  nur  bei  genauerem  Zusehen  erkennt  man, 
dass  sich  daselbst  eine  schmale  leistenförmige  Verdickung  bildet,  welcher 
zugleich  in  der  nächsten  Umgebung  eine  flache,  dellenartige  Einziehung 
der  Oberfläche  entspricht.  Diese  an  der  Austrittsstelle  des  Stromes 
am  Dünndarm  von  Kaninchen  oder  Meerschweinchen  nur  angedeutete 
Längsleiste  tritt  am  Katzen-  oder  Hundedarm  stets  als  eine  kamm- 
artig hervorspringende,  der  Längsaxe  des  Darmrohres  parallel  laufende 
Verdickung  hervor,  welche  nach  Art  einer  Narbe  zu  einer  Verziehung 
der  nächsten  Umgebung  führt,  wodurch  an  der  betreff'enden  Seite  der 
Darmwand  eine  flache,  dellenförmige  Vertiefung  entsteht,  aus  deren 
Mitte  sich  die  erwähnte  Leiste  erhebt.  Auch  diese  Veränderungen 
bleiben  während  der  Schliessungsdauer  des  Stromes  bestehen  und 
gleichen  sich  erst  nach  der  Oefiiiung  des  Kreises  mehr  oder  weniger 
rasch  aus.  Sehr  interessant  gestalten  sich  ferner  die  polaren  Erregungs- 
erscheinungen an  den  verschiedenen  Abschnitten  des  Colon  der  Pflanzen- 
fresser, wo  die  anatomische  Anordnung  der  Muskelschichten  in  unver- 
kennbarer Weise  an  die  bei  den  Holothurien  gegebenen  Verhält- 
nisse erinnert.  In  beiden  Fällen  bilden  die  beim  Darm  aussen  ge- 
legenen Längsmuskeln  keine  zusammenhängende  Schichte,  sondern  sind 
ausschliesslich  (Holothurien)  oder  doch  vorwiegend  (Dickdarm)  auf  ein- 
zelne bandförmige  Streifen  (Tänien)  zusammengedrängt,  zwischen  denen 
die  Ringmuskulatur  zu  Tage  tritt.  Tritt  nun  ein  elektrischer  Strom 
an  irgend  einem  Punkte  einer  solchen  Tänie  aus,  so  entsteht  eine 
sehr  deutliche  locale  Dauercontraction,  welche  ausbleibt,  wenn  der 
Strom  an  gleicher  Stelle  eintritt;  dagegen  erfolgt  dann  in  der  Regel 
eine  segmentale  Einschnürung  der  Darmwand,  die  auf  eine  Erregung 
der  Ringmuskeln  zu  beziehen  ist.  Befindet  sich  die  Anode  an  irgend 
einer  Stelle  der  Oberfläche  eines  Haustrums  selber,  so  tritt  die  zuletzt 
erwähnte  Folgewirkung  der  Reizung  nur  um  so  deutlicher  hervor. 
Tritt  dagegen  der  Strom  an  der  Oberfläche  eines  Haustrums  aus,  so 
entsteht  daselbst  ein  narbenähnlicher,  senkrecht  zur  Faserrichtung  ver- 


214  Elektrische  Eeizung  der  Muskeln. 

laufender,  schmaler  Wulst,  der  auf  die  nächste  Umgebung 
der  Kathode  beschränkt  bleibt  und,  wie  sich  besonders 
bei  Lupenvergrösserung  erkennen  lässt,  im  Wesent- 
lichen nur  durch  eine  localeDauercontraction  der  Ring- 
muskelfasern bedingt  wird.  Die  Erscheinung  ist  sonach  durch- 
aus analog  dem  kleinen,  scharf  begrenzten  Querwulst  bei  kathodischer 
Reizung  der  Holothurienringmuskeln.  Minder  klar  tritt  be- 
greiflicher Weise  diese  locale  Erregung  der  Ringmuskeln  des  Darmes 
an  der  Kathode  in  allen  jenen  Fällen  hervor,  wo  eine  Längsmuskel- 
schicht  von  erheblicher  Dicke  vorhanden  ist.  Doch  darf  man  wohl 
die  eigenthümliche,  dellenförmige  Einziehung  der  Oberfläche  des  Dünn- 
darmes, aus  deren  Mitte  sich  der  narbenähnliche  Wulst  erhebt,  zum 
Theil  mit  auf  eine  locale  kathodische  Erregung  der  durch  die  Längs- 
fasern gedeckten  Ringmuskeln  beziehen.  Und  ebenso  scheint  das  sehnen- 
artige Vorspringen  einer  Dickdarmtänie  bei  kathodischer  Reizung 
durch  die  Entstehung  eines  localen  Ringmuskelwulstes  mitbedingt  zu 
sein.  Erinnert  man  sich  jenes  eigenthümlichen  und  ganz  charak- 
teristischen Verhaltens  der  Ringmuskeln  der  Holothurien  bei 
anodischer  Reizung,  sowie  der  entsprechenden  Erregungserschei- 
nungen am  Hautmuskelschlauch  der  Würmer,  so  dürfte  kaum  ein 
Zweifel  bestehen  können,  dass  auch  die  ringförmige  oder  segmentale 
Einschnürung  der  Darmwand  an  der  Anode  in  gleicher  Weise  zu 
Stande  kommt.  Freilich  sind  die  Verhältnisse  hier  bei  Weitem 
nicht  so  klar  und  leicht  zu  erkennen  wie  dort,  am  allerwenigsten 
aber  wieder  am  Dünndarm,  Viel  eher  erscheint  hierzu  noch 
der  stark  gefüllte  Dickdarm  der  Pflanzenfresser  geeignet.  Hier  ist 
bei  schwächeren  Strömen  die  Contraction  an  der  Anode  keine  voll- 
ständig umgreifende,  und  man  sieht  dann  unter  Umständen  sehr  deut- 
lich, besonders  wenn  die  Oberfläche  des  Darmes  etwas  trocken  ge- 
worden ist,  wie  bei  Schliessung  des  Kreises  die  nächste  Umgebung 
der  Anode  glatt  bleibt,  während  sich  beiderseits  davon  in  Folge  der 
Zusammenziehung  der  Ringmuskeln  zahlreiche  Runzeln  bilden.  Auch 
die  Längsmuskelzüge  der  Tänien  bleiben  keineswegs  unerregt,  wenn 
die  Anode  irgendwo  im  Verlauf  derselben  angelegt  wird;  doch  sind 
die  Folgewirkungen  hier  leichter  zu  übersehen.  Wieder  bleibt  die 
nächste  Umgebung  der  Anode  unen-egt,  während  in  der  Umgebung 
Contraction  erfolgt.  Am  Dünndarm,  wo  die  anatomischen  Verhältnisse  in 
Bezug  auf  die  elektrische  Reizung  noch  ungünstiger  sind,  als  am  Haut- 
muskelschlauch der  Würmer,  sind  dem  entsprechend  die  eben  geschil- 
derten Erregungserscheinungen  sehr  schwer  im  Einzelnen  zu  analysiren, 
und  bleiben  als  deutlich  hervortretende  Erfolge  eigentlich  nur  die 
starke  und  ausgebreitete  Schliessungscontraction  der  Ringmuskeln  an 
der  Anode,  sowie  die  locale  Verkürzung  der  Längsfasern  an  der  Ka- 
thode erkennbar.  Es  kann  aber  nicht  bezweifelt  werden,  dass  ersteren- 
falls  auch  die  Längsmuskeln,  letzteren  falls  (wenigstens  bei  stärkeren 
Strömen)  auch  die  Ringmuskeln  gleichzeitig  und  in  gleicher  Weise 
miterregt  werden  (29). 

An  die  zuletzt  besprochenen  Erfahrungen  am  Danne  der  Warm- 
blüter reihen  sich  naturgemäss  die  Resultate  einer  ausgedehnten  Ex- 
perimentaluntersuchung  von  Engelmann  über  die  elektrische  Er- 
regung des  Ureter  an  (5).  Es  ist  begreiflich,  dass  mit  Rücksicht 
auf  die  geringe  Grösse  dieses,  Ring-  und  Längsmuskeln  in  analoger 
Anordnung   wie    der  Darm    enthaltenden  Rohres,    feinere  Details    der 


Elektrische  Eeizung  der  Muskeln.  215 

Gestaltveränderungen  beider  Muskelhäute  an  den  Polen  das  Reiz- 
stromes sieh  hier  viel  schwerer  werden  erkennen  lassen ,  als  in  den 
bisher  besprochenen  Fällen.  Dazu  kommt  noch,  dass  eine  Erscheinung, 
welche  beim  Darm  nur  ausnahmsweise  beobachtet  wird,  beim  Ureter 
beherrschend  in  den  Vordergrund  tritt,  nämlich  die  peristaltische  Fort- 
leitung des  Erregungs-  beziehungsweise  Contractionsvorganges  vom 
Orte  der  Entstehung  aus.  Schon  Schillbach  (32)  giebt  an,  dass 
bei  Reizung  des  Darmes  mit  dem  Kettenstrome  „an  der  Kathode  nur 
eine  an  dem  Ort  der  Reizung  beschränkt  bleibende  Contraction  sich 
bildete",  während  an  der  Anode  eine  locale  Contraction  auftrat,  die 
sich  wenige  Sekunden  später  in  eine  intensive  peristaltische  Contraction 
nach  auf-  und  abwärts  umwandelte.  An  ausgeschnittenen,  überleben- 
den (erwärmten)  Darmstücken  habe  ich  selbst  ebenfalls  oft  das 
peristaltische  resp.  antiperistaltische  Fortschreiten  der  an  der  Anode 
ausgelösten  Contraction  der  Ringmuskeln  beobachtet.  Wie  aber 
überhaupt  die  Fortleitung  einer  örtlich  gesetzten  Erregung  in  der 
Darmmuscularis  von  verschiedenen,  vorläufig  nicht  genauer  festgestell- 
ten Momenten  abhängt,  so  gilt  dasselbe  auch  hinsichtlich  der  polaren 
Reizwirkungen.  Es  scheint  einerseits  eine  hohe  Erregbarkeit  der  reiz- 
baren Theile  erforderlich  zu  sein,  w^ährend  andererseits  wieder  der  im 
Darm  selbst  gelegene  Nervenmechanismus  bei  dem  Zustandekommen 
fortschreitender  Contraction  eine  ganz  wesentliche  Rolle  spielen  dürfte. 
Die  Mehrzahl  der  Autoren  neigt  sich  überhaupt  der  Ansicht  zu,  dass 
sowohl  die  normale,  wie  jede  durch  künstliche  Reizung  auszulösende 
Peristaltik  stets  und  nur  durch  das  Darmnervensystem  vermittelt  wird 
(Nothnagel,  L  ü  d  e  r  i  t  z  33).  Ohne  in  dieser  Frage,  welche  bereits 
früher  berührt  wurde,  bestimmte  Stellung  zu  nehmen,  sollte  hier  nur 
auf  die  Möglichkeit  der  Fortleitung  der  an  den  Polen  des  Ketten- 
stromes ausgelösten  Erregungswirkungen  hingewiesen  werden.  Bei 
Anwendung  starker  Ströme  beobachtete  dies  Lüderitz  sowohl  vom 
positiven  wie  vom  negativen  Pole  aus;  doch  schien  die  Kathode 
stärker  zu  wirken  als  die  Anode.  „Beim  Kaninchen  und  Meerschwein- 
chen stellt  diese  Wirkung  in  ausgeprägten  Fällen  sich  dar  als  eine, 
mehrere  Centimeter  weit  je  auf-  und  abwärts  von  der  Elektrode  ein- 
tretende Contraction  der  Längsmuskellage  des  Darmes,  der  eine  aus- 
schliesslich oder  vorwiegend  pyloruswärts  verlaufende  Contraction  der 
Ringmuskellage  sich  anschliesst:  bei  der  Katze  tritt  eine  entweder 
auf-  und  abwärts  gleichweit  oder  pyloruswärts  weiter  sich  erstreckende 
Contraction  der  Ringmuskeln  auf"   (33.  p.  14). 

Diesen  sehr  wechselnden  und  in  ihrer  Deutung  noch  unsicheren 
Befunden  gegenüber  zeichnen  sich  die  Folgewirkungen  der  elek- 
trischen Reizung  des  Ureter  ebenso  sehr  durch  die  Sicherheit  ihres 
Eintretens,  wie  durch  ihre  grosse  Regelmässigkeit  aus.  Die  grund- 
legenden Untersuchungen  von  Engelmann  haben  ergeben,  dass,  ab- 
gesehen von  der  Langsamkeit  aller  Reactionen,  hinsichtlich  der  polaren 
Erregungserscheinungen  eine  vollkommene  Uebereinstimmung  zwischen 
dem  Ureter  und  quergestreiften  Stammesmuskeln  besteht,  so  dass  diese 
Beobachtungen  geradezu  mit  die  wichtigste  Stütze  für  die  Annahme 
der  unumschränkten  Gültigkeit  des  polaren  Erregungsgesetzes  bilden. 
Um  so  mehr  muss  auf  den  ersten  Blick  die  Thatsache  überraschen, 
dass,  so  lange  sich  nur  der  Ureter  in  situ  befindet,  der  Erfolg  der 
elektrischen  Reizung  mit  dem  Kettenstrome  sich  gerade  entgegen- 
gesetzt gestaltet,    als  es  nach  Engelmann's  Untersuchungen  zu  er- 


216  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

warten  war.  Legte  Engelmann  unpolarisirbare  Elektroden  an  zwei 
Punkten  in  der  Continuität  des  mit  möglichster  Schonung  und  unter 
Vermeidung  erheblicher  Abkühlung  völlig  frei  p  r  ä  p  a  r  i  r  t  e  n  Ureter 
vom  Kaninchen  an,  so  schnürte  sich  bei  Schliessung  eines  Ketten- 
stromes nach  einem  kürzeren  oder  längeren,  immer  jedoch  unmittelbar 
merklichen  Latenzstadium  das  Muskelrohr  an  der  von  der  Kathode 
berührten  Stelle  zusammen,  während  zur  selben  Zeit  noch  innerhalb 
der  ganzen  intrapolaren  Strecke,  sowie  an  der  Anode  Ruhe  herrscht. 
Unmittelbar  darauf  sieht  man  dann  eine  Contractions  welle  ganz 
wie  nach  örtlicher  mechanischer  Reizung  von  der  Kathode  ablaufen, 
und  zwar  ebensowohl  in  peristaltischer  wie  antiperistaltischer  Richtung. 
Wie  die  Schliessungserregung  von  der  Kathode,  so  sah  Engelmann 
die  Oeffnungserregung  ausschliesslich  von  der  Anode  ausgehen;  die 
Zusammenziehung  fängt  stets  genau  an  der  Stelle  an,  wo  vorher  der 
Strom  aus  der  Elektrode  in  den  Ureter  eintrat,  nie  gleichzeitig  in  einem 
grösseren  Stück  der  durchflossenen  Strecke.  Wie  beim  quergestreiften 
Muskel  bildet  auch  hier  die  Oeffnung  eines  Kettenstromes  im  Allge- 
meinen einen  schwächeren  Reiz  als  die  Schliessung,  so  dass  es  einer 
grösseren  Stromesintensität  und  insbesondere  einer  längeren 
Schliessungsdauer  bedarf,  um  einen  sichtbaren  Erfolg  zu  er- 
zielen. Inducirte  Ströme  wirken  nach  Engelmann  genau  so  wie 
Kettenströme  von  sehr  kurzer  Dauer  (Stromstösse),  d.  h.  im  Allge- 
meinen nur  als  Schliessungsreize,  wobei  die  Erregung  von  der  Ka- 
thode ausgeht.  Nur  bei  sehr  hoher  Erregbarkeit  und  Strömen  von 
bedeutender  Intensität  scheint  die  Contraction  unter  Umständen  an 
beiden  Polen  gleichzeitig  zu  beginnen. 

Legt  man  jedoch  bei  einem  Meerschweinchen  oder  Kaninchen  die 
beiden  Elektroden  nach  Beiseiteschieben  der  Eingeweide  an  zwei  ver- 
schiedenen Stellen  in  der  Continuität  des  in  situ  befindlichen  Ureter 
an  oder  berührt  nur  mit  der  einen  Elektrode  nach  einander  beliebige 
Stellen  desselben,  während  die  andere  an  irgend  einen  indifferenten 
Punkt  des  Thieres  angelegt  wird,  so  sieht  man  die  Schliessungserre- 
gung stets  von  der  Anode  ausgehen.  Niemals  lässt  sich 
unter  diesen  Umständen  kathodische  Schliessungs- 
oder  anodische    Oeffnungserregung    wahrnehmen. 

Von  den  schwächsten,  wirksamen  Strömen  angefangen  bis  zu  den 
stärksten,  die  man  berechtigter  Weise  anwenden  kann,  sowie  im  All- 
gemeinen auch  unabhängig  von  der  Lage  der  Elektroden  und  der 
Richtung  des  Stromes  schnürt  sich  der  Ureter  bei  Schliessung  des 
Kreises  stets  zuerst  an  der  Anode  zusammen,  worauf  sich  die  Welle 
ganz  in  der  von  Engelmann  geschilderten  Weise  in  der  Regel  nach 
beiden  Seiten  hin  fortpflanzt.  Dasselbe  gilt  bezüglich  der  Oeffnungs- 
erregung, welche  bei  Anwendung  genügend  starker  Ströme  nach  längerer 
Schliessungsdauer  an  der  Kathode  entsteht.  Die  Art  der  Con- 
traction lässt  es  nicht  zweifelhaft  erscheinen,  dass  es  sich  in  beiden 
Fällen  um  eine  gleichzeitige  Erregung  der  Ring-  und  Längsmuskeln 
handelt.  Die  Kleinheit  des  Objectes  macht  es  dagegen  schwierig,  mit 
Sicherheit  zu  entscheiden,  ob  die  Schliessungscontraction  wirklich 
von  der  Berührungsstelle  der  anodischen  Pinselspitze  mit  dem 
Ureter  ausgeht  und  ob  andererseits  eine  locale  Dauercontraction  an 
der  Kathode  vorhanden  ist.  Das  letztere  lässt  sich  nun  in  der  That 
mittels  der  Lupe  feststellen ,  so  dass  es  kaum  zu  bezweifeln  sein 
dürfte,    dass    man    es    bei   den   polaren  Reizerfolgen    an   dem  in  situ 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  217 

befindlichen  Ureter  mit  Erscheinungen  zu  thun  hat,  welche  eine 
vollkommene  Analogie  bilden  zu  den  entsprechenden  Reizerfolgen 
am  Darm. 

Der  auffallende  Gegensatz  der  Befunde  Engelmann's  und  der 
Erfahrungen  an  dem  in  situ  befindlichen  Organ  legt  sofort  den  Ge- 
danken nahe,  dass  die  scheinbare  Umkehr  der  Polwirkungen  im  Wesent- 
lichen nur  auf  der  Verschiedenheit  der  physikalischen  Bedingungen, 
insbesondere  der  Stromvertheilung  beruht.  Versuche,  welche  in 
dieser  Richtung  angestellt  wurden,  haben  die  Richtigkeit  dieser  Ver- 
muthung  durchaus  bestätigt  und  sind  zugleich  geeignet,  den  Schlüssel 
zu  liefern  zur  Erklärung  der  in  der  Umgebung  der  Anode  an  vielen 
anderen  glattmuskeligen  Theilen  auftretenden  Erregungserscheinungen, 
von  denen  oben  ausführlich  die  Rede  war. 

Da  der  ausgeschnittene  Ureter  von  Säugethieren  selbst  nach 
Stunden  wieder  vollkommen  reizbar  wird,  wenn  man  ihn  auf  Körper- 
temperatur erwärmt,  so  lassen  sich  an  demselben  unter  verschiedenen 
Bedingungen  leicht  Reizversuche  anstellen.  Bringt  man  ein  solches 
Präparat  auf  eine  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  benetzte,  oder 
noch  besser  mit  einem  schmalen  Streifen  feuchten  Fliesspapiers  be- 
legte,    von    unten    her    auf   etwa    38 — 40*^    erwärmte    Glasplatte,    so 


Fig.  91. 

stimmen,  wenn  die  Elektroden  irgendwo  in  der  Continuität  angelegt 
werden,  die  Erregungserscheinungen  in  Bezug  auf  ihre  Localisation 
stets  mit  den  Befunden  Engelmann's  am  freipräparirten  Ureter 
des  lebenden  Thieres  überein.  Mit  aller  nur  wünschenswerthen  Deut- 
lichkeit sieht  man,  wie  immer  auch  die  Elektroden  angelegt  werden, 
den  schlaft^  auf  der  Unterlage  liegenden  Ureter  im  Augenblick  der 
Schliessung  an  Stelle  der  Kathode  sich  zusammenschnüren,  wor- 
auf die  Contraction  wellenförmig  entweder  nur  in  einer  oder  in 
beiden  Richtungen  fortschreitet.  Genau  dasselbe  erfolgt  bei  An- 
Avendung  stärkerer  Ströme  und  längerer  Schliessungsdauer  an  der 
Anode  im  Momente  der  Oeffnung  des  Reizkreises.  Bettet  man  nun, 
ohne  an  der  sonstigen  Versuchsanordnung  etwas  zu  ändern,  den  aus- 
geschnittenen Ureter  auf  einen  dicken  Bausch  aus  mehrfach  zusammen- 
gelegtem Fliesspapier  oder  auf  einen  entsprechend  erwärmten  Block 
aus  Kochsalzthon,  so  zeigt  sich  sowohl  bei  bipolarer  wie  bei  mono- 
polarer Reizung  ebenso  regelmässig  ein  entgegengesetztes  Verhalten, 
indem,  wie  an  dem  frischen  in  situ  befindlichen  Organ,  die  Schliessungs- 
erregung an  der  Anode,  die  Oeffnungserregung  an  der  Kathode  zu  er- 
folgen scheint.  Es  ist  klar,  dass  dies  nur  aus  der  Verschiedenheit  der 
Stromvertheilung  erklärt  werden  kann.  Befindet  sich  das  dünne  Muskel- 
rohr des  Ureter  frei  in  der  Luft  ausgespannt  oder  auf  einer  nichtleiten- 
den Unterlage,  so  wird  sich  die  Stromvertheilung  etwa  in  der  Weise 
gestalten,  wie  dies  in  der  beistehenden  Figur  (Fig.  91)  nach  Engel- 


218  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

mann  dargestellt  ist.  Man  sieht,  dass  auch,  wenn  die  Schliessungs- 
erregung nur  an  den  Austrittsstellen  des  Stromes  aus  der  Muskelhaut 
zu  Stande  kommt  (die  letztere  ist  in  der  Figur  schrafürt),  dasselbe 
doch  auch  in  der  Nähe  der  positiven  Elektrode  der  Fall  sein  könnte 
und  eigentlich  müsste,  „Verfolgt  man  die  in  der  Figur  gezeichneten, 
von  E+  (der  Anode)  ausgehenden  Stromzweige,  so  bemerkt  man, 
dass  ein  Theil  derselben  an  den  Punkten  E'^,  E^,  E^  etc.  aus  der 
Muskelhaut  austritt.  Diese  Punkte  (secundäre  Kathodenstellen)  liegen 
in  unmittelbarer  Nähe  der  positiven  Elektrode,  sind  aber  natürlich  in 
Bezug  auf  die  Muskelsubstanz  als  negative  Pole  (physiologische  Kathode) 
aufzufassen.  An  ihnen  müsste  also  Schliessungserregung  eintreten."  Dass 
dies  thatsächlich  nicht  geschieht,  bezieht  Engel  mann  theils  auf  die 
Verschiedenheit  der  Stromdichte  an  der  der  Elektrode  zugewendeten  und 
der  davon  abgekehrten  Seite,  anderntheils  auf  die  Herabsetzung  der  Er- 
i'egbarkeit  und  des  Leitungsvermögens  der  contractilen  Substanz  in  der 
Gegend  der  positiven  Elektrode,  von  der  später  noch  näher  zu  handeln 


Fig.  92. 

sein  wird.  Eine  viel  weitere  Ausbreitung  der  Stromfäden  und  daher 
eine  viel  reichere  Entwicklung  secundärer  Kathodenstellen  in  der  Um- 
gebung der  Anode  und  umgekehrt  secundär  anodischer  Stellen  in 
der  Umgebung  der  Kathode  wird  aber  immer  dann  gegeben  sein, 
wenn  sich  der  Ureter  noch  in  situ  befindet  oder  auf  einer  massigen 
leitenden  Unterlage  liegt  (Fig.  92).  Es  wird  dann  unter  sonst  gün- 
stigen Bedingungen  bei  Schliessung  des  Stromkreises  an  zahllosen 
Stellen  in  der  Umgebung  der  Anode  (nicht  an  dieser  selbst) 
Erregung  (Contraction)  erfolgen,  die  sich  entweder  wellenförmig  fort- 
pflanzt (Ureter)  oder  als  Dauercontraction  localisirt  bleibt.  Umgekehrt 
wird  durch  die  Nachbarschaft  secundär  anodischer  Stellen  jede  weitere 
Ausbreitung  der  an  der  eigentlichen  Kathode  ausgelösten  Schliessungs- 
erregung verhindert. 

Es  bedarf  kaum  noch  des  besonderen  Hinweises,  dass  dieselben 
Betrachtungen  auch  in  allen  andern  früher  schon  erwähnten  Fällen 
Berechtigung  und  Geltung  haben  müssen,  wo,  wie  bei  den  Muskeln 
der  Holothurien  und  Echiniden,  sowie  am  Hautmuskelschlauch 
der  Würmer  und  am  Darm  der  Wirbelthiere,  von  vornherein  und  un- 
vermeidlich die  Bedingungen  für  eine  weitere  Ausbreitung  der  Strom- 
fäden in  der  Umffebunff  der  berührenden  Elektroden  und  daher  auch 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  219 

für  das  Wirksam  werden  secundärer  Elektrodenstellen  gegeben  sind. 
Die  beträchtliche  Dicke  aller  dieser  Theile  bedingt  es,  dass  die 
Stromfäden  auch  bei  bipolarer  Reizung  nicht,  wie  etwa  beim  frei- 
präparirten  Nerven  oder  Ureter,  sich  vorwiegend  parallel  der  Längsaxe 
des  Organes  zwischen  den  beiden  von  den  Elektroden  berührten  Stellen 
abgleichen,  sondern  es  muss  unter  allen  Umständen  eine  weitere  Aus- 
breitung und  so  zu  sagen  ein  Ausstrahlen  der  Stromfäden  in  der  Um- 
gebung der  Eintrittsstelle  sowohl,  wie  der  Austrittsstelle  erfolgen. 

Als  wichtigstes  und  wesentliches  Ergebniss  der  vorstehend  be- 
schriebenen Versuche  an  verschiedenen  glattmuskeligen  Theilen 
stellt  sich  vor  Allem  die  Thatsache  heraus,  dass  in  Ueberein- 
stimmung  mit  dem  polaren  Erregungsgesetz,  wie 
es  sich  für  den  quergestreiften  Muskel  als  geltend 
zeigte,  die  Schliessungserregung  ausnahmslos  nur  an 
der  physiologischen  Kathode,  d.  i.  den  wirklichen  Aus- 
trittsstellen des  Stromes  aus  der  contractilen  Sub- 
stanz des  Gesammtmuskels,  ausgelöst  wird,  von  wo  sie 
sich  nur  ausnahmsweise  über  weitere  Strecken  fort- 
pflanzt; an  der  physiologischen  Anode  selbst  tritt 
dagegen  niemals  bei  Schliessung  des  Stromkreises 
Erregung  ein,  wohl  aber  macht  sich  im  Falle  des 
Bestehens  eines  tonischen  Contractionszu Standes  an 
der  genannten  Stelle  eine  locale  Hemmung  des  be- 
stehenden Erregungszustandes  als  eine  mehr  oder 
weniger  deutliche  örtliche  Erschla f f u ng  des  Muskel- 
gewebes bemerkbar,  worauf  unter  Umständen  nach 
Oeffnung  des  Stromes  eine  Contraction  folgt,  die  in 
Bezug  auf  Ausdehnung  und  Charakter  vollkommen  der 
kathodischen  Schliessungsdauer  contraction  gleicht. 
Während  nun  diese  letztere  fast  immer  als  ein  ziem- 
lich scharf  begrenzter  Wulst  auftritt,  macht  sich  zu 
beiden  Seiten  der  Anode  eine  oft  über  grössere 
Strecken  ausgedehnte  Schliessungsdauer  contraction 
von  ganz  anderem  Charakter  bemerkbar,  welche  in 
einzelnen  Fällen  (Darm,  Hautmuskelschlauch  der 
Würmer,  Ureter)  den  Anschein  erweckt,  als  ob  hier 
die  Schliessungserregung  überhaupt  nur  oder  doch 
ganz  vorwiegend  von  der  Anode  ausginge,  eine  An- 
sicht, die  in  der  That  von  Jofe  hinsichtlich  des  Darmes 
geäussert  wurde  (34). 

Es  fragt  sich,  ob  etwas  diesem  Verhalten  Analoges  sich  auch  am 
quergestreiften  Stammesmuskel  beobachten  lässt.  Es  wird  sich  jedoch 
empfehlen ,  vor  Erörterung  dieser  Frage  die  hiermit  in  nahem  Zu- 
sammenhang stehenden  und  in  vieler  Beziehung  sehr  interessanten 
polaren  Reizwirkungen  am  Herzmuskel  noch  etwas  näher,  als  es 
bisher  schon  geschehen  ist,  ins  Auge  zu  fassen  (35).  Da  sich  das 
Herz  in  rhythmisch  wechselnden  Zuständen  der  Contraction  und  Er- 
schlaffung befindet,  so  ist  man  hier  in  die  Lage  versetzt,  die  Wirkung 
des  Stromes  in  beiden  Phasen  vergleichend  zu  prüfen.  Man  bedient 
sich  hierbei  am  besten  des  möglichst  langsam  schlagenden  Herzens 
eines  Kaltblüters,  etwa  eines  recht  stark  abgekühlten  grossen  Frosches. 
Setzt  man  dann  zwei  ganz  fein  zugespitzte  Pinsel elektroden  auf  die 
Oberfläche  des  Ventrikels    an  zwei    möglichst  von  einander  entfernten 


220  Elektrische  Eeizung  der  Muskelu. 

Punkten  und  schliesst  nun  einen  hinreichend  starken  Kettenstrom 
dauernd,  so  beobachtet  man  eine  höchst  auffallende  Erscheinung: 
Bei  jeder  neuen  systolischen  Zusammenziehung  entsteht  während  der 
Schliessungsdauer  des  Stromes  an  der  Anode  eine  locale  Erschlaffung 
des  Ventrikels  in  Form  einer  dunkelrothen,  blasenartigen  Vorwölbung, 
während  an  der  Kathode  keinerlei  merkliche  Veränderungen  auftreten; 
dagegen  erschlafft  nach  Oeffnung  des  Stromkreises  die  kathodische 
Stelle  während  einer  oder  mehrerer  Systolen  immer  zuerst,  und  bietet 
daher  ein  ganz  ähnliches  Bild  dar,  wie  die  Anode  während  der 
Schliessungsdauer.  Noch  besser  lassen  sich  diese  Erscheinungen  bei 
Anwendung  der  monopolaren  Reizmethode  untersuchen,  indem  man  die 
eine  unpolarisirbare  Pinselelektrode  an  einer  indifferenten  Stelle  (etwa 
der  Kehlhaut)  ansetzt,  während  die  andere  fein  zugespitzt  einen  be- 
liebigen Punkt  des  Ventrikels  der  Art  berührt,  dass  ohne  starken  Druck 
die  leitende  Verbindung  auch  während  der  Bewegungen  des  Herzens  in 
keinem  Augenblicke  aufgehoben  ist.  Je  nach  Stärke  und  Richtung  des 
Stromes,  und  je  nach  dem  Zustande,  in  welchem  sich  das  Herzmuskel 
im  Momente  der  Reizung  befindet,  beobachtet  man  dann  verschiedene 
Wirkungen. 

Tritt  der  Strom  durch  die  den  Ventrikel  berührende 
Elektrode  ein  und  schliesstman  im  Beginne  der  Systole, 
so  sieht  man  als  erste  Wirkung  schwacher  Reizung 
(1  Dan.,  Rheochordwider  stand  20  und  mehr)  regel- 
mässig eine  Erschlaffung  an  der  Berührungsstelle  und 
in  deren  nächster  Umgebung  eintreten,  die  sich  bei  jeder 
neuen  systolischen  Zusammenziehung  wiederholt,  so  lange  der  Strom 
geschlossen  bleibt.  Mit  wachsender  Stromesintensität  nimmt  auch  der 
Grad  und  die  Ausdehnung  der  Anfangs  streng  localen,  sich  dann  nur 
als  kleiner  rother  Fleck  von  kaum  1  mm  Durchmesser  von  der  con- 
trahirten ,  blassen  Umgebung  abhebenden  Erschlaffung  zu.  Dieselbe 
tritt  immer  deutlicher  als  bluterfüllte  Ausbauchung  der  Muskelwand 
des  Ventrikels  hervor  und  breitet  sich  nun  verhältnissmässig  rasch  nach 
allen  Seiten  über  den  Umfang  der  primär  erschlafften  Stelle  aus.  Wie 
Schiff  mit  Rücksicht  auf  die  ganz  analogen  Folgeerscheinungen 
localer  mechanischer  Reizung  richtig  beschreibt,  scheint  es  bisweilen, 
als  bliebe  die  diastolische  Erschlaffung,  wenn  sie  erst  eine  gewisse 
Ausdehnung  erreicht  hat,  „einen  kurzen  Moment"  stehen,  um  sich 
dann  langsamer  über  die  ganze  Kammer  zu  verbreiten.  P]benso  deut- 
lich habe  ich  jedoch  in  anderen  Fällen,  besonders  an  sehr  stark  ab- 
gekühlten, langsam  schlagenden  Herzen,  deren  man  sich  überhaupt 
mit  Vortheil  bei  allen  diesen  Versuchen  bedient,  beobachten  können, 
dass  von  der  primär  erschlafften  Stelle  an  der  Anode  die  diastolische 
Welle  sich  mit  gleichmässiger  Geschwindigkeit  über  den  ganzen  Ven- 
trikel ausbreitet. 

Genau  dieselben  Erscheinungen,  welche  man  an  dem 
contrahirten  Ventrikel  bei  Schliessung  eines  Ketten- 
stromes an  Stelle  der  Anode  beobachtet,  treten  unmittel- 
bar nach  Oeffnung  des  Kreises  an  Stelle  der  Kathode 
hervor. 

Wenn  man  demnach  bei  derselben  Versuchsanordnung  wie  vorher 
den  Strom  wendet,  ohne  die  Elektroden  zu  verschieben,  so  sieht  man 
bei  genügender  Intensität  und  Schliessungsdauer  nach  der  Oeffnung 
im  Momente    der    stärksten  systolischen  Zusammenziehung   die  vorher 


Elektrische  Keizung  der  Muskeln.  221 

anodische,  nunmehr  kathodische  Stelle  des  Ventrikels  immer  zuerst 
erschlaffen.  Wieder  wächst  die  Ausbreitung  der  ursprünglich  localen 
Diastole  mit  der  Stromstärke,  aber  es  kommt  hier  noch  ein  zweites, 
nicht  minder  wichtiges  Moment  in  Betracht,  nämlich  die  Schliessungs- 
dauer des  Reizstromes.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  kann  man  daher 
die  Wirkung  stärkerer  Ströme  durch  ein  längeres  Geschlossenbleiben 
schwächerer  ersetzen.  Immer  jedoch  bedarf  es  von  vornherein  stär- 
kerer Ströme,  um  die  kathodische  Oeffnungserschlaffung  mit  gleicher 
Deutlichkeit  hervortreten  zu  sehen,  wie  die  anodische  Schliessungs- 
erschlaffung. 

Man  kann  die  vorstehend  geschilderten  polaren  Erschlaffungs- 
erscheinungen an  dem  systolisch  contrahirten  Ventrikel  des  Frosch- 
herzens in  sehr  zierlicher  und  instructiver  Weise  zur  Anschauung 
bringen,  wenn  man  beide,  fein  zugespitzte  Faden-  oder  Pinselelek- 
troden an  zwei  von  einander  möglichst  entfernten  Punkten  der  Ven- 
trikeloberfläche in  Längs-  oder  Querrichtung  aufsetzt  und  einen  nicht 
zu  schwachen  Strom  während  einiger  Zeit  geschlossen  lässt.  Wäh- 
rend der  Seh  lies  sungsdauer  entsteht  dann  bei  jeder 
neuen,  systolischen  Zusammenziehung  eine  locale  Dia- 
stole an  der  Anode.  Nach  Oeffnung  des  Stromes  kehrt 
sich  dagegen  das  Verhältniss  um,  indem  jetzt  während 
zwei  oder  selbst  mehrerer  auf  einander  folgender  Sy- 
stolen die  kathodische  Stelle  zuerst  erschlafft. 

Wenn  es  gelänge,  das  Froschherz  in  einer  länger  dauernden  sy- 
stolischen Zusammenziehung  zu  erhalten,  so  würde  in  diesem  Zustande 
offenbar  die  einzige  sichtbare  Wirkung  der  elektrischen  Reizung  mit 
dem  Kettenstrome  eine  bei  der  Schliessung  an  der  Anode,  bei  der 
Oeffnung  aber  an  der  Kathode  auftretende  locale  Erschlaffung  der 
Muskelwand  des  Ventrikels  sein,  also  so  zu  sagen  ein  Gegenstück  zu 
dem  Verhalten  des  diastolisch  erschlafften  Muskels.  Es  ist  schwer  und 
mehr  oder  weniger  Sache  des  Zufalls,  am  Froschherzen  eine  lang  an- 
haltende systolische  Zusammenziehung  zu  erreichen,  dagegen  gelingt 
dies  ausserordentlich  leicht  an  dem  Herzmuskel  mancher  wirbellosen 
Thiere ,  wie  beispielsweise  am  Schneckenherzen  (35).  Es  wurde 
schon  früher  erwähnt,  dass  der  auf  einer  Canüle  aufgebundene  Ven- 
trikel desselben  in  Folge  plötzlicher  Füllung  mit  Flüssigkeit  (Schnecken- 
blut, 0,6^/0  Na  Gl)  nach  Ablauf  einer  grösseren  oder  kleineren  Zahl 
regelmässiger  Zusammenziehungen  sehr  oft  in  einen  lang  anhaltenden, 
gleichmässigen  Contractionszustand  geräth.  Leitet  man  nun  während 
dieser  Zeit  den  Strom  von  1 — 2  D  aniell'schen  Elementen  mittels  un- 
polarisirbarer- Elektroden  hindurch,  indem  man  das  gehörig  durch- 
feuchtete Fadenende  der  unteren,  um  die  Herzspitze  gelegten  Ligatur 
in  ein  Gefäss  mit  Kochsalzlösung  tauchen  lässt,  in  welche  zugleich 
die  eine  Elektrode  eintaucht,  während  die  andere  fein  zugespitzte 
Pinselelektrode  oberhalb  der  an  der  Grenze  zwischen  Vorkammer  und 
Ventrikel  befindlichen  Ligatur  anliegt,  so  beobachtet  man  bei 
Schliessung  des  Stromkreises  in  allen  Fällen  eine  so- 
fortige Erschlaffung  des  Ventrikels,  die  jedoch  bemer- 
kenswerther  Weise  niemals  gleichzeitig  an  allenPunkten 
der  durch flossenen  Strecke  erfolgt,  sondern  ausnahms- 
los an  dem  Ende  beginnt,  wo  der  Strom  eintritt,  also  an 
der  Anode.  In  Form  einer  mehr  oder  weniger  rasch  sich  fort- 
pflanzenden, immer  jedoch  mit  dem  Auge  leicht  zu  verfolgenden  Welle 


222  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

schreitet  die  Erschlaffung  stets  in  der  Richtung  des  Stromes  vom  positiven 
zum  negativen  Pole  fort  Hält  man  nur  so  lange  geschlossen,  bis  die  „Er- 
schlaffungswelle" an  dem  kathodischen  Ende  des  Präparates  angelangt 
ist  und  öffnet  man  dann  den  Strom,  so  kehrt  in  der  Regel,  wenigstens 
in  allen  Fällen,  wo  der  Tonus  von  vornherein  stärker  entwickelt  war, 
der  Ventrikel  in  seinen  ursprünglichen,  andauernden  Contractions- 
zustand  zurück.  Nur  dann,  wenn  bereits  bei  Beginn  des  Versuches 
ein  wenig  ausgeprägter  Tonus  herrschte  oder  wenn  man  zu  einer 
Zeit  reizt,  wo  voraussichtlich  die  Pulsationen  auch  spontan  bald  be- 
gonnen haben  würden,  schliesst  sich  an  eine  einmalige  kurzdauernde 
Schliessung  des  Kettenstromes  eine  ununterbrochene  Reihe  regel- 
mässiger, rhythmischer  Contractionen  an,  wobei  dieselben  entweder 
unbegrenzt  fortdauern  oder  nach  einiger  Zeit  einer  abermaligen  tonischen 
Contraction  weichen.  In  vielen  Fällen  verharrt  der  Ventrikel  während 
der  Schliessungsdauer  des  Stromes  einige  Sekunden  lang  in  diastolisch 
erschlaft'tem  Zustand,  worauf  dann  erst  rhythmisch  peristaltische  Con- 
tractionen beginnen.  Oft  bemerkt  man,  dass  die  anodische  Erschlaffung 
leichter  an  dem  einen  als  an  dem  anderen  Ende  des  Präparates  ein- 
tritt, und  in  der  Regel  erscheint  die  Basis  des  Ventrikels  in  dieser 
Beziehung  begünstigt.  Es  dürfte  dies  damit  zusammenhängen,  dass, 
wie  ich  schon  oben  erwähnte,  gerade  an  der  Herzspitze  der  mecha- 
nische Reiz  der  Ligatur  oft  zu  einer  localen,  stärkeren  Contraction 
Anlass  giebt,  die,  wie  sich  auch  anderweitig  zeigen  lässt,  der  Ein- 
wirkung der  Anode  einen  viel  bedeutenderen  Widerstand  entgegen- 
setzt, als  die  durch  den  Spannungszustand  der  Wand  bedingte,  tonische 
Zusammenziehung. 

Legt  man  die  Elektroden  einander  gegenüber  an  die  Endpunkte 
der  Queraxe  des  Ventrikels,  so  beginnt  auch  dann  bei  Schliessung  des 
Stromes  die  Erschlaffung  auf  Seite  der  Anode,  und  es  tritt  dem  ent- 
sprechend eine  Ausbauchung  des  Herzens  auf  dieser  Seite  ein. 

Was  die  Intensität  der  Ströme  betrifft,  bei  welcher  die  geschil- 
derten Erscheinungen  hervortreten,  so  hängt  dies  wesentlich  von  der 
Stärke  des  bestehenden  „Tonus"  ab.  Ich  habe  oft  noch  deutliche 
Wirkungen  bei  Anwendung  eines  Dani  eil' sehen  Elementes  mit  Ein- 
schaltung eines  Rheochordwiderstandes  von  kaum  5  cm  Drahtlänge 
beobachtet,  und  man  kann  es  im  Allgemeinen  als  Regel  gelten  lassen, 
dass  unter  den  erwähnten  Versuchsbedingungen  die  anodische  Er- 
schlaffung bei  einem  Widerstand  von  100  cm  Drahtlänge  selten  aus- 
bleibt. 

Beschränkt  man  sich  auf  dieAn  Wendung  der  schwäch- 
sten, e  b  e  n  Av  i  r  k  s  a  m  e  n  S  t  r  ö  m  e ,  s  o  b  1  e  i  b  t  d  i  e  E  r  s  c  h  1  a  f  f  u  n  g 
immer  nur  a  u  f  d  i  e  n  ä  c  h  s  t  e  U  m  g  e  b  u  n  g  d  e  r  E  i  n  t  r  i  1 1  s  s  t  e  1 1  e 
beschränkt.  Sie  tritt  dann  bei  der  Schliessung  hervor  und  ver- 
schwindet allmählich  wieder,  auch  wenn  der  Reizstrom  geschlossen 
bleibt.  In  anderen  Fällen  verbreitet  sie  sich  je  nach  der  Richtung 
des  Stromes  nur  über  die  eine  oder  andere  Hälfte  des  Ventrikels, 
Bei  Anwendung  nicht  zu  starker  Ströme  und  hoher  Reizbarkeit  des 
Präparates  ist  die  Fortpflanzung  der  anodischen  Erschlaffungswelle 
über  den  ganzen  Ventrikel  unabhängig  davon,  ob  der  Strom  un- 
mittelbar nach  Beginn  der  Wirkung  geöffnet  wird  oder  ob  derselbe 
weiterhin  geschlossen  bleibt.  Letzterenfalls  dauern  jedoch  rhythmische 
Contractionen  während  der  ganzen  Schliessungsdauer  fort,  wobei  zu 
bemerken    ist,    dass    fortdauernd    bei  jeder    neuen    Diastole 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  223 

die  Erschlaffung-  stets  an  der  Anode  beginnt  und  peri- 
staltisch  von  hier  aus  fortschreitet.  Man  kann  daher  bei 
blosser  Betrachtung  eines  unter  dem  Einflüsse  des  constanten  Stromes 
pulsirenden  Schneckenherzens  sofort  mit  grösster  Sicherheit  die  Stromes- 
richtung' bestimmen. 

Da  die  systolische  Zusammenziehung  des  Ventrikels  viel  rascher 
erfolgt,  so  lässt  sich  durch  blosse  Inspection  nicht  mit  Sicherheit  er- 
mitteln, ob  sie  unter  den  in  Rede  stehenden  Verhältnissen  auch  peri- 
staltisch  (von  der  Kathode  ausgehend)  erfolgt  oder  nicht. 

Wie  schon  erwähnt,  ist  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der 
anodischen  ErschlafFungswelle  eine  so  geringe,  dass  ihr  Fortschreiten 
sich  mit  dem  Auge  stets  bequem  verfolgen  lässt.  Im  Uebrigen  er- 
scheint dieselbe  jedoch  ausserordentlich  wechselnd.  Während  in  dem 
einen  Falle  die  Welle  mehrere  Sekunden  braucht,  um  die  kurze  zur 
Verfügung  stehende  Strecke  von  durchschnittlich  5 — 7  mm  zu  durch- 
laufen, genügen  anderenfalls  Bruchtheile  einer  Sekunde.  Es  hängt 
dies  hauptsächlich  wieder  von  dem  Grade  des  jeweiligen  Tonus  ab, 
und  man  kann  sagen,  dass  je  stärker  dieser  ausgeprägt  ist,  desto  lang- 
samer auch  die  Erschlaffung  sich  vom  Orte  ihrer  Entstehung  aus  ver- 
breitet. Wenn  man  wiederholt  bei  unveränderter  Stromesrichtung 
reizt  oder  den  Strom  dauernd  geschlossen  lässt,  so  bemerkt  man  leicht, 
dass  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  anodischen  Welle  mit  der 
Zeit  bis  zu  einem  gewissen,  übrigens  bald  erreichten  Grenzwerth  zu- 
nimmt, bei  darauffolgender  Wendung  des  Stromes  dagegen  wieder  ver- 
mindert erscheint. 

Ein  analoges  Verhalten  zeigt  im  Allgemeinen  auch  das  Stadium 
der  latenten  Reizung.  Die  Erschlaffung  an  der  Anode  beginnt,  wie 
man  ohne  Weiteres  erkennt,  niemals  genau  im  Momente  der  Schlies- 
sung des  Stromes,  sondern  immer  merklich  und  oft  bedeutend  ver- 
spätet, so  dass  ein  Latenzstadium  von  einer  Sekunde  Dauer  und  mehr 
keineswegs  zu  den  seltenen  Fällen  gehört.  Oft  ist  es  allerdings  viel 
kürzer,  kaum  jemals  aber  so  kurz,  dass  man  es  nicht  noch  unmittelbar 
mit  dem  Auge  wahrnehmen  könnte. 

Wenn  man  mit  Präparaten  experimentirt ,  welche  von  vornherein 
in  einem  beträchtlichen  Grade  tonisch  contrahirt  waren,  so  scheint  die 
von  der  Anode  ausgehende  Erschlaffung  die  einzige  sichtbare  Wir- 
kung des  Stromes  zu  sein,  eine  vorgängige  Zunahme  der  Contraction 
ist  unter  solchen  Verhältnissen  wenigstens  nicht  merklich.  Dass  eine 
solche  jedoch  unter  Umständen  der  Erschlaffung  thatsächlich  voraus- 
geht, lässt  sich  mit  aller  Sicherheit  in  Fällen  constatiren,  wo  Anfangs 
nur  ein  mittlerer  Grad  tonischer  Zusammenziehung  besteht.  Dann 
sieht  man  bei  Schliessung  eines  Stromes  von  genügender  Stärke  den 
Ventrikel  sich  zunächst,  wie  es  scheint,  gleichzeitig  in  allen  seinen 
Theilen,  contrahiren,  worauf  dann  erst  die  peristaltische  Erschlaffung 
von  der  Anode  aus  beginnt. 

Wenn  hier,  Avie  ich  auf  Grund  später  mitzutheilender  Versuche 
behaupten  darf,  die  Contraction  von  der  Kathode  ausgeht,  so  lässt 
sich  aus  diesem  Verhalten  jedenfalls  der  Schluss  ziehen,  dass  das 
Latenzstadium  der  kathodischen  Schliessungserregung  kleiner,  die  Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit derselben  aber  grösser  ist,  als  bei  der  ano- 
dischen Schliessungswirkung.  Dagegen  scheint  die  letztere  schon  bei 
einer  geringeren  Stromesintensität  wirksam  zu  werden,  als  jene,  denn 
ich  sah  mehrmals  bei  schwachem  Tonus   eine  (locale)  Erschlaffung  an 


224  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

der  Anode  früher,  d.  i.  bei  geringerem  Rheochordwiderstand,  eintreten, 
als  die  erwähnte  Schliessungscontraction. 

Engelmann  zeigte  bekanntlich,  dass  jede  kleine  Muskelbrücke, 
welche  zwei  sonst  völlig  von  einander  getrennte  Theile  des  Froschherz- 
ventrikels mit  einander  verbindet,  den  physiologischen  Leitungsvorgang 
zwischen  beiden  noch  zu  vermitteln  vermag,  indem  die  vom  Vorhof  kom- 
mende Erregung  durch  die  Brücke  hindurch  auf  den  unteren  Theil  des 
Ventrikels  übertragen  wird.  Er  schliesst  hieraus  auf  eine  Leitung  des 
Erregungsprocesses  von  Zelle  zu  Zelle  ohne  Vermittlung  nervöser 
Elemente.  In  ganz  analoger  Weise  lässt  sich  nun  auch  zeigen,  dass 
die  anodische  Erschlaffungswelle  von  einer  Ventrikelhälfte  auf  die  an- 
dere übertragen  wird,  wenn  nur  ein  kleiner  Rest  normaler  Muskel- 
wand die  Verbindung  herstellt.  Man  kann  durch  vorsichtiges  Quetschen 
des  anodisch  erschlafften  Ventrikels  eines  möglichst  grossen  Schnecken- 
herzens von  der  Seite  her  mittels  einer  kleinen,  schmalen  Pincette 
sehr  leicht  den  grössten  Theil  seiner  Wand  im  mittleren  Umfange 
leitungsunfähig  machen.  Gleichwohl  sieht  man  bei  darauffolgender 
Durchströmung  die  Erschlaffung  sich  durch  die  schmale,  leitungs- 
fähige Brücke  hindurch,  allerdings  wesentlich  langsamer  als  unter 
normalen  Verhältnissen,  fortpflanzen. 

Eine  Quetschung,  Avelche  sich  über  den  ganzen  mittleren  Umfang 
des  Ventrikels  erstreckt  und  denselben  in  zwei  erregbare,  durch  eine 
schmale,  unerregbare  Zone  getrennte  Hälften  theilt,  bietet  übrigens 
ein  Mittel,  um  die  Erscheinungen,  welche  bei  Reizung  mit  Ketten- 
strömen auftreten ,  noch  genauer  zu  untersuchen ,  als  dies  an  dem 
ganzen,  unversehrten  Herzen  möglich  ist.  Es  bietet  der  Versuch 
allerdings  einige  Schwierigkeiten  insofern  dar,  als  wegen  der  grossen 
Empfindlichkeit  des  Präparates  für  mechanische  Reizung  die  beiden 
Ventrikelhälften  nicht  selten  ungleich  anspruchsfähig  sind,  indem  die 
eine  oder  andere  stärker  contrahirt  bleibt  oder  überhaupt  nicht  mehr 
in  den  erschlafften  Zustand  zurückkehrt,  indessen  gelangt  man,  wenn 
nur  möglichst  grosse  Thiere  zur  Verfügung  stehen,  bei  einiger  Uebung 
doch  oft  genug  zum  Ziele.  Schickt  man  durch  ein  derartiges,  ent- 
sprechend vorbereitetes  Präparat  einen  nicht  zu  schwachen  Ketten- 
strom hindurch ,  so  sieht  man,  wie  zu  erwarten  war,  stets 
nur  die  anodische  Hälfte  erschlaffen,  die  kathodische 
lässt  entweder  keinerlei  Veränderungen  erkennen,  oder 
sie  contrahirt  sich  deutlich  bei  Schliessung  des  Stromes, 
wenn  ihr  Tonus  nur  wenig  ausgeprägt  war.  Bei  Oeff- 
nung  des  Kreises  kehrt  sich  günstigen  Falles  dieses 
Verhalten  geradezu  um:  jetzt  erschlafft  der  kathodische 
Ventrikelabschnitt,  während  der  anodische  sich  zu- 
sammenzieht. Es  ist  hier  zu  bemerken,  dass  allerdings  jede  Ven- 
trikelhälfte ihre  physiologische  Anode  und  Kathode  besitzt.  Der 
Grund,  weshalb  dem  ungeachtet  nur  einseitige  Wirkungen  beobachtet 
werden,  kann  lediglich  darin  gesucht  werden,  dass  an  der  Quetschungs- 
stelle einerseits  die  Stromdichte  eine  geringere  ist  (wegen  des  grösseren 
Querschnittes),  während  andererseits  wohl  auch  die  durch  den  mecha- 
nischen Eingriff  bedingte  Schädigung  der  Muskelsubstanz  in  gleichem 
Sinne  wirkt. 

Besonders  bemerkenswerth  ist  bei  dieser  Versuchsweise  die  Er- 
schlaffung, welche  an  Stelle  der  wirksamen  Kathode  unmittelbar  nach 
Oeffnung  des  Stromes  erfolgt,  indem  sie  sich  in  keiner  Weise  von  der 


Elektrische  Eeizung  der  Muskeln.  225 

anodischen  Schliessungserschlaffung  unterscheidet  und,  wie  die  noch 
mitzutheilenden  Thatsachen  zeigen  Averden,  auch  wahrscheinlich  als  ein 
gleichwerthiger  Vorgang  aufzufassen  sein  dürfte. 

Die  zeitliche  Reihenfolge  der  Erscheinungen  ist  immer  die,  dass 
bei  der  Schliessung  zunächst  die  kathodische  Hälfte  sich  contrahirt, 
worauf  erst  die  anodische  erschlafft.  Ebenso  folgt  bei  der  Oeffnung 
der  anodischen  O  effnungserregung,  die  sich  durch  eine  rasche, 
stärkere  Zusammenziehung  des  betreffenden  Ventrikelabschnittes  ver- 
räth,  die  kathodische  O  effnungs  Wirkung,  die  ganz  wie  die  ano- 
dischc  Schliessungswirkung  zu  einer  Erschlaffung  vorher  contrahirter 
Theile  führt.  Es  stimmen  demnach  hinsichtlich  des  Erfolges  die  ka- 
thodische Schliessungs-  und  die  anodische  Oeffnungserregung  einerseits 
und  die  anodische  Schliessungs-  und  kathodische  Oeffnungswirkung 
andererseits  mit  einander  überein. 

Es  ist  für  die  Deutung  der  kathodischen  Oeffnungserschlaffung 
wichtig,  dass  dieselbe  mit  voller  Deutlichkeit  nur  an  frischen,  gut 
erregbaren  Präparaten  und  auch  dann  nur  bei  wenigen,  auf  einander 
folgenden  Schliessungen,  beziehungsweise  Oeffnungen  beobachtet  wird. 
Je  länger  man  den  Strom  geschlossen  lässt  oder  je  öfter  man  die  Rei- 
zungen bei  gleicher  Richtung  und  Stärke  des  Stromes  wiederholt, 
desto  schwächer  und  undeutlicher  wird  die  Erscheinung,  die  schliess- 
lich durch  kein  Mittel  wieder  hervorzurufen  ist. 

In  besonders  überzeugender  Weise  habe  ich  dies  in  einigen 
Fällen  beobachten  können ,  wo  in  Folge  doppelter  Unterbindung  der 
Herzspitze  und  dadurch  bewirkter,  sehr  starker  Contraction  der 
Umgebung  bei  der  darauf  folgenden  Durchströmung  immer  nur 
einseitige  Wirkungen  auftraten.  Der  volle  absteigend  gerichtete 
Strom  eines  D  an  i  eil '  sehen  Elementes  bewirkte  hier  bei  der 
Schliessung  an  dem  im  Uebrigen  ganz  unversehrten  Ventrikel  an  der 
Basis  eine  starke  (anodische)  Erschlaffung,  die  sich  nur  über  einen 
kleinen  Theil  desselben  verbreitete.  Die  Schliessung  des  aufsteigend 
gerichteten  Stromes  blieb  wirkungslos  oder  hatte  höchstens  eine 
schwache  Contraction  des  vorher  erschlafften  oberen  Abschnittes  zur 
Folge,  dagegen  trat  jetzt  nach  etwa  vier  Sekunden  langer  Schlies- 
sungsdauer die  kathodische  Oeffnungserschlaffung  an  der  Basis  mit 
grösster  Deutlichkeit  hervor,  jedoch  immer  nur  in  wenigen,  unmittel- 
bar auf  einander  folgenden  Versuchen.  Auf  das  Vorhandensein  dieser 
Erscheinung  einmal  aufmerksam  geworden,  ist  es  mir  in  der  Folge 
wiederholt  gelungen,  dieselbe  auch  an  ganz  normalen  Herzen  unmittel- 
bar nach  dem  Einbinden  der  Canüle  und  nach  Entwicklung  der 
tonischen  Contraction  zu  beobachten.  Zwei  Bedingungen  sind  hier 
wesentlich:  Erstens  muss  das  Präparat  frisch  und  möglichst  erregbar 
sein,  und  zweitens  darf  man  sich  nicht  zu  schwacher  Ströme  bedienen 
und  dieselben  nicht  zu  kurz  geschlossen  lassen.  Im  Allgemeinen  fand 
ich  den  vollen  Strom  eines  Dan  i eil '  sehen  Elementes  bei  2 — 3  Se- 
kunden Schliessungsdauer  genügend.  Nachdem  die  erste  anodische 
Erschlaffungswelle  abgelaufen  ist,  zieht  sich  der  Ventrikel  systolisch 
zusammen,  es  beginnt  neuerdings  eine  peristaltische  Diastole  u.  s.  w. 
Wenn  man  kurz  nach  Beginn  der  zweiten  oder  dritten  Systole  den 
Strom  öffnet,  so  sieht  man  häufig  eine  an  der  Kathodenseite 
beginnende  diastolische  Welle  über  den  ganzen  Ventrikel 
ablaufen ,    also   in    einer    der  früheren  gerade  entgegengesetzten  Rich- 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  15 


226  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

tung.  Bisweilen  lässt  sich  dieselbe  Erscheinung  auch  noch  bei  der 
zweiten  und  selbst  dritten,  der  Oeffnung  des  Stromes  folgenden  Dia- 
stole wahrnehmen,  worauf  jedoch,  wenn  die  Pulsationen  überhaupt 
fortdauern,  an  Stelle  der  peristaltischen  Erschlaffung  normale,  wie  es 
scheint  an  allen  Punkten  des  Ventrikels  gleichzeitig  beginnende  Dia- 
stolen folgen.  Aus  der  eben  angeführten  Thatsache  scheint  hervor- 
zugehen, dass  die  ka  thodi  sehe  Oeffnungs  er  schlaf  fung  sich 
ganz  ebenso  wie  die  anodische  Schliessungserschlaffung 
vom  Orte  ihrer  ersten  Entstehung  durch  Leitung  von 
Zelle  zu  Zelle  fortzupflanzen  vermag,  wodurch  bei  gleich- 
zeitiger Berücksichtigung  des  Umstandes ,  dass  die  erstere  Erschei- 
nung überhaupt  nur  unter  den  allergünstigsten  Verhältnissen  deutlich 
hervortritt,  die  naheliegende  Auffassung  derselben  als  einer  durch 
die  kathodische  Dauererregung  bedingten  Ermüdungserscheinung 
ausgeschlossen  erscheint.  Es  spricht  vielmehr  Alles  dafür,  dass  man  es 
hier  mit  einer  eigenthümlichen ,  der  anodischen  Schliessungswirkung 
gleich werthigen,  activen  Reaction  des  tonisch  contrahirten  Herzmuskels 
zu  thun  hat. 

Die  mitgetheilten  Thatsachen  betreffend  die  Wirkungen  des  elek- 
trischen Stromes  auf  den  Hei-zmuskel  von  wirbellosen  und  Wirbel- 
thieren  sind  nun  nicht  minder  geeignet,  die  Aufmerksamkeit  zu 
fesseln,  wie  die  früher  geschilderten  Keizerfolge  an  glatten  Muskeln, 
indem  unsere  Kenntnisse  über  die  Wirkungsweise  des  elektrischen 
Stromes  durch  dieselben  wesentlich  erweitert  werden.  Eis  zeigt  sich 
vor  Allem,  dass  die  kathodische  Schliessungs-  und  anodische  Oeffnungs- 
erregung  keineswegs  die  einzigen  sichtbaren  Folgewirkungen  der  elek- 
trischen Reizung  darstellen,  sondern  dass  während  eines  bestehenden 
Erregungszustandes  unter  Umständen  auch  antagonistische  Hem- 
mungswirkungen auftreten,  die  sich  demgemäss  als  Er- 
schlaffung vorher  contrahirter  Theile  zeigen.  Da  in  der 
grossen  Mehrzahl  der  Fälle,  wo  es  sich  um  elektrische  Reizung  con- 
tractiler  Gebilde  handelt,  dieselben  sich  zur  Zeit  der  Reizung  im  Zu- 
stande relativer  Ruhe  befinden,  so  ist  es  leicht  erklärlich,  dass  fast 
sämmtliche  Untersuchungen  sich  nur  auf  jene  Thätigkeitsäusserungen 
beziehen,  welche  man  gewölmlicli  allein  als  Reizerscheinungen  zu  be- 
zeichnen pflegt.  Nun  zeigt  aber  die  Untersuchung  geeigneter  Objecte, 
dass  der  elektrische  Strom,  der  bei  directer  Einwirkung  den  er- 
schlafften „ruhenden"  Muskel  in  gesetzmässiger  Weise  zur  Contraction 
anregt,  eine  schon  bestehende  Erregung  in  nicht  minder  gesetzmässiger 
Weise  zu  hemmen  und  eine  a  c  t  i  v  e  Erschlaffung  des  contrahirten 
Muskels  herbeizuführen  vermag.  Es  lässt  sich  ferner  nachweisen,  dass 
diese  „Hemmungswirkungen"  des  Stromes  ganz  ebenso  wie  die  erre- 
genden Processe  reine  „  Pol  Wirkungen  "  darstellen,  und  wie  man 
von  diesen  zwei  hinsichtlich  des  Ortes  und  der  Zeit  der  Auslösung  ver- 
schiedene, wenn  auch  im  Uebrigen  gleichwerthige  „Erregungen"  als 
Schliessungs-  und  Oeffnungserregung  unterscheidet,  so  erscheint  es 
gerechtfertigt,  in  den  besprochenen  Fällen  auch  von  zwei  in  gleicher 
Weise  verschiedenen  „Hemmungen",  einer  Schliessungs-  und 
(Jeffnungshemraung,  oder  richtiger  einer  anodischen  und  kathodischen 
Hemmung  zu  sprechen,  da  jene  an  der  Eintrittsstelle,  diese  dagegen 
an  der  Austrittsstelle  des  Stromes  entsteht.  Bei  der  sonstigen  weit- 
gehenden Uebereinstimmung  der  physiologischen  Eigenschaften  der 
Herz-  und  Skeletmuskelfasern  war   von   vornherein  zu  erwarten,   dass 


Elektrische  Reizuuo'  der  Muskeln. 


227 


unter  günstigen  Umständen  polare  Hemmungserscheinungen   auch   an 
den  letzteren  hervortreten  würden. 

Es  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  man,  um  diese  Frage  zu  ent- 
scheiden, einen  geeigneten  Muskel  zunächst  in  einen  dauernden  Erre- 
gungszustand versetzen  muss,  jenem  vergleichbar,  in  welchem  sich  der 
Herzmuskel  während  einer  systolischen  Zusammenziehung,  oder 
während  jenes  eigenthümlichen,  am  Schneckenherzen  so  auffallenden 
„Tonus"  befindet.  Am  besten  kommt  man  zum  Ziele,  wenn  man  sich 
der  Wirkung  desVeratrins  bedient,  welches,  wie  früher  besprochen 
wurde,  die  Muskelsubstanz  in  der  Weise  verändert,  dass  es  nach  einem 
kurzen  Reizanstoss  nicht,  wie  unter  normalen  Verhältnissen,  zu  einer 
rasch  verlaufenden  Zuckung,  sondern  zu  einer  lang,  oft  mehrere 
Sekunden  in  gleicher  Stärke  anlialtenden,  tonischen  Zusammenziehung 
kommt,  während  deren  Dauer  man  bequem  die  Folgen  einer  elek- 
trischen Durchströmung  unter- 
suchen kann  (36).  Ich  fand  es 
am  zweckmässigsten,  6 — 7  Tro- 


pfen   einer 


Lösung    von 


Veratrinacetat  in  den  Rücken 
lymphsack  eines  Frosches  zu 
bringen  und  diesen  nach 
etwa  10  Minuten  zu  tödten. 
Der  charakteristische  Verlauf 
der  Contraction  eines  der  Art 
vergifteten  Muskels  ( Sartorius ) 
wurde  schon  früher  besprochen. 
Hier  soll  nur  des  Erfolges  ge- 
dacht werden,  welchen  man 
beobachtet,  wenn  der  in  be- 
kannter Weise  in  der  Mitte 
fixirte,  iniHering'scheuDoppel- 
myographen  eingespannte  und 
durch  einen  einmaligen  Induc- 
tionsschlag  gereizte  Muskel, 
nachdem  das  Maximum  der 
Contraction  erreicht  ist,  von 
einem  am  besten  aufsteigend 
gerichteten  Kettenstrom  durch- 
flössen wird.     Man  sieht  dann 

im  Momente  der  Schliessung  die  anodische  Muskelhälfte  sich  sofort 
beträchtlich  verlängern,  die  derselben  entsprechende  Curve  daher 
plötzlich  steil  absinken,  während  in  der  Regel  gleichzeitig  die  katho- 
dische Hälfte  sich  noch  etwas  mehr  verkürzt  oder  aber  keinerlei 
Längenänderungen  erkennen  lässt.  Oeffnet  man  hierauf  den  Strom 
nach  kurzer  Schliessungsdauer,  so  zeigen  sich  günstigen  Falls  gerade 
entgegengesetzte  Gestaltveränderungen  beider  Muskelhälften.  Die 
anodische  verkürzt  sich  nun  in  oft  nicht  unerheblichem  Grade,  welche 
Contraction  offenbar  als  Ausdruck  der  Oeffnungserregung  gedeutet 
werden  muss,  während  zugleich  die  der  Kathode  entsprechende  Hälfte 
deutlich  stärker  erschlafft,  als  es  ohne  Hinzukommen  der  Reizung  vor- 
aussichtlich der  Fall  gewesen  sein  würde.  Bei  rascher  Wiederholung 
der  Reizungen  mit  gleichgerichtetem  Strome  treten,  wenngleich  in 
abnehmendem    Maasse,    dieselben   Erscheinungen    Avie    zu   Anfang    des 

15* 


Fig.  93.  Sartorius  iji  (kr  Mitte  fixirt  (Doppel- 
myograph).  "N'eratriiidauercoutraction.  Bei  « 
Schlie.ssung,  bei  o  Oetinuu^-  ciues  Kettenstromes. 
Erschlaffung-  der  anddisclicn  (./),  Contraction 
der  kathodisclien  Muskelliälfte  {K). 


228  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

Versuches  hervor,  so  lange  sieh  überhaupt  der  Muskel  noch  in  be- 
trächtlichem Grade  verkürzt  zeigt  (Fig.  93).  Es  ergiebt  sich  hieraus, 
dass  es  sich  hier  im  Wesentlichen  um  locale,  auf  die  nächste  Um- 
gebung der  physiologischen  Anode  bezw,  Kathode  beschränkte  Ver- 
änderungen des  Muskels  handelt,  die  sich  nicht  wie  beim  Herzmuskel 
über  grössere  Strecken  desselben  zu  verbreiten  scheinen.  Man  darf 
wohl  in  den  beschriebenen  Gestaltveränderungen  des  durch  Veratrin 
künstlich  in  einen  „tonusähnlichen"  Zustand  versetzten  Sartorius  ein 
vollkommenes  Analogon  zu  den  oben  erörterten  Folgeerscheinungen 
der  elektrischen  Reizung  des  systolisch  contrahirten  Herzmuskels  er- 
blicken. Hier  wie  dort  lassen  sich  neben  den  gewöhnlichen  polaren 
Erregungserscheinungen,  die  allerdings  minder  deutlich  als  während 
des  Ruhezustandes  hervortreten  und  unter  Umständen  gar  nicht  zum 
Ausdruck  kommen,  auch  polare  Hemmungsvorgänge  direct  nachweisen, 
die  sich  durch  Aufhebung,  bezw.  Verminderung  eines  schon  bestehenden 
Erregungszustandes  und  eine  dadurch  bedingte,  zunächst  locale  Er- 
schlaffung des  Muskels  äussern.  Als  eine  hierher  gehörige  Erscheinung 
ist  sicher  auch  die  seit  lange  bekannte  Verlängerung  eines  in  Oeffnungs- 
dauercontraction  befindlichen  Muskels  bei  Schliessung  des  gleich- 
gerichteten Stromes  zu  betrachten,  die  sich  nur  insoweit  unterscheidet, 
als  es  sich  dabei  um  Hemmung  eines  durch  die  Nachwirkung  der 
vorhergehenden  Durchströmung  an  der  physiologischen  Anode  er- 
zeugten Erregungszustandes  handelt.  Da  sich  wenigstens  andeutungs- 
weise auch  eine  kathodische  Oeffnungshemmung  am  Veratrinmuskel 
constatiren  lässt,  indem  die  betreffende  Curve  plötzlich  steiler  absinkt, 
so  scheint  die  Annahme  zweier,  den  polaren  Erregungsprocessen 
antagonistischer  Hemmungsvorgänge,  die  sich  am  quergestreiften 
Stammesmuskel  für  gewöhnlich  nur  nicht  sichtbar  zu  äussern  ver- 
mögen, bei  vielen  glatten  Muskeln,  sowie  am  Herzmuskel  während 
der  systolischen  Zusammenziehung  aber  immer  leicht  nachweisbar 
sind,  durchaus  gerechtfertigt. 

Es  bleiben  jetzt  nur  noch  einige  Erscheinungen  zu  erörtern, 
welche  unter  gewissen  Umständen  bei  elektrischer  Reizung  quer- 
gestreifter Muskeln  Avährend  der  Schliessung  hervortreten  und  offen- 
bar den  bei  so  vielen  glattmuskeligen  Theilen  in  der  Umgebung  der 
Anode  auftretenden  Ei-regungserscheinungen  analog  sind.  Wie  hier 
handelt  es  sich  dabei  wohl  lediglich  um  das  Wirksamwerden  secundär 
kathodischer  Stellen.  Es  wurde  schon  früher  bemerkt,  dass  sich  bei 
Längsdurchströmung  des  (in  der  Mitte  fixirten)  Sartorius,  namentlich 
bei  Anwendung  starker  aufsteigender  Ströme,  eine  oft  sehr  starke 
Schliessungsdauerconti'action  auch  an  der  anodischen  Hälfte  des 
Präparates  bemerkbar  macht,  die  durchaus  nicht  auf  ein  Uebergreifen 
der  kathodischen  Schliessungsdauercontraction  bezogen  werden  kann. 
Am  überzeugendsten  lässt  sich  dies  nach  einseitiger  Verletzung  (Ab- 
tödtung)  des  Kathodenendes  zeigen.  Selbst  sehr  starke,  ad- 
mortal  (d.  h.  zur  D  emarcatio  nsf lache  hin)  gerichtete 
Ströme  bewirken  dann,  o  b  s  c  h  on  der  Muskel  bei 
Schliessung  des  Kreises  kräftig  zuckt,  keine  Spur 
von  Dauerverkürzung  an  der  Demarcationsgrenze;  da- 
gegen macht  sich  regelmässig  am  anodischen  Muskel- 
ende eine  Dauercontracti  on  bemerkbar,  die  um  so 
stärker  hervortritt,  je  stärker  der  Strom  ist.  Wenn 
diese  Thatsache    schon    bei  Betrachtung    mit    blossem  Auge    oder   mit 


Elektrische  Eeizung  der  Muskeln. 


229 


der  Lupe  unzweifelhaft  hervortritt,  so  lassen  sich  doch  manche  Details 
mittels  der  graphischen  Methode  noch  besser  erkennen.  Reizt  man 
einen  im  Doppelmyographen  eingespannten,  am  Beckenende  abge- 
tödteten  und  in  der  Mitte  geklemmten  Sartorius  mit  Strömen  von  zu- 
nehmender Stärke  (4—  8  Daniell  mit  Rheochord),  so  zeigt  sich  Anfangs 
nur  jenes  hinreichend  bekannte  Verhalten  einseitig  verletzter  Muskeln, 
welches  oben  schon  beschrieben  wurde.  Bei  absteigender  Durch- 
strömung erfolgt  eine  kräftige  und  an  beiden  Muskelhälften  etwa  in 
gleicher  Weise  sich  aus- 
prägende Schliessungszuck- 
ung mit  darauf  folgender 
Dauercontraction ,  welche 
ausschliesslich  an  der  Ka- 
thodenhälfte zur  Geltung 
kommt.  Die  Schliessung 
des  aufsteigenden  Stromes 
bleibt  zunächst  ganz  wir- 
kungslos, und  es  ist  dies 
auch  noch  bei  einer  Strom- 
stärke der  Fall,  bei  welcher 
voraussichtlich  am  unver- 
sehrten Muskel  unter  sonst 
gleichen  Bedingungen  maxi- 
male Schliessungszuckun- 
gen ausgelöst  worden  wären. 
Jenseits  einer  gewissen  In- 
tensitätsgrenze beginnt  jedoch  auch  der  aufsteigende  (admortale)  Strom 
bei  der  Schliessung  wieder  erregend  zu  wirken,  oft,  ehe  noch  bei 
gleicher  Stromesrichtung  eine  wirksame  Oeffnungserregung  hervortritt, 
für  deren  Auslösung  die  Bedingungen  günstig  sind,  da  der  Strom  mit 
grösster  Dichte  am  unteren  schmalen  Muskelende  austritt. 

Die  Schliessungserregung  äussert  sich  dann  immer  zunächst  als 
eine  auf  Seite  der  Anode  stärker  entwickelte  Zuckung  ohne  erheb- 
liche Dauercontraction.  Bei  weiterer  Verstärkung  des  Stromes  tritt 
aber  auch  die  letztere  bald  hervor,  und  zwar  ausschliesslich  an 
der  Anodenhälfte  des  Muskels:    die    kathodische    Hälfte 


Fig.  94.  Sartorius,  in  der  Mitte  fixirt,  am  Becken- 
ende (0)  abgetödtet.  8  Dan.  Anodische  Schlies- 
sungsdauercontraction.  Nach  einer  Pause  von 
12  Min.  hat  (bei  b)  der  absteigende  Schliessungs- 
reizerfolg stark  abgenommen,  während  die  auf- 
steigende Eeizung  gleich  stark  wirkt. 


kommen  (Fig.  94). 

Diese  letztere  übertrifft  bei  einer  gewissen  Stromstärke  an  Höhe 
fast  immer  die  Zuckung  bei  Schliessung  des  absteigenden  („abmortalen") 
Stromes.     Mit  Avachsender  Stromesintensität  nimmt  auch  die  anodische 


zu  und  übertrifft  nun  ihrerseits  ebenfalls  bald  die  kathodische 
Schliessungsdauercontraction  bei  absteigender  Stromesrichtung  an  Grösse 
und  Ausdehnung  (Fig.  94). 

Abgesehen  hiervon  ist  besonders  nach  mehrmaliger  Wiederholung 
der  Reizung  auch  das  allmähliche  Anschwellen  der  anodischen  Schlies- 
sungsdauercontraction bemerkenswerth.  Dass  auch  die  Zuckung 
eines  einseitig  abgetödteten ,  parallelfaserigen  Muskels  bei  Schliessung 
eines  hinreichend  starken,  admortal  gerichteten  Stromes  innerhalb  der 
anodischen  Muskelhälfte  ausgelöst  wird  und  sich  von  da  aus  weiter- 
verbreitet, dürfte  kaum  zu  bezweifeln  sein  und  Hesse  sich  leicht  durch 
zeitmessende    Versuche   entscheiden.      Dafür    spricht    unter    Anderem 


230  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

auch  schon  der  Umstand,  dass  unter  diesen  Verhältnissen  die  Zuckungs- 
curve  der  anodischen  Hälfte  jene  der  kathodischen  fast  immer  an 
Grösse  erheblich  übertrifft,  während  in  allen  Fällen,  wo  die  Erregung 
von  der  Kathode  allein  ausgeht,  auch  die  entsprechende  Muskelhälfte 
sich  stärker  contrahirt. 

Directe  Betrachtung  des  anodischen  Muskelendes,  am  besten  bei 
Lupenvergrösserung  nach  vorhergehender  Querbänderung  mit  Tusche, 
zeigt  nun,  dass  die  bei  Schliessung  stärkerer  Ströme  auftretende  anodi- 
sche Dauercontraction  ganz  im  Gegensatz  zu  der  streng  begrenzten 
kathodischen  Schliessungsdauercontraction  sich  über  ein  ziemlich  grosses 
Gebiet  erstreckt ,  niemals  aber  wie  dort  zu  einer  Wulst ung 
der  äussersten  Faser  enden  führt,  welche  letztere  viel- 
mehr deutlich  gedehnt  werden,  also  jedenfalls  unerregt 
bleiben.  Man  sieht  die  zwei  oder  drei  äussersten  Tuschebänder,  sowie 
ihre  ungefärbten  Zwischenräume  sich  nicht  merklich  verschmälern  oder 
zusammenrücken  (was  am  Kathodenende  so  charakteristisch  ist),  wo- 
gegen die  weiter  nach  der  Mitte  hin  folgenden  unter  Verschmälerung 
zusammenrücken  und  sich  nach  der  Anode  hin  convex  krümmen.  Dabei 
entsteht  ein  Contractionswulst,  der  eigentlich  in  der  Continuität 
des  Muskels,  aber  sehr  nahe  dem  anodischen  Ende,  beginnt  und 
sich  nach  der  Mitte  hin  allmählich  verliert.  Wird  die  eine  Elektrode 
(Kathode)  an  einen  der  beiden  Knochenstümpfe  des  Sai'torius  angelegt, 
während  die  Anode  mit  möglichst  feiner  Spitze  irgend  einen  Punkt 
der  Oberfläche  des  massig  gespannten  Muskels  berührt,  so  zeigt  sich 
schon  bei  schwachen  Strömen  (2 — 3  Daniell)  sehr  deutlich,  dass  an  der 
Eintrittsstelle  selbst  keine  Spur  von  Contraction  erfolgt,  und  hat  man 
mit  Tusche  Querlinien  gezogen,  so  ist  leicht  zu  erkennen,  dass  an 
gleicher  Stelle  sogar  eine  nicht  unbeträchtliche  Dehnung  der  Fasern 
bewirkt  wird,  die  sich  sehr  deutlich  durch  eine  entsprechende  Ver- 
breiterung des  mit  der  Elektrodenspitze  berührten  Querbandes,  sowie 
der  nächst  angrenzenden  Fasersegmente  verräth.  Diese  passive  Dehnung 
an  der  Eintrittsstelle  des  Stromes  wird  bewirkt  durch  eine  mehr  oder 
minder  starke  Contraction,  Avelche  beiderseits  von  der  Anode  sofort 
bei  der  Schliessung  entsteht  und  während  der  Schliessungsdauer  be- 
stehen bleibt.  Diese  Versuchsanordnung  gestattet  auch,  die  locale 
anodische  Hemmung  (Erschlaffung)  am  veratrinisirten  Muskel  noch 
leichter  und  deutlicher  zu  beobachten ,  als  es  mittels  der  oben  be- 
schriebenen graphischen  Methode  möglich  ist.  Man  braucht  dann 
nur  zweimal  hinter  einander  den  Stromkreis  bei  unveränderter  Lage 
der  Elektroden  zu  schliessen,  das  eine  Mal  kurz  zur  Auslösung  der  an- 
haltenden Contraction  des  veratrinisirten  Sartorius  und  hierauf  länger, 
um  die  locale  Erschlaffung  an  der  Anode  zu  beobachten. 

Reizt  man  einen  noch  in  situ  befindlichen  normalen  Muskel 
monopolar,  so  tritt  schon  bei  den  schwächsten  Strömen  der  Unter- 
schied zwischen  kathodischen  und  anodischen  Reizerfolgen  auf 
das  schärfste  hervor.  Während  bei  punktförmiger  Berührung  der 
Muskeloberfläche  mit  der  Kathode,  nach  Ablauf  der  Schliessungs- 
zuckung, nur  an  der  Berührungsstelle  selbst  eine  ganz  locale 
Dauercontraction  entsteht,  die  übrige  Fläche  aber  vollkommen  glatt 
bleibt,  bildet  sich  bei  anodischer  Reizung  in  Folge  der  zu  beiden 
Seiten  der  Eintrittsstelle  des  Stromes  auftretenden  Dauererregung  der 
betreffenden  Faserbündel  an  der  Oberfläche  des  Muskels  eine  ver- 
tiefte, bleibende  Längsfurche,    während    die  berührte  Stelle  selbst  und 


Elcktriselie  Heizung  der  Muskeln.  231 

deren  nächste  Umgebung  unerregt  ist  und  daher  mehr  oder  weniger 
gedehnt  wird,  wodurch  eine  flache,  dellenförmige  Einziehung  entsteht. 
Sehr  deutlich  tritt  bei  dieser  Art  der  Reizung  die  Oefl'nungserregung 
in  Gestalt  eines  kleinen  Wulstes  hervor,  der  sich  sofort  nach  Oeffnung 
des  Kreises  an  der  Eintrittsstelle  des  Stromes  erhebt  und  längere  Zeit 
sichtbar  bleibt.  Die  Aehnlichkeit,  welche  zwischen  den  geschilderten 
Befunden  an  quergestreiften  Stammesmuskeln  und  den  früher  be- 
sprochenen Folgeerscheinungen  der  elektrischen  Reizung  glattmuskeliger 
Theile  besteht,  ist  wohl  kaum  zu  verkennen,  so  dass  die  Annahme 
einer  principiellen  Uebereinstimmung  in  dem  Verhalten  beider 
Muskelarten,  sowäe  des  Herzmuskels  gegenüber  dem  elektrischen 
Strome  kaum  ernstlichem  Widerspruch  begegnen  dürfte.  Es  gilt 
dies  ebensowohl  hinsichtlich  der  polaren  Erregungserscheinungen  wie 
bezüglich  der  ebenfalls  polaren  Hemmungswirkungen.  Erwägt  man, 
dass  die  Erregungserscheinungen  in  der  Umgebung  der  Anode  bei 
Anwendung  schwacher  Ströme  nur  dann  auftreten,  wenn  „mono- 
polar" gereizt  wird,  dass  dieselben,  wie  mich  neuere  Versuche  lehrten, 
ganz  fehlen,  wenn  der  Muskel  (Sartorius)  in  Flüssigkeit  versenkt,  der 
Länge  nach  durchströmt  wird  und  erst  bei  hoher  Stromesintensität 
und  ganz  vorwiegend  bei  aufsteigender  Richtung  hervortreten,  wenn 
das  Präparat  im  Hering'  sehen  Doppelmyographen  eingespannt  wird, 
so  dürfte  es  kaum  einem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass  es  sich  auch 
hier  nur  um  Erregungswirkvmgen  an  secundär  kathodischen  Stellen 
handelt,  deren  Entstehung  bei  monopolarer  Reizung  ohne  Weiteres 
zuzugeben  ist,  die  aber  auch  insbesondere  am  Knieende  des  Sartorius 
bei  Durchströmung  von  den  Knochenstümpfen  aus  vorhanden  sein 
müssen.  Dies  lässt  sich  schon  aus  der  eigenthümlich  abgestuften 
Endigung  der  Fasern  an  dem  betreffenden  Ende  folgern,  wodurch 
vielfach  Gelegenheit  zum  Austritt  von  Stromfäden  in  benachbarte  Fasern 
in  der  Continuität  des  Muskels  gegeben  ist, 

Obschon  daher  die  betreffenden  Erregungserscheinungen  kein 
eigentlich  physiologisches  Interesse  darbieten,  so  verdienen  sie  doch 
eingehend  Berücksichtigung,  einmal  in  Hinblick  auf  die  so  auffallen- 
den, der  gleichen  Ursache  zuzuschreibenden,  polaren  Reizerfolge  an 
verschiedenen  glattmuskeligen  Theilen,  die  leicht  zu  der  irrthümlichen 
Auffassung  einer  Umkehr  des  Pflüger'schen  Erregungsgesetzes  führen 
können.  Andererseits  dürfte  hier  aber  auch  der  Schlüssel  zum  Verständ- 
niss  einer  Reihe  von  älteren  Erfahrungen  an  quergestreiften  Muskeln 
gegeben  sein.  Schon  aus  der  älteren  Literatur  Hegen,  wiewohl  nur  sehr 
vereinzelt,  Angaben  vor,  welche  darauf  hinzudeuten  schienen,  dass 
quergestreifte  Muskeln,  wenn  auch  nicht  immer,  so  doch  unter  ge- 
wissen Umständen  bei  elektrischer  Reizung  ein  von  dem  normalen  ab- 
weichendes Verhalten  erkennen  lassen,  indem  angeblich  bei  Schliessung 
des  Stromes  auch  auf  Seite  der  Anode  Erregung  entsteht.  Hierher  ge- 
hören vor  Allem  Beobachtungen  von  Aeby  (20)  aus  dem  Jahre  1867, 
die  ihn  im  Gegensatze  zu  Bezold  und  Engelmann  zu  der  An- 
nahme einer  bipolaren,  jedoch  ungleich  starken  Erregung  des 
Muskels  durch  den  Kettenstrom  führten.  Ausserdem  glaubt  sich 
Aeby  überzeugt  zu  haben,  dass  unter  gewissen  Bedingungen,  ins- 
besondere bei  vorgeschrittener  Ermüdung  der  Präparate,  das  normale 
Verhalten,  wobei  die  erregende  Wirkung  der  Kathode  jene  der  Anode 
immer  bedeutend  überwiegt,  sich  geradezu  umkehrt.  Die  Ver- 
suche   Aeby 's     sind    jedoch    keineswegs    einwandfrei,     worauf    so- 


232  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

wohl  Engelmann  wie  auch  später  Hering  (1)  hingewiesen  haben. 
Es  gilt  dies  insbesondere  von  einem  Versuche,  bei  welchem  die  beiden 
Schenkel  eines  Frosches,  die  noch  durch  das  Becken  vereint  und 
mittels  desselben  aufgehängt  waren,  durchströmt  wurden,  indem  die 
beiden  als  Elektroden  dienenden  Drähte  mit  den  unteren  Enden  der 
beiden  Schenkel  verbunden  Avurden.  Die  Knochen  der  Oberschenkel 
waren  vorher  herausgelöst  worden,  und  es  verkürzte  sich  nun  bei  der 
Reizung  der  absteigend  durchströmte  Schenkel  stärker  als  der  auf- 
steigend durchflossene,  woraus  Aeby  auf  ein  Ueberwiegen  der 
Wirkungen  des  negativen  Poles  schliesst.  Es  ist  dabei  einerseits  der 
von  Engelmann  und  Hering  betonte  Unterschied  zwischen  physi- 
kalischen und  physiologischen  Elektrodenstellen,  andererseits  aber  auch 
der  Unterschied  der  Stromdichte  am  Knie  und  Beckenende  jedes  der 
beiden  Schenkel  nicht  berücksichtigt.  Immerhin  bleibt  aber  doch  die 
auch  in  diesem  Falle  beobachtete  Umkehr  der  Wirkungen  nach  längerer 
Versuchsdauer  bemerkenswerth.  Aeby  zieht  daraus  den  Schluss,  dass 
der  ermüdete  absterbende  Muskel  andere  Eigenschaften  besitzt,  als 
der  frische;  „ihn  regt  nicht  mehr  der  negative,  sondern  der  positive 
Pol  zur  höheren  Thätigkeit  an".  Engel  mann  kam  später  auch 
zu  der  Anschauung,  dass  eine  solche  völlige  Umkehr  der  Er- 
scheinung (d.  h.  des  polaren  Erregungsgesetzes)  vorkommen  könnte. 
So  lange  dies  jedoch  nicht  durch  ganz  unzweideutige  Versuche  sicher 
gestellt  erscheint,  wird  man  allen  derartigen  Angaben  gegenüber  im 
äussersten  Maasse  skeptisch  sein  müssen. 

Aeby  stellte  auch  Versuche  an,  wobei  ein  einzelner  Muskel 
(Sartorius,  Adductor  niagnus)  in  der  Mitte  durch  eine  Klemme  der  Art 
fixirt  wurde,  dass  beide  Hälften  frei  beweglich  blieben.  Bei  wechseln- 
der Richtung  der  Durchströmung  wurde  nur  die  Zuckung  der  einen 
(unteren)  Hälfte  graphisch  verzeichnet.  „Bei  der  Schliessungszuckung 
entwickelte  im  frischen  Muskel  der  negative  Pol  ausnahmslos  eine 
viel  grössere  Energie  als  der  positive";  bei  sehr  schwachen  Strömen 
zuckte  überhaupt  nur  die  kathodische  Hälfte.  Die  Oeffnungszuckung 
verhielt  sich  umgekehrt  wie  die  Schliessungszuckung.  Engelmann 
ist  geneigt,  dies  Resultat  auf  Störungen  des  Leitungsvermögens  an 
der  geklemmten  Stelle  zu  beziehen,  wodurch  bewirkt  wurde,  dass  z.  B. 
bei  der  Schliessung  die  von  der  Kathode  ausgehende  Erregung  sich 
nicht  ungeschwächt  auf  die  anodische  Hälfte  fortpflanzen  konnte.  Doch 
scheint  auch  hier  wieder  die  Behauptung  Aeby 's  beachtenswerth, 
„dass  die  negative  Zuckung  durch  Ermüdung  weit  mehr  leidet,  als  die 
positive",  und  dass  bei  starker  Ermüdung  das  für  den  frischen  Muskel 
geltende  Verhalten  sich  umkehren  könne.  Die  oben  erwähnten  Be- 
obachtungen am  geklemmten  Satorius  könnte  man  leicht  geneigt  sein 
als  eine  weitere  Bestätigung  der  Angaben  von  Aeby  anzusehen  (vergl. 
Fig.  94) ;  doch  treten  die  betreffenden  Erscheinungen  in  charak- 
teristisch ausgeprägter  Weise  nur  bei  Anwendung  so  starker  Ströme 
hervor,  dass  das  Wirksamwerden  secundär  kathodischer  resp.  anodi- 
scher Stellen  dabei  nicht  ausgeschlossen  werden  kann  und  wohl  auch 
bei  den  Versuchen  Aeby 's  eine  Rolle  gespielt  hat. 

Es  dürfen  schliesslich  auch  die  viel  besprochenen,  bisher  aber 
fast  nur  von  Pathologen  untersuchten  Veränderungen  nicht  unerwähnt 
bleiben,  welche  im  Gefolge  peripherer  Lähmungen  quergestreifter 
(Warmblüter-)  Muskeln  in  Bezug  auf  die  elektrische  Reaction  der- 
selben eintreten.     Dieselben  machen  sich,    wie    früher    schon    erwähnt 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  233 


ur 


wurde,  theils  durch  quantitative  Veränderungen  der  Erregbarkeit  fü 
inducirte  und  constante  Ströme  geltend,  theils  aber,  wie  angegeben 
wird,  auch  durch  eine  qualitative  Aenderung  der  polaren  Reizerfolge, 
und  zwar  ganz  im  Sinne  der  oben  erwähnten  Befunde  Aeby's  an 
ermüdeten  Muskeln.  Während  unter  normalen  Verhältnissen  bei 
directer  monopolarer  Reizung  eines  Muskels  mit  einem  Kettenstrom 
der  kathodische  Reizerfolg  (die  sogenannte  „Kathodenschliessungs- 
zuckung") stets  beträchtlich  überwiegt,  soll  sich  dies  Verhältniss  an 
gelähmten  Muskeln  in  einem  gewissen  Stadium  der  Degeneration  una- 
kehren  („Entartungsreaction").  Um  ein  abschliessendes  Urtheil 
zu  gewinnen,  sind  hier  wie  bei  ermüdeten  Muskeln  weitere  Unter- 
suchungen nach  einwandfreien  Methoden  dringend  erforderlich;  denn 
die  Bedingungen,  unter  Avelchen  die  betreffenden  Versuche  an 
Menschen  allein  angestellt  werden  können  oder  an  Thieren  an- 
gestellt worden  sind,  entsprechen  in  keiner  Weise  den  Anforderungen 
exacter  physiologischer  Methodik.  Auf  der  anderen  Seite  stehen 
zudem  so  zahlreiche,  durch  einwandfreie  Versuche  an  verschie- 
denen Muskeln  und  Nerven  gewonnene  Resultate  der  Annahme  einer 
Umkehr  der  Polwirkungen  entgegen,  dass  die  Behauptung  irgend 
eines  Ausnahmefalles  von  vornherein  einem  gewissen  Misstrauen  be- 
gegnen musste  und  nur  dann  auf  Anerkennung  rechnen  kann,  wenn 
die  Bedingungen  der  Versuche  und  alle  begleitenden  Nebenumstände 
möglichst  einfache  und  übersichtliche  sind. 

Zu  den  unter  dem  Einfluss  des  elektrischen  Stromes  am  (quer- 
gestreiften) Muskel  hervortretenden  sichtbaren  Erregungserscheinungen 
muss  auch  das  sogenannte  P  o  r  r  e  t '  sehe  Phänomen  oder  galva- 
nische Wogen  des  Muskels  gezählt  werden.  Im  Jahre  1860 
beschrieb  Kühne  (37)  zuerst  die  merkwürdige  Erscheinung,  dass  ein 
von  einem  starken  Strom  durchflossener,  parallelfciseriger  Muskel  in 
eine  eigenthümlich  wogende  oder  fliessende  Bewegung  geräth,  welche 
im  Sinn  des  positiven  Stromes  abläuft  und  auf  die  intrapolare  Strecke 
beschränkt  bleibt.  Nur  vermuthungsweise  deutete  K  ü  h  n  e  auf  einen 
möglichen  Zusammenhang  dieser  Erscheinung  mit  dem  Reuss-Porret'- 
schen  Phänomen  der  Elektrotransfusion  hin,  betonte  aber  andererseits 
auch  ausdrücklich  die  „tiefe  innere  Beziehung  zu  dem ,  was  wir 
Zuckung  auf  elektrischen  Reiz  nennen".  Auch  Du  Bois  Rey- 
mond  (38)  fasste  das  Wogen  als  eine  Erregungserscheinung  auf,  als 
den  Ausdruck  local  beschränkter  Contractionen,  welche  von  der  Anode 
zur  Kathode  laufen.  In  der  That  erinnert  die  ganze  Erscheinung 
ganz  ausserordentlich  an  jenes  zarte  Wogen  und  Rieseln,  welches  man 
im  Sartorius  des  Frosches  unter  gewissen  Umständen  auch  bei  mecha- 
nischer Reizung  beobachtet,  und  wodurch  ohne  Weiteres  bewiesen  ist, 
dass  „das  Wogen  eine  Bewegungsform  des  Muskels  ist,  welche  ohne 
alle  Durchströmung  eintreten  kann".  Man  sieht  zweifellos  Con- 
tractionswellen  ablaufen ,  deren  Höhe  sehr  verschieden  sein  kann ; 
„bald  sind  sie  ungemein  dick,  bald  so  fein,  dass  sie  mit  blossem  Auge 
eben  noch  als  ein  zartes  Rieseln  erkennbar  sind;  bald  verlaufen  sie 
in  den  einzelnen  Bündeln  sehr  unabhängig  von  einander,  so  dass  man 
neben  einander  viele  Wülste  in  verschiedener  Lage  ablaufen  sieht, 
bald  erstreckt  sich  ein  mehr  einheitlicher  Wulst  über  einen  grösseren 
Theil  der  Muskelbreite"  (Hermann  39,  p.  603).  Die  Geschwindig- 
keit des  Wogens  ist  sehr  wechselnd,  im  Uebrigen  aber  stets  gering. 
Hermann  (I.e.)  schätzt  sie  bei  frischen,  lebhaft  wogenden  Präparaten 


234  Elektrische  Heizung  der  Muskeln. 

auf  4 — 5  mm  iu  der  Sekunde.  Es  wurde  schon  erwähnt,  dass  ziemlich 
starke  Ströme  erforderlich  sind,  um  die  Erscheinung  deutlich  hervor- 
treten zu  lassen.  Für  die  Auffassung  des  Wogens  als  einer  Erregungs- 
erscheinung ist  es  wesentlich,  dass  dasselbe  ganz  ausschliesslich 
dem  quergestreiften  lebenden  Muskel  eigenthümlich  ist, 
bei  anderen  feuchten  Geweben  aber  niemals  vorkommt*);  es  lässt  sich 
ferner,  wie  Hermann  (1.  c.)  gezeigt  hat,  auch  ein  Einfluss  der  Er- 
müdung und  Erholung  des  Muskels  nachweisen,  indem  die  Energie 
und  Geschwindigkeit  des  Wogens  allmählich  abnimmt,  um  nach  einer 
längeren  Ruhepause  wieder  zu  wachsen.  Vor  Allem  aber  ist  zu 
beachten,  dass,  wie  es  für  die  Muskelerregung  überhaupt  gilt,  die 
jeweils  herrschende  Temperatur  auch  das  galvanische 
Wogen  in  auffallendster  Weise  beeinflusst.  Wenn  Her- 
mann (1.  c.)  frische  Muskeln  (Sartorien)  in  erwärmtem  Oel  durch- 
strömte, so  trat  die  Erscheinung  in  einer  überraschenden  Schönheit 
hervor,  „von  der  man  nach  den  gewöhnlichen  Versuchen  keine  Vor- 
stellung hatte."  Sowohl  die  Ausbreitung  wie  die  Wellenhöhe  und  Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit des  Wogens  werden  bei  höherer  Temperatur 
ausserordentlich  verstärkt;  dagegen  beseitigt  schon  massige  Abkühlung 
des  Muskels  dasselbe  vollkommen.  Sehr  auffallend  ist  ferner  der 
Einfluss  der  Spannung  des  Muskels.  Stets  zeigt  sich,  dass 
das  Wogen  bei  einem  gewöhnlichen  mittleren  Spann ungsgrade  am  leb- 
haftesten ist  und  sowohl  bei  zu  starker  Spannung  wie  bei  völliger 
Entspannung  aufhört,  sichtbar  zu  sein.  Wenn  man  sich  erinnert, 
welche  Bedeutung  der  jeweilige  Spannungsgrad  auf  die  Erregung  des 
Muskels,  sowie  auf  den  gesammten  Stoflfurasatz  besitzt,  so  kann  auch 
das  erwähnte  Verhalten  kaum  befremden. 

Es  wurde  schon  bemerkt,  dass  das  Wogen  stets  von  der  Anode 
nach  der  Kathode  hin  gerichtet  ist,  doch  bildet  dieAnode  selbst 
keineswegs  den  Ausgangspunkt  der  Contr actio nswellen. 
Bedient  man  sich  zur  Reizung  eines  Stromes  von  solcher  Intensität, 
dass  das  Wogen  eben  deutlich  hervortritt,  so  erscheint  dasselbe  in 
der  Regel  in  derjenigen  Muskelstrecke  am  deutlichsten  und  stärksten 
entwickelt,  welche  während  der  Schliessung  in  dauernder  Contraction 
verharrt.  Es  kommt  dann  sehr  häufig  vor,  dass  sowohl  die  äussersten 
Faserenden  auf  Seite  der  Anode,  wie  auch  die  ganze  kathodische 
Muskelhälfte  keine  Spur  des  Wogens  erkennen  lassen,  während  der 
grösste  Theil  der  anodischen  Hälfte  in  lebhaftestem  Wogen  begriffen 
erscheint.  Unter  allen  Umständen  aber  beginnt  dasselbe  in  näch- 
ster Nähe  des  anodischen  Muskelendes  und  verbreitet  sich  von  hier 
aus  erst  bei  sehr  viel  stärkeren  Strömen  über  den  ganzen  Muskel.  Es 
weist  dies  auf  eine  sehr  nahe  Beziehung  zwischen  der  oben  erwähnten 
anodischen  Schliessungsdauercontraction  und  dem  „galvanischen  Wogen" 
hin,  und  man  wird  kaum  fehl  gehen,  beide  Erscheinungen  nur  als  zwei 
verschiedene  Symptome  einer  und  derselben  Veränderung  des  Muskels 
zu  betrachten.  In  dieser  Beziehung  erscheint  es  sehr  beachtenswerth, 
dass  Hermann  (1.  c.  p.  602)  bisweilen  den  Eindruck  gewann,  als  ob 


*)  Bei  Anwendung  starker  Ströme  sah  Neiimann  (12)  bisweilen  am  Herzmuskel 
(vom  Frosch)  ein  Phänomen,  welches  dem  galvanischen  Wogen  analog  erschien,  indem 
peristaltische  Wellen  während  der  Schliessungsdauer  in  der  Richtung  des  Stromes  ab- 
liefen, deren  Aufeinanderfolge  oft  so  regelmässig  ist,  „dass  das  Herz  schwache  zierliche 
Pulsatiouen  aufzuzeichnen  scheint". 


Elektrische  Kcizung  der  Muskeln.  235 

nach  OefFnung  de«  Stromkreises  „ein  ganz  kurzes  wirkliches  Rieseln 
oder  Wogen  n  a  c  h  d  e  r  A  n  o  d  e  hin,  also  dem  eigentlichen  Phänomen 
entgegengesetzt",  stattfände.  Abtödtung  oder  chemische  Veränderung 
der  Muskelenden  hat  auf  das  galvanische  Wogen  ebensowenig  Einfluss, 
wie  auf  die  anodische  Schliessungsdauercontraction.  Giebt  man  die 
Berechtigung  zu,  diese  letztere  als  eine  Erregungserscheinung  auf- 
zufassen, welche  auf  dem  Wii'ksamwerden  secundärer  Elektroden- 
stellen in  der  Continuität  des  durchströmten  Muskels  beruht,  so  wird 
man  auch  das  galvanische  Wogen  kaum  anders  deuten  können.  Mit 
Rücksicht  auf  alle  mitgetheilten  Erfahrungen  darf  man  die  insbesondere 
von  Jendrässik  (40)  und  Regeczy  (41)  vertretene  Ansicht,  der 
zu  Folge  als  Hauptursache  des  galvanischen  Wogens  jene  Form-  und 
Lageveränderungen  anzusehen  wären,  „welche  die  Blut  und  Lymphe 
enthaltenden  Canalräume  eines  ganzen  Muskels  oder  einer  aus  meh- 
reren Bündeln  bestehenden  Partie  desselben  in  Folge  der  durch  den 
Kettenstrom  in  ihnen  bewirkten  endosmotischen  Ueberführung  flüssiger 
Bestandtheile  erleiden",  als  genügend  widerlegt  ansehen,  zumal  an  der 
activen  Betheiligung  der  lebenden  und  erregbaren  Muskelfasern  seit 
Hermann 's  Untersuchungen  absolut  nicht  mehr  zu  zweifeln  ist. 
Dagegen  lässt  sich  gegen  die  von  Hermann  (1.  c.)  gegebene  Er- 
klärung des  galvanischen  Wogens  kaum  ein  Bedenken  geltend  machen. 
Hermann  geht  von  der  unzweifelhaft  richtigen  Annahme  aus,  dass 
auch  bei  möglichst  reiner  Längsdurchströmung  eines  parallelfaserigen 
Muskels  „die  Mehrzahl  der  Fasern  nicht  bloss  eine  Anoden-  und  eine 
Kathodenstelle  haben  wird,  nvelche  den  Elektroden  des  Gesammtmuskels 
entsprechen ,  sondern  eine  grössere  Anzahl  von  Ein-  und  Austritts- 
stellen wegen  schrägen  oder  queren  Verlaufes  der  Strömungslinien  zu 
den  einzelnen  Stellen  der  Fasern,  ganz  besonders  wo  die  letzteren  zu- 
fällig gekrümmt  liegen".  Starke  Ströme  setzen  nun  an  jeder  der 
secundären  Kathodenstellen  eine  Erregung,  durch  welche  ein  Contrac- 
tionswulst  bedingt  wird ,  welcher  sich  langsam  nach  der  Kathode  hin 
fortpflanzt.  „Die  Entstehung  und  Fortbewegung  der  Wülste  macht  neue 
Veränderungen  und  neue  Unregelmässigkeiten  im  Verlaufe  der  Strö- 
mungslinien zur  Faserung  und  giebt  so  zu  immer  neuen  Erregun- 
gen Anlass.  So  entsteht  das  merkwürdige  Wogen."  Besonders  hervor- 
zuheben ist  jedoch  einerseits  der  Ausgangspunkt  des  Phänomen,  sowie 
anderseits  die  auch  von  Hermann  betonte  Schwierigkeit,  dass  gerade 
dann,  wenn,  wie  es  scheint,  die  Bedingungen  für  die  Entstehung  von 
secundären  Kathoden  durch  Faserknickungen  die  allergünstigsten  sind, 
nämlich  im  gänzlich  erschlafften  Muskel,  das  Wogen  ausbleibt. 
Wenn  man  auch  zugeben  will,  dass,  wie  Hermann  hervorhebt,  unter 
Umständen  bei  zickzackförmiger  Krümmung  der  Muskelfasern  der 
physiologische  Eß'ect  der  Längsdurchströmung  dem  der  reinen  Quer- 
durchströmung gleich  kommen  kann,  indem  sich  hier  wie  dort  Anoden 
und  Kathoden  von  derselben  Faser  gerade  gegenüber  liegen,  so  muss 
doch  betont  werden,  dass  in  vielen  Fällen  das  Wogen  nachweislich 
ausbleibt,  wo  am  entspannten  Muskel  die  Faserkrümmungen  kaum 
merklich  angedeutet  sind.  Um  die  langsame  Fortpflanzung  der  Con- 
tractionswellen  (in  nur  einer  Richtung)  zu  erklären,  nimmt  Hermann 
eine  Schädigung  des  Leitungsvermögens  innerhalb  der  ganzen  intra- 
polaren Strecke  als  Folge  der  starken  Durchströmung  an;  doch  scheint 
dies  fraglich,  wenn  man  berücksichtigt,  dass  ein  ganz  ähnliches 
Wogen  auch  unabhängig  von  jeder  Durchströmung  an  ganz 


236  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

frischen  Muskeln  beobachtet  werden  kann,  wenn  dieselben  in  einer 
bestimmten  Weise  (mechanisch)  gereizt  w^erden.  Es  wurde  schon  früher 
erwähnt,  dass  ein  und  derselbe  Muskel  langsame  und  schnelle  Con- 
tractionswellen  fortzupflanzen  vermag,  ohne  dass  eine  irgend  erheb- 
liche Zustandsänderung  zu  Grunde  liegt.  Es  kommt  also  wohl  mehr 
auf  die  Qualität  des  Reizes  an. 

Für  die  ganze  Auffassung  dieser  in  der  Continuität  der 
Muskelfasern  hervortretenden  Erregungserscheinungen,  an  denen  noch 
viel  aufzuklären  bleibt,  ist  es  nun  offenbar  sehr  wesentlich,  zu  wissen, 
ob  überhaupt  der  elektrische  Strom  ausser  den  ge- 
schilderten Polwirkungen  nicht  doch  noch  andersartige 
Veränderungen  innerhalb  der  durchf  loss  enen  Muskel- 
strecke erzeugt,  oder  ob  dieselbe,  wie  bisher  stillschweigend  voraus- 
gesetzt wurde,  nur  indirect  durch  die  von  den  physiologisch  vor  Allem 
wichtigen  Stellen,  der  Anode  und  Kathode  her,  sich  fortpflanzenden 
Wirkungen  beeinflusst  wird.  Dabei  ist  natürlich  von  vornherein  abzu- 
sehen von  dem  etwaigen  Wirksamwerden  secundärer  Elektrodenstellen. 
Schon  V.  Bezold  (10),  dem  wir  ja  überhaupt  die  ersten  eingehen- 
den Untersuchungen  über  die  elektrische  Erregung  entnervter  Muskeln 
verdanken,  zog  jene  Frage  in  das  Bereich  seiner  experimentellen 
Untersuchungen  und  beantwortete  dieselbe  dahin,  dass,  während  der 
Strom  in  constanter  Stärke  einen  Muskel  durchfliesst,  fortwährend 
physiologische  Aenderungen  in  der  ganzen  durchflossenen 
Strecke  geschehen,  wodurch  einerseits  die  Erregbarkeit  und  anderer- 
seits das  Leitungsvermögen  der  intrapolaren  Strecke  wesentlich  be- 
einflusst Averde.  Da  sich  Veränderungen  der  Erregbarkeit  oder  des 
Leitungsvermögens  irgend  eines  Muskelabschnittes  nur  indirect  durch 
entsprechende  Veränderungen  der  Contractionsgrösse,  welche  man  bei 
immer  gleicher  Reizung  derselben  Stelle  beobachtet,  erschliessen  lassen, 
so  kommt  es  im  vorliegenden  Falle  vor  Allem  darauf  an,  gleiche  Reize 
auf  beliebige  Punkte  der  intrapolaren  Strecke  vor,  während  und  nach 
der  Durchströmung  einwirken  lassen  zu  können  und  die  Zuckungs- 
höhe mittels  graphischer  Methoden  zu  messen.  Es  ist  von  vornherein 
klar,  dass  hier  nur  der  elektrische  Reiz  anwendbar  ist,  da  er  allein 
eine  genaue  Abstufung  der  Stärke  zulässt  und  ausserdem  die  gereizte 
Stelle  nicht  unmittelbar  schädigt.  Allein  die  Anwendung  des  elek- 
trischen Stromes  als  Prüfungsreiz  für  Untersuchung  der  Erregbarkeit 
einer  bereits  durchströmten  Muskelstrecke  begegnet  erheblichen  metho- 
dischen Schwierigkeiten  wegen  der  kaum  oder  doch  nur  schwer  zu 
vermeidenden  Interferenz  der  beiden  Ströme.  Bezeichnet  man  den 
dauernd  geschlossenen  Kettenstrom,  durch  dessen  Wirkungen  die  Er- 
regbarkeit und  das  Leitungsvermögen  der  durchflossenen  Muskel- 
strecke verändert  werden  soll,  als  den  „polari  sirend  en",  den  als 
Prüfungsreiz  verwendeten  Inductionsstrom  dagegen  als  „Reiz ström", 
so  ist  klar,  dass,  wenn  man  etwa  die  Elektroden  des  letzteren  direct 
an  den  vom  Kettenstrom  durchflossenen  Muskel  anlegen  wollte,  noth- 
wendig  der  Strom  aus  einem  Kreise  in  den  andern  sich  ergiessen 
müsste,  und  zwar  nach  Maassgabe  der  Widerstände  in  beiden  Kreisen. 
Wenn  aber  der  polarisirende,  dauernd  geschlossene  Kettenstrom  zum 
Theil  in  den  Kreis  des  Reizstromes  abzweigt,  so  wird  nothwendig  an 
der  einen  Reizelektrode  eine  physiologisclie  Kathode  gebildet  und 
daher  ein  dauernder  Erregungszustand  bedingt,  welcher  seinerseits 
die  Wirkungen    des   Prüfungsreizes    complicirt,    so    dass  etwaige  Ver- 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  237 

änderungen  in  der  Höhe  der  durch  den  Priifungsreiz  ausgelösten 
Zuckung  vor  und  während  der  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes 
nicht  wohl  auf  eine  Veränderung  der  Erregbarkeit  der  betreffenden 
Stelle  bezogen  werden  können,  die  unabhängig  von  einer  directen 
Erregung  durch  den  polarisirenden  Strom  sein  würde.  Dabei  ist 
auch  noch  Folgendes  zu  bedenken.  Nach  dem  polaren  Erregungs- 
gesetze findet  bei  Schliessung  des  Heizstromes  je  nach  seiner  Richtung 
die  Erregung  bald  am  einen,  bald  am  anderen  Ende  der  durchflossenen 
Strecke  statt,  Avobei  allerdings  wegen  des  schrägen,  durch  die  seitliche 
Anlagerung  der  Elektroden  bedingten  Verlaufes  der  Stromfäden  die 
physiologische  Kathode  beziehungsweise  Anode  immer  eine  beträcht- 
liche Ausdehnung  besitzt.  Im  einen  Falle  fällt  daher,  wenn  ein  Zweig 
des  polarisirenden  Stromes  sich  in  den  Reizkreis  ergiesst,  die  physio- 
logische Kathode  des  Reizstromes  auf  bereits  kathodische  Faserstellen, 
anderenfjills  aber  geschieht  das  Gegentheil,  indem  dann  die  Kathode 
des  Reizstromes  mit  anodischen  Stellen  sich  deckt.  Dadurch  wird 
natürlich  der  Effect  des  Reizstromes  auch  noch  von  dessen  Richtung 
abhängig  gemacht.  Da  jedoch  die  Vertheilung  des  Stromes  in  beiden 
Kreisen  lediglich  von  dem  Verhältniss  der  Widerstände  abhängt,  so 
lässt  sich,  wenn  man  im  gegebenen  Falle  in  den  Reizkreis  einen  so 
grossen  Widerstand  einschaltet,  dass  dagegen  der  Widerstand  des  zwischen 
den  zugehörigen  Elektroden  befindlichen  kurzen  Muskelstückes  ver- 
schwindet, eine  Verzweigung  des  Kettenstromes  in  den  Reizkreis  ver- 
meiden (Hermann,  Handb.  H.  1.  p.  44). 

Das  Versuchsverfahren  gestaltet  sich  demnach  in  folgender  Weise: 
Zwei  an  einem  verschiebbaren  Träger  angebrachte  unpolarisirbare  Elek- 
troden werden  an  verschiedenen  Stellen  des  im  Hering' sehen  Doppel- 
myographen  in  gewöhnlicher  Weise  eingespannten  Sartorius  angelegt. 
Die  Zuführung  des  als  Prüfungsreiz  ausschliesslich  benützten 
Schliessungsinductionsstromes  wird ,  um  die  Gestaltveränderungen  des 
Muskels  möglichst  wenig  zu  behindern,  durch  Fäden,  welche  mit  phy- 
siologischer NaCl-Lösung  befeuchtet  sind ,  vermittelt.  Die  Länge 
der  intrapolaren  Strecke  beträgt  etwa  3 — 4  mm,  und  es  kann  daher 
deren  Widerstand  gegenüber  dem  einer  in  den  Kreis  der  primären 
Spirale  eingeschalteten  2  m  langen,  0,5  cm  im  Durchmesser  haltenden 
und  mit  sehr  verdünnter  CuSOi-Lösung  gefüllten  Glasröhre  kaum 
in  Betracht  kommen.  Die  Zuckungen  werden  auf  einer  berussten  Fläche 
verzeichnet,  indem  die  eine  Elektrode  des  Doppelmyographen  dauernd 
fixirt,  die  andere  dagegen  mit  einem  Schreibstift  in  Verbindung  gesetzt 
wird.  Die  Intensität  des  polarisirenden  Kettenstromes  wird  durch 
ein  Rheochord  beliebig  abgestuft.  Die  OefFnung  und  Schliessung 
des  Kettenkreises  besorgt  ein  zwischen  Rheochord  und  Stromquelle 
(2  Dan.)  eingeschalteter  Quecksilberschlüssel.  Hat  der  polarisirende 
und  der  Reizstrom  gleiche  Richtung  (beide  absteigend),  so  ist  zu- 
nächst der  Fall  denkbar,  dass  die  Austrittsstellen  beider  zusammen- 
fallen ,  indem  die  negative  Reizelektrode  an  den  Knochenstumpf 
der  Tibia  angelegt  wird,  während  die  andere  das  untere  Sartorius- 
ende  berührt.  In  diesem  Falle  treten  sehr  ausgeprägte  Verände- 
rungen der  Erregbarkeit  hervor,  deren  nähere  Besprechung  später 
folgen  soll.  Ganz  anders  gestaltet  sich  jedoch  das  Resultat,  wenn 
beide  Reizelektroden  in  der  Continuität  des  Muskels  liegen.  Nach 
V.  B  e  z  0 1  d  wäre  zu  erwarten  gewesen,  dass  während  der  Schliessungs- 
dauer eines    sehr   schwachen  Stromes    von    dem   kathodischen  Muskel- 


238  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

ende  aus  ein  Zustand  gesteigerter  Erregbarkeit  sich  über  einen  gewissen, 
nach  Umständen  grösseren  oder  kleineren  Theil  der  intrapohiren 
Strecke  verbreitet.  Dem  scheint  auch  in  der  That  auf  den  ersten 
Blick  die  Beobachtung  zu  entsprechen ,  dass ,  wenn  beide  Reizelek- 
troden an  das  untere  Muskelende  so  angelegt  werden,  dass  die  eine 
(Kathode)  etwa  2 — 3  mm  von  dem  Sehnenende  entfernt  ist,  während 
die  andere  4  mm  höher  oben  sich  befindet,  die  Höhe  der  durch  einen 
absteigenden  Schliessungsinductionsstrom  ausgelösten  Minimalzuckung 
während  der  Polarisation  mit  einem  ganz  schwachen  absteigenden 
Kettenstrom  grösser  ist  als  vorher.  Indessen  zeigt  eine  nähere  Ueber- 
legung,  dass  eine  derartige  Schlussfolgerung  dennoch  nicht  gerecht- 
fertigt sein  würde,  indem  das  genannte  Versuchsresultat  nur  durch 
den  Bau  des  Muskels  bedingt  wird.  Da  nämlich  die  Fasern  des- 
selben nicht  alle  von  gleicher  Länge  sind  und  sich  am  unteren  Ende 
in  einer  schrägen  Fläche  inseriren,  so  erstreckt  sich  nothAvendig  die 
physiologische  Kathode  des  der  Länge  nach  in  absteigender  Richtung 
durchströmten  Muskels  über  einen  messbaren  und  zwar  ziemlich  be- 
trächtlichen Theil  der  unteren  Muskelhälfte.  So  lange  daher  bei  der 
oben  beschriebenen  Versuchsanordnung  noch  eine  genügende  Zahl  von 
Faserenden  in  das  Bereich  der  Kathode  des  Reizsti'omes  fallen ,  er- 
scheint eine  merklich  veränderte  Reizwirkung  während  der  Polarisation 
durchaus  verständlich,  die  sich  je  nach  Umständen  entweder  als  eine 
Erhöhung  oder  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  geltend  macht.  Das 
Letztere,  d.  h.  scheinbare  Ausbreitung  einer  Erregbarkeitsherabsetzung 
über  die  intrapolare  Muskelstrecke  lässt  sich  bei  derselben  Versuchs- 
anordnung beobachten,  wenn  entweder  bei  absteigender  Richtung 
des  polarisirenden  und  des  Reizstromes  die  Intensität  des  ersteren 
zunimmt  oder  wenn  bei  aufsteigender  Richtung  des  polarisirenden 
Stromes  die  in  geringer  Distanz  von  einander  befindlichen  Reizelek- 
troden dem  unteren  Muskelende  soweit  genähert  werden ,  dass  die 
Erregung  zum  Theil  noch  innerhalb  der  anodischen  Strecke  ausgelöst 
wird.  Werden  jedoch  die  Reizelektroden  nach  und  nach  entlang  dem 
Muskel  bis  an  dessen  oberes  Ende  verschoben,  so  lässt  sich  leicht 
constatiren,  dass  bei  der  angewendeten  Stärke  des  polari- 
sirenden Kettenstromes  an  keiner  anderen  Stelle  der 
intrapolaren  Strecke  ein  merklicher  Unterschied  der 
Z  u  c  k  u  n  g  s  h  ö  h  e  vor  und  während  der  D  u  r  c  h  s  t  r  ö  m  u  n  g 
nachweisbar  ist.  Es  ist  also  lediglich  die  durch  den  nicht  ganz 
regelmässigen  Bau  des  Sartori us  bedingte  räumliche  Vertheilung  der 
Aus-  beziehungsweise  Eintrittsstellen  des  Stromes  am  unteren  Ende 
des  Muskels,  welche  unter  Umständen  eine  weitere  Ausbreitung  der, 
wie  noch  zu  zeigen  sein  wird,  auf  die  physiologische  Kathode  und 
Anode  beschränkten  Erregbarkeitsänderungen  vortäuscht.  Befindet 
sich  die  negative  Reizelektrode  ausserhalb  des  Be- 
reiches der  physiologischen  Kathode  beziehungsweise 
Anode  eines  parallel  faserigen,  längsdurchströmten  Mus- 
kels, so  lassen  sich  bei  Anwendung  nicht  zu  starker,  po- 
larisirender  Kettenströme  keinerlei  Erregbarkeits Ver- 
änderungen der  intrapolaren  Strecke  weder  im  nega- 
tiven noch  im  positiven  Sinne  nachweisen.  Ebensowenig 
ist  dies  natürlich  nach  Oeffnung  des  polarisirenden  Stromes  der  Fall. 
Es  scheint  hiernach,  dass  der  elektrische  Strom  den  Muskel 
in  d  e  r  T  ha  t  durchsetzen  kann,  ohne  (mit  a  1 1  e  i  n  i  g  e  r  A  u  s  - 


Elektrische  Reizuns:  der  Muskeln. 


239 


nähme  der  polaren  Stellen)  eine  ri  a  c  h  w  e  i  s  b  a  r  e  V  e  r  ä  n  d  e  - 
rung  der  Substanz  direct  hervorzubringen.  Ganz  anders 
verhält  es  sich  nun  aber,  wie  schon  angedeutet  wurde,  an  der  phy- 
siologischen Kathode  und  Anode  selbst.  Hier  lassen  sich  stets  mit 
Leichtigkeit  sehr  ausgeprägte  Erregbarkeitsveränderungen  im  positiven 
oder  negativen  Sinne  nachweisen ,  die  entweder  im  Gefolge  einer  be- 
stehenden Dauererregung,  beziehungsweise  als  Nach^virkung  einer 
solchen  auftreten,  oder  aber  durch  polare  Heramungsvorgänge  bedingt 
sind.  Auf  diesen  Umstand  sind  daher  auch  die  Angaben  v.  Bezold's 
über  Erregbarkeitsveränderungen  der  durchflossenen  Muskelstrecke 
zurückzuführen,  da  die  von  ihm  angewendete  Methode  lediglich  die 
Erregbarkeit  der  kathodischen    und  anodischen  Faserstellen  zu  prüfen 


Fig.  95. 


gestattete.  Von  der  Voraussetzung  ausgehend,  dass  ein  inducirter 
nicht  wie  ein  Kettenstrom  nur  polar  erregend  wirkt,  sondern  alle 
Punkte  der  durchflossenen  Strecke  gleichzeitig  und  gleich  stark  erregt, 
versuchte  v.  Bezold  die  sogenannte  „Totalerregbarkeit"  der 
von  dem  polarisirenden  Kettenstrom  durchflossenen  Muskelstrecke  zu 
prüfen,  indem  er  sich  als  Prüfungsreiz  eines  Schliessungsinductions- 
stromes  bediente,  welcher  dem  IMuskel  durch  dieselben  Elektroden  zu- 
geleitet wurde,  die  auch  den  polarisirenden  Strom  zuführten.  Die  Ver- 
suchsanordnung V.  Bezold's  wird  durch  beistehende  Zeichnung  ver- 
sinnlicht  (Fig.  95).  In  dem  Kreis  des  Kettenstromes,  dessen  Intensität 
durch  ein  Rheochord  abgestuft  werden  kann ,  betindet  sich  auch  zu- 
gleich die  secundäre  Spirale  eines  Inductionsapparates  (^S'^)  eingeschaltet. 
Ist  der  Kettenstrom  bei  (a)  geöffnet,  so  durchsetzt  im  Momente  der 
Schliessung  oder  Oeff'nung  des  Kreises  der  primären  Spirale  ein  Induc- 
tionsstrom    den  Muskel    in    der    einen    oder  andern  Richtung    und  löst 


240  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

eine  Zuckung  aus.  Wird  nun  der  Kettenkreis  bei  (a)  geschlossen,  so 
durchfliesst  ein  Stromzweig  von  beliebiger,  durch  ckas  ßheochord  ab- 
zustufender Intensität  dauernd  den  Muskel.  Oeffnet  oder  schliesst 
man  jetzt  wieder  den  Kreis  der  primären  Spirale,  so  durchsetzt 
abermals  ein  inducirter  Strom  von  gleicher  Stärke  wie  vorher  in  be- 
stimmter Richtung  den  nunmehr  polarisirten  Muskel,  und  die  Ver- 
hältnisse sind  offenbar  nur  insoweit  andere,  als  der  Reizstrom  jetzt 
nicht  wie  früher  von  der  Dichtigkeit  Null  ausgeht  und  wieder  zu 
ihr  zurückkehrt,  sondern  von  einer  je  nach  der  Stärke  des  polari- 
sirenden  Stromes  verschiedenen  Dichtigkeit.  Die  zweite  Zuckung 
wurde  nun  wie  die  erste  graphisch  verzeichnet,  und  beide  lieferten  so 
ein  vergleichbares  Bild  von  dem  zeitlichen  Verlauf  und  der  Stärke 
der  Zuckung  des  durchströmten  (polarisirten)  und  nicht  durchströmten 
Muskels.  Wäre  nun  die  Voraussetzung  v.  Bezold's,  dass  der  In- 
ductionsstrom  alle  Punkte  der  durchflossenen  Strecke  gleichzeitig  und 
gleich  stark  erregt,  richtig,  so  würde  man  durch  die  Vei'gleichung  der 
Zuckungshöhen  in  beiden  erwähnten  Fällen  zwar  nicht  die  Erregbar- 
keitsveränderungen bestimmter  Stellen  der  intrapolaren  Strecke  er- 
kennen, da  sich  ja  die  verschiedenen  Elemente  derselben  natürlich 
sämmtlich  daran  betheiligen  würden,  und  zwar  jedes  nach  Maassgabe 
des  ihm  zukommenden  Zustandes;  wohl  aber  Avürde  man  sozusagen 
die  resultirende  Erregbarkeit  oder,  wie  sich  v.  Bezold  ausdrückte, 
die  „T  0 1  a  1  e  r  r  e  g  b  a  r  k  e  i  t"  der  durchflossenen  Muskelstrecke  kennen 
lernen.  Da  jedoch  seither  der  Beweis  geliefert  wurde,  dass  auch 
inducirte  wie  Kettenströme  nur  polare  Wirkungen  entfalten,  so  kann 
natürlich  durch  das  beschriebene  Versuchsverfahren 
nichts  weiter  ermittelt  werden,  als  Erregbarkeitsver- 
änderungen a  n  d  e  r  p  h  y  s  i  0 1 0  g  i  s  c  h  e  n  Kathode  o  d  e  r  A  n  o  d  e. 
Es  ist  daher  klar,  dass  die  v.  Bezold'sche  Methode  nur  über  die 
E  r  r  e  g  b  a  r  k  e  i  t  s  V  e  r  ä  n  d  e  r  u  n  g  e  n  der  F  a  s  e  r  e  n  d  e  n  eines 
längs  durchströmten  Muskels  Aufschluss  zu  geben  ver- 
mag und  über  dieErregbarkeitderintrapolaren  Strecke 
gar  nichts  aussagt.  Nebst  diesem  principiellen  Fehler  leiden  die 
V.  Bezold 'sehen  Versuche  auch  noch  an  dem  Mangel,  dass  der  Strom 
durch  metallische  Elektroden  zugeführt  wurde,  wobei  natürlich  der 
Einfluss  der  Polarisation  das  Resultat  sehr  complicirt. 

Um  nun  mit  möglichster  Vermeidung  aller  Fehlerquellen  die 
polare  Erregbarkeit  eines  von  einem  Kettenstrom  durchflossenen, 
durch  Curare  entnervten,  parallelfaserigen  Muskel  mittels  der  be- 
schriebenen Methode  untersuchen  zu  können,  und  zwar  zunächst 
während  der  Durch  Strömungsdauer,  wird  der  gänzlich  un- 
versehrte, beiderseits  mit  Knochenstümpfen  in  Verbindung  stehende 
Sartorius  im  Doppelmyographen  mit  unpolarisirbaren  Elektroden  be- 
festigt, deren  eine  dauernd  fixirt  wird,  während  die  andere,  beweg- 
lich, mit  einem  Schreibhebel  verbunden  ist.  Die  Anordnung  ist 
zunächst  eine  solche,  dass  der  polarisirende  Kettenstrom  und  der 
Schliessungsinductionsstrom  in  gleicher  Richtung  aufsteigend  oder 
absteigend  den  Muskel  durchsetzen. 

Der  Uebersichtlichkeit  halber  und  zum  besseren  Vergleich  mit 
V.  Bezold 's  Resultaten  mögen  zwei  Versuchsreihen  aus  vielen  hier 
Platz  finden ,  bei  denen  im  Allgemeinen  derselbe  Gang  befolgt  er- 
scheint, wie  in  v.  Bezold's  analogen  Versuchen. 


Elektrische  Reizung  dei'  Muskeln.  241 

I.  Zuckungshölle 

1.  Zuckung.     Muskel  unpolarisirt 4  mm 

^'  n  »  ))  .*       *       ' ■*       » 

3.  „  Unmittelbar  nach  Schliessung  eines  sehr  schwa- 

chen absteigenden  *)  Stromes  (2  Dan.  RW 

=  1) \ 29     „ 

4.  „  Sofort  nach  Oeffnung  dieses  Stromes    ...       4     „ 

5.  „  Muskel  unpolarisirt 4     „ 

6.  „  Unmittelbar  nach  Schliessung  eines  stärkeren 

absteigenden  Stromes  (RW  =  4)    ...     32     „ 

7.  „  Nach  Oeffnung  dieses  Stromes 3     „ 

8.  „  Der    polarisirende    Strom    abermals   verstärkt 

(RW  =  8);    sofort    nach  der  Schliessung 
desselben 26     „ 

9.  „  3  Sekunden  später 0     „ 

10.  „  Unmittelbar  nach  der  Oeffnung ^     n 

11.  „  1  Minute  später Spur. 

II. 

1.  Zuckung.     Muskel  unpolarisirt 6  mm 

2.  „  ,,  „  ;     •     ■     ; "     )i 

3.  „  Unmittelbar  nach  Schliessung  eines  schwachen 

absteigenden  Stromes  (2  Dan.    RW  =  5)  26  „ 

4.  „             Nach  5  Sekunden 26  „ 

5.  „             Nach  weiteren  7  Sekunden 21  „ 

6.  „                 „            „         4          „          18  „ 

7.  „                „            „        4          „         16  „ 

8.  „                „            „         4         „         14  „  ■ 

9.  „                „            .,5          „         8  „ 

10.  „                „            „         5          „         5  „ 

11.  „                „            „        5         „         0  „ 

12.  „             Nach  Oeffnung  des  Stromes 0  „ 

13.  „                 ,,      40  Sekunden 0  „ 

14.  „                 „50          „              3  „ 

15.  „  „62         „ .5  „ 

16.  „  Unmittelbar  nach  Schliessung  desselben  polari- 

sirenden  Stromes 25  „ 

17.  „             5  Sekunden  später 21  „ 

18.  „            5         „              „           17  „ 

19.  „            5         „              „ .  12  „ 

20.  „             5          „              „           4  „ 

21.  „            5          „              „ .  0  „ 

Aus  den  vorstehenden  Versuchsreihen  ist  nun  ohne  Weiteres  er- 
sichtlich, dass,  wie  v.  Bezold  gefunden  hat,  sehr  schwache  Ketten- 
ströme in  der  That  die  Reizwirkung  einzelner,  die  ganze  intrapolare 
Strecke  durchsetzender  Inductionsströme  wesentlich  erhöhen,  wenn 
sie  mit  diesen  gleiche  Richtung  haben.  Die  angeführten  Zahlenwerthe 
zeigen  übrigens,  dass  die  Zunahme  der  Zuckungshöhen  eine  viel 
bedeutendere  ist,  als  es  v.  Bezold  in  seinen  Versuchen  jemals  beob- 


*)  Absteigende  und  aufsteigende  Ströme  wirken  wegen  der  assymetrischen  Form 
des  Sartorius  verschieden. 

Biedermann,  Klektrophysiologie.  16 


242  Elektrische  Reizung  dei'  Muskeln. 


sein  dürfte,  dass  durch  die  Anwendung  unpolarisirbarer  Elektroden 
der  sonst  nicht  zu  vermeidenden ,  raschen  Inteusitätsabnahme  des  an 
sich  schwachen  polarisirenden  Stromes  vorgebeugt  war. 

Eine  wesentliche  Differenz  zwischen  diesen  Versuchsresultaten 
und  denen  v.  Bezold's  ergiebt  sich  jedoch,  wenn  man  den  Ein- 
fluss  der  Durchströmungsdauer  auf  den  Erfolg  des  Prüfungs- 
reizes in  Betracht  zieht.  Während  nämlich  v.  B  e  z  o  1  d  bei  Anwendung 
eines  polarisirenden  Stromes  die  Höhe  der  durch  einen  Inductionsschlag 
ausgelösten  Zuckung  mit  der  Länge  der  Schliessungsdauer  des  ersteren 
(ungeachtet  des  eben  erwähnten  Uebelstandes  der  fortschreitenden 
Polarisation  der  metallischen  Elektroden)  merklich  zunehmen  sah,  war 
dies  bei  meinen  Versuchen  niemals  der  Fall.  Es  zeigte  sich  vielmehr, 
dass,  wenn  der  Kettenstrom  zunächst  nur  sehr  geringe  Intensität 
besass,  so  dass  keine  wahrnehmbare  Spur  sichtbarer  Erregungs- 
erscheinungen den  Moment  seines  Einbrechens  in  den  Muskel  ver- 
rieth,  die  Höhe  der  durch  einen  gleichgerichteten  Inductionsstrom  aus- 
gelösten, verstärkten  Zuckungen  sich  nicht  merklich  ändert,  wenn  der 
polarisirende  Strom  nicht  sehr  lange  geschlossen  bleibt.  Dagegen  be- 
obachtete ich  im  letzteren  Falle  unter  sonst  gleichen  Umständen  stets 
eine  mehr  oder  weniger  ausgesprochene  Abnahme  der  Zuckungs- 
höhe. Uebrigens  hängt  es  in  unverkennbarer  Weise  von  dem  je- 
weiligen Erregbarkeitszustande  des  Präparates  vor  Beginn  der  Polari- 
sation alj,  innerhalb  welcher  Zeit  nach  Schliessung  eines  Ketten- 
stromes von  sehr  geringer  Intensität  sich  der  erregbarkeits  m  i  n  d  e  r  n  d  e 
Einfluss  desselben  geltend  macht.  Im  Allgemeinen  kann  man  sagen, 
dass  dem  Stadium  erhöhter  A  n  s  p  r  u  c  h  s  f  ä  h  i  g  k  e  i  t  der 
k  a  t  h  0  d  i  s  c  h  e  n  F  a  s  e  r  s  t  e  1 1  e  n  eines  s  c  h  av  a  c  h  p  o  1  a  r  i  s  i  r  t  e  n 
Muskels  um  so  rascher  eine  Herabsetzung  derselben 
folgt,  je  mehr  durch  irgendAV eiche  Einflüsse  die  Erreg- 
barkeit des  Muskels  von  A^ornherein,  sei  es  local  oder 
allgemein,  gesunken  AAar. 

Man  bemerkt  dies  ebensoAvohl  an  Präparaten ,  AA-elche  Avenig 
lebenskräftigen  Fröschen  entnommen  Avurden,  wie  auch  an  solchen, 
deren  Erregbarkeit  nur  örtlich  (an  der  Kathode)  durch  eine  etwa 
A^orhergegangene  Durchströmung  herabgesetzt  ist.  Der  letztere  Ein- 
fluss lässt  sich  auch  an  der  unter  IL  mitgetheilten  Versuchsreihe  er- 
kennen. Innerhalb  34  Sekunden  nach  Schliessung  des  schAvachen, 
polarisirenden  Stromes  wurde  der  Anfangs  ausserordentlich  gesteigerte 
Erfolg  des  als  Prüfungsreiz  dienenden,  gleichgerichteten  Schliessungs- 
inductionsstromes  gleich  Null.  Sobald  sich  nun  nach  Oeffnung  des 
Kettenstromes  der  Muskel  AAÜeder  soAA^eit  erholt  hatte,  dass  der  gleiche 
Prüfungsreiz,  Avie  vor  der  ersten  Durchströmung,  deutliche  Zuckungen 
auslöste,  wurde  der  polarisirende  Strom  abermals  geschlossen.  Un- 
mittelbar nachher  erreichte  die  Höhe  der  ausgelösten  Zuckung  nahezu 
denselben  Werth,  wie  in  der  ersten  Reihe ^  dagegen  nahm  jetzt  die 
Ansprachsfähigkeit  der  kathodischen  Faserstellen  ungleich  rascher  ab 
als  A'orher,  indem  schon  die  Durchströmungsdauer  von  20  Sekunden 
genügte,  um  den  Erfolg  des  gleichen  Prüfungsreizes  aufzuheben. 

Je  grösser  die  Intensität  des  den  Muskel  durch- 
fliessenden  Kettenstromes  ist,  um  so  rascher  folgt  dem 
Stadium  erhöhter  Reizwirkung    eines  gleichgerichteten 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  243 

Inductionsstromes  die  Herabsetzung  und  schliessliche 
Aufhebung  derselben. 

Wenn  man  mit  den  allerschwächsten ,  polarisirenden  Strömen  be- 
ginnt und  deren  Intensität  durch  Verschiebung  des  Reochordschlittens 
nach  und  nach  steigert,  während  man  dem  Muskel  zwischen  je  zwei 
Versuchen  immer  hinreichend  Zeit  zur  Erholung  lässt,  kann  man  sich 
leicht  von  der  Richtigkeit  des  eben  ausgesprochenen  Satzes  über- 
zeugen. Bei  einem  gewissen,  nach  dem  jeweiligen  Erregbarkeits- 
zustande des  Präparates  wechselnden  Intensitätsgrad  des  Stromes  tritt 
die  erhöhte  Anspruchsfähigkeit  an  der  Kathode  nur  in  den  der 
Schliessung  unmittelbar  folgenden  Zeitmomenten  deutlich  hervor  und 
lässt  sich  bei  weiterer  Steigerung  der  Stromesintensität  gar  nicht  mehr 
nachweisen.  Es  ist  dies  jedoch  nicht,  wie  man  vielleicht  im  Hinblick 
auf  die  oben  erwähnten  Beobachtungen  von  E  n  g  e  1  m  a  n  n  am  Kanin- 
chenureter  glauben  könnte,  erst  dann  der  Fall,  wenn  durch  den  Ketten- 
strom bereits  eine  deutliche  Schliessungsdauercontraction  an  der  Kathode 
bewirkt  wird;  vielmehr  entgeht,  der  äusserst  kurzen  Dauer  wegen, 
das  Stadium  erhöhter  Anspruchsfähigkeit  in  den  meisten  Fällen  bereits 
der  Beobachtung,  wenn  die  Intensität  des  polarisirenden  Stromes  nicht 
einmal  ausreicht,  eine  maximale  Schliessungszuckung  des  Muskels  aus- 
zulösen. Es  muss  daher  als  Regel  gelten,  sich  nur  der  allerschwäch- 
sten Kettenströme  zu  bedienen,  wenn  es  darauf  ankommt,  die  in  einem 
gewissen  Stadium  der  Polarisation  hochgradig  gesteigerte  Anspruchs- 
fähigkeit kathodischer  Faserstellen  nachzuweisen ,  da  sie  andernfalls 
leicht  ganz  übersehen  werden  könnte.  In  Uebereinstimmung  mit 
älteren  Befunden  von  P  f  1  ü  g  e  r  und  Nasse  fand  auch  H  e  r  m  a  n  n  (42), 
dass  „sowohl  am  Nerven  als  am  Muskel  die  Wirkung  eines  gegebenen 
Inductionsstromes  durch  gleichgerichtete  Bestandströme  erhöht,  durch 
entgegengesetzte  herabgesetzt  wird  (bis  zur  Annullirung)".  Bei  den 
schwächsten  Bestandströmen  beginnend,  macht  die  Steigerung  des 
Reizerfolges  gleichsinniger  Stromesschwankungen  einer  Herabsetzung 
Platz,  wenn  die  Stärke  des  Bestandstromes  eine  gewisse  Grenze  über- 
schreitet; Hermann  erhielt  dasselbe  Resultat  in  noch  einwandfreierer 
W^eise,  wenn  auch  zur  Reizung  Kettenströme  verwendet  wurden. 

In  den  beiden  oben  mitgetheilten  .Versuchsreihen  (I  und  II)  waren 
die  durch  den  Prüfungsreiz  unmittelbar  nach  Schliessung  des  Ketten- 
stromes ausgelösten  Zuckungen  nahezu  maximale.  Es  lässt  sich  jedoch 
von  vornherein  mit  Wahrscheinlichkeit  annehmen,  und  der  Versuch 
bestätigt  die  Voraussetzung,  dass  die  Anspruchsfähigkei t  der 
kathodischen  Faserstellen  eines  durchströmten  Mus- 
kels bis  zu  einer  gewissen  Grenze  mit  der  Intensität 
des  polarisirenden  Stromes  zunimmt.  Diese  Grenze  liegt 
jedoch  ausserordentlich  niedrig;  sie  wurde  in  meinen  Versuchen  bei 
Anwendung  von  zwei  Danieirschen  Elementen  als  Stromquelle  in  der 
Regel  schon  bei  1—2  cm  Draht  Nebenschliessung  erreicht.  Jenseits 
derselben  nimmt,  wie  schon  erwähnt,  die  Erregbarkeit  mit  der  Dauer 
des  Geschlossenseins  um  so  rascher  ab,  je  stärker  der  polarisirende 
Strom  ist. 

Gerade  in  dem  Falle,  avo  die  Intensität  des  letzteren  so  gering 
ist,  dass  jede  Steigerung  derselben  eine  entsprechende  Verstärkung 
der  Reizwirkung  eines  gleichgerichteten  Inductionsstromes  zur  Folge 
hat,  hätte  sich  die  von  v.  Bezold  beobachtete  Zunahme  der  Zuckungs- 

16* 


244  Elekti-isclie  Reizung  der  Muskeln. 

höhe  mit  wachsender  Sehliessungsdauer  des  Kettenstromes  zeigen 
müssen,  was  jedoch  niemals  zu  beobachten  war. 

Welche  Schlussfolgerungen  dürfen  Avir  nun  aus  diesen  Versuchen 
ziehen?  Da  es  bekannt  ist,  dass  der  als  Prüfungsreiz  benutzte  In- 
ductionsstrom  im  Allgemeinen  nur  an  der  Kathode  sichtbar  erregend 
wirkt,  also  an  Faserstellen,  welche  während  der  Schliessungsdauer  des 
polarisirenden  Stromes  sich  bereits  im  Zustande  dauernder  Erregung 
befinden,  so  können  die  beobachteten,  mit  der  Stärke  und  Dauer  der 
Durchströmung  wechselnden  Zustände  der  Erregbarkeit  an  der  Kathode 
nur  als  Folgen  der  örtlichen  Dauererregung  daselbst  betrachtet  werden, 
und  es  fragt  sich  nur,  wie  es  dann  bald  zu  einer  Erregbarkeitserhöhung, 
bald  zu  einer  Herabsetzung  derselben  kommt. 

Es  darf  als  sicher  gelten,  dass  der  einen  Muskel  durchfliessende 
elektrische  Strom  nicht  nur  im  Augenblick  der  Schliessung,  sondern 
während  der  ganzen  Dauer  des  Geschlossenseins  als  Er- 
regungsursache wirkt.  Es  ist  ferner  experimentell  festgestellt,  dass 
die  dem  Erregungsvorgang  zu  Grunde  liegenden  Veränderungen  der 
contractilen  Substanz  auf  jene  Faserstellen  beschränkt  sind,  durch 
welche  der  Strom  austritt.  Jeder  Reizversuch  zeigt  aber  auch  sofort, 
dass  das  Zustandekommen  einer  Schliessungszuckung,  d.  i.  die 
Auslösung  einer  Erregungs-  beziehungsweise  Contractions  welle  am 
Orte  der  Reizung,  in  der  Regel  an  die  Bedingung  geknüpft  ist,  dass 
die  Stromesschwankung  von  Null  oder  einem  endlichen  Werthe  aus  mit 
einer  gewissen  Raschheit  erfolgt-,  dem  wäre  noch  hinzuzufügen,  dass 
auch  die  absolute  Intensität  des  Reizstromes  einen  gewissen  Grenz- 
werth  übersteigen  muss,  wenn  sichtbare  Erregungserscheinungen  aus- 
gelöst werden  sollen.  Gesetzt  nun,  es  werde  ein  Muskel  dauernd 
von  einem  Kettenstrom  durchflössen,  dessen  Intensität  so  gering  ist, 
dass  keine  Spur  sichtbarer  Erregungserscheinungen  dessen  Vorhanden- 
sein verräth,  so  werden  wir  nichtsdestoweniger  anzunehmen  berechtigt 
sein,  dass  ein  so  zu  sagen  „latenter  Erregungszustand"  aller  jener 
Faserstellen,  deren  Gesammtheit  die  „physiologische  Kathode"  reprä- 
sentirt,  während  der  Dauer  der  Durchströmung  vorhanden  ist;  denn 
jener  veränderte  Zustand  der  contractilen  Muskelsubstanz,  dessen 
rasches  Entstehen  an  der  Austrittsstelle  des  Stromes  eine  Contractions- 
welle  auslöst,  wenn  die  Stromesintensität  einen  gewissen  unteren  Grenz- 
werth  überschreitet,  und  dessen  Fortbestehen  während  der  Schlussdauer 
stärkerer  Ströme  die  Schliessungsdauercontraction  beweist,  muss  offenbar 
auch  nach  Schliessung  der  schwächsten  Sti'öme,  wenn  auch  nur  in 
geringem  Grade  vorhanden  sein.  Dann  wird  es  aber  auch  nur  eines 
geringen,  je  nach  Umständen  grösseren  oder  kleineren  plötzlichen 
Zuwachses  zu  dem  dauernd  vorhandenen,  an  sich  unzureichenden 
Reize  bedürfen,  um  an  der  Kathode  eine  Erregungswelle  auszulösen. 
Es  wird,  mit  anderen  Worten,  eine  rasche,  positive 
Schwankung  eines  den  Muskel  durch  fliessenden,  sehr 
schwachen  Stromes  als  auslösender  Reiz  wirken  können, 
auch  wenn  die  gleiche  Schwankung,  von  demAbscissen- 
wertheNull  ausgehend,  keine  oder  nur  eine  minimale 
Erregung  des  Muskels  bewirkte.  Der  unter  Umständen  zu 
beobachtende  verstärkte  Reizerfolg  eines  Inductionsstromes,  dessen 
Richtung  mit  der  des  polarisirenden  Kettenstromes  übereinstimmt, 
lässt  sich  daher  durch  Summation  zweier  an  sich  unzureichender 
Reize    erklären,    und    es    erscheint   die    erhöhte  Anspruchsfähigkeit   an 


Elektrische  Reizung  dei*  Muskeln.  245 

der  Kathode  nicht  sowohl  als  eine  besondere,  den  Erregungsvorgang 
einleitende  Strom  Wirkung,  sondern  sie  ist  durch  diesen  selbst  bedingt. 
Mit  dieser  Auffassung  steht  das  entgegengesetzte  Verhalten  eines 
Muskels  während  und  unmittelbar  nach  einer  länger  anhaltenden, 
schwachen  Polarisation  oder  bei  Anwendung  stärkerer  Ströme  in 
völliger  Uebereinstimmung. 

Die  im  letzteren  Falle  zu  beobachtenden  Nachwirkungen 
wurden  bereits  oben  auf  eine  locale,  durch  den  Strom  bedingte 
„Ermüdung"  der  kathodischen  Faserstellen  bezogen  (25).  Aus  den 
hier  mitgetheilten  Thatsachen  geht  hervor,  dass  fast  unmittelbar  nach 
Schliessung  eines  mittelstarken  Stromes  eine  während  der  Dauer  der 
Durchströmung  zunehmende  Verminderung,  beziehungsweise  völlige 
Aufhebung  der  Anspruchsfähigkeit  für  Inductionsströme  an  der  Kathode 
vorhanden  ist.  Die  directe  Abhängigkeit,  in  welcher  bei  geringerer 
Intensität  des  polarisirenden  Stromes  die  Herabsetzung  der  Erregbar- 
keit während  der  Durchströmung  von  der  Dauer  dieser  letzteren  steht, 
macht  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  in  diesem  Falle  der  Erregungs- 
vorgang selbst,  oder  richtiger  die  durch  denselben  bedingte  Er- 
müdung am  Orte  der  directen  Reizung,  als  Ursache  der  verminderten 
Anspruchsfähigkeit  der  kathodischen  Faserstellen  anzusehen  ist. 

Der  während  längerer  Zeit  anhaltende  schwache  Erregungszustand 
an  der  Kathode  hat  hier  allmähli  ch  Veränderungen  der  contractilen 
Muskelsubstanz  bewirkt,  welche  sich  nicht  nur  während  der  Schliessungs- 
dauer des  Stromes,  sondern  in  der  Regel  auch  nach  der  Oeffnung 
desselben  noch  einige  Zeit  durch  eine  verminderte  Erregbarkeit  ver- 
rathen  und  daher  in  herkömmlicher  Weise  als  Ermüdungserscheinung 
erklärt  werden  dürfen.  Es  fragt  sich  jedoch:  wie  haben  wir  die  Herab- 
setzung der  Anspruchsfähigkeit  an  der  Kathode  unmittelbar  nach 
Schliessung  stärkerer  Ströme  aufzufassen  und  zu  erklären ?  Hier 
kann  von  einer  „Ermüdung"  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes 
schon  darum  eigentlich  nicht  die  Rede  sein,  weil  sich  eine  den  Reiz 
länger  überdauernde,  beträchtliche  Nachwirkung  in  der  Regel 
nicht  nachweisen  lässt,  sofern  die  Schliessungsdauer  des  Stromes  nur 
kurz  war.  Allerdings  fehlt  sie  auch  dann  nicht  ganz,  wie  schon  aus 
dem  Umstände  hervorgeht,  dass  in  einer  Zuckungsreihe,  welche  durch 
in  kurzen  Pausen  auf  einander  folgende  Schliessungen  eines  Ketten- 
stromes bei  unveränderter  Richtung  desselben  erhalten  wurde,  die 
Höhe  jeder  Zuckung  merklich  hinter  der  der  nächst  vorhergehenden 
zurückbleibt;  allein  diese  geringfügige  Nachwirkung  nach  einmaliger 
kurzer  Schliessung  würde  nicht  hinreichen,  um  die  sofortige,  sehr  be- 
trächtliche Herabsetzung  der  Anspruchsfähigkeit  während  der 
Schliessungsdauer  desselben  Stromes  zu  erklären.  Ist  doch  ein 
Inductionsstrom,  welcher  maximale  Zuckungen  des  nicht  durchströmten 
Muskels  auslöste,  während  der  Schliessungsdauer  eines  gleichgerichteten 
Kettenstromes  von  mittlerer  Intensität  vollkommen  unwirksam,  während 
er  sofort  nach  Oeffnung  des  letzteren  seine  volle  frühere  Wirksam- 
keit entfaltet. 

Allein  es  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  auch  dem  ausgeschnittenen 
Muskel  in  hohem  Grade  die  Fähigkeit  der  Restitution  zukommt,  ver- 
möge deren  er  die  durch  den  Erregungsvorgang  bewirkten  Substanz- 
veränderungen um  so  rascher  und  vollkommener  wieder  auszugleichen 
vermag,  je  kürzere  Zeit  der  Reiz  einwirkte  und  je  lebenskräftiger 
andererseits   das    Präparat   ist.     Aus    Engelmann 's   Versuchen   am 


246  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

Ureter  geht  hervor,  dass  nach  jeder  Contraction,  also  schon  nach  einer 
relativ  sehr  kurzen  Dauer  der  Erregung,  nicht  nur  die  Erregbarkeit, 
sondern  auch  das  Leitungsvermögen  geschädigt  erscheinen  und  sich  erst 
während  der  folgenden  Ruhepause,  und  zwar  um  so  rascher  wieder 
herstellen,  je  grösser  die  Erregbarkeit  an  dem  betreffenden  Präparate 
von  vornherein  war.  Auch  darf  an  die  „refractäre"  Periode  des  sich 
contrahirenden  Herzmuskels  erinnert  werden.  Es  ist  aber  klar,  dass, 
wenn  in  demselben  Maasse  als  die  Erregbarkeit  des  quergestreiften 
Muskels,  die  der  glatten  Muskelfasern  übertrifft,  auch  die  Restitutions- 
fähigkeit des  ersteren  grösser  ist,  eine  durch  den  Erregungsvorgang 
bedingte  Herabsetzung  der  Anspruchsfähigkeit  an  der  Kathode  un- 
mittelbar nach  Schliessung  eines  stärkeren  Stromes  einen  hohen  Grad 
erreicht  haben  kann,  ohne  dass  sich  eine  merkliche  Nachwirkung  bei 
der  Oeffnung  geltend  zu  machen  brauchte,  vorausgesetzt,  dass  die 
Schliessungsdauer  nur  wenige  Sekunden  betrug.  Immerhin  wird  aber 
ein  etwaiger  Einfluss  der  absoluten  Stromdichte  der  Art,  dass  bei  einem 
schon  bestehenden  Strom  von  gewisser  Stärke  eine  superponirte  posi- 
tive Schwankung  auch  unabhängig  von  den  durch  ersteren  bewirkten  Er- 
müdungserscheinungen in  geringerem  Grade  erregend  wirkt  als  vorher, 
nicht  ganz  auszuschliessen  sein.  Es  steht  daher,  wie  ich  glaube,  nichts 
im  Wege ,  anzunehmen ,  dass  nicht  nur  die  während  und  nach 
einer  andauernden  Polarisation  auftretende  Erregbar- 
keitsherabsetzung, sondern  auch  die  unmittelbar  nach 
Schliessung  eines  stärkeren  Stromes  vorhandene  Herab- 
setzung der  Anspruchs fähigkeit  der  kathodischen  Faser- 
stellen eines  Muskels  im  Wesentlichen  auf  ei nemlocalen 
„Ermüdungszustande"  beruhen,  wobei  unter  „Ermüdung"  die 
Gesammtheit  aller  am  Orte  der  Reizung  durch  den  Erregungsprocess 
bewirkten  Veränderungen  der  contractilen  Muskelsubstanz  verstanden 
wird,  welche  während  ihres  Bestehens  das  Zustandekommen  einer 
abermaligen  Erregung  hindern  oder  doch  erschweren. 

Wir  können  demnach  als  Resultat  aller  vorstehenden  Erörterungen 
den  Satz  aufstellen,  dass  die  im  positiven  oder  negativen 
Sinne  veränderte  Anspruchs  fähigkeit  an  der  Kathode 
eines  durchströmten  Muskels  im  Wesentlichen  beruht 
auf  dem  je  nach  der  Stärke  des  polarisirenden  Stromes 
wechselnden  Zustand  der  latenten  Dauer  er  regung  und 
deren  Folgen. 

Nicht  so  leicht  ist  es,  sich  über  das  Verhalten  der  Erregbarkeit 
an  der  „physiologischen  Anode"  eines  Muskels  während  der 
Dauer  der  Durchströmung  Aufschluss  zu  verschaffen.  Die  Versuche, 
durch  dem  polarisirenden  Strom  entgegengesetzt  gerichtete, 
die  ganze  intrapolare  Strecke  durchsetzende  Inductionsströme  der  Lö- 
sung dieser  Frage  näher  zu  treten,  sind  nicht  eindeutig  genug,  um 
unmittelbar  entscheidende  Folgerungen  zu  gestatten,  v.  Bezold, 
welcher  derartige  Versuche,  wenn  auch  von  einem  anderen  Gesichts- 
punkte aus,  anstellte,  giebt  (10)  an,  dass  „sowohl  der  aufsteigend  als 
absteigend  gerichtete  Kettenstrom,  den  Muskel  durchfliessend,  die  Er- 
regbarkeit des  letzteren  für  aufsteigende  Schliessungsinductionsströme, 
wenn  sie  eine  gewisse  Dichtigkeit  nicht  überschreiten,  anfänglich  er- 
höhen, bei  einer  gewissen  Dichtigkeit  aber  und  über  dieselbe  hinaus 
dagegen  herabsetzen".  Ausserdem  sollte  „der  Wendepunkt  der  Curve 
der    Erregbarkeitszunahme,    bezogen  auf  die   Dichtigkeit    des    Polari- 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  247 

sationsstroraes  als  Abscisse,  bei  dem  erregenden  Strom  entgegen- 
gesetzt gerichteten  Polarisationsströmen  früher  eintreten,  als  bei  gleich- 
gerichteten". 

Hat  der  inducirte  Heizstrom  gleiche  Richtung  mit  dem  Polari- 
sationsstrom, so  kommt  die  Erregung  des  Muskels  offenbar  nur  da- 
durch zu  Stande,  dass  der  stetig  fliessende  Strom  im  Augenblicke  der 
Schliessung  des  Kreises  der  primären  Spirale  eine  plötzliche,  äusserst 
rasch  vorübergehende,  positive  Schwankung  erleidet*)  (Fig.  96  a). 

Das  Umgekehrte  gilt  natürlich  in  dem  Falle,  wo  die  Richtung  des 
Reizstromes  der  des  polarisirenden  Kettenstromes  entgegengesetzt  ist 
(Fig.  96  0). 

Es  hängt  dann  in  erster 
Linie  von  der  Grösse  der 
Intensitätsschwankung  des 
ersteren  ab,  ob  eine  Zuckung 
des  Muskels  ausgelöst  wird 
oder  nicht.  Wenn  man  die 
Intensitätslinie  des  der  Vor- 
aussetzung zu  Folge  sehr  Fig.  96. 
schwachen ,  polarisirenden 
Stromes  durch  eine  über  der 

Abscisse  und  derselben  parallel  verlaufende  Gerade  darstellt,  so  ist 
ersichtlich,  dass,  während  bei  gleicher  Richtung  des  Reizstromes  und 
des  polarisirenden  Kettenstromes  ausschliesslich  der  ansteigende  Theil 
der  superponirten  Schwankungscurve  für  die  Erregung  des  Muskels 
in  Betracht  kommt,  dies  keineswegs  der  Fall  sein  wird  bei  entgegen- 
gesetzter Richtung  beider  interferirenden  Ströme.  Hier  kann  unter 
Umständen,  sowohl  der  absteigende,  wie  auch  der  aufsteigende  Theil 
der  Schwankungscurve  erregend  wirken  (vergl.  Grützner,  Pflüger's 
Arch.  28.  p.  146);  im  ersteren  Falle  würde  es  sich  um  eine  Oeflfnungs- 
erregung,  andernfalls  um  eine  Schliessungserregung  handeln.^  Bei 
geringer  Intensität  des  polarisirenden  Kettenstromes  kommt  jedoch 
die  erstere  Wirkung  gewiss  nicht  in  Betracht.  Aber  auch  die  andere 
wird  voraussichtlich  erfolglos  bleiben ,  wenn  der  Kettenstrom  so 
schwach  ist,  dass  dessen  Schliessung  an  sich  keine  deutliche  Zuckung 
bewirkte.  So  lange  dann  der  tiefste  Punkt  der  Schwankungscurve 
die  Abscisse  nicht  erreicht  oder  wenn  dies  nur  eben  der  Fall  ist, 
wird  auch  das  plötzliche  Wiederansteigen  des  für  einen  Moment  ge- 
schwächten oder  unterbrochenen  Kettenstromes  nicht  erregend  wirken. 
Erst  dann,  wenn  der  tiefste  Punkt  der  Schwankungscurve  unter  die 
Abscissenlinie  herabreicht,  d.  i.  wenn  die  Intensität  des  Reizstromes 
so  gross  ist,  dass  nicht  nur  der  polarisirende  Bestandstrom  durch  den- 
selben unterbrochen  wird,  sondern  dass  auch  noch  ein  gewisser  Antheil 
des  ersteren  in  einer  dem  Kettenstrom  entgegengesetzten  Richtung  den 
Muskel  durchsetzt,  wird  möglicherweise  eine  Zuckung  des  letzteren 
erfolgen,  wobei  noch  zu  berücksichtigen  ist,  dass  der  Erregungsvor- 
gang diesfalls  an  vorher  anodischen  Faserstellen  ausgelöst  wird.  Es 
handelt  sich  daher  dann  nicht  sowohl   um  eine  Reizung  der  Eintritts- 


*)  Da  wegen  der  äusserst  kurzen  Dauer  inducirter  Ströme  deren  Verschwinden 
in  der  Regel  nicht  zu  einer  Oeffnungerregung  Anlass  giebt,  so  kann  man  unbedenklich 
im  vorliegenden  Falle  die  Wirkung  eines  gleichgerichteten  Inductionsstroms  als  die 
einer  einmaligen,  rasch  verlaufenden  positiven  Schwankung  des  Kettenstromes  be- 
trachten. 


248  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

stellen  des  Kettenstromes  während  des  Bestehens  des  letzteren, 
sondern  in  einer  allerdings  unmessbar  kurzen  Zeit  nach  Oeffnung  des- 
selben. Das  unmittelbar  darauf  erfolgende  Ansteigen  des  polarisirenden 
Stromes  zu  seiner  ursprünglichen  Höhe  wird  der  Voraussetzung  zu 
Folge  nicht  erregen,  da  dessen  Intensität  zu  gering  ist.  Man  sieht 
leicht,  dass  die  Verhältnisse  bei  grösserer  Stärke  des  Kettenstromes 
noch  complicirter  werden,  indem  dann  sowohl  dessen  negative  Inten- 
sitätsschwankung, wie  auch  das  Wiederansteigen  nach  vorhergehender 
Schwächung  oder  Unterbrechung  erregend  zu  wirken  vermag. 

Es  geht  aus  dem  Gesagten  hervor,  dass  die  Möglichkeit,  mit 
Hülfe  eines  dem  polarisirenden  Strom  entgegengesetzt  gerichteten  In- 
ductionsstromes  eine  Erregbarkeitsveränderung  der  anodischen  Faser- 
stellen zu  erschliessen,  an  ganz  besondere  Bedingungen  geknüpft  ist. 

Vor  Allem  ei-scheint  hierzu  erforderlich,  dass  die  Intensität  des 
Reizstromes  jene  des  polarisirenden  in  beträchtlichem  Grade  überwiegt, 
denn  nur  dann  wird  man  mit  Wahrscheinlichkeit  voraussetzen  dürfen, 
dass  während  der  Schliessungsdauer  des  letzteren  der  zur  Erregung 
des  Muskels  übrigbleibende  Antheil  des  inducirten  Stromes  hinreichend 
gross  ist,  um  eine  Zuckung  auszulösen,  falls  die  Erregbarkeit  an  der 
Anode  normal  geblieben  wäre.  Würde  aber  in  einem  solchen  Falle 
die  Erregung  ausbleiben,  so  Aväre  man  wohl  berechtigt,  auf  eine  ver- 
minderte Anspruchsfähigkeit  der  anodischen  Faserstellen  zu  schliessen. 
Ob  nun  in  einem  gegebenen  Falle  dieser  theoretischen  Forderung  ge- 
nügend Rechnung  getragen  ist,  lässt  sich  um  so  schwieriger  be- 
urtheilen,  als  der  Reizstrom  von  dem  polarisirenden  Kettenstrom  sich 
ausser  durch  eine  verschiedene  Intensität  auch  noch  durch  die  Span- 
nung sehr  wesentlich  unterscheidet,  ein  Umstand,  der  ja  für  den  Erfolg 
der  Reizung  bekanntlich  von  grosser  Bedeutung  ist.  Nun  ist  aller- 
dings durch  Brücke's  Untersuchungen  festgestellt,  dass  es  wegen 
der  äusserst  kurzen  Dauer  inducirter  Ströme  einer  relativ  viel  grösseren 
Intensität  derselben  bedarf,  um  einen  durch  Curare  entnervten  Muskel 
in  gleichem  Grade  zu  erregen,  als  unter  denselben  Umständen  bei 
Anwendung  eines  Kettenstromes.  Da  sich  nun  durchwegs  heraus- 
stellte, dass  schon  ein  sehr  schwacher  Kettenstrom  (2  Dan.RW=  1 — 3  cm) 
den  Reizerfolg  eines  entgegengesetzt  gerichteten,  eine  maximale  Zuckung 
auslösenden  Inductionsstromes  aufzuheben  vermag,  so  dass  selbst  bei 
weiterer  Verstärkung  des  Reizstromes  während  der  Schliessungsdauer 
des  Kettenstromes  kein  Erfolg  beobachtet  wird,  so  dürfte  der  Schluss 
wohl  gerechtfertigt  sein,  dass  die  Anspruchsfähigkeit  der 
anodischenFaserstellen  während  derPolarisation  herab- 
gesetztist. 

Fassen  wir  nochmals  kurz  die  Resultate  der  vorstehenden  Er- 
örterungen zusammen,  so  lässt  sich  sagen:  Wird  ein  Muskel  dauernd 
von  einem  Kettenstrom  durchflössen,  so  findet  man  während  der 
Schliessungsdauer  die  Erregbarkeit  der  kathodischen  Faserstellen  ent- 
weder erhöht  oder  erniedrigt.  Das  Erstere  ist  der  Fall  bei  geringer 
Intensität  des  polarisirten  Stromes,  das  Letztere  bei  grösserer  Stärke 
oder  bei  längerer  Schliessungsdauer  schwacher  Ströme.  Soweit  sich 
dies  auf  Grund  elektrischer  Reizversuche  darthun  lässt,  ist  die  Erreg- 
barkeit anodischer  Faserstellen  während  der  Schliessungsdauer  des 
polarisirenden  Stromes  stets  vermindert  oder  gänzlich  aufgehoben. 

Wie  verhält  es  sich  nun  mit  der  Erregbarkeit  an  den 
polaren    Stellen     nach    Oeffnung     eines    polarisirenden 


Elektrische  Eeizung  der  Muskeln.  249 

Stromes?  Diese  „Nachwirkungen"  sind  noch  in  Kürze  zu  be- 
sprechen. 

Es  war  bei-eits  davon  die  Rede,  dass  sich  nach  nicht  allzu  lange 
dauernder  Schlusszeit  eines  sehr  schwachen  elektrischen  Stromes 
keinerlei  Nachwirkung  an  der  Kathode  constatiren  lässt,  indem  die 
während  der  Polarisationsdauer  bedeutend  gesteigerte  Reizwirkung 
einzelner,  gleichgerichteter  Inductionsschläge  unmittelbar  nach  OefF- 
nung  des  Kettenstromes  ihre  ursprüngliche  Grösse  wieder  erreicht. 
War  dagegen  ein  Kettenstrom  von  mittlerer  Intensität  hinreichend 
lange  geschlossen  (es  genügen  in  der  Regel  schon  1 — 2  Minuten),  dann 
lässt  sich  immer,  wie  aus  den  oben  mitgetheilten  Versuchsbeispielen 
I  und  II  hervorgeht,  eine  Verminderung  der  Anspruchsfähigkeit  an 
der  Kathode  nicht  nur  während  der  Dauer  der  Durchströmung,  sondern 
auch  nach  OefFnung  des  polarisirenden  Stromes  nachweisen.  Dieselbe 
ist  um  so  andauernder,  je  grösser  die  Intensität  und  je  länger  die 
Schlussdauer  des  Stromes  war.  Nach  längerer  Ruhe ,  bisweilen  erst 
nach  mehreren  Minuten,  erholt  sich  ein  solcher  Muskel  wieder  soweit, 
dass  ein  Inductionsstrom  von  entsprechender  Richtung,  der  vor  der 
Polarisation  deutliche  Zuckungen  auslöste,  neuei'dings  erregend  wirkt. 
Um  vieles  rascher  jedoch  und  selbst  dann,  wenn  in  Folge  weit  vor- 
geschrittener localer  Ermüdung  eine  spontane  Erholung  nicht  mehr 
erfolgt,  kann  man  die  normale  Erregbarkeit  an  der  Kathode  wieder 
herstellen,  wenn  man  den  polarisirenden  Strom  für  kurze  Zeit  wendet. 
Mit  dieser  Erfahrung  steht  die  Thatsache  in  engstem  Zusammenhang, 
dass  nach  nicht  allzu  kurzer  Polarisation  eines  curari- 
sirten  Muskels  die  Erregbarkeit  der  anodischen  Faser- 
stellen in  der  Regel  bedeutend  erhöht  gefunden  wird, 
fallsdieIntensitätdesKettenstromesnichtzugering  war. 

Obschon  die  hierher  gehörigen  Erscheinungen  der  sogenannten 
„Volta' sehen  Alternative"  seit  lange  bekannt  sind,  hat  man 
sich  doch  nicht  genau  darüber  Rechenschaft  gegeben,  dass  es  sich 
hier  ganz  ebenso  um  eine  polare,  also  rein  örtliche  Wirkung  des 
Stromes  handelt,  wie  bei  dem  Erregungsvorgang  an  der  Kathode. 
Nachdem  bereits  Heidenhain  (43)  gefunden  hatte,  dass  Muskeln, 
deren  Erregbarkeit  durch  irgendwelche  schädliche  Einflüsse  (Tetani- 
siren, andauernde  Durchströmung,  Erwärmen  etc.)  soweit  heralDgesetzt 
war,  dass  sie  selbst  auf  Schliessung  sehr  kräftiger  Ströme  nicht  merk- 
lich reagirten,  ihre  Leistungsfähigkeit  wenigstens  zum  Theil  wieder- 
erlangen, wenn  sie  einige  Zeit  der  Einwirkung  eines  starken,  in  auf- 
oder  absteigender  Richtung  fliessenden  Stromes  ausgesetzt  waren,  indem 
dann  in  höherem  oder  geringerem  Grade  wieder  Erregung  erfolgt  bei 
Oeffnung  des  polarisirenden,  sowie  bei  Schliessung  eines  entgegengesetzt 
gerichteten  Stromes,  hat  Rosenthal  (44)  auf  die  Uebereinstimmung 
hingewiesen,  in  welcher  sich  diese  Thatsachen  mit  den  von  ihm  zuerst 
näher  untersuchten  Erscheinungen  der  Volta'schen  Abwechselungen 
am  frischen,  nicht  erschöpften  Muskel  befinden. 

Nach  Rosenthal's  leicht  zu  bestätigenden  Beobachtungen  sinkt 
bei  jedem  Muskel  durch  anhaltende  Durchströmung  in  einer  und  der- 
selben Richtung  die  Anspruchsfähigkeit  für  die  Schliessung  eben 
dieses  Stromes,  wird  dagegen  beträchtlich  gesteigert  für  dessen  Oefi^- 
nung,  sowie  für  die  Schliessung  eines  Stromes  von  entgegengesetzter 
Richtung.     Die  erstere  Wirkung  beruht,  wie  oben  gezeigt  wurde,    auf 


250  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

einem  ausschliesslich  den  kathodischen  Faserstellen  eigenthümlichen 
Ermüdungszustand, 

Das  gleiche  Versuchsverfahren ,  welches  zu  dieser  Ueberzeugung 
führte,  gestattet  aber  auch  den  Beweis  zu  liefern,  dass  die,  nach  dem 
Oeffnen  eines  polarisirenden  Stromes  von  genügender  Stärke  nach- 
weisbare Steigerung  der  Anspruchsfähigkeit  für  Schliessung  eines  ent- 
gegengesetzt gerichteten  Stromes  lediglich  eine  den  anodischen  Faser- 
stellen zukommende  Eigenthümlichkeit  ist. 

Da  es  als  feststehende  Thatsache  gelten  darf,  dass  bei  Schliessung 
eines  Stromes  Erregung  nur  an  den  Austrittsstellen  desselben  aus  der 
Muskelsubstanz  erfolgt,  so  liegt  der  Beweis,  dass  nach  der  Polari- 
sation die  Erregbarkeit  an  der  Anode  gesteigert  ist,  eigentlich  schon 
in  dem  Umstände,  dass  der  Reizerfolg  bei  Schliessung  eines  dem 
polarisirenden  entgegengesetzten  Stromes  verstärkt  gefunden  wird.  Es 
wäre  jedoch  denkbar  gewesen ,  dass  die  in  Rede  stehende  Erregbar- 
keitsveränderung sich  über  einen  grösseren  oder  kleineren  Theil  der 
durchströmt  gewesenen  Muskelstrecke  ausbreitet,  obzwar  das  voll- 
ständige Fehlen  elektrotonischer  Erregbarkeitsveränderungeu  der  intra- 
polaren Strecke  während  der  Durchströmung  dies  von  vornherein 
sehr  unwahrscheinlich  macht.  Durch  directe  elektrische  Reizung  ver- 
schiedener Stellen  in  der  Continuität  eines  vorher  polarisirten  Muskels 
lässt  sich  aber  auch  leicht  zeigen,  dass  ebensowenig,  als  die  negative 
Nachwirkung  der  Polarisation  die  physiologische  Kathode  überschreitet, 
die  positive  Nachwirkung  über  die  Grenzen  der  physiologischen  Anode 
hinausgeht,  sofern  nur  der  polarisirende  Strom  nicht  zu  stark  ge- 
wählt wird,  da  sonst  durch  das  Wirksamwerden  secundärer  Elektroden- 
stellen mannigfache  Störungen  entstehen  können. 

Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  die  bisher  erörterten  Erregbar- 
keitsveränderungen während  und  nach  der  Durchströmung  eines  Mus- 
kels offenbar  in  nächster  Beziehung  stehen  zu  den  früher  besprochenen 
polaren  Erregungs-  und  Hemmungserscheinungen  und  eigentlich  nur 
einen  anderen  Ausdruck  derselben  Thatsachen  darstellen.  Wenn,  wie 
wir  gesehen  haben,  der  elektrische  Strom  an  der  Kathode  dauernd  als 
Erregungsursache  wirkt,  so  sind,  wie  früher  auseinandergesetzt  wurde, 
die  beobachteten  Veränderungen  der  Ei-regbarkeit  oder  Anspruchs- 
fähigkeit hiervon  die  nothwendige  Folge,  und  ebenso  muss  unter  allen 
Umständen  eine  Erregbarkeitsherabsetzung  an  der  Anode  vorausgesetzt 
werden,  wenn  daselbst  während  der  Schliessungsdauer  eine  bestehende 
Erregung  gehemmt  wird.  Dass  aber  nach  der  Oeffnung  des  polari- 
sirenden Stromes  sich  Alles  umkehrt,  ergiebt  sich  ebenso  nothwendig  aus 
der  Umkehr  der  polaren  Erregungs-  und  Hemmungserscheinungen.  Da 
innerhalb  der  intrapolaren  Strecke  weder  Erregungs-  noch  Hem- 
mungserscheinungen durch  den  Strom  direct  bewirkt  werden  und  sich 
daselbst  nur  als  von  den  Polen  fortgeleitete  Veränderungen  oder  durch 
Wirksamwerden  secundärer  Elektrodenstellen  geltend  machen  können, 
so  ist  von  vornherein  klar,  dass  auch  direct  durch  den  Strom  erzeugte 
Erregbarkeitsveränderungen  der  intrapolaren  Strecke  im  Sinne 
V.  Bezold's  nicht  vorhanden  sein  können  und,  wie  gezeigt  wurde, 
auch  thatsächlich  nicht  vorhanden  sind. 

Ebensowenig  haben  wir  auch  Grund,  Veränderungen  des 
Lei  tungs  Vermögens  der  intrapolaren  Strecke  anzunehmen, 
und  können  die  Versuche  v.  Bezold's  für  ein  gegentheiliges  Ver- 
halten  nicht  als  strenge  beweisend  gelten. 


Elektrische  Keizung  der  Muskeln.  25l 

V.  Bezold  untersuchte  den  Einfluss,  den  die  Polarisation  einer 
Muskelsti-ecke  von  3  mm  Länge  auf  die  Leitung  einer  ausserhalb  der- 
selben ausgelösten  Erregungswelle  ausübt.  Er  fand,  dass  die  Leitungs- 
fähigkeit des  polarisirten  Muskelabschnittes  abnimmt,  und  zwar  um  so 
mehr,  je  stärker  der  Strom  ist  und  je  länger  die  Durchströmung  an- 
dauerte. Bei  einem  gewissen  Grade  der  Polarisation  erscheint  das 
Leitungsvermögen  angeblich  vollständig  aufgehoben.  (Dies  war  z.  B. 
der  Fall  nach  40  Sekunden  langer  Durchleitung  eines  Stromes  von 
4  Dan.  Elem.,  bei  einem  Rheochordwiderstand  =  100  durch  eine 
3  mm  lange  Muskelstrecke.)  Die  Muskel-  wie  auch  die  Nerven- 
substanz wird  daher  nach  v.  Bezold 's  Meinung  durch  den  Strom 
„gelähmt".  Diese  Lähmung  beruht  dem  genannten  Forscher  zu  Folge 
im  Wesentlichen  auf  einer  Leitungs Verzögerung,  beziehungsweise  Hem- 
mung ,  während  doch  die  angeblich  gelähmte  Muskel- 
strecke  durch  ä  u  s  s  e  r  c  E  i  n  w  i  r  k  u  n  g  e  n  n  o  c  h  m  i  t  d  e  r  s  e  1  b  e  n 
Geschwindigkeit  an  Ort  und  Stelle  in  den  Zustand,  der 
Erregung  versetzt  werden  kann. 

Wie  die  verschiedenen  Abschnitte  der  intrapolaren  Strecke  sich 
hinsichtlich  der  Veränderungen  ihres  Leitungsvermögens  verhalten,  hat 
V.  Bezold  nicht  untersucht,  neigt  sich  jedoch  der  Ansicht  zu,  „dass 
die  Curve  der  Verzögerungen  in  der  intrapolaren  Muskelstrecke,  ebenso 
wie  beim  Nerven,  von  beiden  Polen  aus  nach  der  Mitte  sinkt". 

Da  sich  so  vielfache  Analogien  im  Verhalten  der  glatten  Mus- 
kulatur des  Ureter  und  des  quergestreiften  Muskels  hinsichtlich  des 
Verhaltens  gegen  den  elektrischen  Strom  herausstellten,  dürfte  es  um- 
somehr  geboten  sein,  an  dieser  Stelle  auch  Engelmann' s  Angaben 
über  den  Einfluss  der  Polarisation  auf  das  Leitungsvermögen  des 
ersteren  zu  berücksichtigen,  als,  wie  es  scheint  (gerade  hier),  eine 
wesentliche  Differenz  zwischen  meinen  Befunden  am  quergestreiften 
Muskel  und  Engel  mann 's  Beobachtungen  am  Ureter  besteht. 

Diesen  letzteren  zu  Folge  nimmt  das  Leitungsvermögen  einer  polari- 
sirten Ureterstrecke  in  dem  auf  Seite  der  Anode  gelegenen  Theil  ab 
und  in  dem  auf  Seite  der  Kathode  gelegenen  zu.  Die  Grösse  der 
Aenderungen  soll  ein  Maximum  an  den  Polen  sein.  Mit  der  Strom- 
stärke und  Stromdauer  soll  die  Länge  der  Strecke  herabgesetzten 
Leitungsvermögens  zunehmen  und  schliesslich  soll  dieses  in  der  ganzen 
intrapolaren  Strecke  aufgehoben  sein.  Wenn  von  einem  oberhalb  eines 
aufsteigend  polarisirten  Ureterabschnittes  gelegenen  Punkte  eine  Con- 
tractionswelle  ausging,  sah  sie  Engel  mann,  wenn  der  polarisirende 
Strom  sehr  schwach  war,  die  ganze  intrapolare  Strecke  durchlaufen, 
jedoch  mit  einer  merklichen  Verzögerung  an  der  Anode.  Bei  stär- 
keren Strömen  erlischt  hier  die  Welle  ganz  und  bei  noch  stärkeren 
(wenn  an  der  Kathode  Dauercontraction  eintrat)  erlosch  die  Welle 
schon  an  der  Kathode. 

Was  nun  zunächst  v.  Bezold' s  Versuche  anbelangt,  so  geht  aus 
denselben  keinesfalls  hervor,  dass  die  Leitungsfähigkeit  der  ganzen 
intrapolaren  Strecke  vermindert  oder  aufgehoben  ist,  da  die- 
selbe viel  zu  kurz  war.  Es  konnte  die  Hemmung  der  Fortpflanzung 
der  Contractions welle  ebensowohl  an  der  Anode  ihren  Sitz  haben,  wenn 
es,  wie  allerdings  aus  E  n  g  e  1  m  a  n  n '  s  Ureterversuchen  hervorzugehen 
scheint,  richtig  ist,  dass  daselbst  das  Leitungs  vermögen  der  Muskel- 
substanz sehr  herabgesetzt  ist,  wie  auch  an  der  Kathode,  da  bei  der 
Stärke    des   angewendeten    polarisirenden    Stromes    daselbst  jedenfalls 


252  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

■eine  Dauercontraction  vorhanden  sein  musste,  und  da,  wie  man  eben- 
falls nach  Eng-elmann's  Beobachtungen  zu  schliessen  berechtigt  war, 
eine  contrahirte  Stelle  unter  Umständen  die  Erregungsleitung  zu  unter- 
brechen vermag. 

Es  erwächst  daher  zunächst  die  Aufgabe,  die  Leitungsfähigkeit 
der  Muskelsubstanz  sowohl  an  Stelle  der  Anode  wie  auch  an  der 
Kathode  zu  prüfen  und  deren  Abhängigkeit  von  Stärke  und  Dauer 
des  Stromes  festzustellen. 

Ich  brachte  zu  diesem  Zweck  einen  stark  mit  Curare  vergifteten 
M.  sartorius  in  gewöhnlicher  Weise  mit  den  unpolarisirbaren  Elek- 
troden des  Her  ing'schen  Doppelmyographen  in  Verbindung,  fixirte  die 
Mitte  des  Muskels  zwischen  Oelthon  und  Hess  die  Gestaltveränderungen 
beider  Hälften  auf  einer  berussten  Papierfläche  verzeichnen.  In  der 
Regel  wurde  das  untere  Sartoriusende  mit  einzelnen,  absteigend  ge- 
richteten Schliessungsinductionsschlägen  gereizt.  Der  Reizstrom  trat 
durch  die  eine  Elektrode  des  Doppelmyographen  aus;  der  Eintritt 
desselben  wurde  durch  eine  mit  0,5  *^/o  NaCl-Lösung  getränkte,  in  die 
Thonspitze  einer  gewöhnlichen,  unpolarisirbaren  Elektrode  eingeknetete 
Fadenschlinge  vermittelt,  um  die  Gestaltveränderungen  der  betreffen- 
den Muskelhälfte  bei  der  Reizung  möglichst  wenig  zu  hindern.  Un- 
mittelbar neben  der  fixirten  Stelle,  etwa  der  Mitte  des  Muskels  ent- 
sprechend, erfolgte  durch  eine  Elektrode  von  ganz  gleicher  Beschaffenheit 
der  Aus-  beziehungsweise  Eintritt  des  polarisirenden  Kettenstromes, 
welcher  demnach  stets  die  ganze  obere  Muskelhälfte  durchfloss.  Eine 
am  untern  Sartoriusende  ausgelöste  Contractionswelle  pflanzt  sich  un- 
geliindert  durch  die  fixirte  Stelle  hindurch  fort,  und  beide  Muskel- 
hälften verkürzen  sich  in  der  Regel  annähernd  gleich  stark,  so  lange 
der  polarisirende  Strom  nicht  geschlossen  ist.  Auch  wenn  ein  schwacher 
Kettenstrom  (sei  es  in  auf-  oder  absteigender  Richtung)  die  obere 
Muskelhälfte  dauernd  durchfliesst,  übt  dies  keinen  merkliehen  Einfluss 
auf  die  Zuckungsgrösse  beider  Hälften  aus.  Wird  jedoch  die  Inten- 
sität des  polarisirenden  Stromes  gesteigert  (etwa  2  Dan.  =^  100  RW) 
und  befindet  sich  die  Kathode  in  der  Mitte  des  Muskels,  so  entwickelt 
sich  in  allen  Fällen  während  der  Dauer  der  Durchströmung  und  mit 
derselben  zunehmend,  eine  immer  deutlicher  hervortretende  Hemmung 
für  die  Fortpflanzung  der  im  nicht  polarisirten  Muskelabschnitt  aus- 
gelösten Contractionswelle.  Zunächst  bemerkt  man,  dass  die  beiden 
Muskelhälften  sich  nicht,  wie  vorher,  gleich  stark  verkürzen,  indem 
die  Zuckungscurven  der  polarisirten  Hälfte  mit  der  Dauer  der  Durch- 
strömung immer  kleiner  und  kleiner  Averden,  während  die  der  direct 
erregten  Hälfte  ihre  anfängliche  Höhe  unverändert  beibehalten.  Schliess- 
lich bleibt  bei  erneuter  Reizung  der  nicht  polarisirten  Muskelhälfte 
die  Gestaltveränderung  jenseits  der  fixirten  Stelle  vollständig  aus,  die 
Contractionswelle  vermag  die  kathodischen  Faser- 
stellen nicht  mehr  zu  passiren. 

V.  Bezold's  Annahme  zu  Folge  müsste  man  nun  erwarten,  dass 
zu  dieser  Zeit  bereits  die  ganze  intrapolare  Strecke  leitungsunfähig  ge- 
worden ist.  Dem  widerspricht  jedoch  auf  das  Entschiedenste  die  That- 
sache,  dass,  wenn  der  polarisirende  Strom  in  der  Mitte 
des  Muskels  eintritt,  wenn  sich  also  daselbst  die  Anode 
befindet,  niemals,  selbst  bei  Anwendung  sehr  starker 
K  e  1 1  e  n  s  t  r  ö  m  e  und  bei  beliebiger  Dauer  der  Durch- 
strömung,    eine   merkliche   Behinderung   d  er  Fortpflan- 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  253- 

zung  einer  Contractionswelle  wahrnehmbar  ist,  ja  unter 
Umständen  beobachtet  man,  Avie  unten  näher  zu  erörtern  sein  wird, 
das  gerade  Gegentheil.  Es  kann  demnach  kein  Zweifel  darüber  be- 
stehen, dass  Faserstellen,  welche  einige  Zeit  hindurch 
den  Austritt  eines  genügend  starken,  elektrischen 
Stromes  vermittelten,  in  einen  Zustand  gerathen,  in 
welchem  sie  sich  als  ungeeignet  erweisen,  eine  dies- 
seits ausgelöste  Er  regungs  welle  auf  jenseits  derselben 
befindliche  Querschnitte  zu  übertragen.  Auch  für  den 
Nerven  ist  diese  Undurchdringlichkeit  der  Kathode  von  Hermann 
und  Werigo  festgestellt  worden  und  wird  später  darauf  zurück- 
zukommen sein.  Die  Bedingungen  ihrer  Entwicklung  sind  hier  ganz 
dieselben  wie  beim  Muskel. 

Dass  nicht  etwa  die  an  der  Kathode  localisirte  Schliessungsdauer- 
contraction  als  solche  das  die  Fortpflanzung  hemmende  Moment 
bildet,  geht,  abgesehen  von  dem  Umstand,  dass  oft  genug  unmittelbar 
nach  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  beide  Muskelhälften  gleich- 
stark sich  verkürzen,  obschon  an  der  Kathode,  in  der  Mitte  des  Mus- 
kels, eine  deutlich  ausgesprochene  Dauercontraction  vorhanden  ist, 
auch  daraus  hervor,  dass  die  Hemmung  gerade  dann  am  stärksten 
ausgebildet  ist,  wenn  durch  anhaltende  absteigende  Durchströmung 
der  oberen  Muskelhälfte  die  Anfangs  vorhandene  Schliessungsdauer- 
contraction  zum  Verschwinden  gebracht  wurde.  Es  dürfte  demnach 
die  Annahme  wohl  gerechtfertigt  erscheinen,  dass  die  locale,  durch 
den  Strom  bewirkte  Ermüdung  der  Muskelsubstanz  an  der  Kathode 
die  wesentlichste  Ursache  der  daselbst  nachweisbaren  Leitungshem- 
mung ist.  Mit  Rücksicht  auf  die  oben  mitgetheilten  Beobachtungen 
über  die  rasche  Abnahme  der  Anspruchsfähigkeit  kathodischer  Faser- 
stellen während  der  Polarisation  könnte  es  auffallend  erscheinen, 
dass,  unter  den  obengenannten  Versuchsbedingungen,  die  Leitungs- 
hemmung an  der  Kathode  erst  verhältnissmässig  spät  nach  Schliessung 
relativ  starker  Ströme  beobachtet  wird.  Der  Grund  des  abweichen- 
den Verhaltens  ist,  wie  ich  glaube,  wesentlich  in  der  Verschiedenheit 
der  Art  des  Stromaustrittes  in  beiden  Fällen  zu  suchen.  Denn 
während  im  ersteren  Falle  die  Faserenden  denselben  vermitteln, 
befindet  sich  die  „physiologische  Kathode"  andernfalls  in  der  Mitte 
des  Muskels,  wo  einmal  schon  wegen  des  grösseren  Querschnittes 
die  Stromdichte  geringer  sein  muss,  andererseits  aber  der  schief 
nach  einer  schmalen  Zone  der  Muskeloberfläche  hingerichtete  Ver- 
lauf der  einzelnen  Stromfäden  es  bedingt,  dass  die  im  Innern  ge- 
legenen Fasern  schwächer  erregt  werden,  als  die  an  der  Peripherie 
befindlichen,  da  der  Strom  die  ersteren  mit  geringerer  Dichte  verlässt, 
als  die  letzteren.  Dem  entsprechend  findet  man  auch  stets,  dass,  wenn 
der  Austritt  des  Stromes  in  der  eben  beschriebenen  Weise  in  der 
Mitte  des  Muskels  erfolgt,  zur  Auslösung  einer  Schliessungszuckung 
in  der  Regel  viel  stärkere  Ströme  nothwendig  sind,  als  im  umgekehrten 
Falle.  So  lange  also  nicht  durch  anhaltende  Durchströmung  der  Ge- 
sammtquerschnitt  des  Muskels  an  der  Austrittsstelle  des  Stromes  er- 
müdet ist,  wird  jede  ankommende  Erregungswelle  den  kathodischen 
Muskelquerschnitt  zu  passiren  vermögen,  indem  wie  so  zu  sagen  unter 
der  am  stärksten  erregten  peripheren  Zone  hinweggleiten  kann  und 
erst  dann  vollständig  gehemmt  wird,  wenn  der  Muskel  durch  die 
Fortdauer  des  localen  Erregungszustandes,  um  mich  so  auszudrücken,. 


254  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

functionell  durchtrennt,  d.  i.  in  zwei  erregbare,  durch  eine  schmale 
unerregbare  Zone  getrennte  Abschnitte  zerlegt  wurde.  Die  eben  ge- 
raachte Auseinandersetzung  lässt  es  daher  begreiflich  erscheinen, 
warum  es  im  Allgemeinen  einer  ziemlich  anhaltenden  Polarisation  mit 
verhältnissmässig  starken  Strömen  bedarf,  um  an  irgend  einer  Stelle 
in  der  Continuität  des  Muskels  das  Leitungsvermögen  soweit  herab- 
zusetzen, dass  eine  ankommende  Erregungswelle  in  ihrem  Fortschreiten 
gehindert  wird.  War  die  obere  Muskelhälfte,  wie  bisher  vorausgesetzt 
wurde,  absteigend  polarisirt  und  wendet  man  hierauf  plötzlich  den 
Strom,  so  kann  die  kräftige  Schliessungserregung,  welche  dann  an  dem 
vorher  anodischen  Muskelende  ausgelöst  wird,  den  durch  die  dauernde 
Erregung  an  der  Kathode  leitungsunfähig  gewordenen  Querschnitt  nicht 
passiren,  und  es  zuckt  daher  im  Momente  der  Schliessung  nur  die 
direct  erregte,  vorher  polarisirte  ]\Iuskelhälfte,  während  die  andere 
jenseits  der  fixirten   Stelle  in  Ruhe  bleibt. 

Das  Leitungsvermögen  kehrt  unter  Umständen  nach  Oeifnung  des 
Stromes  Avieder  zurück;  war  jedoch  die  Intensität  des  letzteren  zu 
gross  und  wurde  die  Polarisation  zu  lange  fortgesetzt,  so  kann 
es  geschehen,  dass  der  kathodische  Abschnitt  dauernd  leitungsunfähig 
bleibt. 

Im  Vorhergehenden  war  bereits  davon  die  Rede,  dass,  im  Gegen- 
satz zu  dem  von  Engel  mann  beobachteten  Verhalten  der  Ureter- 
muskulatur,  das  Le i  tungs ve rm ögen  des  quergestreiften 
M  u  s  k  e  1  s  ( S  a  r  t  o  r  i  u  s)  unter  d  e  m  E  i  n  f  1  u  s  s  d  e  r  A  n  o  d  e  keine 
merkliche  Verminderung  erkennen  lässt.  Es  ist  dies  um 
so  auffallender,  als  hinsichtlich  der  directen  Erregbarkeit  in  beiden 
Fällen  völlige  Uebereinstimmung  herrscht.  An  eine  wirkliche  Ver- 
schiedenheit des  Verhaltens  in  beiden  Fällen  wird  man  umsoweniger 
denken  können,  als  auch  am  Nerven  die  anodische  Leitungshemmung 
sehr  ausgeprägt  hervortritt.  Es  dürfte  daher  das  auffallende  Verhalten 
lediglich  in  äusseren  Umständen  begründet  sein ,  unter  welchen  wohl 
die  Dicke  des  Muskels  und  der  quere  Verlauf  der  Stromfäden  in  erster 
Linie  stehen. 

Die  früher  besprochene  Erfahrung,  dass  kathodische,  unerregbare 
Faserstellen  unter  dem  Einfluss  der  Anode  der  Art  modificirt  werden, 
dass  sie  fähig  sind,  abermals  in  den  Zustand  der  Erregung  zu  gerathen, 
sobald  der  elektrische  Strom  den  Muskel  an  den  betreffenden  Stellen  ver- 
lässt,  beweist  zunächst  nur,  dass  dieselben  für  den  directen  elektrischen 
Reiz  wieder  empfänglich  geworden  sind.  Da  sich  jedoch  herausstellte, 
dass  Veränderungen  der  muskulären  Erregbarkeit  keineswegs  immer 
gleichsinnige  Veränderungen  des  Leitungsvermögens  im  Gefolge  haben, 
so  wäre  es  denkbar  gewesen,  dass,  ungeachtet  der  Wiederherstellung  der 
directen  Erregbarkeit,  das  Leitungsvermögen,  d.  i.  die  Fähigkeit,  in- 
direct  durch  eine  von  andern  Faserstellen  ausgehende  Contractions- 
welle  in  den  Zustand  der  Erregung  versetzt  zu  werden,  an  der  Kathode 
unter  Umständen  dauernd  vernichtet  bleibt.  Die  Versuche  mit  halb- 
seitiger Durchströmung  des  curarisirten  Sartorius  haben  jedoch  zu 
einem  gegentheiligen  Resultat  geführt,  indem  sich  herausstellte,  dass 
selbst  in  Fällen,  wo  die  Polarisation  so  lange  fortgesetzt 
wurde,  d  a  s  s  a  n  eine  spontane  Erholung  des  1  e  i  t  u  n  g  s  - 
u  n  f  ä  h  i  g  g  e  w  0  r  d  e  n  e  n  M  u  s  k  e  1  a  b  s  c  h  n  i  1 1  e  s  nicht  zudenken 
war,  die  Fähigkeit,  den  Erregungsvorgang  weiter  zu 
leiten,    unter    dem    Einfluss    der   Anode    stets,    und   zwar 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  255 

dauernd,  wiederhergestellt  wird,  falls  der  angewendete 
Strom  nicht  allzu   schwach  ist. 

Man  hat  es  auf  diese  Weise  in  seiner  Gewalt,  einen  und  denselben 
Querschnitt  eines  parallelfaserigen  Muskels  nach  Belieben  für  eine 
von  aussen  kommende  Contractionswelle  durchgängig  oder  undurch- 
gängig zu  machen,  je  nachdem  man  den  die  eine  Hälfte  durchfliessen- 
den  Strom  in  der  Mitte  des  Muskels  ein-  oder  austreten  lässt. 

Hinsichtlich  der  Erregbarkeitsveränderungen  eines  polarisirten 
Muskels  Hess  sich  der  directe  Beweis  liefern,  dass  dieselben  weder 
extra-  noch  intrapolar  über  die  physiologische  Kathode,  beziehungs- 
weise Anode  hinausreichen,  und  es  liegt  kein  Grund  vor,  bezüglich 
der  Leitungsveränderungen  ein  gegentheiliges  Verhalten  anzunehmen. 
Vielmehr  spricht  Alles  dafür,  dass  sie  ebenso  wie  jene  als  rein  polare 
Wirkungen  des  Stromes  aufzufassen  sind. 


Die  elektrische  Reizung  des  iiiclit  flhrillär  (lifferenzirten 
Plasmas. 

Während  die  Wirkungen  des  elektrischen  Stromes  auf  Muskeln 
seit  lange  die  Aufmerksamkeit  der  Physiologen  auf  sich  gezogen  haben, 
blieben  die  in  theoretischer  Beziehung  höchst  interessanten  Folge- 
erscheinungen der  Durchströmung  nicht  tibrillär  differenzirter  plasma- 
tischer  Gebilde  bis  in  die  neueste  Zeit  fast  gänzlich  unbeachtet,  und 
nur  wenige  vereinzelte  Beobachtungen  wiesen  darauf  hin,  dass  es  sich 
hier  um  Thatsachen  von  weitreichender  Bedeutung  handelt. 

Mit  Rücksicht  auf  gewisse  theoretische  Vorstellungen  über  die 
Ursache  der  Plasmabewegung,  speciell  der  Strömungserscheinungen 
in  Pilanzenzellen,  hatte  schon  Bequerel  den  Einfluss  eines  starken 
Stromes  untersucht,  welcher  durch  einen  schraubenförmig  um  eine 
entrindete  Zelle  von  Ohara  herumgelegten  Draht  floss.  Es  zeigte  sich 
keine  Wirkung,  gleichviel  ob  die  Axe  der  Drahtwindungen  der  Zell- 
axe  parallel  war  oder  zu  ihr  senkrecht  stand.  Ebensowenig  Erfolg 
hatten  alle  späteren  Versuche,  eine  Fern  Wirkung  des  Stromes  auf 
irgend  welches  reizbare  Plasma  nachzuweisen,  so  dass  es  als  sicher 
gelten  darf,  dass  eine  solche  überhaupt  nicht  existirt. 

Bei  directer  Einwirkung  schwacher  Inductionsströme  sahen 
Kühne  und  Engel  m  a  n  n  die  Bewegung  von  Amoeben  nach  einem 
kurzen  Latenzstadium  zunächst  stocken ,  nach  einiger  Zeit  aber 
wieder  beginnen.  Sind  die  Inductionsschläge  stärker,  so  kommt  es 
zur  Annahme  der  Kugelgestalt  durch  Einziehen  aller  l^seudopodien, 
wobei  immer  zunächst  die  Körnchenströmung  stockt.  Schliesslich 
kann  bei  sehr  starker  Reizung  die  Plasmakugel  platzen  unter  Austritt 
des  Entoplasmas.  was  einer  endgültigen  Zerstörung  des  Thieres  gleich- 
kommt (45). 

Rhizopoden  mit  zahlreichen  langen  und  feinen  Pseudopodien 
ziehen  dieselben  bei  elektrischer  Reizung  ebenfalls  ein,  wobei  es  vor 
Allem  bemerkenswerth  ist,  dass  d  i  e  r  e  c  h  t  w  i  n  k  e  1  i  g  z  u  r  S  t  r  o  m  e  s  - 
r  i  c  h  t  u  n  g  gelagerten  Pseudopodien  entweder  gar  nicht 
beeinflusst  werden  oder  doch  viel  stärkere  Ströme  er- 
fordern, als  die  parallel  verlaufenden,  eine  Thatsache,  die 
sofort  an  das  gleiche  Verhalten  der  Muskeln  unter  denselben  Um- 
ständen erinnert.     So  sah  K  ü  h  n  e  (46),  wenn  er  A  c  t  i  n  o  s  p  h  a  e  r  i  u  m 


256 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


mit  den  Wechselströmen  des  Inductionsapparates  tetanisirte,  dass 
die  Pseudopodien,  welche  nach  beiden  Elektroden  hin 
gerichtet  waren,  bald  varicös  wurden,  indem  das  Körnerplasma 
auf  den  Axenstrahlen  sich  zu  kleinen  Kügelchen  und  Spindeln  sam- 
melte ,  die  allmählich  nach  dem  Körper  flössen ,  während  das  ganze 
Pseudopodium  langsam  eingezogen  wurde.  Da  diese  zu  elektrischen 
Reizversuchen  ausserordentlich  geeignete  Rhizopodenform  auch  im 
Folgenden  noch  mehrfach  zu  erwähnen  sein  wird,  so  mögen  hier  noch 
einige  Bemerkungen  über  deren  Bau  folgen.  Der  ziemlich  grosse 
kugelige  Körper  des  Actinosphaerium  lässt  deutlich  zwei  Schichten 
erkennen,  eine  dunklere  centrale,  mit  reichlichen  Kernen  versehene 
Masse  (Entoplasma)  und  eine  hellere,  von  Flüssigkeitsvacuolen  reichlich 
durchsetzte  Rindenschicht  (Fig.  97).     Die  Wand  jeder  Vacuole  ist  aus 


+■ 


Fig.  97.     Actinosphaerum  Eichhorni,    polare  Reizerscheinungen  bei  Durch- 
leitung eines  constanten  elektrischen  Stromes.     (Nach  Verworn.) 


gleichmässig  feinkörnigem  Plasma  gebildet,  aus  welchem  zum  Theil 
auch  die  allseitig  ausstrahlenden,  stachelförmigen  Pseudopodien  be- 
stehen, die  im  Uebrigen  eine  eigenthümliche  DifFerenzirung  erkennen 
lassen,  indem  ein  aus  festerer  Substanz  bestehender  „Axenstrahl" 
von  dem  ziemlich  flüssigen  Körnerplasma  wie  von  einer  Rinde  über- 
zogen wird. 

Die  schon  von  Kühne  beschriebenen  Contractionserscheinungen 
äussern  sich  bei  beliebiger  Art  der  Reizung  immer  in  gleicher  Weise. 
„Das  den  Axenstrahl  eines  Pseudopodiums  im  ungei'eizten  Zustande 
ziemlich  gleichmässig  umhüllende  Protoplasma  sammelt  sich  in  Folge 
des  Reizes,  während  es  langsam  dem  Körper  zuströmt,  auf  dem  Axen- 
strahl zu  einzelnen  kleinen,  spindel-  oder  kugelförmigen  Varicositäten 
an,  zwischen  denen  der  Axenstrahl  vom  Protoplasma  theilweise  ganz 
entblösst  wird.  Die  Spindeln  und  Kugeln  gleiten  auf  dem  Axenstrahl, 
der  sich  gleichzeitig  ebenfalls  in  den  Körper  zurückzieht,  langsam  in 
centripetaler   Richtung,    verschmelzen    bisweilen    unter    einander    und 


Elektrische  Reizung-  der  Muskeln.  257 

fliessen  schliesslich  ganz  in  das  Protoplasma  der  Rindenschicht  hinein," 
„Ist  der  Reiz  stärker  gewesen  oder  dauert  er  an,  so  beginnen,  nach- 
dem die  Pseudopodien  an  der  gereizten  Stelle,  resp.  am  ganzen  Körper 
eingezogen  sind,  die  Flüssigkeitsvacuolen  der  Rindenschicht  an  der 
Oberfläche  zu  platzen,  indem  das  Protoplasma  ihrer  Wände  sich  mehr 
und  mehr  nach  innen  zurückzieht.  Dadurch  erhält  der  Körper  eine  un- 
regelmässig contourirte,  höckerige  Oberfläche.  Bei  noch  stärkeren  Reizen 
endlich  fängt  das  Protoplasma  an,  körnig  zu  zerfallen,  ein  Process,  der, 
an  der  Oberfläche  beginnend,  ganz  langsam  nach  innen  fortschreitet, 
später  auch  die  Centralmasse  ergreift  und,  wenn  der  Reiz  nicht  früher 
aufhört,  schliesslich  den  Zerfall  des  ganzen  Körpers  herbeiführt.  Ist 
es  noch  nicht  soweit  gekommen ,  so  kann  sich  der  unzerstörte  Rest 
wieder  zu  einem  (allerdings  entsprechend  kleineren)  vollständigen 
Actinosphaerium  ei^gänzen"  (Verworn  47).  Aehnlich  wie  die  Pseudo- 
podien der  Rhizopoden  verhalten  sich  bei  hinreichend  starker  elek- 
trischer Reizung  auch  die  Plasmastränge  und  -fäden  in  gewissen 
Pflanzenzellen  (Tradescan t ia).  Bei  schwacher  Reizung  beobachtet 
man  häufig,  wie  beim  freilebenden,  amoeboid  beweglichen  Plasma  erst 
nur  eine  Verlangsamung  und  Stillstand  der  spontanen,  strömenden 
Bewegung,  worauf  bei  Verstärkung  des  Reizes  Bildung  von  Varicosi- 
täten,  Klumpen  u.  s.  w.  erfolgt.  Kühne  sah  diese  Erscheinungen 
bei  partieller  Reizung  auch  nur  local  hervortreten.  Bringt  man  eine 
grössere  Zelle  von  Trad  escantia  quer  zwischen  zwei  nahe  bei  ein- 
ander liegende  Elektroden ,  die  in  feine  Spitzen  enden ,  so  kann  man 
die  Ströme  grösster  Dichte  dann  allein  durch  ein  beschränktes  Stück 
der  Zelle  gehen  lassen.  Bei  allmählichem  Annähern  der  secundären 
Spirale  tritt  Stillstand  in  den  Plasmafäden  nur  in  einem  Theil  der 
Zelle  ein,  worauf  sich  Wülste,  Klumpen  und  Knollen  bilden,  welche 
später  wieder  vollkommen  in  den  Strom  des  noch  unveränderten 
Plasmas  aufgenommen  werden  können.  Auch  das  rotirende  Plasma 
von  Vallisneria,  Ohara,  Nitella  u.  s.  w.  zeigt  bei  elektrischer  Reizung 
immer  zuerst  eine  Verzögerung  und  schliesslich  Stillstand  der  Strömung. 
Viel  grösseres  Interesse  bieten  nun  aber  die  Erscheinungen, 
Avelche  an  gewissen  Plasmaarten  bei  Einwirkung  des  con- 
stanten  Stromes  hervortreten.  Die  ersten  Beobachtungen  in 
dieser  Richtung  verdanken  wir  Kühne,  welcher  schon  im  Jahre 
1864  (1.  c.)  auf  das  merkwürdige  und  in  vieler  Beziehung  wichtige 
Verhalten  von  Actinosphaerium  zum  galvanischen  Strome  hinwies. 
Ich  werde  mich  im  Folgenden  vorzugsweise  an  die  Schilderung  von 
Verworn  (1.  c.)  halten,  welcher  diese  Beobachtungen  neuerdings 
wieder  aufgenommen  und  nach  verschiedenen  Richtungen  ergänzt  und 
erweitert  hat.  In  methodischer  Hinsicht  sei  bemerkt,  dass  bei  den 
betreffenden  Versuchen  ausschliesslich  unpolarisirbare  Elektroden  zur 
Verwendung  kamen.  Das  Actinosphaerium  wurde  mit  einigen 
Tropfen  Wasser  in  ein  Reizkästchen  gebracht,  welches,  auf  einem  grossen 
Objectträger  durch  Auf  kitten  von  zwei  Leisten  aus  porösem  Thon  und 
zwei  Querwälle  aus  Kitt  hergestellt  wurde,  so  dass  ein  abgeschlossener 
rechteckiger  Raum  entstand,  an  dessen  Langseiten  die  Pinsel  der  Elek- 
troden angelegt  wurden,  so  dass  eine  annähernd  parallele  Durchströmung 
möglich  schien.  In  Folge  der  grossen  Widerstände  im  Kreise  muss  man 
ziemlich  starke  Ströme  anwenden,  um  deutliche  Erfolge  zu  erzielen,  die 
dann  aber  stets  überaus  charakteristisch  sind.  Bei  der  Schliessung 
des  Stromes  bemerkt  man  zunächst,  dass  die  Pseudopodien  sowohl  an 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  17 


258  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

der  Anoden-  wie  Kathodenseite  des  kugeligen  Körpers  varieös  werden 
und  sich  unter  den  oben  erwähnten  Erscheinungen  zu  retrahiren  be- 
ginnen, während  wieder  die  senkrecht  zur  Stromes- 
richtung  stehenden  Pseudopodien  keine Ve r ä n d e r u n g  be - 
ni  erken  lassen.  Auf  Seite  der  Kathode  verschwinden  die  an  sich  viel 
geringeren  Reizerscheinungen  sehr  rasch,  indem  die  Pseudopodien  alsbald 
wieder  ihre  normale  Beschaffenheit  annehmen.  Dagegen  schreiten 
die  entsprechenden  Wirkungen  an  der  Anode  während 
der  ganzen  Dauer  des  Stromes  ununterbrochen  fort.  Die 
Pseudopodien  werden  langsam  ganz  eingezogen,  darauf  fangen  die 
Vacuolen  der  Rindenschichte  an  zu  zerplatzen  und  ihre  Flüssigkeit 
zu  entleeren,  wodurch  an  der  Anodenseite  allmählich  eine  Einschmel- 
zung  der  Körpermasse  stattfindet,  die  mit  einem  körnigen  Zerfall  des 
Protoplasmas  verbunden  ist.  Auf  diese  Weise  bildet  sich  an  der 
Anodenseite  nach  imd  nach  eine  concave  Einbuchtung,  während 
gleichzeitig  eine  sehr  langsame  Einziehung  der  Pseudopodien  an  der 
ganzen  übrigen  Körperoberfläche  erfolgt.  Schliesslich  nimmt  das 
A  ctino  sphaerium  mondsichelförmige  Gestalt  an,  nachdem  schon  der 
grösste  Theil  des  Körpers  körnig  zerfallen  ist  (Fig.  97). 

Oeffnet  man  den  Stromkreis  zu  einer  Zeit,  wo  die  Pseudopodien 
noch  überall  mit  Ausnahme  der  Anodenseite  normal  erhalten  sind,  so 
hört  sofort  d  e  r  E  i  n  s  c  h  m  e  1  z  u  n  g  s  p  r  o  c  e  s  s  a  n  d  e  r  A  n  o  d  e  auf 
und  an  d  e  r  K a t  h o d  e  zeigt  sich  nun  ein  V  a r  i  c ö  s  w e r  d  e  n 
der  Pseudopodien,  ungefähr  in  demselben  Grade  wie  unmittelbar 
nach  Schliessung  des  Stromes.  Doch  ist  diese  Wirkung  eine  sehr 
vorübergehende,  und  bald  nehmen  die  Pseudopodien  wieder  ihre  nor- 
male Gestalt  an,  während  sich  auch  die  eingeschmolzene  Anodenseite 
wieder  langsam  ausfüllt,  so  dass  ein  ganzes  aber  kleineres  Individuum 
entsteht.  Bei  schwächeren  Strömen  kommt  es  überhaupt  nicht  zum 
Platzen  von  Vacuolen,  und  nur  die  Pseudopodien  der  Anodenseite 
retrahiren  sich  langsam;  auch  fehlt  dann  jede  Spur  kathodischer 
Oeffnungswirkung.  Alle  die  geschilderten  Erregungserscheinungen 
entwickeln  sich  um  so  schneller,  je  stärker  der  angewendete  Strom 
ist.  Bei  Schliessung  sehr  starker  Ströme  erfolgt  sogar  fast  mit  einem 
Ruck  der  körnige  Zerfall  an  der  Anodenseite,  um  dann  immer  lang- 
samer während  der  Dauer  des  Stromes  nach  dem  Centrum  hin  vor- 
zudringen. 

Das  langsame  Einziehen  der  Pseudopodien  an  der  ganzen  Körper- 
oberfläche während  einer  längeren  Durchströmung  würde  nach  Ver- 
worn  als  eine  secundäre  Erscheinung  aufzufassen  sein,  welche  erst 
in  Folge  des  durch  den  Zerfallsprocess  an  der  Anode  auf  das  Plasma 
ausgeübten  Reizes  entsteht,  denn  sie  tritt  immer  erst  ein,  nachdem 
schon  ein  grösserer  Defect  entstanden  ist.  Die  geschilderten  That- 
sachen  lassen  von  vornherein  den  Erfolg  von  Wechsel- 
strömen voraussehen.  Bei  massig  schneller  Reizfolge  beginnen  dann 
die  Pseudopodien  an  beiden  Körperpolen  varieös  zu  werden  und 
ebenso  schreitet  auch  bei  stärkeren  Strömen  der  körnige  Zerfall  von 
beiden  Polen  her  gleichmässig  fort.  Bemerkenswerth  ist  es,  dass  bei 
sehr  raschem  Strom  Wechsel  die  bereits  eingeleiteten 
Erregungserscheinungen  si  stiren,  um  bei  langsamerer 
Folge  wieder  zu  beginnen. 

Ein  ganz  analoges  Verhalten  gegenüber  dem  Kettenstrome  zeigt, 
wie    Ve r w 0 r n    fand,    auch    Polystomella    crispa,    eine    marine 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  259 

Foraminifere  mit  zahlreichen  sehr  feinen,  vielfach  netzartig  mit  ein- 
ander anastomosirenden  Pseudopodien,  welche  in  ausgezeichneter  Weise 
das  sclion  von  Max  Schnitze  beschriebene  Phänomen  der  „Körn- 
chenströmung" darbieten.  „Bei  Schliessung  des  Stromes  beginnen  die 
Körnchen  in  den  an  der  Anodenseite  beündlichen  Pseudopodien  sämmt- 
lich  in  centripetaler  Dichtung  zu  fliessen,  die  Pseudopodien  Averden 
dabei  gleichmässig  langsam  zurückgezogen,  je  länger  die  Einwirkung 
dauerte,  um  so  weniger  und  kürzere  Pseudopodien  ragen  nur  noch 
aus  der  Schaale  hervor,  und  bald  sind  an  der  ganzen  Anodenseite 
sämmtliche  Pseudopodien  hinter  der  Schaale  verschwunden."  An  der 
Kathodenseite  ist  dagegen  keinerlei  Veränderung  bemerkbar,  die 
Körnchenströmung  geht  in  normaler  Weise  weiter  und  die  Pseudo- 
podien bleiben  ausgestreckt,  „ja  sie  verlängerten  sich  sogar  häufig 
noch  bedeutend,  und  wenn  vorher  an  der  Kathodenseite  gar  keine 
Pseudopodien  hervorragten,  traten  nach  der  Schliessung  oft  welche 
unter  centrifugaler  Richtung  der  Körnchenströmung  hervor,"  Auch 
hier  war  an  den  senkrecht  zur  Stromesrichtung  stehenden  Pseudo- 
podienbündeln  bei  und  nach  der  Schliessung  keine  Veränderung  zu 
bemerken.  Eine  deutliche  kathodische  Oeffnungswirkung  konnte  Ver- 
AV  0  r  n  hier  nicht  constatiren. 


Fig.  98.     Pelomyxa   palustris.     Po- 
lare Keizerfolge   bei    Durchleitung  eines 
Kettenstromes.     (Nach  V  e  r  w  o  r  n.) 


Von  grossem  Interesse  sind  ferner  die  Reizwirkungen,  welche 
unter  sonst  gleichen  Verhältnissen  bei  Pelomyxa  palustris  be- 
obachtet werden.  Pelomyxa  ist  ein  häufig  2  mm  grosser  solider 
Klumpen  von  nacktem  Protoplasma,  der  durch  die  grosse  Menge  von 
Einschlüssen  (Sand  und  Schlammtheilchen)  sehr  undurchsichtig  er- 
scheint. Die  Bewegungen  sind  äusserst  träge  und  bestehen,  wie  auch 
bei  manchen  Amoeben,  in  einer  Strömung  des  Entoplasmas  längs  der 
Körperaxe  nach  einer  Seite  hin,  um  daselbst  beiderseits  umzubiegen 
und  an  den  Seiten  zurückzufliessen.  Auf  diese  Weise  entstellt  in  der 
Richtung  des  Axenstromes  ein  stumpfer  Verstoss,  an  dessen  Rand  oft 
ein  hyaliner  Saum  bemerkbar  wird.  Reizwirkungen  äussern  sich  nun 
verschieden,  je  nachdem  sie  die  ganze  Oberfläche  gleichmässig  treffen 
oder  nur  local  wirken,  je  nachdem  sie  schwach  oder  stark  sind. 
„Schwache  andauernde  Reize,  die  auf  den  ganzen  Körper  wirken,  wie 

17* 


260  Elektrische  Eeizung  der  Muskeln. 

z.  B.  Erschütterungen,  bewirken  ein  sehr  langsames,  aber  voll- 
kommenes Kugeligwerden  des  Körpers.  Schwache  locale  Reize  er- 
zeugen ein  langsames  Zurückziehen  der  getroffenen  Stelle."  Wirken 
starke  (etwa  chemische)  Reize  auf  den  ganzen  Körper,  so  bedingen 
sie  ebenfalls  kugelige  Abrundung,  aber  zugleich  tritt  iu  Folge  Zerfalls 
der  äusseren  Plasmaschicht  überall  das  körnige  Innenplasma  aus,  was 
bei  localer  Reizung  nur  örtlich  erfolgt.  „An  der  gereizten  Stelle 
platzt  dann  das  körnig  zerfallende  Protoplasma  im  Zusammenhang 
ruckartig  hervor,  und  es  entsteht  ein  ähnliches  Bild  wie  bei  An- 
wendung starker  Ströme  auf  A  c  t  i  n  o  s  p  h  a  e  r  i  u  m. "  In  dieser  Weise 
äussert  sich  nun  auch  die  Wirkung  eines  hinreichend  starken  gal- 
vanischen Stromes  (Fig.  98). 

Bei  der  Schliessung  platzt  mit  einem  Ruck  an  der  Anodenseite 
der  Körperinhalt  zusammenhängend  hervor,  worauf  der  Zerfallsprocess 
wie  bei  A  c  t  i  n  o  s  p  h  a  e  r  i  u  m  immer  weiter  nach  der  Kathodenseite  hin 
fortschreitet,  bis  endlich  auch  der  letzte  Rest  hier  noch  vorhandenen 
Plasmas  zerstört  ist,  „Dieser  Zerstörungsvorgang  schreitet  bei  eben 
wirksamen  Strömen  in  circa  ^2—^/4  Minuten  von  der  Anode  bis  zur 
Kathode  hinüber,  also  bis  zur  völligen  Zerstörung  des  Individuums, 
und  zwar  mit  immer  abnehmender  Geschwindigkeit:  Anfangs  ruck- 
artig schnell,  dann  immer  langsamer  und  schliesslich  ganz  allmählich 
und  undeutlich.  Bei  stärkeren  Strömen  ist  die  Dauer  bis  zum  End- 
erfolge eine  viel  geringere.  Der  Process  verläuft  in  der  Form  eines 
Schnürrings  über  den  ganzen  Körper;  derselbe  setzt  an  der  Anode 
ein  und  schreitet  nach  der  Kathode  zu  vorwärts ;  was  anodenwärts 
von  ihm  gelegen  ist,  d.  h.  also  alle  Theile,  die  er  überschritten  hat, 
sind  körnig  zerfallen,  was  kathodenwärts  von  ihm  liegt,  lebt  noch." 
„Wird  der  Strom,  nachdem  der  Zerfallsprocess  erst  eine  ganz  kurze 
Strecke  vorgerückt  ist,  geöffnet,  so  wird  der  Process  sofort  sistirt, 
während  an  der  Kathode  nun  mit  einem  Ruck  eine  ebensolche  Aus- 
buchtung von  körnig  zerfallenem  Protoplasma  hervorbricht,  wie  im 
Moment  der  Schliessung  an  der  Anode.  Doch  schreitet  an  der  Ka- 
thode dieser  Process  nach  der  Oeffnuug  nicht  weiter  fort."  Ist  dann 
nur  noch  ein  kleiner  Rest  unzerstörten  Plasmas  vorhanden,  so  bildet 
sich  aus  demselben  ein  neues  kleineres  Individuum.  Bei  Anwendung 
schwächerer  Ströme  beginnt  die  Anodenerregung  bisweilen  erst  nach 
einem  langen  Latenzstadium  (1  Minute  und  mehr)  zu  wirken.  Sehr 
auffallend  gestaltet  sich  nach  Verworn  bei  Pelomyxa  die  Wirkung 
inducirter,  sowie  kurz  dauernder  Kettenströme,  indem  bei  einer  ge- 
wissen Intensität  derselben  immer  nur  kathodische  Oeffnungs- 
erregung  erfolgt,  Avährend  die  anodische  Schliessungserregung  erst 
bei  Strömen  von  längerer  Dauer  hervortritt.  Es  würde  sich  demnach  hier 
nicht  nur  um  einen  Gegensatz  zum  Muskel  in  Bezug  auf  das  polare 
Erregungsgesetz  handeln,  sondern  auch  hinsichtlich  der  Abhängigkeit 
der  Schliessungs-  und  Oeffnungserregung  von  der  Dauer  des  Reiz- 
stromes. 

Verschiedene  Amoebenformen,  welche  Verworn  untersuchte 
(A.  limax,  verrucosa  und  diffluens),  zeigten  scheinbar  ein  wesentlich 
verschiedenes  Verhalten  Avie  Pelomyxa,  indem  es  wenigstens  bei 
den  angewendeten  Stromstärken  nicht  zur  Zerstöpung  an  dem  der 
Anode  zugewendeten  Körperpole  kam,  sondern  nur  zu  einer  Aus- 
stülpung (Pseudopodienbildung)  auf  Seite  der  Kathode.  In  der 
Regel    findet    bei  Schliessung    des    constanten    Stromes    zunächst   eine 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  261 

momentane  Sistirung  der  Körnchenströmung  statt,  bis  plötzlich  an  dem 
vorderen  Ende  derAmoebe  ein  hyalines  Pseudopodium  hervorbricht, 
das  gerade  nach    der  Kathode  gerichtet   ist.     Dieses    streckt    sich  (bei 
A.  limax)   ziemlich    lang   aus   und  nimmt   den    ganzen  Leibesinhalt  in 
sich    auf,    so    dass    die   Amoebe    schliesslich    in    ihrer    nor- 
malen Keulen  form   in   der  Richtung    des  Stromes   gerade 
auf  die  Kathode   zu  kriecht.    Wird    der  Strom    während    dieser 
Zeit   plötzlich   gewendet,    so  findet    bei    stärkeren  Strömen    eine  ruck- 
weise   Umkehr    der    Körnchenströmung    nach    der    entgegengesetzten 
Richtung  statt,  wodurch  auch  wieder  die  Richtung  des  Kriechens  eine 
entgegengesetzte    wird.     Durch    abwechselndes    Wenden    des    Stromes 
kann  man  so  die  Amoebe  mit   voller  Sicherheit  fortwährend  zur  Um- 
kehr zwingen.    Es  ist  nicht  schwer,  zu  zeigen,  dass  es  sich  auch  hier 
im    Grunde    um    dieselben    Wirkungen    handelt,    wie     bei     Actino- 
sphaerium,  Polystomella  und  Pelomyxa,  obschon  unmittelbar 
sichtbare  Erregungserscheinungen  vollkommen  fehlen.    Wenn  man  das 
Varicöswerden  der  Pseudopodien,  das  Einziehen  derselben,   sowie  den 
schliesslichen  partiellen  Zerfall  des  Körperplasmas  als  Folgewirkungen 
der  Erregung  auffassen  darf,  was  sicher  nicht  bezweifelt  werden  kann, 
so  ergeben    sich   aus    den   mitgetheilten  Beobachtungen   zwei   wichtige 
Folgerungen :    Erstlich  der    Satz ,    dass   der    elektrische    Strom 
auch  das  Protistenplasma  wie   den   Muskel  nur  polar  er- 
regt,   wobei   jedoch    in   Bezug    auf   die    Localisation    der 
Erregungserscheinungen  ein  gerade  entgegengesetztes 
Verhalten  hervortritt,    indem  bei  Schliessung   des  Stro- 
mes an  der  Anode,  bei  der  Oeffnung  dagegen  an  der  Ka- 
thode Erregung  erfolgt.     Ueberaus  klar  und  überzeugend  macht 
sich  ferner  die  Thatsache  geltend,    dass    nicht   nur    im   Momente 
des    Entstehens    und   Verschwindens,    sondern    während 
der    ganzen    Dauer    der    Schliessung,    sowie    einige    Zeit 
nach    Oeffnung    des   Stromkreises    der   Vorgang   der   Er- 
regung   ausgelöst    wird,     der    sich    hier  nicht    eigentlich    durch 
eine    Contraction    in    demselben    Sinne    wie    beim    Muskel,    sondern 
durch     ein     centripetal     gerichtetes     Rückströmen      des     Plasmas 
äussert,      das     unter    Umständen     zu     einer    localen    Zerstörung    der 
äussersten  Schichte  führen  kann.     Die  Verschiedenheiten  der  Erschei- 
nung des  schliesslichen  Plasmazerfalls   bei    den    einzelnen   Formen    er- 
klären sich  hinreichend  aus    der  verschiedenen  Zusammensetzung  und 
Consistenz    des    Protoplasmas   in   jedem   einzelnen   Falle,     Unter   Um- 
ständen können  nun,  wie  gerade  bei  Am o eben,  die  sichtbaren  Form- 
änderungen gänzlich  fehlen,  die  Erregung  bleibt  „latent".    Aber 
auch  dann  weisen  die  Richtungsbewegungen  des  ganzen  Plasmakörpers 
zwingend  auf  das  Vorhandensein    einer    polaren  Erregung   hin.     Dass 
eine  solche  unter  Umständen    zu    einer  Axeneinstellung  des  Protisten- 
körpers  führen  kann,  ist  leicht  ersichtlich.    Zunächst  ist  zu  bemerken, 
dass  auch  andere  Reize ,  wie  beispielsweise  Licht ,  Wärme ,  chemische 
Substanzen,  erfahrungsgemäss  einen  richtenden  Einfluss  ausüben,  wenn 
dieselben  örtlich  einwirken  oder   doch  an  verschiedenen  Stellen  des 
reizbaren    Substrates    verschiedene   Intensität    zeigen.     So    veranlassen 
gewisse  Lichtstrahlen  (namentlich  die  kurzwelligen)  manche  Flagellaten, 
sowie  die  Schwärmsporen  vieler  Algen,  sich  innerhalb  der  Richtung  der 
einfallenden  Strahlen    entweder   zur  Lichtquelle  hin  oder  von  ihr  fort 
zu  bewegen  (positiver  und  negativer  H  e  1  i  o  t  r  o  p  i  s  m  u  s),  und  eine  ana- 


262 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 


löge  Wirkung  hat  Pfeffer  an  Bakterien  und  Flagellaten  für  lösliche 
chemische  Stoffe  nachgewiesen,  indem  die  betreffenden  Organismen  diese 
Stoffe  aufsuchen  oder  fliehen,  sich  positiv  oder  negativ  chemotropisch 
verhalten.  In  allen  diesen  Fällen  handelt  es  sich,  wie  Verworn  richtig 
bemerkt,  um  eine  polare  Erregung  der  Protisten  durch  die  betreffen- 
den Reize,  welche  eine  Axeneinstellung  der  Organismen  nach  der 
durch  -  den  Reiz  oder  richtiger  den  Intensitätsunterschied  des  Reizes 
bestimmten  Richtung  bewirkt.  Gehen  wir  von  der  Annahme  aus, 
dass  bei  Durchströmung  einer  Amoebe  die  Schliessungserregung 
wie  bei  andern  Rhizopoden  primär  an  der  Anode  erfolgt,  so  kann 
eine  auf  dem  Vorwärtsströmen  des  Plasmas  beruhende  Pseudopodien- 
bildung  naturgemäss  nur  auf  Seite  der  Kathode  stattfinden,  womit  die 

Vorwärtsbewegung  in 
bestimmter  Richtung 
ohne  Weiteres  ge- 
geben ist. 

Noch  deutlicher 
zeigt  sich  diese  rich- 
tende Wirkung  des 
Stromes  („Galvano- 
tropismus") bei  vie- 
len rascher  beweg- 
lichen ciliaten  Infu- 
sorien, sowie  bei  Fla- 
gellaten. Bringt  man 
zwischen  die  schon 
beschriebenen  Leisten- 
elektroden auf  den 
Objectträger  einige 
Tropfen  eines  reich- 
lich Paramaecium 
enthaltenden  Heuauf- 
gusses, und  schliesst 
man  nun  einen  hin- 
reichend starken  Ket- 
tenstrom, so  zeigt  sich, 
wie  Verworn  fand, 
folgende  Erscheinung, 
die  am  besten  mit  blossem  Auge  oder  bei  Lupenvergrösserung 
wahrgenommen  wird.  „Im  Moment  der  Schliessung  drehen  sich 
sämmtliche  Paramaecien  wie  auf  Commando  mit  dem  vorderen 
Körperpol  nach  der  negativen  Elektrode ,  und  der  ganze  Haufe 
schwimmt  mit  gleichmässiger  Geschwindigkeit  auf  dieselbe  zu 
(Fig.  99).  In  ganz  kurzer  Zeit  ist  die  Anodenseite  des  Tropfens 
vollständig  frei  von  Paramaecien,  nicht  ein  einziges  ist  mehr  zurück- 
geblieben, dagegen  ist  der  ganze  Haufe  jetzt  in  dichtem  Gedränge 
an  der  Kathode  versammelt.  So  lange  der  Strom  geschlossen  bleibt, 
verharren  die  Protisten  hier,  wird  der  Strom  aber  geöffnet,  so  wenden 
sich  sofort  alle  Paramaecien  wieder  mit  ihrem  vorderen  Körperende 
nach  der  Anode  zu  und  schwimmen  in  der  Richtung  auf  diese  los. 
Wieder  nach  kurzer  Zeit  ist  die  Kathode  verlassen,  und  der  grösste 
Theil  hat  sich  an  der  Anode  angesammelt.  Die  Ansammlung  wird 
jedoch  jetzt  keine   so  vollständige,    wäe  nach    der  Schliessung  an  der 


Fig.  99.  Galvanotropismus  von  Paramaecium  a  u  r  e  1  i  a, 
(Nach  Verworn.) 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  263 

Kathode,  sondern  die  Par amaecien  beginnen  bald  wieder  nach  allen 
Richtungen  hin  durch  einander  zu  schwimmen ;  und  es  dauert  nicht  lange, 
so  ist  die  gleichmässige  Vertheilung  im  Tropfen  wieder  hergestellt. 
So  oft  man  den  Strom  wieder  schliesst,  tritt  dieselbe  Erscheinung  mit 
derselben  Präcision  ein."  Dass  es  sich  dabei  wirklich  um  eine  vitale 
Erscheinung  handelt,  lässt  sich  leicht  zeigen,  indem  man  den  Versuch 
wiederholt,  nachdem  die  Thiere  durch  Chloroform  oder  Aether  ab- 
getödtet  worden  sind. 

Wendet  man  statt  des  Reizkästchens  unpolarisirbare  Elektroden 
mit  Spitzen  aus  gebranntem  Thon  an,  welche  direct  in  den  infu- 
sorienhaltigen  Wassertropfen  eintauchen,  so  zeigt  sich  die  bemerkens- 
werthe  Erscheinung,  dass  sich  nun  alle  Paramaecien  im  Moment 
der  Schliessung  mit  ihrer  Längsaxe  in  die  Richtung  der  Stromcurven 
einstellen  und  in  den  Bahnen  derselben  nach  der  Kathode  hinüber- 
schwimmen, so  dass  die  am  äussersten  Rande  des  Tropfens  befind- 
lichen Individuen  eine  nahezu  halbkreisförmige  Bahn  zurücklegen. 

Wird  die  Stromesrichtung  oft  gewechselt,  so  kann  man  die  Para- 
maecien zu  fortwährender  Umkehr  bald  nach  dieser,  bald  nach  jener 
Seite  veranlassen.  Schnell  wechselnde  Ströme  bewirken  aber,  wie 
leicht  ersichtlich,  überhaupt  keinerlei  bestimmte  Schwimmrichtung  und 
daher  auch  keine  locale  Ansammlung  der  Protisten.  Obschon  nun 
von  vornherein  kein  Zweifel  darüber  bestehen  kann,  dass  es  sich  hier, 
gerade  wie  bei  den  vorhin  genannten  Arno  eben,  um  einen  durch 
latente  Schliessungserregung  an  der  Anode  bedingten  „Galvanotropis- 
mus"  handelt,  so  lässt  sich  dies  doch  auch  ganz  direct  durch  ent- 
sprechende Versuche  an  anderen  Infusorien  nachweisen,  welche  dem 
Strome  gegenüber  minder  resistenzfähig  sind,  als  Paramaeciura 
aurelia.  So  ist  es  Verworn  gelungen,  bei  Paramaecium  bur- 
saria,  das  bei  schwächeren  Strömen  ebenso  ausgezeichnet  galvano- 
tropisch ist,  wie  P.  aurelia,  durch  Anwendung  sehr  starker  Ströme, 
ähnlich  wie  bei  den  oben  erwähnten  Rhizopoden,  eine  sichtbare  Zer- 
störung des  einen  Körperpoles  herbeizuführen,  und  zwar  stets  der 
Anode,  also  des  beim  Schwimmen  nach  hinten  gerichteten  Poles.  „Bei 
Schliessung  des  Stromes  tritt  zunächst,  wie  gewöhnlich,  Axeneinstellung 
ein,  und  während  nun  das  Protist  nach  der  Kathode  hinüber  zu 
schwimmen  beginnt,  tritt  am  hinteren  Körperpol  eine  hyaline  Masse 
hervor,  die  sich  langsam  vergrössert."  Dass  es  sich  dabei  um  ein 
Analogen  des  Zerfalls  auf  der  Anodenseite  von  Actinosphaerium 
und  P  e  1 0  m  y  X  a  handelt,  dürfte  wohl  kaum  zu  bezweifeln  sein.  Noch 
leichter  gelingt  es,  dieselbe  Wirkung  bei  Bursaria  truncatella  zu 
erzielen,  wo  schon  bei  Anwendung  massig  starker  Ströme  ein  körniges 
Zerfliessen  des  anodischen  Körperendes  eintritt,  das,  solange  der  Strom 
geschlossen  bleibt,  fortschreitet,  bis  das  ganze  Thier  in  einen  durch 
klebrige  Massen  nur  locker  zusammengehaltenen  Körnerhaufen  zer- 
fallen ist.  Dabei  haben  diese  schwerfälligen  grossen  Infusorien  be- 
sonders bei  stärkeren  Strömen  meist  gar  nicht  Zeit,  erst  ihre  Axe  ein- 
zustellen, sondern  der  Zerfall  ergreift  jede  beliebige  Seite  des  Körpers, 
die  gerade  im  Momente  der  Schliessung  der  Anode  zugekehrt  ist 
(Verworn). 

Aehnlich  wie  die  genannten  verhalten  sich  nun  noch  eine  grosse 
Zahl  anderer  von  Verworn  untersuchter  ciliater  Infusorien,  sowie 
einige  Flagellaten  (Peridinium  tabulatum  und  Tra'che- 
lomonas   hispida).     Dagegen   übt    bei    einigen    anderen   Protisten- 


264 


Elektrische  Eeizung  der  Muskeln. 


formen  der  Strom  einen  richtenden  Einfluss  im  gerade  entgegen- 
gesetzten Sinne  aus,  wie  in  den  bisher  besprochenen  Fällen.  Be- 
zeichnet man  demnach  eine  nach  der  Kathode  hingerichtete  Schwimm- 
(oder  Kriech-)  Bewegung  als  negativen  Gal  vano  tr  opi  smus,  so 
würde  als  positiver  G  a  1  v  a  n  o  t  r  o  p  i  s  m  u  s  die  Einstellung  mit  dem 
Vorderende  und  das  Schwimmen  nach  der  Anode  hin  zu  be- 
zeichnen sein.  Ein  solches  Verhalten  fand  Verworn  bei  Opa- 
lina ranarum,  sowie  bei  gewissen  Flagellaten,  besonders  Polytoma 
u  V  e  1 1  a  und  C  r  y  p  1 0  m  0  n  a  s  e  r  o  s  a.  Bemerkens werth  ist  ferner  die 
von  Verworn  als  „tranversaler  Galvano  tropismus"  beschriebene 
Erscheinung,  dass  gewisse,  sehr  gestreckte  Infusorien  (so  das  2  mm  lange 
Spirostomum  ambyguum)  sich  mit  ihrer  Längsaxe  senkrecht 
zu  den  Stromfäden  stellen  (vielleicht  wegen  mangelnder  Erregung 
bei  Querdurchströmung).  Sieht  man  von  diesen  vereinzelten  Fällen 
ab,  die  noch  eines  eingehenderen  Studiums  bedürfen,  so  darf 
man  behaupten,  dass  die  oben  aufgestellten  Sätze  betreffs  der 
elektrischen  Erregung  des  Protistenplasmas  für  die  grosse  Mehr- 
zahl der  untersuchten  Formen  Geltung  haben ,  wodurch  dieselben  in 
einen  eigenthümlichen  und  gewiss  höchst  bemerkenswerthen  Gegen- 
satz zu  allen  Muskelelementen,  sowie  auch  zu  den  Nervten  treten.  Die 
naheliegende   Annahme,    dass    das    polare    Erregungsgesetz    im    Sinne 

Pflüge r's  für  jedes  irritable 
Plasma  ohne  Ausnahme  Geltung 
hat,  erscheint  hierdurch  end- 
gültig widerlegt. 

An  die  im  Vorstehenden 
erörterten  Thatsachen  schliessen 
sich  naturgemäss  die  interessan- 
ten Beobachtungen  von  Roux 
über  „morphologische  Po- 
larisation" von  Eizellen 
an  (48).  In  der  Absicht,  fest- 
zustellen, ob  der  elektrische 
Strom  die  Richtung  der  ersten 
Theilung  des  Eies  zu  beein- 
flussen vermag,  setzte  Roux 
ein  etwa  4  cm  langes  gerades 
Band  von  Froschlaich  mit  be- 
reits befruchteten  Eiern  der 
Wirkung  eines  starken,  zu  Be- 
leuchtungszwecken dienenden 
Wechselstromes  von  100  Volt 
Spannung  aus,  wobei  schon 
nach  10  Minuten  an  jedem  Ei 
eine  senkrecht  stehende,  das  Ei 
halbirende  Furche  hervortritt,  welche  überall  rechtwinklig  zur 
Stromesrichtung  orientirt  war.  Schon  vorher  lässt  sich  eine  deut- 
liche Scheidung  der  Oberfläche  in  drei  Felder  constatiren,  welche 
durch  zwei  parallele,  kreisförmige  Grenzlinien  gesondert  sind,  ein 
äquatoriales  Gürtelfeld  ohne  erkennbare  Veränderungen, 
und  zwei  den  Elektroden  zugewendete  Polfelder  mit  veränderter, 
verfärbter  Oberfläche.  Wurde  statt  eines  einzigen  Bandes  von 
Froschlaich    eine    einfache  Lage    von  Eiern    durchströmt,    welche    den 


Fig.  100.  Froscheier  in  einer  Schale  mit 
Wasser  von  den  beiden  geraden,  die  senk- 
recht eingesetzten  Elektroden  markirenden 
Strichen  aus  durchströmt.  Die  Polfelder 
dunkel.     (Nach  Eoux.) 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  265 

Boden  einer  runden  Schale  bedeckten,  wobei  die  Elektroden  an  zwei 
einander  entgegengesetzten  Stellen  des  Randes  angelegt  waren,  so 
markiren  die  Aequatorgürtel  oder  richtiger  ihre  Grenzlinien  gegen 
die  Polfelder  sämmtlicher  Eier  Curven,  welche  alle  rechtwinklig 
zu  der  mittleren,  geraden  Verbindungslinie  der  Elektroden  beginnen 
(Fig.  lOOj,  um  sich  dann,  die  zunächst  liegende  Elektrode  im  Bogen  um- 
ziehend, unter  allmählicher  Vergrösserung  ihres  Abstandes  gegen  den 
Rand  der  Schale  zu  wenden  und  hier  wieder  im  rechten  Winkel  zur 
Umrandung  zu  enden.  Die  Krümmung  der  Curven  ist  unmittelbar 
neben  den  Elektroden  am  grössten  und  nimmt  bis  zu  der  in  gerader 
Richtung  senkrecht  auf  die  Elektrodenaxe  verlaufenden  Mittellinie 
allmählich  ab.  Wie  schon  die  blosse  Betrachtung  zeigt,  kann  es  nicht 
zweifelhaft  sein,  dass  man  es  hier  mit  Linien  gleicher  Span- 
nung, beziehungsweise  durch  dieselben  markirten  äqui- 
potentialen Flächen  des  ganzen  elektrischen  Feldes  zu 
thun  hat.  Bei  den  einer  einzelnen  Spannungslinie  entsprechenden 
Eiern  nimmt  die  Breite  der  Aequatorflächen  mit  der  Entfernung  von 
der  geraden  Verbindungslinie  der  Elektroden  zu,  so  dass  die  dem 
Schalenrand  zunächst  liegenden  Eier  die  kleinsten  Polfelder  und  zu- 
gleich die  grössten  Aequatorflächen  darbieten.  Fasst  man  das  ge- 
schilderte Verhalten  jedes  einzelnen  Eies  gegenüber  dem  Wechsel- 
strome ins  Auge,  so  ist  eine  gewisse  Analogie  mit  den  früher  ge- 
schilderten Erscheinungen  an  Actin osphaerium  unter  gleichen 
Verhältnissen  nicht  zu  verkennen,  und  denkt  man  sich  etwa  derartige 
Protisten  in  der  Grösse  von  Froscheiern  bei  gleicher  Anordnung  in 
wechselnder  Richtung  durchströmt,  so  würden  nach  Zerfall  der  „Pol- 
flächen" die  übrig  bleibenden  Mittelscheiben  voraussichtlich  eine  ähn- 
liche Anordnung  entsprechend  den  Spannungslinien  erkennen  lassen, 
wie  die  Eiäquatoren  in  dem  Roux'schen  Versuch. 

Diese  üebereinstimmung    erstreckt    sich    aber   auch    auf  die  Ver- 
schiedenheit   der  Wirkungsweise   beider  Pole,    was    natürlich   nur   bei 
Behandlung    mit    dem    Gleichstrom    hervortritt.     Bei    gleicher   Anord- 
nung  wie   vorher  entwickelt    sich,    wie  Roux  zeigte, 
an  reifen,  unbefruchteten  Eiern  „in  weiter,  die  Mittel- 
linie   des    elektrischen    Feldes    überschreitender    Um- 
gebung der  positiven  Elektrode  bloss  e  i  n  grosses,  grau  ■ 
verfärbtes ,     der    Anode    zugewendetes   Polfeld, 
und  bloss  die  der  Kathode  nächsten  zwei  Reihen  Eier 
hatten  ein  verfärbtes,  kathodisch  gelegenes  Polfeld      Fig.  101.     „Spe- 
unter  Fehlen  eines  anodischen".     Dieses   letztere    ent-      cialpolarisation" 
steht  auch   immer  später  und  die  Veränderungen  sind      theütell!  voTstar- 
viel  geringer  als  am  positiven  Felde.     Bei  schwächeren        ken  Wechsel- 
Strömen    entsteht    auf   der    negativen    Seite    des   Eies      strömen     durch- 
Überhaupt   kein    Polfeld.                                                                               flossenen  Eizelle. 

Wenn  man  die  geschilderten  Stromeswirkungen  ^^^^^  Roux.) 
nun  auch  nicht  direct  als  Erfolge  einer  elektrischen 
Erregung  des  Eiplasmas  wird  bezeichnen  wollen,  so  handelt  es  sich 
dabei  doch,  wie  es  scheint,  um  eine  specifische  Reaction  der  noch 
lebenden  oder  wenigstens  annähernd  normalen  Eizelle,  wenngleich 
die  Entwicklungsfähigkeit  nicht  nothwendig  erhalten  zu  sein  braucht. 
An  Massen  frisch  ausgetretener  Eisubstanz  konnte  Roux  niemals 
Polfelderbildung  nachweisen. 

Interessant  gestaltet    sich    auch    das  Verhalten  von  Eiern,    welche 


266  Elektrische  Eeizung  der  Muskeln. 

sich  bereits  in  verschiedenen  Stadien  der  Furchung  befinden.  Sowohl 
an  dem  in  zwei  und  mehr  Zellen  getheilten  Ei  (Fig.  101),  wie  auch  im 
Morulastadium  und  auch  noch  an  der  in  zahlreiche  kleine  Zellen  zer- 
legten Blastula  zeigt  nämlich  jede  einzelne  Zelle  der  Oberfläche  bei 
Durchströmung  des  ganzen  Gebildes  eine  „Specialpolarisation", 
indem  „die  bloss  an  den  Polseiten  des  Eies  liegenden  Zellen  je  ein 
von  aussen  sichtbares  Polfeld  erhalten,  welches  dem  Pole  dieser  Seite 
des  Eies  zugewendet  ist,  während  der  Aequator  den  distal  vom  Pol 
gelegenen  Theil  der  freien  Oberfläche  der  Zelle  einnimmt".  Bei  weiter 
vorgeschrittener  Theilung  in  immer  kleinere  und  weniger  vorspringende 
Zellen  bei  älteren  Blastulae  und  der  Gastrula  kommt  es  dagegen  unter 
denselben  Verhältnissen  wieder  zur  Bildung  eines  Gesammtäquators 
zwischen  zwei  Gesammtpolfeldern ,  indem  ein  Gürtel  von  den  Polen 
am  weitesten  abgelegener  Zellen  unverändert  bleibt.  Es  scheint,  dass 
die  Specialpolarisation  der  einzelnen  Zellen  früherer  Furchungsstadien 
an  „eine  mit  der  Vitalität  derselben  schwindende  Eigenschaft  geknüpft 
ist",  da  jeder  Eingriff",  welcher  geeignet  erscheint,  die  Lebensenergie 
des  Eies  zu  schwächen,  auch  die  Entstehung  von  Specialpolfeldern 
theilweise  oder  ganz  verhindert,  ohne  zunächst  die  charakteristische 
„Totalpolarisation"  des  ganzen  Zellaggregates  zu  beeinträchtigen.  So 
beobachtete  Roux  an  gefurchten  Eiern  nach  schwacher  Vergiftung 
mit  Carbolsäure,  wodurch  ihre  äussere  Form  nicht  wesentlich  ver- 
ändert wurde ,  dass  zwar  im  ersten  Momente  der  Durchströmung 
Specialpolfelder  entstanden,  dieselben  dehnten  sich  aber  sehr  rasch 
über  die  ganze  direct  von  den  Stromfäden  getroff'ene  Zelloberfläche 
aus,  so  dass  nun  jederseits  „ein  einheitliches,  aber  im  Bereiche 
der  oberen  Hemisphäre  aus  gerundet  vorspringenden  Zellen  bestehen- 
des Polfeld  entsteht  5  und  zwischen  beiden  liegt  der  von  zwei  durch- 
gehenden, parallelen  Linien  begrenzte  „Generaläquator".  Bei  etwas 
stärkerer  Vergiftung  tritt  dann  überhaupt  keine  Reaction  ein.  Aehn- 
liche  Veränderungen  lassen  sich  auch  durch  verschiedene  hohe  Tem- 
peraturen herbeiführen. 

Während  kurzes  Einlegen  ungefurchter  Eier  oder  Morulae  in 
Wasser  von  39 — 45  '^  C.  die  Reactionsfähigkeit  bedeutend  steigert,  hat 
eine  längere  Einwirkung  der  Wärme  den  umgekehrten  Erfolg,  und  die 
]\[orulae  bilden  unter  diesen  Umständen  keine  Specialpolfelder  mehr, 
sondern  nur  die  beiden  „Generalpolfelder"  getrennt  durch  einen 
Aequator.  Auch  diese  Erfahrungen  im  Verein  mit  der  weiteren  That- 
sache,  dass  auch  Abkühlung  der  Eier  die  Reaction  auf  den  Strom 
sehr  erheblich  verzögert,  weisen  darauf  hin,  dass  man  es  hier  mit 
einem  vitalen  Phänomen  zu  thun  hat,  dessen  weitere  Erforschung 
gewiss  noch  mancherlei  Aufschluss  über  das  eigentliche  Wesen  der 
polaren  Stromeswirkungen  verspricht. 


TJelbersicht  der  Ergebnisse. 

Fassen  wir  nunmehr  die  Resultate  der  im  Vorstehenden  ausführ- 
lich mitgetheilten  Untersuchungen  über  die  sichtbaren  Folgewirkungen 
der  elektrischen  Reizung  verschiedener  contractiler  Substanzen  zu- 
sammen, so  werden  sich  zugleich  gewisse  Gesichtspunkte  ergeben,  von 
denen  aus  es  möglich  erscheint,  wenigstens  einigermaassen  begründete 
Vermuthungen  hinsichtlich  der  eigentlichen  Wirkungsweise  des  Stromes 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  267 

ZU  gewinnen.  Vor  Allem  ist  zu  bemerken,  dass  sieh  das  von  Du 
Bois-Reymond  seiner  Zeit,  allerdings  nur  mit  Rücksicht  auf  die 
elektrische  Reizung  motorischer  Nerven,  aufgestellte  allgemeine 
Gesetz  der  Erregung,  Avelches  in  der  Folge  auch  für  die 
directe  Reizung  contractiler  Substanzen  als  geltend  angesehen 
wurde,  als  den  Thatsachen  nicht  entsprechend  erwiesen  hat.  Es 
kann  dasselbe  daher  auch  nicht  wohl  zur  Grundlage  theoretischer 
Erwägungen  in  Bezug  auf  das  eigentliche  Wesen  der  elektrischen 
Erregung  gemacht  werden.  Bekanntlich  lautet  das  Gesetz  in  seiner 
ursprünglichen  Fassung  folgendermaassen: 

„Nicht  der  absolute  Werth  der  Stromdichtigkeit  in  jedem  Augen- 
blicke ist  es,  auf  den  der  Bewegungsnerv  (beziehungsweise  Muskel, 
contractiles  Plasma  überhaupt)  mit  Zuckung  des  zugehörigen  Muskels 
(beziehungsweise  Erregung  überhaupt)  antwortet,  sondern  die  Ver- 
änderung dieses  Werthes  von  einem  Augenblick  zum  andern,  und 
zwar  ist  die  Anregung  zur  Bewegung,  die  diesen  Veränderungen 
folgt,  um  so  bedeutender,  je  schneller  sie  bei  gleicher  Grösse  vor  sich 
gingen  oder  je  grösser  sie  in  der  Zeiteinheit  waren." 

Wenn  auch  zuzugeben  ist,  dass  in  vielen  Fällen,  und  insbesondere 
bei  allen  rasch  reagirenden,  die  Erregung  dem  ent- 
sprechend auch  rasch  leitenden  contractilen  Substanzen,  der 
Reizerfolg  (insoweit  er  sich  durch  sichtbare  Gestaltveränderungen 
verräth)  vorzugsweise  im  Momente  des  Entstehens  oder  Verschwindens 
des  Stromes  sich  geltend  macht  (Schliessungs-  und  Oeffnungs- 
zuckung),  so  kann  es  doch  andererseits  nicht  dem  geringsten 
Zweifel  unterliegen,  dass  der  elektrische  Strom  in  jedem  Falle 
während  der  ganzen  Dauer  seines  Fliessens  jene  Verände- 
rungen der  irritablen  Substanzen  bewirkt,  welche  einerseits  der  Er- 
regung, andererseits  dagegen  antagonistischen  Hemmungsvorgängen 
zu  Grunde  liegen.  In  vielen  Fällen  sind  sogar  diese  Dauerwirkungen 
überhaupt  die  einzigen,  welche  im  Gefolge  der  elektrischen  Reizung 
hervortreten  (glatte  Muskeln,  viele  Protisten).  Ströme  von  zu  kurzer 
Dauer  bleiben  dann  wirkungslos,  und  es  lässt  sich  dies,  wie  gezeigt 
wurde,  auch  für  quergestreifte  Muskeln  bei  Anwendung  geeigneter 
Versuchsmethoden  nachweisen.  Der  Strom  muss,  um  erregend 
zu  wirken,  unter  allen  Umständen  eine  gewisse  und 
zwar  um  so  grössere  Dauer  besitzen,  je  geringer  die 
Erregbarkeit  und  je  langsamer  die  Reaction  des  be- 
treffenden Plasmas  ist.  Ebenso  wenig,  wie  bei  der  Schliessung 
des  Stromes  die  Erregung  nur  eben  den  Moment  des  Entstehens  be- 
gleitet, ist  dies  der  Fall  bei  Oeffnung  des  Stromkreises;  auch  die 
Oeffnungserregung  überdauert  erheblich  das  Verschwinden  des 
Stromes. 

Der  maassgebende  Einfluss,  welchen  die  Erscheinung  der 
Schliessungs-  und  Oeffnungs  z  u  c  k  u  n  g  des  quergestreiften  Muskels 
von  Anfang  an  auf  die  ganze  Auffassung  und  theoretische  Beui'- 
theilung  der  Stromeswirkung  gewonnen  hat,  macht  es  nothwendig, 
an  dieser  Stelle  nochmals  die  Frage  zu  berühren,  welche  Bedingungen 
überhaupt  für  das  Zustandekommen  einer  Contractions welle  erfüllt 
sein  müssen.  Die  Erfahrung  lehrt,  dass,  wenn  eine  Welle,  d.  h.  eine 
merkliche  Zuckung  des  ganzen  längsdurchströmten  Muskels,  entstehen 
soll,  erstlich  die  (Grösse  des  Reizes  eine  gewisse  minimale  Grenze 
überschreiten  muss.     Ist  der  Reiz  zu  schwach,    so  bleibt  die  Contrac- 


268  Elektrische  Keizuug  der  Muskeln. 

tion  entweder  nur  local  oder  verbreitet  sich  nur  über  einen  be- 
schränkten Abschnitt  des  Muskels  durch  Leitung  von  Querschnitt  zu 
Querschnitt,  um  schliessb'ch  in  Folge  des  „Decrementes"  zu  erlöschen. 
Die  zweite,  durch  die  Erfahrung  unmittelbar  gegebene  Bedingung  der 
Fortpflanzung  der  Erregung  ist  ferner  eine  gewisse  Raschheit  des 
Entstehens  derselben  in  der,  nöthigen  Grösse.  Die  Ver- 
änderungen an  der  Stelle  der  directen  Reizung  müssen  hier  plötz- 
lich einen  entsprechend  hohen  Grad  erreichen,  dann  erst  überträgt 
sich  die  Erregung  auf  benachbarte  Querschnitte,  und  diese  w^irken 
nun  ihrerseits  in  gleicher  Weise  auf  ihre  Nachbarn.  Dass  dem  so  ist, 
ergiebt  sich  unmittelbar  aus  dem  Umstände,  dass  es  leicht  gelingt, 
einen  selbst  sehr  starken  Kettenstrom  in  einen  Muskel  hineinzu- 
schleichen, ohne  dass  sichtbare  Erregungserscheinungen  eintreten, 
wobei  die  allmählich  zunehmende  locale  Ermüdung  an  der  Kathode 
als  ursächliches  Moment  gewiss  w^esentlich  mit  in  Betracht  kommt. 
Dies  findet  seinen  Ausdruck  nicht  allein  in  der  elektrischen 
Schliessungs-  und  Oeffnungszuckung,  sondern  auch  in  zahlreichen 
anderen  Erfahrungen.  So  braucht  nur  daran  erinnert  zu  werden, 
dass  auch  eine  mechanische,  etwa  durch  Druck  verursachte  Reizung 
keine  Muskel zuckung  veranlasst,  wenn  sie  nur  ganz  allmählich  ge- 
steigert wird. 

Alles  dies  wirft  aber  zugleich  Licht  auf  die  eigentliche  Bedeutung 
des  Du  B 0 i s 'sehen  Erregungsgesetzes,  indem  sich  zeigt,  dass  nicht 
sowohl  die  örtlichen  Veränderungen  am  Reizorte  selbst,  sondern 
vielmehr  die  Fortleitung  des  Erregungsvorganges,  d.  h.  die  Aus- 
lösung einer  Reiz- (Contractions-)  We  1 1  e ,  von  In  tensitäts  seh  wan- 
kungen des  Stromes  und  deren  Steilheit  abhängig  sind,  sofern  es  sich 
überhaupt  um  Objecte  mit  hinlänglich  entwickeltem  Leitungsvermögen 
handelt.  Das  „allgemeine  Gesetz  der  Ei'reguug"  bezieht  sich  daher 
nicht  sowohl  auf  den  Ablauf  des  Erregungsvorganges  und  auf  das 
Zustandekommen  der  demselben  zu  Grunde  liegenden  Veränderungen 
der  erregbaren  Substanz  am  Orte  der  directen  Reizung  (der 
physiologischen  Anode  und  Kathode),  sondern  vielmehr  nur  auf  die 
Bedingungen  der  Fortpflanzung  des  Erregungsvor- 
ganges durch  Leitung.  In  diesem  Sinne  lässt  sich  dann  das 
Gesetz  auch  so  ausdrücken : 

Fortpflanzung  der  Erregung  vom  Orte  der  directen 
Reizung  findet  bei  Ein  Wirkung  des  elektrischen  Stromes 
an  geeigneten  Objecten  in  der  Regel  nur  bei  genügend 
raschen  Stromesschwankungen  statt,  mögen  dieselben 
nun  von  Null  oder  irgend  einem  endlichen  We r t h  aus- 
gehen. 

Die  vergleichende  Untersuchung  möglichst  verschiedener  contrac- 
tiler  Substanzen  zeigt  nun  ganz  unmittelbar,  dass  am  Orte  der  directen 
Reizung  selbst  während  der  ganzen  Dauer  des  Stromes  wie 
auch  einige  Zeit  nachher  sichtbare  Veränderungen  bestehen  bleiben, 
deren  Bedeutung  nur  in  den  Fällen  unterschätzt  werden  könnte,  wo 
sie,  wie  beispielsweise  beim  quergestreiften  Muskel,  gegenüber  den  Er- 
folgen der  fortgeleiteten  Erregung  („Zuckung")  mehr  oder  weniger  in 
den  Hintergrund  treten.  Ohne  hier  näher  auf  die  Frage  einzugehen, 
weshalb  in  der  Regel  nur  eine  Contractionswelle  bei  Schliessung 
oder  OefFnung  des  Stromkreises  abläuft,  muss  doch  darauf  hingewiesen 
werden,    dass    dies   unter    Umständen    auch   bei    i  ntermittir ender 


Elektrische  Reizung  dei*  Muskeln.  269 

Dauerreizung  mit  gleichgerichteten,  rasch  unterbrochenen  Strömen  ge- 
schieht, sowie  umgekehrt  in  andern  Fällen  dauernde  Schliessung  eines 
Kettenstromes  einen  äusserlich  ähnlichen,  dauernden  Erregungszustand 
des  ganzen  Muskels  zur  Folge  haben  kann,  wie  sonst  nur  inter- 
mittirende  Reizung.  In  ersterer  Hinsicht  zeigten  Bernstein  und 
E  n  g  e  1  m  a  n  n  ,  dass,  wenn  bei  rascher  Unterbrechung  eines 
Kettenstromes  die  Pause  zwischen  je  zwei  auf  einander 
folgenden  Schliessungen  unter  einen  gewissen  Werth 
sinkt,  der  Erfolg  der  Reizung  quergestreifter  Muskeln 
gleich  dem  der  Schliessung  eines  constanten  Stromes 
ist;  d.  h.  es  läuft  nur  eine  einzige  Contractionswelle  (Anfangs- 
zuckung)  von  der  Kathode  ab,  an  der  es  dann,  wie  bei  dauernder 
Schliessung,  zu  einer  localen  Dauercontraction  kommt.  Die  Grösse 
des  betreffenden  Zeitwerthes  nimmt  ab  mit  wachsender  Stromstärke 
und  wächst  mit  abnehmender  Reizbarkeit, 

Noch  leichter  lässt  sich  nach  Engelmann  dieselbe  Thatsache 
am  träge  reagirenden  Ureter  nachweisen ,  da  hier  die  Pausen 
zwischen  je  zwei  auf  einander  folgenden  Schliessungsreizen  sehr  viel 
grösser  sein  können,  als  beim  quergestreiften  Muskel,  ohne  dass  an 
dem  Erfolge  etwas  geändert  wird,  indem  nur  im  Beginn  und  am  Ende 
der  intermittirenden  Reizung  eine  Contractionswelle,  ersterenfalls  von 
der  Kathode,  letzterenfalls  von  der  Anode,  abläuft  („Anfangs-  und 
Endzuckung").  Unter  allen  Umständen  ist  also  eine  gewisse,  bei 
verschiedenen  contractilen  Substanzen  (deren  Leitungsvermögen  über- 
haupt höher  entwickelt  ist)  sehr  wechselnde  Zeit  erforderlich,  bevor 
nach  Ablauf  einer  Contractionswelle  die  Bedingungen  sich  wieder 
herstellen,  welche  zum  Zustandekommen  einer  neuen  Reizwelle  er- 
forderlich sind  (Engelmann). 

Die  oben  mitgetheilten  Erfahrungen  über  Auslösung  rhythmisch 
auf  einander  folgender  Contractions  wellen  bei  dauerndem  Geschlossen- 
bleiben eines  Kettenstromes  widersprechen  dem  Gesagten  durchaus 
nicht.  Offenbar  kommt  es,  ganz  allgemein  ausgedrückt,  nur  auf  die 
Wiederherstellung  eines  ursprünglich  vorhandenen  Zustandes  der  er- 
regbaren, leitungsfähigen  Substanz  an,  wenn  während  des  Fort- 
bestehens einer  stetig  wirkenden  Reizursache  neuerdings  eine  Contrac- 
tionswelle ablaufen  soll. 

Dies  wird  aber,  sofern  nur  das  Verhältniss  und  der  zeitliche  Ver- 
lauf der  Assimilations-  und  Dissimilationsprocesse  der  lebenden  Sub- 
stanz entsprechende  sind,  ebensowohl  dann  der  Fall  sein  können,  wenn 
es  sich  um  eine  intermittirende  Reizung  handelt,  wie  im  Falle  einer 
stetig  fortwirkenden  Erregungsursache.  In  letzterer  Beziehung  braucht 
bloss  auf  das  so  weitverbreitete  Vorkommen  rhythmischer  Bewegungs- 
vorgänge  verwiesen  zu  werden,  die  in  vielen  Fällen  nachweislich  auf 
der  Fähigkeit  gewisser  Plasmaarten  beruhen,  einen  stetigen  Reiz  in 
rhythmische  Erregung  umzusetzen.  Von  dem  nicht  weiter  differenzirten 
Plasma  der  Protisten  (contractile  Vacuolen)  bis  zu  den  quergestreiften 
Muskeln  hinauf  findet  man  dieses  Vermögen  mehr  oder  weniger  ent- 
wickelt, doch  machen  sich  gradweise  Unterschiede  bemerkbar.  So 
sehen  wir  auch  den  ganglienfreien  Herzmuskel  nicht  nur  bei  gieichmässig 
andauernder  mechanischer  oder  chemischer  Reizung,  sondern  auch 
unter  dem  Einfluss  des  constanten  Stromes  rhythmisch  pulsiren,  und 
dasselbe  gilt,  wenn  auch  in  viel  geringerem  Grade,  vom  quergestreiften 
Stammesmuskel.    Ohne  auf  die  Frage  nach  der  eigentlichen  Ui'sache  der 


270  Elektrische  Reizung  der  Muskeln. 

Rhythmicität  in  diesen  und  andern  Fällen  näher  einzugehen,  soll  hier 
nur  noch  besonders  betont  werden,  dass  gerade  auch  das  Vorkommen 
rhythmisch  wiederholter  Contractionen  während  dauerndem  Geschlossen- 
sein des  Stromes  einen  sehr  überzeugenden  Beweis  dafür  liefert,  das 
bei  elektrischer  Reizung  der  Vorgang  der  Erregung  dauernd  ausgelöst 
wird.  Von  grosser  Bedeutung  sind  in  dieser  Beziehung  auch  gewisse, 
später  näher  zu  erörternde  elektromotorische  Folge  Wirkungen  der 
Durchströmung  von  Muskeln,  welche  man  seit  Du  Bois  unter  dem 
Namen  der  secundär  elektromotorischen  Erscheinungen  zusammen- 
zufassen pflegt. 

Als  zweite  fundamentale  Thatsache  das  ganzen  Gebietes 
ist  das  Gesetz  von  der  ausschliesslich  polaren  Wirkung 
jedes  wie  immer  erzeugten  elektrischen  Stromes  zu  be- 
zeichnen, dem  zu  Folge  derErregungsvorgangbeimEntstehen 
und  während  der  Schliessungsdauer  des  Reizstromes  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  primär  nur  an  der  physiologischen 
Kathode,  beim  Verschwinden  und  nach  Oeffnung  des 
Kreises  aber  nur  an  der  physiologischen  Anode  aus- 
gelöst wird.  Eine  bemerkenswerthe  Ausnahme  in  Bezug  auf  die 
erwähnte  Localisation  der  Erregung  bei  elektrischer  Reizung  bilden, 
wie  gezeigt  wurde,  viele,  ja  vielleicht  die  Mehrzahl  der  Protisten,  bei 
welchen  die  Erregung  zwar  auch  streng  polar  erfolgt,  aber  bei  der 
Schliessung  an  der  Anode,  bei  der  Oeffnung  an  der  Kathode  localisirt 
erscheint;  auch  die  Beobachtungen  von  Roux  über  die  morphologische 
„Polarisation"  von  Eizellen  würden  sich  hier  anreihen.  In  vielen 
Fällen  lassen  sich  ferner  durch  entsprechende  sichtbare  Gestaltver- 
änderungen ebenso  gesetzmässige  e  r  r  e  g  u  n  g  s  h  e  m  m  e  n  d  e  Wirkungen 
des  Stromes  nachweisen,  welche  gleichzeitig  mit  den  Erregungs- 
erscheinungen auftreten,  aber  an  dem  entgegengesetzten  Pole 
localisirt  sind.  Der  kathodischen  Schliessungserregung 
entspricht  daher  gleichzeitig  eine  anodische  Schliessungshem- 
mung,  der  anodischen  Oeffnungserregung  eine  kathodische 
Oeffnungshemmung.  Es  zeigen  also  sowohl  die  gleichzeitig 
vorhandenen  polaren  Stromes  Wirkungen,  beziehungsweise  Nachwirkungen, 
wie  auch  die  nach  einander  am  gleichen  Pole  hervortretenden 
Wirkungen  im  Allgemeinen  antagonistischen  Charakter,  was 
sich  insbesondere  auch  in  dem  gegensätzlichen  Verhalten  der  „elektro- 
tonischen"  Erregbarkeits Veränderungen  an  den  physiologischen  Polen 
ausprägt,  die  es  ermöglichen,  namentlich  die  HemmungsAvirkungen 
auch  in  solchen  Fällen  nachzuweisen,  wo  wegen  Mangels  eines  tonischen 
Erregungszustandes  eine  sichtbare  Gestaltveränderung  nicht  hervor- 
tritt. Soweit  sich  aus  Versuchen  an  Muskeln  schliessen  lässt,  scheint 
der  Strom,  wenn  seine  Stärke  gewisse  Grenzen  nicht  überschreitet, 
die  intrapolare  Strecke  zu  durchsetzen,  ohne  merkliche  Veränderungen 
innerhalb  derselben  hervorzurufen.  Unter  gewissen  Umständen  treten 
allerdings  in  der  Umgebung  der  physiologischen  Pole,  und  zwar 
während  der  Schliessung  der  Anode,  nach  der  Oeffnung  der  Kathode 
Erregungserscheinungen  hervor,  welche  aber  wohl  nur  durch  Strom- 
schleifen und  Bildung  secundärer  Elektrodenstellen  bedingt  sein  dürften 
und  denen  daher  gleichzeitig  antagonistische  Veränderungen  (Hem- 
mungen) in  der  Umgebung  des  anderen  Poles  entsprechen. 

Die  Fortdauer  der  erregenden  bezw.  hemmenden  Wirkungen  des 
Stromes  während  der  Schliessungszeit,  sowie  die  polare  Beschränktheit 


Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  271 

und  der  Antagonismus  derselben  lassen  es  zweifellos  erscheinen,  dass 
die  Erfolge  der  elektrischen  Reizung  nur  eine  besondere 
A  e  u  s  s  e  r  u  n  g  der  beginnenden  Elektrolyse  der  lebenden 
Substanz  darstellen.  Dann  wird  es  auch  im  Allgemeinen  verständlich, 
dass  sich  die  anodischen  und  kathodischen  Veränderungen  in  ihrer 
Wirkung  aufheben,  wenn  sie,  wie  bei  einer  Querdurchströmung  an  den 
gegenüber  liegenden  Längsseiten  einer  Muskelfibrille  oder  überhaupt 
eines  sehr  schmalen  Streifens  contractiler  Substanz  (etwa  eines  Pseudo- 
podiums) erzeugt  werden.  Es  widerspricht  dieser  Auffassung  auch  nicht, 
dass  die  der  Erregung  zu  Grunde  liegenden  Veränderungen  bei  gewissen 
Plasmaarten  nicht  an  der  Kathode,  sondern  im  Gegentheil  an  der 
Anode  localisirt  erscheinen;  denn  offenbar  hängt  dies  nur  von  der 
Qualität  der  erregbaren  Substanz  ab,  die  nicht  nothwendig  in  allen 
Fällen  dieselbe  zu  sein  braucht.  Diese  flüchtigen  Andeutungen  mögen 
an  dieser  Stelle  genügen;  es  wird  unsere  Aufgabe  sein,  später  noch- 
mals im  Zusammenhang  auf  die  Theorie  der  elektrischen  Erregung, 
soweit  sich  eine  solche  zur  Zeit  aufstellen  lässt,  näher  einzugehen. 


LITERATUR. 

1.  E.  Hering,  Beiträge  zur  allgem.  Nerven-  und  Muskelphysiologie.     II.     (Sitzungs- 

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18.  Tschirjew,  Du  Bois  Arch.     1877.     p.  489. 


272    •                                       Elektrische  Reizung  der  Muskeln.  S 

19.  J.  Albrecht,  Meyer  und  GiuflFre,  Pflügers  Arch.     21.     p.  462  ff.  * 

{Untersuchungen  über  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  u.  s.  w.     Braun- 
schweig 1862.     p.  58.  ■ 
Arch.  für  Anat.   und  Physiol.     1867.     p.  688.  i 

21.  M.  SchifiF,  Moleschotts  Untersuchungen.     V.     p.  181  ff.  \ 

22.  W.  Biedermann,  Pflügers  Arch.    47.     1890.     p.  250  f.  | 

23.  E.  Brücke,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     LXX.     III.  Abth.     1874.  ' 

24.  W.  Biedermann,  Beiträge  zur  allgem.  Nerven-  u.  Muskelphysiol.     III.  (Sitzungs- 

berichte der  Wiener  Academie.)  ■ 

25.  Regeezy,  Pflügers  Arch.     43.     1888.     p.  583.  ^ 

26.  W.  Biedermann,  Beiträge  zur  allgem.  Nerven-  u.  Muskelphysiol.     IV.  (Sitzungs-                    i 

berichte  der  Wiener  Academie.     LXXIX.     III.  Abth.)  I 

27.  Engelmann,  Pflügers  Arch.     26.     p.  191.  \ 

28.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     XLV.     1889.     p.  593.  i 

29.  W.  Biedermann,  Pflügers  Arch.    46.     1890.     p.  398.  j 

30.  M.  Fürst,  Pflügers  Arch.     46.     1890.     p.  367  ff.  \ 

31.  W.  Biedermann,  Pflügers  Arch.    45.     1889.     p.  369.  •                      i 

32.  Schillbach,  Virchows  Arch.     1887.     p.  109.  ; 

33.  Lüderitz,  Pflügers  Arch.     XL VIII.     p.  1  Ö'.  j 

34.  Hillel  Jole,    Recherches    physiologiques   sur   l'action  polaire   des   courants   elec- 

triques.     These  inaug.     Geneve  1889.  ; 

35.  W.  Biedermann,    Beiträge    zur  allgem.   Nerven-  und  Muskelphysiologie.     XIV.  j 

(Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     LXXXIX.     III.  Abth.     1884.)  j 

36. Beiträge   zur   allgem.   Nerven-   und  Muskelphysiologie.     XVIII.  (Sitzungs-                    ] 

berichte  der  Wiener  Academie.     XCII.     III.  Abth.     1885.)  ; 

37.  W.  Kühne,  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1860.     p.  542.  ; 

38.  E.  Du  Bois-Reymond,  Ges.  Abhandlungen.     I.     p.  126.  • 

39.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     39.     p.  603. 

40.  Jendrassik,  Du  Bois  Arch.  für  Physiol.     1879.     p.  300.  j 

41.  Regeezy,  Pflügers  Arch.     XLV.  j 

42.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     XXX.  j 

43.  R.  Heidenhain,  Physiolog.  Studien.  j 

44.  J.  Rosenthal,  Zeitschr.  für  rat.  Med.     3.     III.     p.  132.  l 

45.  Hermann's  Handbuch  der  Physiologie.     I.     1.     p.  365  ff. 

46.  W.  Kühne,  Untersuchungen  über  das  Protoplasma.     Leipzig  1864.  i 

47.  M.  Verworn,  Pflügers  Arch.     XLV  und  XLVI.  ] 

48.  Roux,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     CI.     III.  Abth.     1892. 


D.    Die  elektromotorischen  Wirl<ungen  der  Muskeln. 


Die  in  Form  chemischer  Spannkraft  in  den  Muskeln,  wie  über- 
haupt in  jeder  lebendigen  Substanz  aufgespeicherte  potentielle  Energie 
liefert  im  Allgemeinen  drei  Formen  lebendiger  Kraft,  und  zwar  mecha- 
nische Arbeit  (Massenbewegung),  Molekularbewegung  der  Wärme  und 
Elektricität.  Unter  diesen  spielt  die  erstere,  sofern  es  sich  um  echte 
Muskelzellen  handelt,  weitaus  die  wichtigste  Rolle  und  ist  als  deren 
eigentliche  und  specilische  Leistung  anzusehen.  Dem  gegenüber  tritt 
die  Wärmebildung  bei  Weitem  nicht  so  sehr  in  den  Vordergrund, 
obschon  sie,  zumal  bei  den  Warmblütern,  eine  ausserordentlich  wich- 
tige Rolle  im  Haushalt  des  Organismus  zu  spielen  berufen  ist.  Die 
Elektricitätsentwicklung  endlich,  Avelche  uns  im  Folgenden  allein  zu 
beschäftigen  haben  wird,  tritt,  abgesehen  von  einer  verschwindend 
kleinen  Zahl  von  Ausnahmsfällen,  so  sehr  zurück  gegenüber  den  beiden 
andern  Formen  lebendiger  Kraft,  dass  es  der  feinsten  Hülfsmittel  und 
der  emplindlichsten  Methoden  bedarf,  um  nur  überhaupt  die  Thatsache 
ihres  Vorhandenseins  festzustellen.  Wenn  dem  ungeachtet  gerade 
dieses  Kapitel  der  Elektrophysiologie  zu  den  bestgekannten  und  am 
sorgfältigsten  durchgearbeiteten  der  Physiologie  überhaupt  gehört,  so 
liegt  dies  vor  Allem  in  dem  Umstände  begründet,  dass  seit  dem  Be- 
kanntwerden der  wunderbaren  Wirkungen  des  elektrischen  Stromes 
auf  reizbare  Theile  und  jenem  folgenschweren  Streit  zwischen  Gal- 
vani  und  Volta  der  Gedanke,  es  möchten  die  räthselvollen  Er- 
scheinungen der  Muskel-  und  Nerventhätigkeit  in  irgend  einer  Beziehung 
zu  der  damals  nicht  minder  dunklen  Kraft  der  Elektricität  stehen, 
niemals  ganz  verschwand.  Wenngleich  in  der  Folge  die  Ueberzeugung 
bald  zum  Durchbruch  gelangte,  dass  das,  was  sich  im  Nerven  zum 
Muskel  fortpflanzt  (das  „Nervenprincip"),  sicher  nicht  an  sich  Elek- 
tricität ist,  so  legten  doch  die  später  so  ausserordentlich  rasch  fort- 
geschrittenen Kenntnisse  der  elektromotorischen  Wirkungen  gewisser 
thierischer  Theile  und  insbesondere  gerade  der  Muskeln  und  Nerven 
immer  wieder  die  Vermuthung  nahe,  dass  diese  Wirkungen  nicht 
ohne  Bedeutung  für  die  Function  der  betreffenden  Theile  seien. 

Leider  muss  man  aber  bekennen,  dass,  ungeachtet  der  zahllosen 
Arbeiten  und  Entdeckungen  auf  diesem  so  viel  und  gern  durchforsch- 
ten Gebiete,  ein  sehr  autfjllliger  Widerspruch  zwischen  der  Summe  von 
Kenntnissen  und  Erfahrungen  im  Einzelnen  und  der  fast  gänzlichen 
Unkenntniss  ihrer  Bedeutung  für  die  Function  der  betreffenden  Ge- 
Avebe  hervortritt.  Ueber  das  Stadium  mehr  oder  weniger  begründeter 
Vermuthungen  sind  wir  hier  noch  nicht  hinaus  gekommen.     In  gross- 

Biederinann,  Elektrophysiologie.  18 


274  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

artigster  Weise  manifestirt  sich  dagegen  die  Elektricitätsentwicklung 
lebender  organischer  Theile  bei  jenen  wunderbaren  Fischen,  welche, 
ausgestattet  mit  mächtig  wirkenden  Batterieen,  ein  einzig  dastehendes 
Beispiel  liefern,  wie  aus  unscheinbaren  Anfängen,  aus  Muskeln  oder 
Drüsenzellen,  deren  elektromotorische  Wirkungen  nur  schwer  nach- 
weisbar sind ,  sich  Organe  entwickelt  haben ,  deren  Bedeutung  als 
mächtige  elektrische  Schutz-  und  Angriffswaflfen  für  ihre  Träger  so 
unverkennbar  hervortritt. 

Man  kann  sich  dem  Gewichte  dieser  Thatsache  nicht  verschliessen 
und  wird  das  grosse  Interesse,  welches  man  seit  jeher  dem  im  Folgen- 
den zu  behandelnden  Zweig  der  Elektrophysiologie  entgegenbrachte, 
um  so  berechtigter  finden,  als  durch  die  grundlegenden  Arbeiten 
Matte ucci's,  Du  Bois-Reymond's,  L.  Hermann's  ü.  A.  hier 
eine  Basis  geschaffen  wurde,  auf  Avelcher  weiter  zu  bauen  nicht  nur 
an  sich  hohen  Genuss  gewährt,  sondern  durch  die  Exaktheit  der  Methodik 
auch  ein  dereinstiges  Verständniss  der  wahren  Bedeutung  aller  Einzel- 
beobachtungen verbürgt. 

Ungeachtet  der  grossen  Bedeutung,  welche  gerade  auf  diesem 
Gebiete  der  historischen  Entwicklung  unserer  Kenntnisse  zukommt, 
darf  ich  von  einer  Besprechung  derselben  an  dieser  Stelle  absehen, 
da  es  sich  doch  nur  um  einen  kurzen  Auszug  jener  mustergültigen 
Darstellung  handeln  könnte,  welche  Du  Bois-Reymond  in  seinen 
classischen  „Untersuchungen"  davon  gegeben  hat. 

Es  soll  daher  im  Folgenden  sofort  mit  der  Besprechung  der 
elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln  während  der  „Ruhe"  be- 
gonnen werden. 


I.    Der  „Ruhestrom"  der  Muskeln. 

In  den  Jahren  1840 — 1843  wurde  ziemlich 
Matteucci  und  E.  Du  Bois-Reymond  die  Thatsache  entdeckt,  dass 
isolirte,  quergestreifte  Muskeln  sich  unter  gewissen  Bedingungen  in  einer 
streng  gesetzmässigen  Weise  elektromotorisch  wirksam  zeigen.  Damit 
war  ein  grosses  Gebiet  der  Elektrophysiologie  erschlossen,  dessen 
weitere  Erforschung  und  Bearbeitung  stets  eine  bewundernswerthe 
Leistung  Du  Bois-Rey mond's  bleiben  wird,  neben  welchem  sich 
später  insbesondere  Hermann  die  grössten  Verdienste  erworben  hat. 
Schneidet  man  aus  der  Mitte  eines  möglichst  regelmässigen,  parallel- 
faserigen Froschmuskels  (etwa  des  Sartorius,  Gracilis  oder  Semimem- 
branosus)  ein  längeres  Stück  heraus,  so  erhält  man  ein  sogenanntes 
Muskelprisma  oder  einen  M u s k e  1  c y  1  i n d e r ,  dessen  zwei  End- 
flächen durch  künstliche  Querschnitte  gebildet  werden,  wäh- 
rend die  Mantelfläche  (der  „natürliche  Längsschnitt"  Du  Bois') 
der  wirklichen  unversehrten  Muskeloberfläche  entspricht.  Legt  man 
nun  unpolarisirbare  Elektroden  von  entsprechender  Form  der  Art  an 
ein  solches  Muskelprisma  an,  dass  die  eine  den  künstlichen  Querschnitt, 
die  andere  die  Mitte  des  natürlichen  Längsschnittes  ableitend  berührt, 
so  beobachtet  man,  wenn  sich  im  Kreise  ein  hinreichend  empfindliches 
Galvanometer  (Multiplicator  oder  Spiegelbussole)  befindet,  stets  eine  sehr 
starke  Ablenkung  im  Sinne  eines  Stromes,  welcher  im  ableitenden 
Bogen  vom  Längsschnitt  zum  Querschnitt,  im  Muskel  selbst  daher  um- 
gekehrt vom  Querschnitt  zum  Längsschnitt  fliesst.     Da  jeder  beliebige 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


275 


Punkt  des  Längsschnittes,  mit  jedem  beliebigen  Punkt  des  Querschnittes 
verbunden,  immer  Ströme  in  demselben  Sinne  liefert,  so  lässt  sich  all- 
gemein der  Satz  aufstellen,  dass  die  ganze  Mantelfläche  des 
Muskelcylinders  positive,  jeder  Querschnitt  dagegen 
negative  Spannung  zeigt.  Man  findet  aber  bald,  dass  die  Ver- 
theilung  dieser  Spannungen  eine  ungleiche  ist;  denkt  man  sich  den 
Muskelcylinder  durch  eine  in  der  Mitte  durchgelegte,  den  Endflächen 
parallele  Ebene  in  zwei  Hälften  getheilt,  so  entspricht  dem  „Aequator", 
d.  h,  der  kreisförmigen  Durchschnittslinie,  an  der  Manteloberfläche 
die  grösste  positive  Spannung.  Vom  Aequator  aus  nehmen  die  posi- 
tiven Spannungen  nach  beiden  Seiten  gegen  die  Endflächen  hin  un- 
gleichmässig,  d.  h.  gegen  die  Enden  hin  schneller,  ab,  um  an  der 
Grenze  zwischen  Längsschnitt  und  Querschnitt  gleich  Null  zu  werden. 
Alle  Spannungslinien  oder  isoelektrischen  Curven  bilden  daher  parallel 
dem  Aequator  verlaufende  Kreise.  Au  den  Endquerschnitten  nimmt 
die  negative  Spannung  jederseits  von  der  Mitte  nach  der  Peripherie 
hin  ab.  Aus  dieser  Ver- 
theilung     der     Spannungen 


lässt  sich  leicht 
dass  die  Grösse 
lenkung  je  nach 
der  Fusspunkte 
leitenden  Bogens 
schieden  ausfallen 


ersehen, 
der  Ab- 
der  Lage 
des  ab- 
sehr ver- 
wird, so 


dass  man  starke,  schwache 
und  unwirksame  Anordnun- 
gen unterscheiden  kann. 
Es  wird  ofl'enbar  kein  Strom 
entstehen,  wenn  zwei  Punkte 
des  Aequators  oder  irgend 
einer  ihm  parallel  verlaufen- 
den isoelektrischen  Curve  ableitend  berührt 
nicht  der  Fall  sein,    wenn   von    symmetrisch 


Fig.  102. 


werden;  dies  wird  auch 
zum  Aequator  gelegenen 
Punkten  des  Längsschnittes  oder  entsprechenden  Punkten  beider  End- 
querschnitte •  abgeleitet  wird.  Dagegen  zeigen  sich  schwache  Ab- 
lenkungen sowohl  bei  Ableitung  von  zwei  asymmetrisch  zum  Aequator 
gelegenen  Längsschnittpunkten,  wie  auch  von  zwei  asymmetrischen 
Punkten    desselben    oder    beider   künstlichen    Querschnitte.      Fig.  102 


a  1)  c  d  stellt  einen  Schnitt  durch  den  Muskelcylinder  dar;  die  Pfeile 
bezeichnen  die  Richtung  der  in  den  ableitenden  Bogen  fliessenden 
Ströme.  In  den  Bogen,  welche  symmetrische  Punkte  verbinden,  ent- 
steht gar  kein  Strom. 

Wird  die  an  jedem  Punkte  einer  Längsschnittseite  bestehende 
Spannung  durch  die  Höhe  einer  Ordinate  ausgedrückt,  welche  auf 
der  Längsschnittseite  als  Abscisse  errichtet  wird,  so  bildet  in  Folge 
der  rascheren  Abnahme  der  Spannungen  nach  den  Endquerschnitten 
hin  die  Verbindungslinie  der  Gipfelpunkte  jener  Ordinaten  eine  beider- 
seits steil  abfallende  krumme  Linie.  Aehnlich  verhält  es  sich  auch 
am  Querschnitt  (Fig.  103). 

Verkürzt  man  den  regelmässigen  Muskelcylinder  durch  Anlegung 
neuer  Querschnitte,  so  erhält  man  stets  Cylinder  (Prismen),  welche 
für    sich    demselben    Gesetze    des    Muskelstromes    folgen;    man    kann 

18* 


276  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

ferner  den  Muskel  auch  parallel  seiner  Faserung  der  Länge  nach 
spalten,  so  dass,  wie  Du  B  o i s  sich  ausdrückt,  ein  künstlicher 
Längsschnitt  entsteht,  der  sich  nun  ebenso  wieder  „natürliche" 
positiv  zum  Querschnitt  verhält.  Es  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln, 
dass,  wenn  es  möglich  wäre,  eine  einzelne  Primitivfaser  für  sich 
zu  untersuchen,  derselbe  Gegensatz  zwischen  Längsschnitt  und  Quer- 
schnitt sich  auch  hier  bemerkbar  machen  würde.  Ja,  man  darf  viel- 
leicht mit  einiger  Berechtigung  noch  weiter  gehen  und  auch  kleinen 
Theilen  einer  Primitivfaser  elektromotorische  Wirksamkeit  in  gleichem 
Sinne  zuschreiben.  DuBois-Reymond  gelangte  so  in  der  That  zu  der 
Anschauung,  dass  jede  Muskelfaser  aus  kleinsten,  elektromotorisch 
wirkenden,  in  einer  leitenden  Flüssigkeit  suspendirten  Theilchen 
(„Molekeln  ")  aufgebaut  sei,  und  entwickelte  auf  Grund  dieser  Vor- 
stellung eine  Theorie  der  elektrischen  Erscheinungen  an  thierischen 
Geweben,  welche  lange  Zeit  hindurch  allein  herrschend  war.  Eine 
nothwendige  Consequenz  dieser  Auffassung  war  die,  wie  es  schien, 
durch  den  Versuch  bestätigte  Annahme,  dass  auch  völlig  unversehrte, 


Fig.  103.     Vertheilung  der  Spannungen  am  geraden  Muskelcylinder.  (Nach  Rosen thal.) 

quergestreifte  Muskeln  mit  natürlichem  Querschnitt  in  ganz  gleicher 
Weise  elektromotorisch  wirken,  wie  solche,  welche  mit  künstlichem 
Querschnitt  versehen  sind.  Unter  „natürlichem  Querschnitt" 
versteht  Du  B  o  i  s  -  R  e  y  m  o  n  d  die  Gesammtheit  der  mit  der  Sehne  noch 
in  natürlichem  Zusammenhange  befindlichen  unversehrten  Muskelfaser- 
enden. Diese  Lehre  von  der  elektromotorischen  Gleichwerthigkeit 
des  künstlichen  und  natürlichen  Querschnittes  stützte  sich  hauptsäch- 
lich auf  das  elektromotorische  Verhalten  des  scheinbar  unverletzten 
M.  gastrocnemius  vom  Frosche,  dessen  complicirter  Bau  und 
vielfache  Verwendung  es  erforderlich  machen,  noch  etwas  näher  auf 
den  so  viel  besprochenen  „  Gas  trocnemiusstrom "  einzugehen. 
Es  soll  zunächst  ganz  davon  abgesehen  werden,  dass,  wie  später  zu 
erörtern  sein  wird,  der  wirklich  gänzlich  unversehrte  Muskel  elektro- 
motorisch völlig  unwirksam  ist,  sondern  wir  nehmen  an,  der  Achilles- 
sehnenspiegel verhalte  sich,  wie  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  bei  nicht 
besonderer  Sorgfalt  der  Präparation  negativ  gegen  die  übrige  Muskel- 
oberfläche. Wegen  des  complicirten  Baues  ist  dann  auch  die  Ver- 
theilung der  Oberflächenspannungen  eine  viel  verwickeitere  als  am 
parallelfaserigen,  regelmässigen  Muskelcylinder.  Eine  sehr  anschauliche 
Beschreibung  des  Baues  giebt  Rosen  thal  (2). 

„Man  denke  sich  zwei  Sehnenblätter,  ein  oberes  und  ein  unteres, 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


277 


durch  schräg  zwischen  beiden  ausgespannte  Muskelfasern  verbunden, 
so  dass  wir  einen  halb  gefiederten  Muskel  hätten.  Nun  denke  man 
sich  das  obere  Sehnenblatt  in  der  Mitte  zusammengefaltet,  wie  man 
ein  Blatt  Papier  faltet,  und  die  beiden  Blatthälften  mit  einander  ver- 
wachsen. Wir  haben  dann  ein  oberes,  im  Innern  des  Muskels  ge- 
legenes Sehnenblatt,  von  welchem  nach  beiden  Seiten  hin  Muskel- 
fasern schräg  abgehen;  die  untere  Sehne  aber  ist  durch  jenes  Zu- 
sammenfalten der  oberen  gekrümmt  worden,  so  dass  der  ganze  Muskel 
die  Gestalt  einer  der  Länge  nach  gespaltenen  Rübe  erhält,  deren 
flache  (dem  Unterschenkelknochen  zugewendete)  Seite  ganz  von 
Muskelfasern  gebildet  wird  und  nur  einen  zarten  Längsstreif  als  An- 
deutung  der   im  Innern   verborgenen   Sehne   zeigt,    während   die   ge- 


Fig.  104.     Schema  des  Gastrocnemius-Baues.     (Nach  Du  Bois -Reymond.) 


Fig.  105.     Vertheilung   der  Spannungen   am  schrägen  Muskelcylinder.     (Nach 
Rosenthal.) 


wölbte  Rückseite  in  ihren  unteren  zwei  Dritttheilen  von  Sehnen- 
substanz bedeckt  ist,  die  sich  nach  unten  in  die  Achillessehne  fort- 
setzt" (Fig.  104).  Der  Gastrocnemius  hat  daher  von  Natur  aus  einen 
schrägen  Querschnitt  und  einen  natürlichen  Längsschnitt,  welcher 
die  ganze  flache  und  einen  kleinen  Theil  der  gewölbten  Fläche  ein- 
nimmt. Dem  entspricht  nun  auch  die  eigenthümliche  Vertheilung  der 
Spannungen  an  der  Oberfläche  des  Muskels.  Denkt  man  sich  einen 
regelmässigen  Muskelcylinder  schräg  verzogen  (Fig.  105),  so  dass  die 
beiden  Endquerschnitte  zwar  unter  einander  parallel,  aber  schräg  zur 
Axe  verlaufen,  so  entspricht  die  Curve  grösster  positiver  Spannung 
nicht  dem  ebenfalls  schrägen,  in  der  Mitte  gelegenen,  elliptischen 
Aequator,  sondern  einer  nach  den  stumpfen  Ecken  hin  verzogenen, 
gewundenen  Curve.  Ebenso  ist  umgekehrt  an  den  spitzen  Ecken  der 
Querschnitte  die  negative  Spannung  grösser  als  an  den  stumpfen.  Bei 
einer  am  regelmässigen  Muskelcylinder  stromlosen  Anordnung,  wo  bei 


278  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

die  Fusspunkte  des  ableitenden  Bogens  gleichweit  vom  geometrischen 
Aequator  abliegen,  erhält  man  daher  in  diesem  Falle,  wie  leicht  er- 
sichtlich, einen  Strom,  welcher  im  Muskel  von  der  scharfen  zur 
stumpfen  Kante  fliesst  („  Neigungs ström"  Du  Bois').  Solche 
Neigungsströme  liefert  nun  auch  der  von  Haus  aus  mit  einem  schrägen 
Querschnitt  versehene  Gastrocnemius.  Man  erhält  hier  vor  Allem 
einen  starken  Strom  bei  Ableitung  vom  oberen  und  unteren  Muskel- 
ende, der  im  Muskel  selbst  in  aufsteigender  Richtung  fliesst.  Ausser- 
dem erhält  man  aber  fast  bei  jeder  anderen  Art  der  Ableitung  schwä- 
chere oder  stärkere  Ströme,  da  gleichartige  Stellen  nur  sehr  spärlich 
an  der  Oberfläche  vorkommen. 

Ist  der  aufsteigende  Gastrocnemiusstrom  nicht  allzu  schwach,  so 
lässt  er  sich,  wie  überhaupt  der  Längsquerschnittstrom,  auch  leicht 
mittels  des  „physiologischen  Rheoskopes"  (des  stromprüfen- 
den Froschschenkels)  nachweisen,  und  zwar  nicht  nur  in  der  schon 
von  Galvani  und  Volta  herrührenden  Versuchsform  der  „Zuckung 
ohne  Metalle",  wobei  man  den  Schenkelnerven  rasch  auf  die 
convexe  Muskeloberfläche  fallen  lässt  und  dadurch  eine  äussere  Neben- 
schliessung des  Stromes  durch  den  Nerven  bewirkt,  sondern  auch  in 
der  Weise,  dass  man  den  Nerven  in  einen  vom  Längsschnitt  und 
Querschnitt  ableitenden  Bogen  von  geringem  Widerstand  einschaltet. 
Man  erhält  dann  bei  Schliessung,  eventuell  auch  bei  Oeff'nung  des 
Kreises  eine  Zuckung  des  Schenkels.  Während  die  Erregung  eines 
motorischen  Nerven  durch  den  Muskelstrom  in  der  Form  der 
„Zuckung  ohne  Metalle"  zur  Zeit  des  berühmten  Streites  zwischen  Gal- 
vani und  Volta  das  allergrösste  Interesse  beanspruchte,  da  der  Ver- 
such die  Existenz  einer  den  thierischen  Theilen  an  sich  eigenthüm- 
lichen  Elektricität  direct  zu  beweisen  schien,  so  ist  dieses  Interesse 
später  fast  ganz  geschwunden,  als  es  sich  hier  nicht  mehr  um  eine 
Streitfrage  handelte.  Dagegen  verdient  ein  anderer  Versuch,  den 
Muskelstrom  auf  physiologischem  Wege  nachzuweissen ,  grössere  Be- 
achtung. Da  der  Längsquerschnittsti'om  bei  Weitem  genügt,  um  den 
Nerven  eines  stromprüfenden  Froschschenkels  zu  erregen,  so  war  auch 
au  die  Möglichkeit  zu  denken,  den  Muskel  selbst  durch 
seinen  eigenen  oder  den  Strom  eines  andern  Muskels  zu 
erregen  (Hering  4). 

Schon  1859  beschrieb  Kühne  (3)  ein  eigenthümliches  Verhalten 
des  querdurchschnittenen  M.  sartorius  vom  Frosch,  welches  beim 
Eintauchen  der  Schnittfläche  in  verschiedene  Flüssigkeiten  hervortritt 
und  von  ihm  auf  chemische  Reizung  des  blossliegenden  Faser- 
inhalts bezogen  wurde.  Nähert  man  dem  vertical  herabhängenden, 
curarisirten  Muskel  unmittelbar  nach  Anlegen  eines  Querschnittes  von 
unten  her  ein  Schälchen  mit  0,6  "  o  NaCl,  so  sieht  man  fast  unfehlbar 
im  Augenblicke  der  Berührung  der  Schnittfläche  und  des  Flüssigkeits- 
spiegels eine  Zuckung  erfolgen.  Dabei  reisst  sich  der  Muskel  von 
der  Flüssigkeit  los,  taucht  bei  der  Wiederverlängerung  abermals  ein, 
wobei  wieder  eine  Zuckung  erfolgt  u.  s.  w.  Es  kann  auf  diese  Weise 
zur  Auslösung  einer  langen  Reihe  (über  100)  rhythmischer  Zuckungen 
kommen.  Ganz  ebenso  gelingt  dieser  Versuch  mit  einer  grossen  An- 
zahl anderer  Flüssigkeiten.  Kühne  fand  nebst  NaCl-Lösung  in  den 
verschiedensten  Concentrationen  noch  sehr  gut  wirksam  Lösungen 
von  fixen  Alkalien  und  Mineralsäuren  bis  zu  0,1  "/o,  sowie 
verschiedene  Salzlösungen,  dagegen  verraisste  K  ü  h  n  e  die  Zuckung 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Mnskeln.  279 

bei  Berührung  des  Querschnittes,  wenn  er  destillirtes  Wasser, 
Alkohol,  Creosot,  concentrirtes  Glycerin,  syrupöse 
Milchsäure  anwendete ;  W u n d t  und  Schelske  haben  ferner  ge- 
funden, dass  auch  concentrirte  Sublimatlösung  keine  Zuckung 
vom  Querschnitt  aus  bewirkt.  K  ü  h  n  e  deutete,  wie  schon  erwähnt, 
alle  Fälle,  in  welchen  er  die  Zuckungen  bei  Berührung  des  frischen 
Querschnittes  mit  einer  Flüssigkeit  beobachtete,  als  bedingt  durch 
chemische  Reizung  des  biossliegenden  Faserinhaltes.  Doch  wird 
diese  Auffassung  sofort  zweifelhaft,  wenn  man  sieht,  wie  mit  0,5 — 0,6 '^/o 
NaCl-Lösung,  deren  relative  Unschädlichkeit  allbekannt  ist,  die  in  Rede 
stehende  Erscheinung  ganz  besonders  schön  und  lang  anhaltend  hervor- 
tritt. Dabei  ist  noch  besonders  beachtenswerth,  dass  die  an  dem 
einmal  benetzten  Muskelquerschnitt  haftende  Salzlösung  keineswegs 
zu  einer  Dauererregung  Anlass  giebt,  wie  es  doch  wohl  der  Fall  sein 
müsste,  wenn  die  Flüssigkeit  chemisch  reizend  wirkte.  Es  lässt  sich 
ferner  zeigen,  dass  jede  Reizwirkung  ausbleibt,  wenn  die  Lösung  eben 
nur  den  Querschnitt  selbst  benetzt  und  gar  nicht  oder  nur  in 
minimaler  Menge  auf  die  Längsoberfläche  des  Muskels  gelangen  kann. 
Hering  (4)  erzielte  dies  unter  Anderem  dadurch,  dass  er  um  das 
Querschnittende  des  Muskels  einen  schmalen  gefetteten  Papierstreifen 
der  Art  herumlegte,  dass  sein  unterer  Rand  mit  dem  Rande  des  Quer- 
schnittes zusammenfällt.  Ein  so  vorbereiteter  Muskel  zuckt  bei  Be- 
rührung der  Querschnittfläche  mit  der  Salzlösung  nicht,  was  doch 
der  Fall  sein  müsste,  wenn  es  sich  um  chemische  Reizung  handelte. 
„Taucht  man  dagegen  den  Muskel  bis  über  den  Streifen  in  die 
Flüssigkeit,  so  erhält  man  wieder  eine  Zuckung."  Es  zeigt  sich  also, 
dass  „zum  Gelingen  der  Versuche  einerseits  die  Herstellung  einer 
leitenden  Verbindung  zwischen  dem  Querschnitt  und  dem  untersten 
Theil  der  Längsobei-fläche  nothwendig  ist,  und  dass  andererseits  diese 
Leitung  keinen  zu  grossen  Widerstand  haben,  d.  h.  die  Quantität  der 
NaCl-Lösung,  durch  welche  sie  hergestellt  wird,  nicht  zu  gering  sein 
darf".  Wenn  es  sich  daher,  wie  nach  dem  Mitgetheilten  wohl  kaum 
zu  bezweifeln  ist,  um  eine  elektrische  Erregung  des  Muskels  durch 
plötzliche  Nebenschliessung  seines  eigenen  Stromes  innerhalb  des  im 
Momente  der  Berührung  vom  Querschnitt  zum  Längsschnitt  sich 
hinaufziehenden  Flüssigkeitswalles  handelt,  so  erscheint  es  auch  leicht 
verständlich,  dass  alle  nicht  oder  sehr  schlecht  leitenden 
Flüssigkeiten,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  s  t  e  t  s  u  n  w  i  r  k  s  a  m  sind, 
wenn  sie  auchnachweislich  chemischreizend  aufdieMus- 
kelsubstanz  w i r k e n  (Sublimat,  Alkohol,  Wasser).  Man  kann,  wie 
Hering  zeigte,  geradezu  aus  dem  blossen  Verhalten  des  Muskels 
beim  Berühren  seines  Querschnittes  mit  einer  Flüssigkeit  ziemlich 
sicher  voraussagen,  ob  diese  Flüssigkeit  relativ  gut  oder  schlecht  leitet. 
Von  dem  gewonnenen  Standpunkte  aus  erklären  sich  nun  auch  einige 
andere  leicht  zu  bestätigende  Erfahrungen,  welche  gewissermaassen 
nur  Modificationen  des  erwähnten  Grundversuches  sind.  Lässt  man 
auf  eine  rechtwinkelig  zur  Faserrichtung  angelegte  Schnittwunde  eines 
Muskels  einen  Tropfen  Kochsalzlösung  auffallen,  so  beobachtet  man 
in  der  Regel  eine  Zuckung  der  durchtrennten  Fasern  und  ein  stärkeres 
Klaff'en  der  Wunde.  Ebenso  gelingt  es,  eine  Zuckung  des  querdurch- 
schnittenen Sartorius  auszulösen,  wenn  man  in  geeigneter  Weise  die 
Verbindung  zwischen  Längsschnitt  und  Querschnitt  durch  irgend  einen 
feuchten  Leiter   (etwa  ein  Stück  Leber,   todten  Muskel  etc.)   herstellt. 


280  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Man  kann  das  Präparat  auch  mit  dem  frischen  Querschnitt  einerseits 
und  einer  dem  Querschnitt  benachbarten  Stelle  der  Längsoberfläche 
andererseits  auf  die  Bäusche  der  unpolarisirbaren  Zinktrogelektroden 
legen  und  den  Kreis  in  Hg  schliessen.  Bringt  man  ferner  mittels 
eines  Glasstäbchens  den  Querschnitt  eines  frei  herabhängenden  Sartorius 
durch  Herumbiegen  des  betreffenden  Endes  mit  der  Längsoberfläche 
in  Berührung,  so  tritt  ebenfalls  eine  Zuckung  ein  in  Folge  der  plötz- 
lichen Schliessung  des  Stromes  durch  den  Muskel  selbst.  Hering 
ist  es  endlich  auch  gelungen,  durch  den  Strom  eines  verletzten  Muskels 
einen  zweiten  unverletzten  zur  Zuckung  zu  bringen.  Man  befestigt 
zu  diesem  Zwecke  den  letzteren  (Sartorius)  mittels  seiner  Knochen 
der  Art,  dass  er  in  flachem  Bogen  schlaff  herabhängt.  Nun  wird  der 
andere  vertikal  gehaltene  Muskel  mit  seinem  Querschnitt  der  Ober- 
fläche des  ersteren  bis  zur  Berührung  genähert.  „Sind  beide  Muskeln 
sehr  empfindlich,  so  können  sie  schon  hierbei  beide  zucken ;  da  näm- 
lich bei  der  Berührung  des  Querschnittes  leicht  auch  ein  Theil  der 
Längsoberfläche  mit  dem  unversehrten  Muskel  in  Contact  kommt, 
so  findet  der  Strom  des  verletzten  Muskels  durch  den  unverletzten 
Schliessung,  und  hierdurch  werden  beide  erregt."  Dies  ist  aber 
immer  der  Fall,  wenn  man  das  Schnittende  etwas  umknickt.  Bei 
allen  bisher  besprochenen  Versuchen  handelte  es  sich  vim  eine  Ab- 
gleichung  des  Muskelstromes  durch  feuchte  Leiter.  Li  der  That 
erweisen  sich  Metalle  wegen  ihrer  ausserordentlich  raschen  Polari- 
sation als  nur  sehr  wenig  geeignet,  obschon  auf  den  ersten  Blick  eher 
das  Gegentheil  zu  erwarten  schien.  Hering  erhielt,  wie  früher  schon 
Kühne  (5),  keine  oder  nur  sehr  schwache  Zuckungen,  wenn  der 
frische  Querschnitt  eines  curarisirten  Sartorius  mit  einer  Platinplatte 
berührt  wurde,  während  ein  mit  jener  durch  einen  Hg-Schlüssel  zu 
verbindender  Draht  aus  gleichem  Metall  verschiedene  Punkte  der 
Leitungsoberfläche  berührte. 

Der  Umstand,  dass,  wie  gezeigt  wurde,  der  Längsquerschnittstrom 
eines  Muskels  genügt,  um  nicht  nur  den  Nerv  eines  stromprüfenden 
Froschschenkels,  sondern  auch  den  verletzten  Muskel  selbst  oder  einen 
andern  unversehrten  unter  geeigneten  Umständen  zu  erregen,  lässt  von 
vornherein  darauf  schliessen,  dass  derselbe  auch  bei  allen  elektrischen 
Reizversuchen  an  verletzten  und  daher  elektromotorisch  wirksamen 
Muskeln  eine  Rolle  zu  spielen  vermag,  und  es  erscheint  um  so  noth- 
wendiger,  auch  dieser  Interferenzerscheinungen  zwischen 
dem  künstlichen  und  natürlichen  Strom  zu  gedenken,  als 
es  sich  hier  um  einige  Thatsachen  handelt,  welche  zu  theoretisch 
wichtigen  Schlussfolgerungen  Anlass  gegeben  haben. 

Als  ein  besonders  schlagender  Beweis  für  die  Gültigkeit  des 
polaren  Erregungsgesetzes  wurde  oben  das  eigenthümliche  Verhalten 
eines  einseitig  verletzten  parallelfaserigen  Muskels  bei  Längsdurch- 
strömung  erwähnt,  welches  sich  bekanntlich  darin  äussert,  dass  die 
erregende  Wirkung  der  Schliessung  oder  Oeffnung  eines  Stromes 
immer  dann  vermindert  oder  aufgehoben  erscheint,  wenn  derselbe 
durch  die  Demarcationsfläche  aus-  bezw.  eintritt.  Da  nun  im  ersteren 
Falle  die  Richtung  des  in  den  Reizkreis  abgezweigten  Antheiles  des 
Muskelstromes  stets  der  Richtung  des  Kettenstromes  entgegengesetzt 
ist,  der  letztere  daher  durch  den  ersteren  nothwendig  geschwächt  wird, 
so  entsteht  die  Frage,  ob  nicht  dieser  Umstand  allein  ausreichte,  um 
die  verminderte  Reizwirkunff  bei  Schliessung  des  Kreises  zu  erklären. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  281 

Offenbar  müsste  dann  bei  zwei  in  denselben  Stromkreis  hinter  einander 
eingeschalteten  Muskeln,  deren  einer  am  einen  Ende  verletzt  wurde, 
die  Schliessung  des  Stromes  nachher  auf  jeden  der  beiden  Muskeln 
in  gleicher  Weise  wirken,  d.  h.  die  Schliessungserregung  müsste  bei 
admortaler  Stromesrichtung  nicht  nur  an  dem  mit  künstlichen  Quer- 
schnitt versehenen,  sondern  auch  an  dem  normalen  Präparat  aus- 
bleiben oder  vermindert  erscheinen.  Dies  ist  jedoch  niemals  der  Fall. 
Nicht  minder  schlagend  wird  die  obige  Annahme  auch  dadurch  wider- 
legt, dass  durch  beiderseitige  Abtödtung  der  Faserenden  eines 
parallelfaserigen  Muskels  die  Erregbarkeit  in  gleicher  Weise  für 
Schliessung  aufsteigender  wie  absteigender  Ströme  vernichtet  oder  herab- 
gesetzt wird.  Dagegen  scheint  es  allerdings,  dass  die  verstärkte 
Wirkung,  welche  man  oft  bei  Schliessung  schwacher  „abterminal"  ge- 
richteter Kettenströme  nach  einseitiger  Verletzung  des  M.  sar- 
torius  beobachtet,  wesentlich  mit  durch  den  sich  in  diesem  Falle  zu 
dem  Reizstrom  algebraisch  hinzuaddirenden  Muskelstromzweig  ver- 
ursacht wird. 

Unter  gewissen,  gleich  näher  zu  erörternden  Bedingungen  kann  es 
durch  Interferenz  des  Demarcationsstromes  und  eines  künstlichen 
Reizstromes  zur  Entstehung  sc  heinbar  er  Oe  ff  nungszuckungen 
kommen,  die  leicht  als  Folge  Wirkungen  einer  wirklichen  Oeifnungs- 
erregung  aufgefasst  werden  können  und  thatsächlich  auch  mit  solchen 
verwechselt  wurden.  Denkt  man  sich  einen  leitenden  Bogen  von 
relativ  geringem  Widerstände  der  Art  an  einen,  am  Beckenende  mit 
künstlichem  Querschnitt  versehenen,  curarisirten  Sartorius  angelegt,  dass 
die  unpolarisirbaren  Fusspunkte  einerseits  den  Querschnitt,  beziehungs- 
weise den  davon  ableitenden  Beckenknochen  und  andererseits  das  tibiale 
Sehnenende  (beziehungsweise  die  Tibia  selbst)  berühren,  so  muss  sich 
in  dem  Augenblicke,  wo  der  an  irgend  einer  Stelle  unterbrochen  ge- 
dachte Bogen  geschlossen  wird,  der  Längsquerschnittstrom  durch  diesen 
abgleichen  und  würde  voraussichtlich,  an  dem  schmalen  Muskelende 
aus  normaler  Muskelsubstanz  austretend,  eine  Schliessungszuckung 
auslösen,  wenn  die  Intensität  des  abgeleiteten  Stromzweiges  genügend 
gross,  der  Widerstand  im  Kreise  aber  möglichst  gering  wäre;  Be- 
dingungen, die  allerdings  in  dem  vorausgesetzten  Falle  in  der 
Regel  kaum  gegeben  sind.  Setzen  wir  aber  einen  Augenblick  voraus, 
es  wäre  hier  wirklich  zur  Auslösung  einer  Schliessungszuckung  des 
Muskels  durch  Nebenschliessung  des  eigenen  Stromes  gekommen,  so 
würde  eine  auf  dieselbe  Ursache  zurückzuführende  Zuckung  auch  aus- 
gelöst werden  müssen,  wenn  der  durch  die  Nebenschliessung  abge- 
zweigte Antheil  des  Muskelstromes  zunächst  durch  einen  die  intra- 
polare Strecke,  d.  h.  den  ganzen  Muskel  in  aufsteigender  Richtung 
durchfliessenden  Kettenstrom  compensirt,  beziehungsweise  übercompen- 
sirt  würde,  um  dann  im  Momente  der  Oeffnung  plötzlich  wieder 
Schliessung  zu  finden.  Für  den  Fall,  dass  die  Compensation  eine 
vollständige  wäre  und  wenn  man  von  unvermeidlichen  Nebenwirkungen 
des  compensirenden  Stromes  absehen  könnte,  Avürde  der  Reizerfolg 
bei  Oeffnung  des  Kettenstromes  sogar  ebenso  gross  sein,  wie  vorher 
bei  Schliessung  des  ableitenden  Bogens.  Man  kann  nun  den  Versuch 
in  der  That  zu  einem  erfolgreichen  gestalten,  wenn  man  den  Wider- 
stand im  ableitenden  Bogen  durch  Verkürzung  der  intrapolaren 
Muskelstrecke  möglichst  verringert  (6).  Zu  dem  Zwecke  genügt 
es    oft    schon,    die    untere    Hälfte    des    Sartorius    allein    zu    benützen. 


232  Die  elektromotorischen  Wirimngen  der  Muskeln. 

indem  man  ein  Segment  in  der  Mitte  des  Muskels  durch  Wärme 
abtödtet  (einen  künstlichen,  thermischen  Querschnitt  anlegt),  die  be- 
treffende Stelle  mittels  kleiner  Nadeln  auf  einer  Korkplatte  befestigt 
und  das  untere  Drittel  des  Muskels,  durch  die  anhängende  Tibia 
belastet,  frei  herabhängen  lässt.  Zwei  unpolarisirbare  Elektroden, 
von  denen  die  eine  am  obersten  Rande  der  abgetödteten  Strecke 
angelegt  wird,  während  die  andere  nebst  der  Tibia  in  ein  Gefäss 
mit  concentrirter  Kochsalzlösung  taucht,  vermitteln  einerseits  die 
Ableitung  des  Muskelstromes  und  dienen  andererseits  auch  der 
Zuflihrung  des  von  einem  D an ielT  sehen  Elemente  gelieferten,  com- 
pensirenden  Kettenstromes.  Um  die  Intensität  dieses  letzteren  be- 
liebig abstufen  zu  können,  befindet  sich  im  Kreise  ein  Rheochord, 
welches  zugleich  als  Nebenschliessung  des  Muskelstromes  dient.  Es 
muss  Vorsorge  getroffen  sein,  um  den  Kreis  beliebig  an  zwei  ver- 
schiedenen Stellen  öffnen  zu  können,  da  es  hauptsächlich  darauf  an- 
kommt, den  Unterschied  des  Reizerfolges  bei  Oeffnung  des  Haupt- 
stromes mit  gleichzeitiger  Nebenschliessung  des  Muskelstromes  und 
bei  einfacher  Ausschaltung  des  ersteren  zu  untersuchen.  Zu  dem 
Zwecke  befinden  sich  zwei  Quecksilberschlüssel  im  Kreise,  von  denen 
der  eine  zwischen  dem  Element  und  dem  Rheochord,  der  andere 
zwischen  diesem  und  dem  Muskel  eingeschaltet  ist.  Der  erstere  soll 
im  Folgenden  als  Schlüssel  des  Hauptstromes,  der  letztere  als  Schlüssel 
des  Zweigstromes  bezeichnet  werden.  Wenn  man  nun  unmittelbar 
nach  Anlegen  des  thermischen  Querschnittes  den  als  äussere  Neben- 
schliessung des  Muskelstromes  dienenden  Kreis  mittels  des  Zweig- 
stromschlüssels schliesst,  während  der  Hauptstromschlüssel  geöffnet 
bleibt,  so  beobachtet  man  günstigen  Falles  an  recht  erregbaren 
Präparaten  eine  deutliche,  wenn  auch  meist  nur  schwache  Schliessungs- 
zuckung, Viel  sicherer  wird  dasselbe  Resultat  erzielt,  wenn  man  die 
unpolarisirbaren  Elektroden  in  geringem  Abstände  seitlich  direct  an 
zwei  Stellen  der  Muskeloberfläche  anlegt,  wodurch  die  Widerstände 
im  Kreise  beliebig  verkleinert  werden  können.  Spannt  man  die  obere 
Hälfte  eines  unversehrten  Sartorius  auf  einer  Korkplatte  aus  und  legt 
die  eine  Elektrode  am  Beckenende,  die  andere  an  einem  nur  wenig 
tiefer  gelegenen  Pvinkte  der  Längsoberfläche  an,  so  beobachtet  man 
bei  Zuführung  eines  schwachen  oder  mittelstarken,  absteigend  oder 
aufsteigend  gerichteten  Stromes  zwar  eine  Zuckung  bei  jedesmaliger 
Schliessung,  dagegen  fehlt  jede  Spur  einer  Gestaltveränderung  des 
Muskels  bei  Oeffnung  des  Stromkreises  mittels  des  Haupt-  oder  Zweig- 
stromschlüssels. Wesentlich  verschieden  gestaltet  sich  jedoch  das 
Resultat  des  Versuches,  wenn  zuvor  am  Beckenende  des  Muskels  ein 
künstlicher  (thermischer)  Querschnitt  angelegt  wird  :  berührt  dann  die 
negative  Elektrode  das  wärmestarre  Muskelende,  während  die  positive 
zunächst  an  einer  möglichst  nahe  gelegenen  Stelle  der  unversehrten 
Oberfläche  angelegt  wird,  so  beobachtet  man  fast  ausnahmslos  un- 
mittelbar nach  der  Verletzung  an  gut  erregbaren  Präparaten  eine 
deutliche  Zuckung  der  als  Index  der  Erregung  dienenden,  frei  herab- 
hängenden unteren  Muskelhälfte,  sobald,  während  der  Hauptstrom- 
schlüssel geöffnet  bleibt,  der  Schlüssel  des  Zweigstromes  geschlossen 
wird.  Es  geht  unmittelbar  aus  der  Versuchsanordnung  hervor,  dass 
es  sich  hier  wieder  um  Erregung  in  Folge  der  Abgleichung  des 
Muskelstromes  durch  die  bestehende  Nebenschliessung  handelt.  Ob 
dies  nun  der  Fall  ist  oder  nicht,    immer    beobachtet    man    bei 


Die  elektromotorischen  "Wirkungen  der  Muskeln.  283 

der  beschriebenen  Versuchsanordnung  eine  in  der  Regel 
sehr  starke  Verkürzung  des  Muskels,  wenn  man  vorher 
einen  schwachen,  der  Richtung  des  Muskelstromes  im 
Kreise  entgegengesetzten,  im  vorliegenden  Falle  daher 
aufsteigenden  Kettenstrom  hindurchschickt  und  nach 
beliebig  kurzer  Schliessungsdauer  im  Hauptkreise 
öffnet.  Da  die  physiologische  Kathode  sich  an  der  Stelle  der  Ver- 
letzung befindet,  bleibt  die  Schliessungserregung  entweder  ganz  aus 
oder  macht  sich  nur  in  geringem  Maasse  geltend.  Der  erwähnte  Er- 
folg macht  sich  aber  bei  einem  gewissen,  nicht  zu  geringen  Abstand 
der  ableitenden,  beziehungsweise  stromzufuhrenden  Elektroden  nur 
geltend  bei  Oeffnung  des  Kettenkreises,  während  keine  Spur  einer 
Gestaltveränderung  bei  Oeffnung  des  Zweigstromschlüssels  eintritt. 
Unerlässlich  ist  nur  das  Vorhandensein  einer  möglichst  grossen 
elektrischen  Spannungsdifferenz  der  von  den  stromzuführenden  Elek- 
troden zugleich  ableitend  berührten  Mviskelstellen.  Unter  Berück- 
sichtigung der  vorstehenden  Erörterungen  kann  daher  kein  Zweifel 
darüber  bestehen,  dass  der  so  auffallende  Unterschied  des  Reizerfolges 
bei  Oeffnung  des  Stromkreises  an  zwei  verschiedenen  Stellen  ledig- 
lich darin  begründet  ist,  dass  der  Demarcationsstrom  im  einen  Falle 
bei  Oeffnung  des  Kettenkreises  eine  äussere  Nebenschliessung  von 
verhältnissmässig  geringem  Widerstand  vorfindet,  die  andernfalls  fehlt. 
Die  Zuckung,  o  b  s  c  h  o  n  zeitlich  mit  dem  Momente  der 
Oeffnung  des  Stromkreises  zusammenfallend,  kann  dem- 
nach nicht  als  eine  wahre,  durch  innere  Reaction  des 
Muskels  bedingte  Oeffnung  szuckung  gelten,  sondern 
ist  vielmehr  eine  Schliessungszuckung,  ausgelöst  durch 
äussere  Nebenschliessung  des  Muskelstromes  (Bieder- 
mann 6). 

Ist  der  Abstand  der  beiden  Elektroden  sehr  gering,  so  lässt  sich 
in  der  Regel  selbst  bei  Anwendung  der  schwächsten  noch  wirksamen 
Ströme  ein  merklicher  Unterschied  in  der  Grösse  der  Oeffnungs- 
zuckungen  kaum  nachweisen,  ob  man  nun  den  Kettenkreis  oder  den 
Muskelkreis  öffnet.  Dazwischen  lassen  sich  Elektrodenstellungen 
finden,  bei  welchen  ein  deutlicher  Grössenunterschied  der  durch  Oeff- 
nung des  Haupt-  oder  Zweigstromschlüssels  ausgelösten  Zuckungen 
hervortritt,  indem  die  letzteren  um  so  mehr  abnehmen,  je  mehr  die 
Eintrittsstelle  des  atterminal  gerichteten  Kettenstromes  bei  unver- 
änderter Lage  der  Kathode  am  Querschnitt  von  der  Grenzfläche  des 
thermischen  Querschnittes  abrückt.  Es  erklärt  sich  dies  leicht  mit 
Berücksichtigung  der  starken  inneren  Abgleichung,  welche  der 
Muskelstrom  unter  allen  Umständen  in  nächster  Nähe  der  elek- 
tromotorisch wirksamen  Fläche  findet.  Denn  wenn  in  der 
Nähe  jedes  künstlichen  Querschnittes  jeder  einzelnen  Primitivfaser 
und  somit  auch  des  ganzen  Muskels  stets  zahlreiche  Stromfäden  an 
noch  erregbaren  Stellen  durch  die  Oberfläche  austreten,  so  wird  ein 
Kettenstrom ,  der  in  diesem  Gebiet  der  inneren  Abgleichung  des 
Muskelstromes  eintritt,  einen  Theil  jener  Stromfäden  gleichsam  com- 
pensiren  müssen,  wobei  die  einen  vollständig,  die  andern  unvollständig 
compensirt,  noch  andere  übercompensirt  werden  können.  Dies  be- 
deutet aber  für  diese  Stellen,  dass  sie  ihre  Bedeutung  als  kathodische 
Stellen  des  Muskelstromes  mehr  oder  weniger  verlieren ,  oder  gar  zu 
anodischen  Stellen  des  Kettenstromes  werden.     Wird  nun  der  letztere 


284  Diß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

wieder  geöffnet,  so  wird  plötzlich  der  frühere  Zustand  wieder  her- 
gestellt, die  genannten  Stellen  werden  wieder  zu  kathodischen  Stellen 
des  Muskelstromes  und  in  Folge  dessen  erregt.  Der  Kettenstrom 
hebt  also  sozusagen  einen  Theil  der  inneren  Schliessung 
des  Muskelstromes  auf,  dessen  plötzliche  Wiederher- 
stellung bei  der  Oeffnung  des  Kettenstromes  eine 
Schliessungszuckung  herbei  führt. 

Hierfür  ist  es  aber  an  sich  gleichgültig,  ob  die  Oeffnung  des 
Kettenstromes  im  Muskel-  oder  im  Kettenkreise  erfolgt;  letzterenfalls 
kommt  nur  noch  in  Betracht,  dass  nun  auch  jener  Zweig  des  Muskel- 
stromes, welcher  durch  das  Rheochord  Schliessung  hat  und  während 
des  Bestehens  des  Kettenstromes  compensirt  oder  übercompensirt  wird, 
im  Momente  der  Oeffnung  ebenfalls  Schliessung  findet  und  daher  auch 
seinerseits  die  „scheinbare  Oeffnungszuckung"  befördert.  Doch  tritt 
die  hierdurch  theoretisch  geforderte  Differenz  der  Zuckungsgrössen  im 
einen  oder  andern  Falle  nicht  merklich  hervor,  da  dieselben  in  beiden 
Fällen  sehr  beträchtlich  sind.  Da  die  zuletzt  erwähnten  Reizerfolge 
mit  Rücksicht  auf  später  zu  erwähnende  Thatsachen  bei  elektrischer 
Nervenreizung  von  Wichtigkeit  sind,  so  muss  hier  noch  etwas  näher 
auf  dieselben  eingegangen  werden. 

Legt  man  eine  Schlinge  aus  befeuchtetem  Baumwollfaden  der  Art 
um  den  Muskel  herum,  dass  sie  an  dem  behufs  graphischer  Verzeich- 
nung der  Zuckungen  im  Hering'schenDoppelmyographen  eingespannten 
Muskel  den  Eintritt  des  Stromes  irgendwo  in  der  Continuität  in  nächster 
Nähe  eines  künstlichen,  durch  Quetschung  erzeugten  Querschnitts  ver- 
mittelt, während  der  Austritt  wieder  durch  den  Beckenknochen  erfolgt, 
so  sieht  man  bei  Anwendung  eines  schwachen  Stromes  sofort  und 
unabhängig  von  der  Stelle,  an  welcher  der  Stromkreis  geöffnet  wird, 
starke  Oeffnungszuckungen  hervortreten,  die  von  der  Schliessungs- 
dauer fast  gänzlich  unabhängig  sind. 

Unterbricht  man  bei  unveränderter  Lage  der  Kathode  am 
unversehrten  Beckenende  des  Sartorius  die  physiologische  Con- 
tinuität desselben  etwa  in  der  Mitte  durch  Quetschen  mit  einer  Pin- 
cette,  und  legt  man  dann  die  Fadenelektrode  bald  diesseits,  bald  jen- 
seits der  Quetschungsstelle,  immer  jedoch  dicht  an  der  Grenze  der- 
selben an,  so  beobachtet  man  bei  derselben  Stromstärke  in  beiden 
Fällen  Oeffnungszuckungen  an  je  einer  der  durch  die  Verletzung 
getrennten  Muskelhälften,  und  zwar  contrahirt  sich  immer  diejenige 
Hälfte,  an  deren  künstlichem  Querschnitt  der  Strom  gerade  eintritt. 
Entfernt  man  die  den  Eintritt  des  Stromes  vermittelnde  Fadenelektrode 
nur  wenig  von  der  Quetschungsstelle  und  prüft  man  bei  jeder  neuen 
Lage  den  Reizerfolg,  so  überzeugt  man  sich,  dass  die  „scheinbaren 
Oeffnungszuckungen"  in  der  Regel  schon  an  Stellen  der  normalen 
Längsoberfläche,  die  kaum  2  mm  von  der  gequetschten  Stelle  entfernt 
liegen,  merklich  schwächer  sind  und  gänzlich  ausbleiben,  sobald  der 
Faden  noch  um  Weniges  weiter  vorrückt,  immer  vorausgesetzt,  dass 
man  die  Oeffnung  durch  den  Schlüssel  des  Zweigstromes  bewirkt. 

Wenn  es  richtig  ist,  dass  für  die  Auslösung  scheinbarer  Oeffnungs- 
zuckungen durch  innere  Nebenschliessung  des  Demarcationsstromes 
wesentlich  nur  der  Umstand  maassgebend  ist,  dass  die  in  nächster  Nähe 
der  elektromotorischen  Fläche  gelegenen  kathodischen  Faserstellen,  an 
welchen  der  Muskelstrom  austritt,  vorübergehend  zu  Eintrittsstellen 
eines  genügend  starken  Kettenstromes  gemacht  werden,   wenn  es  also 


Die  elektromotorischen  Wirkungeu  der  Muskeln.  285 

nur  auf  die  stellenweise  Compensation  des  Deraarcationsstromes  an- 
kommt, so  war  zu  erwarten,  dass  scheinbare  Oeffnungszuckungen  nicht 
nur,  wie  in  den  bisher  besprochenen  Fällen,  bei  Anwendung  „atter- 
minal"  gerichteter  Kettenströme,  sondern  auch  dann  auftreten  würden, 
wenn  bei  „ab terminaler"  Durchströmung  des  ganzen  Muskels  oder 
eines  Theiles  desselben  der  Eintritt  des  Stromes  an  der  Grenze  eines 
künstlichen  Querschnittes  im  Bereich  der  Austrittsstellen  der  Muskel- 
stromfäden erfolgt.  In  der  That  gelingt  es  nun,  scheinbare  Oeffnungs- 
zuckungen von  grosser  Stärke  auszulösen,  wenn  man  am  Beckenende 
eines  Sartorius  künstlichen  Querschnitt  anlegt  und  unmittelbar  dar- 
nach einen  schwachen  absteigenden  Kettenstrom  durch  den  ganzen 
Muskel  schickt,  dessen  Eintritt  seitlich  dicht  unter  der  Grenzfläche 
der  todten  und  lebenden  Substanz  mittels  einer  Fadenelektrode  erfolgt. 

Denkt  man  sich  ferner  bei  abterminaler  Durchströmung  die  ab- 
getödteten  Faserenden  durch  eine  irgendwie  hergestellte  Neben- 
schliessung mit  der  zunächst  an  die  Grenzfläche  stossenden  Zone  der 
normalen  Längsoberfläche  des  Muskels  verbunden,  so  steht  dem  eben 
Gesagten  zu  Folge  zu  erwarten,  dass  auch  in  diesem  Falle  scheinbare 
Oeffnungsreizerfolge  eintreten  werden.  Dies  ist  beispielsweise  schon 
dann  der  Fall,  wenn  das  eine  Muskelende  mit  einer  schmalen  Pin- 
cette  durchquetscht  wird ;  durch  Wulstung  und  Einkrümmen  der  Längs- 
oberflächen der  Fasern  wird  dann  nicht  nur  dem  Muskelstrom, 
sondern  auch  dem  Kettenstrom  vielfach  Gelegenheit  geboten,  an 
Stellen  der  unversehrten  Oberfläche  des  Muskels  aus-  beziehungs- 
weise einzutreten  und  daher  wirksame  Schliessungs-  resp.  schein- 
bare Oeff'nungserregung  auszulösen.  Hat  man  sich  überzeugt,  dass  ein 
mittelstarker  aufsteigender  Strom  an  einem  im  Doppelmyographen  ein- 
gespannten Sartorius  keine  merkliche  Oeffnungserregung  auslöst,  und 
durchquetscht  man  nun  in  der  angedeuteten  Weise  den  Muskel  nahe 
dem  untern  Sehnenende,  so  treten  fast  regelmässig  bei  gleicher  Rich- 
tung, Intensität  und  Schliessungsdauer  des  Reizstromes  wie  vorher 
Oeffnungszuckungen  hervor,  die  in  der  angedeuteten  Weise  als  schein- 
bare aufzufassen  sind  (Biedermann  6;  Engelmann  7). 

Nach  dieser  Abschweifung  kehren  wir  wieder  zurück  zur  Be- 
trachtung des  „Ruhestromes"  der  Muskeln,  seiner  Eigenschaften  und 
seiner  Entstehung.  Da  bei  nicht  zu  grossen  Ausschlägen  am  Galvano- 
meter die  Ablenkungen  bekanntlich  den  Intensitäten  des  Stromes  pro- 
portional sind,  so  lassen  sich  natürlich  Messungen  der  Intensität  des 
Muskelstromes  leicht  ausführen ;  doch  haben  dieselben  wegen  der  grossen 
und  sehr  veränderlichen  Widerstände  thierischer  und  pflanzlicher 
Theile  im  Ganzen  nur  geringen  Werth.  Viel  wichtiger  erscheinen 
dagegen  exacte  Messungen  der  elektromotorischen  Kraft. 
Wenn  an  einem  Leiter  in  dessen  Innerem  eine  elektromotorische  Kraft 
wirkt,  zwei  Punkte  verschiedener  Spannung  durch  einen  gleichartigen 
ableitenden  Bogen  verbunden  werden,  so  wird  in  diesem  ein  Strom - 
zweig  fliessen,  dessen  Intensität  der  elektromotorischen  Kraft,  die  als 
an  den  Fusspunkten  wirkend  gedacht  werden  kann,  direct  proportional 
ist.  Es  lässt  sich  daher  die  Grösse  der  letzteren  aus  der  Grösse  der 
Spannungsdifferenz  zweier  abgeleiteter  Punkte  bemessen,  und  wenn 
wir  Mittel  haben,  diese  genau  zu  bestimmen,  so  haben  wir  zugleich 
auch  die  Mittel,  die  Grösse  der  elektromotorischen  Kraft  zu  bestimmen. 
Wir  würden  dann  auch  in  den  Stand  gesetzt  sein,  die  elektromotorische 
Kraft    des   Längsquerschnittsstromes    einfach   dadurch    zu    bestimmen, 


286 


Die  elektromotorischen  Wirkimg'en  der  Muskeln. 


wir  die  Grösse  der  zwischen  natürlicher  Längsoberfläche  und 
künstlichem  Querschnitt  bestehenden  Spannungsdifferenz  messen.  Die 
Differenz  der  Spannungen  zwischen  zwei  Punkten  lässt  sich  nun  in 
der  That  leicht  und  genau  mit  Hülfe  eines  Verfahrens  bestimmen, 
welches  von  Poggendorff  stammt  und  von  Du  Bois-Reymond 
wesentlich  verbessert  wurde  (8). 

Das  Princip  der  Methode  beruht  darauf,  die  Ablenkung  des  Mag- 
neten durch  einen  von  einer  Messkette  abgeleiteten  Stromzweig  im 
entgegengesetzten  Sinne  zu  beeinflussen,  und  zwar  genau  bis  zu  völliger 
Aufhebung  der  ursprünglichen  Ablenkung,  Man  hat  dann  in  der 
bekannten,  variablen  Spannungsdifferenz  ein  Maass  für  die  Grösse  der 
zu  bestimmenden,  unbekannten.  Ein  solcher  „  c  o  m  p  e  n  s  i  r  e  n  d  e  r " 
Strom  lässt  sich  von  einer  Messkette  leicht  vermittels  eines  Rheochords 
abzweigen,  welches  in  diesem  Falle  als   „C  orapensator"   bezeichnet 

wird.  Wird  durch  einen  geraden 
oder  zum  Kreise  gebogenen  Draht 
(a  h)  (Fig.  106)  der  Strom  einer 
Constanten  Kette  (K)  geleitet,  so  be- 
steht auf  demselben  ein  bestimmtes 
„elektrisches  Gefälle",  indem 
an  den  einzelnen  Punkten  verschie- 
dene Spannungen  herrschen.  Ver- 
bindet man  nun  unter  Vermittelung 
eines  Stromwenders  (C)  den  Längs- 
schnitt eines  auf  unpolarisirbaren 
Elektroden  aufliegenden  Muskels  (iH) 
mit  dem  Ende  (a)  der  Compensator- 
saite,  während  der  abgeleitete  Längs- 
schnittpunkt mit  einem  metallischen 
Schieber  verbunden  wird  (c),  welcher 
auf  dem  Rheochorddraht  gleitet,  so 
wirkt  auf  die  Bussole  (B)  einerseits 
die  Spannungsdifferenz  zwischen  den 
Rheochord punkten  («)  und  (c),  andererseits  aber  jene  zwischen  dem 
Querschnitt  und  der  Längsoberfläche  des  untersuchten  Muskels.  Durch 
passende  Einstellung  des  Schiebers  (c)  lässt  sich  nun  jederzeit  leicht 
die  durch  den  Muskelstrom  bewirkte  Ablenkung  genau  compensiren. 
Es  ist  dann  offenbar  die  Differenz  der  Spannungen  zwischen  Längs- 
oberfläche  und  Querschnitt  des  Muskels  gleich  der  Diffei-enz  der 
Spannungen  zwischen  den  Punkten  (a)  und  (c)  des  Rheochorddrahtes. 
An  diesem  entspricht  aber  jeder  Millimeter  einem  bestimmten  Bruch- 
theil  der  Kraft  eines  Dani eil' sehen  Elementes. 

Um  derartige  Messungen  rasch  und  bequem  ausführen  zu  können, 
construirte  Du  Bois-Reymond  den  „runden  Compensator", 
bei  welchem  der  Rheochorddraht  (a  h)  auf  einer  runden  Scheibe  von 
Hartgummi  angebracht  ist.  Anfang  und  Ende  desselben  stehen  mit 
den  Klemmen  I  und  H  in  Verbindung;  vom  Anfang  geht  ausserdem 
ein  Draht  zur  Klemme  IV,  während  HI  mit  dem  metallenen  Röllchen  r 
verbunden  ist,  welches  auf  dem  Rheochorddraht  schleift,  von  dem 
ein  beliebiger  Antheil  durch  Drehung  der  Scheibe  eingeschaltet  werden 
kann  (Fig.  107,  a  und  b). 

Nach  der  eben  beschriebenen  Methode  hat  Du  Bois-Rey- 
mond   zahlreiche   Messungen   der   elektromotorischen  Kraft   zwischen 


Fig.  106 
sation. 


Kraftmessung  durch  Compen- 
(Nach  Du  Bois-Reymond.) 


Die  elektromotorischen  Wirkuns'en  der  Muskeln. 


287 


Läng-sschnitt    und     Querschnitt     quergestreifter    Froschmuskeln     aus- 
geführt.    Sie  erreicht  im  Mittel  0,035— 0,075  Dan.     Nach  Matten cci 


Fig.  107  ff.     Runder  Compensator.     (Nach  Du  Bois-Reymond.) 


Avürde  der  Muskelstrom  um  so 
stärker  sein ,  je  höher  man  in  der 
Stufenleiter  der  Thiere  emporsteigt; 
jedoch  sind  Kraftmessungen  an 
Warmblütermuskeln  mit  hinreichen- 
der Genauigkeit  schwer  ausführbar 
in  Folge  des  raschen  Absterbens. 
Dass  der  Muskelstrom  an  die  Er- 
haltung der  normalen  Lebenseigen- 
schaften des  Muskels  gebunden  ist, 
ergiebt  sich  unmittelbar  aus  dem 
Umstände,  dass  ganz  abgestorbene 
Muskeln  stets  elektromotorisch  im- 
wirksam  sind  oder  doch  nur  ver- 
gleichsweise äusserst  schwache  und 
unregelmässige  Wirkungen  geben. 
Dem  entspricht  es,  dass  die  Kraft 
des  ausgeschnittenen,  mit  Quer- 
schnitt versehenen  Muskels,  wie 
schon  Du  B 0 i s  zeigte ,  in  lang- 
samem Sinken  begriffen  ist,  bis 
endlich  in  Folge  des  von  der  Schnitt- 
fläche aus  langsam  weiterkriechen- 
den Absterbeprocesses  sämmtliche 
verletzte  Fasern  eines  Muskels  ab- 
gestorben (erstarrt)  und  damit  elek- 
tromotorisch unwirksam  geworden 
sind.  Es  rückt  demnach  die  Grenz- 
fläche zwischen  dem  abgestorbenen, 
fläche  überziehenden  Faserinhalt   und  dem  lebenden  Antheil  der 


Fio-.  107  5. 


ursprünglich    nur    die    Schnitt- 


288  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

tractilen  Substanz  (die  „Demarcationsfläche")  im  Verlaufe  der 
Erstarrung  immer  weiter  nach  innen. 

Es  wurde  im  Vorstehenden  schon  wiederholt  von  künstlichem 
Q.uerschnitt  gesprochen,  auch  wenn  es  sich  nicht  um  eine  wirkliche 
Schnittfläche,  sondern  nur  um  eine  Demarcationsfläche  im  obigen 
Sinne  handelte.  In  der  That  verhält  sich  jedes  abgestorbene  Stück 
einer  Muskelfaser  als  ein  indifferenter  Anhang  (wie  etwa  sonst  die 
Sehnensubstanz),  welcher  von  dem  künstlichen  Querschnitt,  d.  h. 
der  Grenzfläche  zwischen  todtem  und  lebendem  Faserinhalt,  ableitet. 
Man  kann  daher  in  diesem  Sinne  ganz  wohl  von  einem  mechanischen, 
thermischen  oder  chemischen  Querschnitt  sprechen.  Im  Allgemeinen 
zeigt  sich  übrigens  die  Stärke  der  elektromotorischen  Wirkung  unab- 
hängig von  der  Art  der  Abtödtung  oder  Zerstörung  eines  Faser- 
antheiles,  sofern  es  sich  wirklich  um  eine  solche  handelt. 

Wenn  es  auf  Grund  der  erwähnten  Erfahrungen  keinem  Zweifel 
unterliegen  kann,  dass  der  Muskelstrom  eine  Eigenthümlichkeit  des 
lebenden  Gewebes  ist,  so  würde  derselbe  doch  nur  dann  als  eine 
unser  ganzes  Interesse  beanspruchende  Lebensäusserung  gelten 
dürfen,  wenn  das  seiner  Zeit  von  D  u  B o  i  s - R ey  mo  n d  ausgesprochene 
Gesetz  der  Gleichwerthigkeit  des  künstlichen  und  natürlichen  Quer- 
schnitts durchweg  Geltung  hätte,  wenn  sich  stets  und  in  allen  Fällen 
dem  Gesetz  des  Muskelstromes  entsprechende  Spannungen  zwischen 
dem  Sehnenende  und  der  übrigen  Muskeloberfläche  würden  nachweisen 
lassen,  wenn  mit  anderen  Worten  die  „Präexistenz"  des  Muskel- 
stromes im  völlig  unversehrten  lebenden  Thier  eine  bewiesene  That- 
sache  wäre.  Dies  ist  nun  aber,  wie  die  folgenden  Erörterungen  zeigen 
werden,  keineswegs  der  Fall;  es  hat  sich  im  Gegentheil  unter  dem 
Eindruck  zahlreicher  Erfahrungen  der  neueren  Zeit  mehr  und  mehr 
die  insbesondere  von  Hermann  vertretene  Anschauung  Geltung  ver- 
schaff't,  dass  der  Muskelstrom  nicht  präexistire,  sondern 
eine  künstlich  durch  die  Präparation  bedingte  Er- 
scheinung ist.  Matteucci  hat  von  vornherein  die  Ansicht  ver- 
treten, dass  im  lebenden  unversehrten  Thier  keine  Spur  des  Muskel- 
stroms zu  finden  sei.  Seiner  Meinung  nach  entsteht  dieser  Strom 
erst  durch  das  Anlegen  des  ableitenden  Bogens.  Du"  Bois-Rey- 
mond,  welcher  sich,  wie  schon  erwähnt  wurde,  hauptsächlich  auf 
Grund  seiner  ersten  Befunde  am  Gastrocnemius  des  Frosches  zu  der 
Annahme  veranlasst  sah,  dass  eine  beständige  Spannungsdifferenz 
zwischen  dem  Achillessehnenspiegel  (dem  natürlichen  Querschnitt) 
und  der  unversehrten  Muskeloberfläche  bestehe,  wurde  bald  ge- 
nöthigt,  seine  Ansicht  wesentlich  zu  modificiren.  Den  Ausgangs- 
punkt der  diesbezüglichen  Untersuchungen  Du  Bois-Reymond's 
bildeten  Beobachtungen  über  den  Einfluss  der  Kälte  auf  den 
Muskelstrom,  durch  welche  derselbe,  wie  schon  Mateucci 
beobachtet  hatte,  wesentlich  vermindert  wird.  Du  Bois-Reymond 
fand  die  Angaben  Matteucci's  über  die  geringere  Wirksamkeit  der 
Muskeln  abgekühlter  Frösche  im  Allgemeinen  bestätigt.  Gastrocnemien, 
welche  bei  Ableitung  von  Sehne  und  natürlichem  Längsschnitt  mit  D  u 
Bois-Reymond's  ursprünglicher  Vorrichtung  immer  einen  sehr  kräf- 
tigen gesetzmässigen  Strom  zeigten,  erwiesen  sich  nunmehr  stromlos  oder 
gaben  sogar  verkehrte  Ausschläge  im  Sinne  eines  im  Muskel  ab- 
steigenden Stromes,  lieferten  dagegen  sofort  einen  aufsteigenden  Strom, 
wenn   ein  künstlicher  Querschnitt   angelegt   wurde.     Du  Bois-Rey- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  289 

mond  bezeichnete  den,  wie  er  meinte,  durch  die  Kälte  herbeigeführten 
Zustand  der  Muskeln,  in  dem  sie  elektromotorisch  unwirksam  oder 
gar  in  verkehrter  Richtung  Avirkend  gefunden  wurden,  als  den 
„  p  a  r  e  1  e  k  t r  o  n  0  m  i  s  c  h  e  n"  Zustand  (von  Ttagavoi-iog  =^  gesetzwidrig). 
Die  Thatsache,  dass  parelektronomische  Muskeln  vom  Momente  des 
Auflegens  auf  die  mit  Eiweisshäutchen  bekleideten  Kochsalzbäusche 
allmählich  „normal"  wirksam  werden,  erwies  sich  jedoch  in  der  Folge 
nicht  sowohl  als  durch  die  Erwärmung  bedingt,  sondern  vielmehr 
durch  die  langsame  chemische  Veränderung  (Anätzung)  des  Sehnen- 
spiegels verursacht,  welcher  mit  der  concentrirten  Kochsalzlösung 
der  Zuleitungsgefässe  und  mit  dem  Eiweiss  der  Schalenhäutchen  in 
Berührung  stand.  Es  hatten  hierbei  diese  Flüssigkeiten  denselben 
Effect  allmählich  hervorgebracht,  den  man  plötzlich  erzeugt,  wenn  man 
in  irgend  einer  Weise  einen  mechanischen  oder  thermischen  Quer- 
schnitt anlegt.  Durch  einwandfreie  Versuche  hat  indessen  später 
Hermann  (9)  den  Nachweis  geliefert,  dass  in  der  That  die  Kraft 
ausgeschnittener  Muskeln  durch  Abkühlung  erheblich 
sinkt,  durch  Erwärmung  dagegen  steigt;  die  Schwankung 
kann  nach  Hermann  innerhalb  der  vitalen  Temperaturgrenzen  bis 
zu  22 "/o  betragen,  ist  aber  wahrscheinlich  noch  grösser,  da  bei  dem 
angewendeten  Versuchsverfahren  die  Möglichkeit  vorliegt,  dass  die 
tieferen  Schichten  nicht  in  gleichem  Maasse  beeinflusst  Avaren,  wie  die 
oberflächlichen. 

Vermeidet  man  bei  der  Präparation,  wie  auch  bei  der  Ableitung 
der  Muskeln  möglichst  jede  Schädigung  insbesondere  der  Sehnenenden, 
so  findet  man  dieselben  elektromotorisch  entweder  gänzlich  unwirksam 
oder  es  sind  die  zwischen  der  Oberfläche  und  dem  natürlichen  Quer- 
schnitt vorhandenen  Spannungsdifl'erenzen  doch  so  geringfügig,  dass 
man  berechtigt  ist,  dieselben  den  kaum  ganz  zu  vermeidenden 
Schädigungen  zuzuschreiben.  Benetzung  des  natürlichen  Querschnitts 
mit  Flüssigkeiten,  welche  die  Muskelsubstanz  chemisch  nicht  anzu- 
greifen vermögen,  wie  beispielsweise  physiologischer  NaCl-Lösung,  wirkt 
niemals  merklich  stromentwickelnd.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Unter- 
suchungen DuBois-Reymond's  stellte  sich  dann  heraus,  dass  der 
vermeintliche  Einfluss  der  Abkühlung  auf  die  Entwicklung  der  Par- 
elektronomie  gar  nicht  so  bedeutend  ist,  dass  vielmehr  alle  Muskeln 
sich  stets  auf  ein  er  mehr  oder  minder  hohen  Stufe  des 
parelektrono  mischen  Zustand  es  befinden.  Es  ist  dieser 
Zustand  daher  auch  nicht  sowohl  als  ein  abnormer,  nur  durch  die 
Kälte  bewirkter  aufzufassen,  sondern  vielmehr  als  ein  ganz  normaler 
gesetzmässiger.  Man  könnte,  wie  Hermann  richtig  bemerkt,  mit 
viel  mehr  Recht  den  Zustand,  in  welchem  der  Strom  zwischen  Sehnen- 
ende und  Muskelfleisch  in  voller  Stärke  entwickelt  ist,  als  den  „par- 
elektronomischen"  bezeichnen,  wie  jenen,  welchen  Du  Bois  damit 
meinte. 

Auf  die  Erklärung,  welche  Du  Bois-Reymond  von  der  Par- 
elektronomie  gegeben  hat,  kann  erst  später  näher  eingegangen  werden. 
Vorläufig  mag  es  genügen,  darauf  hinzuweisen,  dass  nach  Du  Bois' 
Ansicht  die  Schwäche,  beziehungsweise  das  Fehlen  des  Stromes 
zwischen  Oberfläche  und  natürlichem  Querschnitt  auf  dem  Vor- 
handensein einer  dünnen  Lage  besonders  gearteter 
Muskelsubstanz  am  natürlichen  Querschnitt  beruhen 
sollte,      welche      die     gesetz  massige     elektromotorische 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  19 


290  Die  elektromotorischen  Wirkungen   der  Muskeln. 

Wirkung  der  übrigen  Muskelmasse  durch  ihre  ent- 
gegengesetzte eigene  Wirkung  zum  Theil  compensirt, 
aufhebt  oder  sogar  ü  bercompensirt. 

Die  stromentwickehide  Wirkung  der  Benetzung  des  natürhchen 
Querschnitts  mit  concentrirter  NaCl-Lösung,  Säuren  oder  Alkalien,  der 
Hitze  oder  des  Schnittes  Avürde  demnach  zurückzuführen  sein  auf  die 
chemische,  thermische  oder  mechanische  Zerstörung  dieser  dünnen 
Schicht,  welcher  Du  Bois  den  Namen  der  parelektro  no- 
mischen Schichte  gegeben  hat.  So  erklärte  sich  nun  in  ein- 
fachster Weise  der  starke  gesetzmässige  Strom  des  scheinbar  ganz 
unversehrten  Gastrocnemius ,  sowie  die  regellosen  Ausschläge,  welche 
bei  Ableitung  verschiedener  Oberschenkelmuskeln  von  Sehne  nnd 
natürlichem  Längsschnitt  erhalten  werden  können,  aus  der  Annahme 
eines  in  verschiedenem  Grade  entwickelten,  parelektronomischen  Zu- 
standes.  Es  ist  leicht  ersichtlich,  dass  es  unter  den  gegebenen  Ver- 
hältnissen näher  liegt,  den  stromlosen  Zustand  für  den  nor- 
malen zu  halten.  Denn  liesse  sich  strenge  beweisen,  dass  alle 
Muskeln  im  gänzlich  unversehrten  Zustand  stets  und  unter  allen  Um- 
ständen stromlos  sind,  dann  erscheint  selbstverständlich  die  Hypothese 
von  einer  gesetzwidrig  wirkenden  besonderen  Schichte  am  natürlichen 
Querschnitt  völlig  überflüssig.  So  spitzt  sich  denn,  wie  Hermann 
hervorhob,  die  ganze  Streitfrage  nach  der  Präexistenz  des  Muskel- 
stroms darauf  zu,  denselben  vor  der  E  n  t  h  ä  u  t  u  n  g  des  T  h  i  e  r  e  s 
an  den  in  situ  befindlichen,  blutdurchströmten  Muskeln 
nachzuweisen.  Es  könnte  scheinen,  als  müsste  dies  beim  Frosche 
ausserordentlich  leicht  und  einfach  sein,  da  dessen  feuchte,  dünne 
Haut  den  Muskeln  nur  lose  aufliegt  und  eine  verhältnissmässig  gut- 
leitende Nebenschliessung  bildet.  Indessen  ist  gerade  dieses  Versuchs- 
object  das  allerungUnstigste.  Du  Bois-Reymond  hat  der  Unter- 
suchung des  Muskelstroms  am  lebenden,  unversehrten  und  unent- 
häuteten  Frosch  ausserordentlich  viel  Zeit  und  Mühe  gewidmet  und 
glaubte  sich  schliesslich  auch  wirklich  von  dem  Vorhandensein  ge- 
setzmässiger  Spannungsdifferenzen  in  dem  erwarteten  Sinne  über- 
zeugt zu  haben.  Nichtsdestoweniger  handelte  es  sich  aber  auch  hier, 
wie  sich  später  herausstellte,  um  eine  Deutung,  gegen  welche  sich  die 
schwerwiegendsten  Bedenken  geltend  machen  lassen.  Zur  Ableitung 
der  unenthäuteten  Frösche  und  Frosehgliedmaassen  bediente  sich  D  u 
Bois  wieder  zunächst  der  mit  concentrirter  NaCl  getränkten  und  mit 
.,Eiweisshäutchen"  bekleideten  Trogelektroden.  Es  stellte  sich  nun 
bald  heraus,  dass  immer  die  zuerst  berührte  Ableitungsstelle  sich 
positiv  zu  der  später  berührten  verhielt,  Avorauf  nach  einiger  Zeit  ein 
Strom  von  geringer  Kraft  in  der  Richtung  des  Längsquerschnitts- 
stromes enthäuteter  Präparate  zum  Vorschein  kam.  Die  ersterwähnte 
Wirkung  rührt  nun,  wie  Du  Bois  fand,  von  einer  der  Froschhaut 
selbst  eigenthUmlichen  elektromotorischen  Kraft  her,  mit  der  wir  uns 
noch  ausführlich  zu  beschäftigen  haben  werden.  Vorläufig  wird  es 
genügen,  zu  bemerken,  dass  jene  senkrecht  zu  ihrer  Oberfläche  elektro- 
motorisch wirkt,  und  dass  der  Strom  in  derselben  von  aussen  nach 
innen  (im  ableitenden  Bogen  natürlich  umgekehrt)  gerichtet  ist.  Da 
nun  diese  an  sich  sehr  starke  Wirkung  durch  Benetzung  der  äusseren 
Hautoberfläche  mit  ätzenden  Flüssigkeiten  rasch  zerstört  wird,  so 
muss  natürlich  bei  ungleichzeitiger  Berührung  der  Hautstellen  mit 
ableitenden  Elektroden,    welche    nicht  ganz  indifferent  sind,    stets    ein 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  291 

Strom  in  dem  oben  angedeuteten  Sinne  auftreten,  indem  sich  die 
schwächer  wirksam  oder  unwirksam  gewordene  Stelle  positiv  zur 
andern  verhält. 

Man  könnte  nun  erwarten,  den  gesetzmässigen  Strom  der  unter 
der  Haut  gelegenen  Muskeln  in  dem  Momente  rein  hervortreten  zu 
sehen,  wo  beide  Ableitungsstellen  elektromotorisch  indifferent  ge- 
worden sind.  Dies  schien  in  der  That  bei  Du  Bois'  Versuchen  der 
Fall  zu  sein,  doch  waren  die  SpannungsdifFerenzen,  allerdings  im 
richtigen  Sinne,  immer  sehr  schwach  und  in  allmählicher  Zunahme  be- 
griffen. Dieser  letztere  Umstand  wies  schon  darauf  hin,  dass  die 
Parelektronomie  der  subcutan  gelegenen  Muskeln  durch  die  allmäh- 
lich durch  die  Haut  dringende  NaCl-Lösung  beseitigt  wird,  so  dass  von 
vornherein  die  Vermuthung  berechtigt  erscheint,  dass  auch  schon 
die  ersten  Spuren  des  gesetzmässigen  Muskelstromes  durch  Anätzung 
des  natürlichen  Querschnitts  entstanden  sind.  Es  können  daher,  wie 
zuerst  Hermann  (10)  hervorhob  und  direct  durch  Aetzung  mit 
Silbernitrat  erwies,  Avelches  die  unterliegenden  Muskeln  sichtbar  ver- 
ändert (trübt),  derartige  Versuche  überhaupt  nicht  als  beweisend  für 
die  Annahme  der  Präexistenz  des  Muskelstromes  angesehen  werden. 
„Wählt  man  die  Aetzstellen  so,  dass  keine  aponeurotischen  Muskel- 
flächen unterliegen  (z.  B.  die  äussersten  Zehenspitzen  und  die  Rücken- 
haut), so  findet  man  in  der  That  keine  dem  Muskelstrom  ent- 
sprechende Ablenkung,  sondern  der  Kreis  ist  soweit  stromlos,  als 
überhaupt  ein  Kreis,  der  feuchte  Leiter  und  Metalle  enthält,  stromlos 
sein  kann."  Wendet  man  nach  dem  Vorgange  Hermann' s  statt 
der  rasch  diffundirenden  NaCl-Lösung,  Creosot,  Silbernitrat  oder  am 
besten  Sublimat  an,  so  gelingt  es  wirklich,  zu  einer  gewissen  Zeit 
völlige  Stromlosigkeit  zwischen  den  beiden  abgeleiteten  Hautpunkten 
nachzuweisen,  obschon  später  auch  hier  Durchätzung  eintritt  und 
einen  zunächst  schwachen,  gesetzmässigen  Strom  bedingt.  Bei 
Fischen,  deren  Hautstrom  in  den  meisten  Fällen  schwächer  ent- 
wickelt ist  als  beim  Frosch,  genügt,  wie  Hermann  gezeigt  hat, 
längerer  Aufenthalt  in  zimmerwarmem  Wasser,  um  bei  jeder  Ableitung 
des  immobilisirten,  unversehrten  Thieres  Stromlosigkeit  zu  erhalten. 
Dass  es  gelingt,  auch  völlig  frei  präparirte  Muskeln  absolut  stromlos 
zu  erhalten,  wurde  bereits  oben  bei  Besprechung  der  Parelektronomie 
hervorgehoben,  und  Du  Bois  selbst  hat  ja  diese  Thatsaehe  am 
Gastrocnemius  des  Frosches  unzählige  Male  beobachtet.  Wenn  er  dem 
ungeachtet  die  Präexistenz  des  Muskelstroms  behauptete,  so  stützt 
sich  diese  Ansicht  hauptsächlich  auf  die  Wahrnehmung,  dass  in  zahl- 
reichen andern  Fällen  der  genannte  Muskel  trotz  aller  möglichen  Vor- 
sicht bei  der  Präparation  geringe  aber  gesetzmässige  SpannungsdifFe- 
renzen darbietet.  Man  wird  jedoch  He  rmann  durchaus  Recht  geben 
müssen,  wenn  er  auch  in  solchen  Fällen  die  elektromotorische  Wirkung 
auf  das  unvei-merkte  Hinzutreten  schädlich,  d.  h.  chemisch  alterirend 
wirkender  Flüssigkeiten  (Hautsekret,  Muskelsaft  u.  s.  w.),  ungleiche 
Erwärmung,  Berührung  oder  Druck  bezieht,  was  nur  dann  möglichst 
vermieden  werden  kann,  wenn  man  erst  mit  den  betreffenden  Schäd- 
lichkeiten einerseits,  der  ausserordentlichen  Empfindlichkeit  der  Mus- 
kelsubstanz andererseits  bekannt  geworden  ist.  Vor  Allem  ist  die  Be- 
rührung mit  Muskelwunden  oder  der  dieselben  benetzenden  Flüssigkeit 
sorgsamst  zu  verhüten.  Denn  es  ist  eine  bereits  Du  Bois -Reymond 
bekannt  gewesene   Erfahrung,    dass    der   blossliegende ,    im  Absterben 

19* 


292  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

begriffene  oder  bereits  abgestorbene  Faserinhalt,  wie  z.  B.  ein  künst- 
licher Querschnitt,  ausserordentlich  kräftig  stromentwickelnd  wirkt. 
Mit  Rücksicht  auf  den  von  Du  Bois-Reymond  aufgestellten  Satz, 
dass  nur  solche  Stoffe,  welche  die  Muskelsubstanz  chemisch  angreifen 
und  dadurch,  wie  er  meinte,  zur  Zerstörung  der  parelektronomischen 
Schichte  führen,  stromentwickelnd  wirken,  muss  die  erwähnte  That- 
sache  sehr  auffallend  erscheinen,  da  man  doch  vorauszusetzen  be- 
rechtigt ist,  dass  die  Muskelsubstanz  sich  selbst  nicht  chemisch  alte- 
rirt.  Indessen  ist  zu  bedenken,  dass  der  blossliegende  Faserinhalt 
dem  Erstarrungsprocesse  rasch  anheimfällt  und  hierbei  chemische  Ver- 
änderungen erleidet,  welche  bekanntlich  zu  Säurebildung  Anlass  geben. 
Da  andererseits  bekannt  ist,  dass  Säuren  selbst  in  hohen  Verdünnungs- 
graden die  Lebenseigenschaften  der  Muskeln  rasch  schädigen,  so  ist  es 
naheliegend,  die  stromentvvickelnde  Eigenschaft  des  künstlichen  Quer- 
schnitts auf  die  Säuerung  der  Muskelsubstanz  zu  beziehen.  In  wieweit 
diese  Vermuthung  wirklich  berechtigt  ist,  wird  später  noch  ausführ- 
licher zu  erörtern  sein. 

Ganz  besondere  Schwierigkeiten  bereitete  der  Präexistenzlehre  das 
elektromotorische  Verhalten  unversehrter  oder  doch  scheinbar  unver- 
sehrter Oberschenkelmuskeln  des  Frosches.  In  der  grosssen  Mehrzahl 
der  Fälle  fand  Du  B o i s  dieselben  zwischen  beiden  Sehnenenden  ab- 
steigend wii'ksam,  jedoch  kamen  auch  Fälle  von  völliger  Stromlosig- 
keit  vor,  sowie  aufsteigend  wirkende  Präparate.  Der  Strom  zwischen 
oberem  Sehnen  ende  und  Aequator  (DuBois'  „oberer  Strom'')  war 
in  der  Regel  grösser  als  der  zwischen  Aequator  und  unterem  Sehnen- 
ende (der  „untere  Strom").  Doch  beobachtete  Du  Bois  auch 
das  Umgekehrte,  und  selbst  solche  Fälle  kamen  vor,  wo  beide  Sehnen- 
enden sich  positiv  gegen  den  Aequator  verhielten.  Die  Verschieden- 
artigkeit und  das  Verwirrende  dieser  Befunde  hätte,  wie  Hermann 
hervorhebt,  allein  schon  genügen  müssen,  um  die  Lehre  von  der  Par- 
elektronomie  zu  erschüttern,  doch  war  dies  keineswegs  der  Fall. 
Vielmehr  erhielt  dieselbe  gerade  auf  Grund  gewisser  Befunde  an 
Oberschenkelmuskeln  eine  weitere  Ergänzung  durch  die  Annahme 
einer  in  manchen  Fällen  an  Stelle  der  parelektronomischen  Schichte 
entwickelten  parelektronomischen  Strecke  (11).  In  diesem  Sinne 
deutete  nämlich  Du  Bois-Reymond  die  allerdings  nur  in  einigen 
wenigen  Fällen  beobachtete  Thatsache,  dass  ein  in  der  Nähe  des 
Sehnenendes  angelegter  künstlicher  Querschnitt  sich  nicht  wie  ge- 
wöhnlich negativ,  sondern  positiv  zum  Längsschnitt  verhielt.  Es  wird 
später  zu  zeigen  sein,  wie  sich  alle  diese  Unregelmässigkeiten  in  ein- 
fachster Weise  erklären  lassen;  vorläufig  sei  nur  bemerkt,  dass  es 
ohne  besondere  Schwierigkeit  gelingt,  auch  Oberschenkelmuskeln  des 
Frosches,  wie  insbesondere  den  Sartorius,  vollkommen  stromfrei  zu  er- 
halten (16).  Mit  dem  Nachweise,  dass  die  Skeletmuskeln  bei  ge- 
höriger Vorsicht  stets  in  stromlosem  Zustand  erhalten  werden  können, 
ist  jedoch  die  Reihe  der  Beweise  für  den  Satz,  dass  unversehrte 
Muskeln  überhaupt  nicht  elektromotorisch  wirken,  noch  nicht  er- 
schöpft. Im  Jahre  1874  wies  Engelmann  auf  das  Herz  als  einen 
Muskel  hin,  der  ausserordentlich  geeignet  ist  zur  Untersuchung  in 
gänzlich  unversehrtem  Zustande  (12).  Dasselbe  erweist  sich  denn 
auch  in  der  That  bei  jeder  Ableitungsart  stromlos.  Selbstverständlich 
verhält  sich  aber  ein  künstlicher  Querschnitt  des  Herzens  ganz  ebenso 
negativ   wie  der  eines  jeden    andern  Muskels,  und  es  war  dies  schon 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  293 

Matteucci  bekannt,  welcher  aus  querdurchschnittenen  Taubenherzen 
Säulen  construirte.  Von  grossem  Interesse  für  die  theoretische  Auf- 
fassung des  Längsquerschnittstronies  ist  die  Thatsache ,  dass ,  wie 
Engelmann  (12)  fand,  die  Kraft  zwischen  künstlichem 
Querschnitt  und  natürlicher  Oberfläche  des  Herz- 
muskels sehr  rasch  sinkt.  Es  ist  dies  um  so  auffallender,  als 
es  seit  lange  —  schon  Du  B o i s  macht  darauf  aufmerksam  —  be- 
kannt ist,  dass  der  einmal  entwickelte  Längsquerschnittstrom  mono- 
merer Skeletmuskeln  ausserordentlich  beständig  ist.  So  fand  Engel - 
mann,  dass  die  Kraft  des  Sartorius  binnen  1  Stunde  im  Mittel  aus 
45  Versuchen  auf  81,1  *^/ü,  binnen  24  Stunden  auf  43,6**''o  und  erst  binnen 
48  Stunden  auf  30,8*^/0  gesunken  war.  Anfrischen  des  Querschnitts,  d.  i. 
Anlegen  eines  neuen  tiefer  hinein  liegenden  Querschnittes  nützt  dann 
in  der  Regel  nicht  viel  und  führt  höchstens  zu  einer  geringen 
Zunahme  des  Muskelstroms.  Ganz  anders  ist  es  beim 
Herzen.  Hier  genügt  Abtragen  der  alten  Schnittfläche, 
um  die  Kraft  sofort  wieder  in  der  anfänglichen  Höhe  er- 
scheinen zu  lassen.  Es  scheint  also,  als  könne  man  hier  die  Ent- 
stehung der  parelektronomischen  Schichte  so  zu  sagen  direct  beob- 
achten. Die  Thatsache  erklärt  sich  jedoch  sehr  einfach.  Gehen  wir 
dabei  aus  von  der  Betrachtung  des  ganz  analogen  Verhaltens  poly- 
merer Stammesmuskeln.  An  der  Innenfläche  der  Bauchwand  von 
Salamandra  mac.  verlaufen  zwei  lange,  durch  sehnige  Inscriptionen 
in  zahlreiche  kurze  Glieder  abgetheilte  Muskeln.  Wenn  man  einen 
solchen  bandförmigen  Muskel  herauspräparirt,  in  der  Continuität 
eines  einzelnen  Gliedes  quer  durchschneidet  und  ihn  dann  vor  Ver- 
trocknung  geschützt  liegen  lässt,  so  überzeugt  man  sich  nachträglich, 
dass  nach  einiger  Zeit  nur  dieses  verletzte  Glied  die  Zeichen  der  Er- 
starrung an  sich  trägt,  Avährend  die  übrigen  ihr  normales  Aussehen 
und  ihre  Erregbarkeit  noch  besitzen,  dass  also  das  Absterben  an  der 
nächsten  sehnigen  Inscription  Halt  gemacht  hat.  Denkt  man  sich  nun 
einen  solchen  Muskel  zum  Galvanometer  abgeleitet,  einerseits  vom 
künstlichen  Querschnitt,  andererseits  von  irgend  einem  Punkt  der 
Muskeloberfläche,  so  wird  selbstverständlich  unmittelbar  nach  Anlegen 
des  künstlichen  Querschnitts  ein  gesetzmässiger  Strom  vorhanden  sein. 
Dieser  müsste  aber  vom  Standpunkte  der  Präexistenzlehre  auch  dann 
noch  nachweisbar  sein,  wenn  das  verletzte  Theilglied  völlig  erstarrt 
ist,  denn  dann  bildet  es  eben  eine  unwirksame  Ableitung  vom  natür- 
lichen Querschnitt  des  nächstfolgenden  Gliedes,  gerade  wie  die  Sehne 
oder  der  Knochen  eines  monomeren  Muskels.  Dies  ist  jedoch  nicht 
der  Fall,  sondern  der  Längsquerschnittsstrom  besteht  nur,  so  lange 
noch  ein  Theil  der  Substanz  des  mit  künstlichem  Querschnitt  ver- 
sehenen Theilgliedes  lebend  vorhanden  ist;  er  wird  gleich  Null,  wenn 
das  betreff'ende  Glied  vollständig  erstarrt  ist  und  erhebt  sich  erst  auf 
seine  frühere  Höhe,  wenn  jenseits  der  sehnigen  Inscription  ein  neuer 
Q,uer schnitt  angelegt  wird. 

Ganz  analoge  Verhältnisse  existiren  nun  auch  beim  Herzmuskel. 
Derselbe  unterscheidet  sich  von  andern  quergestreiften  Muskeln  ausser 
durch  den  sehr  verwickelten  Faserverlauf,  der  hier  von  keiner  Be- 
deutung sein  kann,  sehr  wesentlich  durch  die  ausserordentlich  viel 
geringere  Grösse  seiner  morphologischen  Elemente:  er  besteht  aus 
mikroskopisch  kleinen  Zellen.  Engel  mann  hat  nun  nachgewiesen, 
dass   sich   die   einzelnen   Herzmuskelzellen   beim  Absterben    als    völlig 


294  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

selbststäuclige  Individuen  verhalten,  gerade  wie  die  einzelnen  Theilglieder 
polymerer  Muskeln.  Der  durch  den  Schnitt  hervorgerufene  Er- 
starrungsprocess  wird  somit  beim  Herzen  in  sehr  geringer  Entfernung 
von  der  Wunde  zum  Stehen  kommen,  also  viel  früher  abgelaufen  sein, 
als  bei  gewöhnlichen,  langfaserigen  Muskeln,  und  es  wird  somit  auch 
hier,  wie  bei  polymeren  Skeletmuskeln,  die  Grenzfläche  zwischen 
todter  und  lebender  Muskelsubstanz  schliesslich  durch  die  natürlichen 
Oberflächen,  beziehungsweise  Enden  der  nicht  direct  verletzten  Zellen 
gebildet.  Wollte  man  sich  diesen  Befunden  zum  Trotz  dennoch  auf  den 
Standpunkt  der  Präexistenzlehre  stellen,  so  bleibt  nichts  Anderes  übrig, 
als  anzunehmen,  dass  jede  einzelne  Zelle  des  Herzmuskels  an  ihren 
Endflächen  mit  einer  parelektronomischen  Schichte  bekleidet  ist,  sowie 
man  auch  im  Falle  polymerer  Muskeln  annehmen  müsste,  dass  zu 
beiden  Seiten  je  einer  sehnigen  Inscription  eine  parelektronomische 
Schichte  vorhanden  ist.  Zu  einer  solchen  Annahme  wird  man  sich 
aber  ohne  Noth  wohl  kaum  entschliessen.  Es  geht  also  aus  dem  Ver- 
halten polymerer  Muskeln  und  des  Herzens  abermals  hervor,  dass 
sowohl  dieTheilglieder  der  ersteren  als  auch  die  zelligen 
Elemente  des  letzteren  im  unversehrten  Zustande  nach 
aussen  elektromotorisch  unwirksam  sind. 

Analoge  Versuche,  welche  Engelmann  an  aus  glatten  Muskel- 
zellen zusammengesetzten  Organen  anstellte,  ergaben  dasselbe  Resultat. 
Auch  hier  sinkt ,  wie  beim  Herzen ,  die  Kraft  zwischen  einem  künst- 
lichen Querschnitt  und  natürlichem  Längsschnitt  sehr  rasch ,  um  bei 
Anfrischung  sofort  wieder  zu  steigen,  ein  Verhalten,  dass  sich  auch 
beim  Schliessmuskel  von  Anodonta  constatiren  lässt.  Es  darf  da- 
her auch  jede  glatte  Muskelzelle  im  unversehrten  Zustande  als  strom- 
los gelten.  Wenn  bei  Verletzung  polymerer  Muskeln  der  Längs- 
querschnittstrom  gleich  Null  wird,  wenn  dem  Fortschreiten  des 
Erstarrungsprocesses  durch  die  nächste  Sehneninscription  Halt  ge- 
boten wird,  so  erhebt  sich  die  Frage,  ob  es  kein  Mittel  giebt,  den 
vom  künstlichen  Querschnitt  aus  fortkriechenden  Absterbeprocess  eines 
monomeren  Muskels  ein  Ziel  zu  setzen  und  so  den  Muskelstrom 
zu  beseitigen.  Der  ausgeschnittene  Muskel  lässt  sich  allerdings  nicht 
mehr  retten,  aber  es  wäre  denkbar,  dass  bei  Fortdauer  der  Blut- 
circulation  ein  querdurchschnittener  Muskel  heilen  könnte.  Engel- 
mann  (1.  c.)  fand  nun  in  der  That,  dass  auch  gewöhnliche  Skelet- 
muskeln (Sartorius  vom  Frosch)  nach  subcutaner  Durchschneidung 
allmählich  wieder  stromlos  werden ;  wenn  aber  unter  dem  Einfluss 
der  normalen  Ernährungsbedingungen  sogar  der  künstliche  Querschnitt 
seine  negative  Spannung  verliert,  so  können  gewiss  nicht  die  natür- 
lichen Faserenden  während  des  ganzen  Lebens  der  Sitz  einer  elektro- 
motorischen Kraft  sein. 

Alle  bisher  besprochenen  Thatsachen  weisen  daher  übereinstim- 
mend darauf  hin ,  dass  quergestreifte  Muskeln  im  völlig 
unversehrten  Zustande  stromlos  sind  und  dass  der 
„ruhende  Muskelstrom"  an  die  Existenz  künstlicher 
Querschnitte,  seien  diese  nun  mechanische,  thermische  oder 
chemische,  gebunden  ist. 

Wenn  wir  nunmehr  dazu  übergehen,  die  zur  Erklärung  der  elektro- 
motorischen Wirkungen  verletzter  „ruhender"  Muskeln  bisher  ge- 
machten Versuche  einer  näheren  Besprechung  zu  unterziehen,  so  muss 
vor  Allem  betont  werden,    dass    eine  der  beiden  bis  in  die  letzte  Zeit 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  295 

sich  schroff  gegenüberstehenden  Theorien  gegenwärtig  wohl  als  wider- 
legt gelten  darf,  wenigstens  in  der  Form,  in  Avelcher  sie  ursprünglich 
von  ihrem  genialen  Begründer  Du  Bois-Reymond  aufgestellt 
worden  ist.  Mehr  und  mehr  hat  sich  seit  H  e  r  m  a  n  n '  s  grund- 
legenden Arbeiten  die  Anschauung  Bahn  gebrochen,  dass  bei  den  ver- 
wickelten Vorgängen  innerhalb  der  lebenden  Substanzen  das  chemische 
Geschehen  zum  Mindesten  ebenso  sehr  Berücksichtigung  verdient  und 
linden  muss,  als  die  physikalischen  Symptome  desselben,  und  dass  es 
nicht  angeht,  einer  bestimmten  Einzelerscheinung  zu  Liebe  ein  Gebilde, 
wie  den  lebenden  Muskel  oder  Nerv,  einem  rein  physikalischen  Schema 
gleichzustellen  und  dem  entsprechend  zu  behandeln.  Dem  ungeachtet 
muss  jedoch  schon  des  historischen  Interesses  wegen,  sowie  mit  Rück- 
sicht auf  spätere  Erörterungen,  die  „Molekulartheorie''  Du  Bois- 
Reymond 's  hier  wenigstens  in  Kürze  besprochen  werden,  umsomehr, 
als  in  neuerer  Zeit  der  Versuch  gemacht  worden  ist,  dieselbe,  wenn 
auch  in  einer  wesentlich  veränderten  P'orm,  wieder  zu  beleben  (Bern- 
stein). Es  bietet  sich  ausserdem  dabei  erwünschte  Gelegenheit,  einige 
für  das  Folgende  wichtige  Thatsachen,  betreffend  die  Vertheilung  von 
Strömen  in  körperlichen  Leitern,  nachzutragen. 

Wenn  ein  Körper,  wie  der  querdurchschnittene  Muskel,  Sitz 
einer  elektromotorischen  Kraft  ist,  so  handelt  es  sich  offenbar  in 
erster  Linie  darum, 
die  daraus  resultirende 
Vertheilung  der  Span- 
nungen in  demselben 
kennen  zu  lernen.  Wie 
dies  mit  Hülfe  eines 
gleichartigen  ableiten- 
den Bogens,  d.  h.  eines 
solchen,  der  an  sich 
und  durch  sein  An- 
legen an  den  feuchten 
Leiter  keine  Veran- 
lassung zur  Entwick- 
lung von  Spannungs- 
differenzen giebt,  durch  ^'^'S-  108  Schema  der  Stromverzweiguns-  in 
•  1  /l     •      nv>    •  Flussigkeitscylinder.     (Nach  Rosen thal.) 

fläche  des  elektromoto- 
risch wirkenden  Leiters  geschehen  kann ,  wurde  bereits  oben  aus- 
führlich besprochen.  Es  bleibt  jetzt  nur  noch  übrig,  zu  erörtern, 
wie  man  aus  der  Vertheilung  der  Oberflächenspannungen  auf  den 
elektrischen  Zustand  des  Inneren  schliessen  kann.  Gehen  wir  bei 
dieser  Betrachtung  von  einem  regelmässigen  Flussigkeitscylinder 
aus,  in  dessen  Innerem  irgendwo,  etwa  in  einem  Punkt  der  Axe, 
eine  elektromotorische  Kraft  Avirksam  sein  soll,  so  lässt  sich  der 
Strömungsvorgang  in  der  Ebene  irgend  eines  Längsschnittes  durch 
die  bestehende  schematische  Zeichnung  darstellen  (Fig.  108).  Befindet 
sich  beispielsweise  in  (Ä)  ein  aus  zwei  verschiedenen  Metallen  zu- 
sammengesetzter kleiner  Körper,  so  wird  der  ganze  Flussigkeits- 
cylinder im  Sinne  der  ausgezogenen  Pfeile  von  Stromfäden  durchsetzt 
sein,  die  in  ihrer  Gesammtheit  natürlich  in  einander  geschachtelte 
Flächen  (Strömungsflächen)  bilden.  Entsprechend  dem  „Gefälle"  herrscht 
in  jedem    Punkte   dieser  Strombahnen    eine    bestimmte    positive    bezw. 


einem 


296 


Die   elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


Ämi  1 


negative  Spannung",  und  wir  können  daher  leicht  ein  zweites  System 
von  Linien  resp.  Flächen  erhalten,  wenn  alle  Punkte  gleicher  Span- 
nung auf  den  verschiedenen  Stromcurven  (Strömungsflächen)  mit 
einander  verbunden  werden,  wie  dies  durch  die  punktirten  Linien  an- 
gedeutet ist.  Man  bezeichnet  diese  letzteren  Curven,  auf  welchen 
wegen  des  wachsenden  Widerstandes  die  Intensität  der  Strömung  um 
so  geringer  ist,  je  "weiter  sie  nach  der  Mantelfläche  des  Cylinders  hin 
gelegen  sind,  als  Spannungs-  oder  iso elektrische  Curven,  deren 
Gesammtheit  wieder  ein  System  gekrümmter  Flächen  (Spannungs- 
flächen ,  i  s  o  e  1  e k  t  r  i  s  c  h  e  Flächen)  bildet ,  welche  die  Strömungs- 
flächen rechtwinklig"  schneiden.  Die  Durchschnittslinien  der  isoelek- 
trischen Flächen  mit  dem  Cylindermantel  bilden  hier  gerade  wie  beim 
regelmässigen  Muskelcylinder  der  Peripherie  der  Endflächen  parallele 
Kreise,  die  Strömungscurven  meridionale  Linien.  Doch  lässt  sich 
hieraus  nicht  sofort  auch  auf  eine  ganz  bestimmte  Lage  der  elektro- 
motorischen Kraft  schliessen,    da    eine  analoge  Vertheilung  der  Ober- 

j^  flächenspannungen 

noch    in    sehr    vielen 
-^     -^    -*■      -*-  ■  anderen    Fällen     vor- 

kommen kann  ,  wobei 
noch  ausserdem  frag- 
lich bleibt,  ob  nur  an 
einer  oder  an  mehreren 
und  vielleicht  vielen 
Stellen  im  Innern  des 
Körpers  elektromoto- 
rische Kräfte  wirksam 
sind.  Thatsächlich  ent- 
spricht allerdings  jeder 
neuen  Lage  einer  elek- 
tromotorischen Kraft 
ein  anderes  System  von 
Strömungs-  und  Span- 
nungscurven ,  bezw. 
eine  andere  Vertheilung  der  Oberflächenspannungen;  da  jedoch,  wie 
Helmholtz  gezeigt  hat,  bei  einer  Vielheit  elektromotorischer  Kräfte 
die  Spannung  jedes  Punktes  an  der  Oberfläche  des  Körpers  der  Summe 
aller  Spannungen  entspricht,  welche  an  diesem  Punkte  durch  jede  der 
elektromotorischen  Kräfte  für  sich  allein  erzeugt  würde,  so  lassen  sich 
vielfache  Combinationen  derselben  denken,  bei  welchen  stets  dieselbe 
Vertheilung  der  Oberflächenspannung  sich  ergeben  würde.  Ueberlegt 
man  nun  die  Fälle,  wo  ein  cylindrisch  geformter  Körper  eine  ähnliche 
elektromotorische  Wirksamkeit,  wie  der  an  beiden  Enden  mit  künstlichem 
Querschnitt  versehene  parallelfaserige  Muskel  zeigen  würde,  so  findet 
man,  dass  unter  Anderem  ein  solider  Kupfercylinder  mit  verzinkter 
Mantelfläche  den  gemacliten  Voraussetzungen  entsprechen  würde,  so 
bald  er  in  eine  leitende  Flüssigkeit,  wie  etwa  verdünnte  H2SO4,  vor- 
senkt wird.  Diese  wird  dann  im  Sinne  des  beistehenden  Schemas 
(Fig.  109  u4.)  von  zahllosen  Stromfäden  durchzogen  sein,  welche 
sämmtlich  von  dem  positiv  elektrischen  Zinkmantel  zu  den  negativ 
elektrischen  Kupferendflächen  verlaufen  und  an  der  Oberfläche  eine 
der  am  Muskelprisma  beobachteten  ganz  analoge  Spannungsvertheilung 
erzeugen.  Genau  dasselbe  wird  aber  auch  unter  zwei  anderen  Vor- 
aussetzungen über  die  Lage    der   elektromotorischen  Flächen  der  Fall 


C  B 

Fig.  109.     Schenica  denkbarer  Annahmen  über  die  elektro- 
motorischen Flächen  in  einer  Muskelfaser.     Axialer  Längs- 
schnitt.    (Nach   Hermann.) 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


297 


sein.  Man  denke  sich  einen  hohlen  Cylinder  aus  Kupfer,  dessen 
Mantelfläche  von  einem  Zinkmantel  umhüllt  wird  und  welcher  gefüllt 
ist  mit  angesäuertem  Wasser;  die  ganze  Vorrichtung  sei  wieder  ein- 
getaucht in  angesäuertes  Wasser.  Dann  entspricht  das  Schema  (B) 
(1.  c.)  der  Vertheilung  der  Spannungen.  Ganz  analog  würde  sich  die- 
selbe endlich  auch  gestalten,  wenn  ein  hohler  Zinkcylinder  mit  ver- 
kupferten Endflächen  unter  gleichen  Verhältnissen  untersucht  würde 
(C  des  Schemas  Fig.  109).  Welches  dieser  drei  Schemata  im  Muskel- 
cylinder  thatsächlich  verwirklicht  ist,  lässt  sich  durch  den  Versuch 
nicht  so  ohne  Weiteres  entscheiden.  In  Bezug  auf  die  erste  An- 
nahme muss  auch  noch  hervorgehoben  werden,  dass  im  Sinne  der 
obigen  Erörterungen  der  eine  solide  Cylinder  auch  durch  eine  beliebig 
grosse  Anzahl  kleiner,  sämmtlich  mit  positivem  Längsschnitt  und 
negativem  Querschnitt  versehenen,  cylindrischen  oder  rundlichen  Kör- 
perchen („peripolare  Molekeln")  ersetzt  werden  kann,  voraus- 
gesetzt, dass  dieselben  etwa  in  der  Art  der  beistehenden  schematischen 
Zeichnung  regelmässig  angeordnet  sind  (Fig.  110  a).  Mit  Rücksicht 
auf  die  beim  Muskel  wirklich  gegebenen  anatomischen  Verhältnisse 
würde  sich  die  erste  Annahme    in    der   zuletzt   erwähnten  modificirten 


ooooo 
ooooo 
ooooo 


€3€(SC3: 
CO€(IC3; 


€3  €3 


i€3C3€3l  IC3€3€3 


Fig.    110.     Schema   peripolarer  («)    und    dipolarer   (b)   Molekeln.     (Hermann' s  Hand- 
buch I.  1.)     Die  parelektronomischen  Molekeln  am  natürlichen  Querschnitt. 

Form  mit  der  von  DuBois-Reymond  begründeten  Molekulartheorie 
decken;  die  zweite  mit  einer  von  Grünhagen  aufgestellten  Hypo- 
these, wonach  ein  elektromotorischer  Gegensatz  zwischen  Muskelflbrille 
und  umspülender  Ernährungsflüssigkeit  bestehen  soll;  die  dritte  end- 
lich liegt  der  Hermann  '  sehen  Alterationstheorie  zu  Grunde,  welche 
voraussetzt,  dass  am  künstlichen  Querschnitt  selbst  eine  elektromoto- 
rische Kraft  entwickelt  wird. 

Werden  an  der  Oberfläche  der  indifferenten  Umhüllung  irgendwo 
zwei  Punkte  verschiedener  Spannung  durch  einen  ableitenden  Bogen 
mit  einander  verbunden,  so  ergiesst  sich  durch  denselben  ein  Strom- 
zweig entsprechend  einem  Bruchtheil  der  im  Innern  wirken- 
den Kraft,  da  die  Ströme,  besonders  in  unmittelbarer  Nähe  der  elektro- 
motorischen Flächen,  eine  starke  innere  Abgleichung  haben.  Es  ist 
daher,  wie  Hermann  bereits  hervorhob,  in  manchen  Fällen  wesent- 
lich zu  beachten,  dass  die  inneren  Ströme  durch  Compensation  der 
abgeleiteten  Stromzweige  keineswegs  beseitigt  werden  können.  „Ein 
Muskel  mit  angelegtem  Bogen,  dessen  Strom  compensirt  ist,  verhält 
sich  vielmehr  so,  als  wäre  der  Bogen  nicht  vorhanden,  und  die  Ströme 
gleichen  sich  im  Innern  ab." 

Die  von  Du  Bois-Reymond  mit  ausserordentlichem  Scharf- 
sinn und  grösster  Consequenz  durchgeführte  physikalische  Theorie  des 
Muskel-  (und  Nerven-)Stromes  geht,  wie  schon  früher  erwähnt  wurde, 
von  der  Erfahrung  aus,   dass  jedes  kleinste,    der  Untersuchung  über- 


298  I^ie  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

haupt  noch  zugängliche  Theilstück  eines  Muskelcylinders  noch  immer 
die  gesetzmässigen  Spannungsdifferenzen  zwischen  Längsschnitt  und 
Querschnitt  erkennen  lassen.  Es  steht  also  nichts  im  Wege,  sich  den 
ganzen  Muskel,  beziehungsweise  jede  einzelne  Faser  desselben  aus 
lauter  kleinen  Theilchen  oder  Molekeln  zusammengesetzt  zu  denken, 
deren  jedes  elektromotorisch  wirkt,  und  zwar  in  gleicher  Weise,  wie 
der  ganze  Muskelcylinder.  Man  kann  sich  dieselben  entweder  als 
Kugeln  mit  zwei  negativen  Polarzonen  und  positivem  Aequator  (peri- 
polare Molekeln)  denken,  oder  aber,  wie  es  Du  Bois-Reymond 
später  mit  Rücksicht  auf  gewisse  noch  zu  erörternde  Thatsachen  that, 
annehmen,  dass  jede  peripolar- elektromotorische  Molekel  aus  je  zwei 
dipolaren  Theilchen  besteht,  welche  sich  ihre  positiven  Hälften  zu- 
kehren (Fig.  110/>).  Jeder  künstliche  Querschnitt  würde  dann  immer 
zwischen  zwei  positive  und  nie  zwischen  zwei  negative  Flächen  fallen. 
Im  Uebrigen  ist  es  ganz  gleichgültig,  welche  Form  mau  im  Einzelnen 
den  Molekeln  zuschreibt,  und  man  kann  sich  dieselben  ebenso  gut  als 
Scheiben ,  wie  als  Kugeln  denken.  Erforderlich  ist  nur  die  regel- 
mässige Anordnung  derselben  im  Sinne  der  beistehenden  Zeichnung 
(Fig.  110).  Denkt  man  sich  dann  das  ganze  cylindrische  oder  prisma- 
tische Aggregat  derartiger  elektromotorisch  wirkender  Molekeln  um- 
hüllt von  einer  dünnen  Schichte  eines  indifferenten  Leiters  (Perimy- 
sium, Sarkolemm,  sowie  am  Querschnitt  die  abgestorbene  Schichte)^ 
so  wird,  wie  schon  erwähnt,  die  Vertheilung  der  Spannungen  an  der 
Oberfläche  durchaus  den  wirklich  zu  beobachtenden  Verhältnissen  ent- 
sprechen. Mit  Hülfe  dieser  Hypothese  gelingt  es  nun  in  der  That, 
alle  Erscheinungen  des  „ruhenden  Muskelstromes"  in  einfacher  Weise 
zu  erklären,  insbesondere  auch  die  Thatsache  der  gleichsinnigen  Wirk- 
samkeit jedes  kleinsten  Muskelstückchens,  sowie  die  sogenannten  Nei- 
gungsströme an  schrägen  Querschnitten-  Schwierigkeiten  bietet  aber 
schon  die  Deutung  der  Parelektronomie ,  die,  wenn  man  an  der  Prä- 
existenzlehre festhalten  will ,  nur  durch  die  weitere,  oben  bereits 
erwähnte  Annahme  erklärt  Averden  kann,  dass  am  natürlichen 
Querschnitt  eine  besonders  geartete  com pensir ende  Schichte  ge- 
legen ist ,  w^elche  sich  Du  Bois-Reymond  durch  „ p a r e  1  e k t r o - 
n  0  m  i  s  c  h  e  Molekeln  "  gebildet  dachte ,  welche  der  Sehne  positive 
Flächen  zukehren  und  etwa  aus  den  inneren  Hälften  der  zu  äusserst 
gelegenen  dipolaren  Molekel  bestehen  könnten.  Besteht  die  par- 
elektronomische  Schichte  aus  einer  ganzen  Reihe  säulenartig  geordneter 
dipolarer  Molekeln,  so  entsteht  eine  „parelektronomische  Strecke". 
Bernstein  (13)  hat  die  Du  Bois'sche  Molekulartheorie  in  neuerer 
Zeit  in  einigen  wesentlichen  Punkten  modiiicirt  und  als  „elektro- 
chemische Molekular  theorie"  gewissermaassen  neu  zu  be- 
gründen versucht.  Ihm  zu  Folge  hätte  man  sich  den  lebenden  Faser- 
inhalt „aus  Längsreihen  von  Molekülen  zusammengesetzt  zu  denken, 
welche  sich  zu  Fibrillen  von  endlichem  Durchmesser  aggregiren  und 
in  einer  ihnen  adäquaten  Flüssigkeit  liegen,  die  gleichsam  ihre  Nähr- 
flüssigkeit ist  (Paraplasma)".  Sie  werden  durch  Ki'äfte  an  einander 
gekettet,  „welche  der  chemischen  Affinität  gleich  oder  ihr  nahestehend 
gedacht  werden  können,  und  bestehen  aus  einem  Kern  von  com- 
plicirter  chemischer  Zusammensetzung,  identisch  mit  dem  lebenden 
Eiweissmolekül  Pflügers". 

Die  Längsseiten    der  im  Sinne    der   beistehenden  (Fig.  111)    pris- 
matisch gedachten  Molekülkerne  (31),  deren  Endflächen  durch  Sauer- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  299 

Stoffatome  chemisch  locker  an  einander  gekettet  sein  sollen,  denkt  sich 
Bernstein  „beladen  mit  oxydablen  N-freien  Atomgruppen  „etwa 
vergleichbar  einem  feinen  Platinfaden ,  welcher  in  eine  Atmosphäre 
von  Wasserstoff  eingetaucht  wird".  „Die  von  der  Ernährungsflüssigkeit 
umgebenen  Molekülreihen  beziehen  aus  ihr  beständig  die  für  den 
Stoffwechsel  nöthigen  Ladungen".  „Betrachtet  man  diese  als  elektro- 
positiv  gegenüber  dem  Molekülkern,  die  Sauerstoffatome  dagegen  als 
elektronegative  Ladungen  derselben,  so  ergiebt  sich  daraus  der  Ruhe- 
strom des  Muskels  (und  Nerven),  wenn  man  den  Längsschnitt  mit 
einem  künstlichen  Querschnitt  derselben  verbindet.  Es  kann  ausser- 
dem noch  angenommen  werden,  dass  nach  Anlegung  eines  künstlichen 
Querschnitts  durch  die  Zerreissung  der  Molekülkette  assimilirter  Sauer- 
stoff freigemacht  wird,  Avelcher  gegen  den  Molekülkern  negative  Spannung 
besitzen  würde."  Die  Parelektronomie  der  Sehnenenden  würde  sich 
nach  dieser  Theorie  erklären  lassen,  wenn  man  annimmt,  „dass  daselbst 
eine  jede  Molekülreihe  in  die  benachbarte  continuirlich  übergeht  (durch 


Fig.   111. 

schlingenförmiges  Umbiegen)  und  somit  keine  freien  Querschnitte 
bietet".  Würde  ein  einzelnes  derartiges  „Molekül"  oder  besser  Molekül- 
aggregat für  sich  in  einer  leitenden  Flüssigkeit  eingebettet  liegen,  so 
würde  es  sich,  wie  man  sieht,  in  jeder  Beziehung  wie  einDuBois'- 
sches  peripolares  Molekül  verhalten;  in  ihrer  Gesammtheit  sind  die- 
selben jedoch  nicht  wie  diese  als  von  Molekularströmen  umflossen  zu 
denken,  da  ihre  Spannungen  nach  allen  Seiten  neutralisirt  erscheinen. 
Dieselben  Einwände,  welche  sich  gegen  die  ursprüngliche  Molekular- 
theorie erheben  lassen,  müssen  zum  grossen  Theil  auch  gegen  die 
„elektrochemische"  Umgestaltung  derselben  geltend  gemacht  werden, 
deren  äusserst  detaillirte  Voraussetzungen  über  den  chemischen  Auf- 
bau der  lebendigen  Substanz  von  vornherein  zu  schwerwiegenden  Be- 
denken Anlass  geben  dürften. 

Nach  der  von  Grünhagen  vertretenen  Theorie  würde,  wie  er- 
wähnt, ein  elektromotorischer  Gegensatz  zwischen  jeder  Primitivfibrille 
und  der  umgebenden  Ernährungsflüssigkeit  (Sarkoplasma)  anzunehmen 
sein,  wobei  die  letztere  das  positive,  die  Fibrille  das  negative  Glied  der 
Kette  bilden  würde.  Die  Stromlosigkeit  unversehrter  Muskeln  würde 
sich  nach  dieser  Theorie  sehr  einfach  durch  die  allseitige  Umhüllung  der 
negativ  elektrischen  Fibrillen  mit  der  positiven  Ernährungsflüssigkeit 
erklären.  Grünhagen's  Anschauungen  über  die  Ursache  der  elektro- 
motorischen Wirkungen  thierischer  Gewebe  nehmen  ihren  Ausgangs- 
punkt von  Versuchen  an  porösen  Cylindern.  Doch  ist,  wie  Hermann 
hervorhebt,  schwer  zu  ersehen,  wie  deren  Resultate  auf  die  beim 
Muskel  gegebenen  Verhältnisse  Anwendung  finden  sollen.    Grünhagen 


300  I^iß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

fand  nämlich,  dass  an  cylindrisch-porösen  Körpern  während  der  Durch- 
feuchtung die  Querschnitte  (Endflächen)  gegen  Punkte  der  Mitte  ihrer 
Längsoberfläche  und  ebenso  auch  asymmetrische  Punkte  der  letzteren 
und  ersteren  unter  einander  sich  elekti'isch  different,  und  zwar  im 
Sinne  des  Muskelcylinders,  verhalten.  Diese  Spannungsdifl'erenzen  ver- 
schwinden, wenn  der  poröse  Cylinder  ganz  mit  Flüssigkeit  imbibirt 
ist,  und  werden  daher  aufgefasst  als  eine  Folge  der  Flüssigkeitsströ- 
mung durch  die  poröse  Substanz.  Aehnlich  stellt  sich  nun  Grün- 
hagen auch  das  Verhältniss  zwischen  Fibrille  und  umgebender  Er- 
nährungsflüssigkeit vor. 

In  voller  Uebereinstimmung  mit  allen  bisher  bekannten  Thatsachen 
befindet  sich  dagegen  die  der  dritten  früher  erörterten  Annahme  über 
den  Sitz  der  elektromotorischen  Kraft  entspi-echende  Alterations- 
theorie  von  L.  Hermann,  welche  alle  elektromotorischen  Wir- 
kungen lebender  Gewebe  auf  chemische  Veränderungen  der  Substanz, 
ohne  Rücksicht  auf  deren  molekularen  Bau,  zurückführt.  In  Bezug  auf 
den  „ruhenden"  Muskelstrom  geht  die  Theorie  von  dem  Satze  aus, 
„dass  die  absterbende  Substanz  sich  zur  lebenden  nega- 
tiv verhält".  Als  Sitz  der  elektromotorischen  Kraft  würde  dem- 
gemäss  die  Grenzfläche  zwischen  absterbender  und  lebender  Substanz 
(„D  emarcationsfläch  e")  zu  betrachten  sein.  Hermann  be- 
zeichnet daher  auch  den  „Ruhestrom"  des  Muskels  als  „Demar- 
cationss  trom".  Von  sehr  allgemeinen  Gesichtspunkten  aus  hat 
neuerdings  auch  Hering  (14)  das  H e r m a n n '  sehe  Erklärungsprincip 
behandelt.  Für  ihn  hat  der  Satz  von  der  Stromlosigkeit  unversehrter 
ruhender  Muskeln  oder  Nerven  etc.  den  Sinn,  „dass  ein  solches  Ge- 
bilde einen  nach  aussen  ableitbaren  Strom  nicht  entwickelt,  so  lange 
sein  Stoffwechsel,  d.i.  das  innere  chemische  Geschehen 
in  allen  T heilen  desselben,  gleich  ist.  Jede  Störung 
dieser  Gleichheit  bedingt  das  Entstehen  ableitbarer 
Ströme".  Mit  Nachdruck  betont  ferner  Hering  den  übrigens  auch 
schon  von  Hermann  seiner  Zeit  hervorgehobenen  Umstand,  dass 
eine  Veränderung  des  chemischen  Geschehens  in  einem  Theil  eines 
lebenden  Continuums  nicht  bloss  in  der  Art  vorkommen  kann, 
„dass  derselbe  sich  nunmehr  zu  den  unveränderten  Theilen  nega- 
tiv, sondern  ebensowohl  in  der  A,rt,  dass  er  sich  zu 
letzteren  positiv  verhält".  Bezeichnet  man  daher  die  in 
ihrem  Chemismus  von  der  übrigen  Substanz  abweichende  Stelle  als 
eine  (relativ)  alterirte,  so  muss  man  demgemäss  „eine  (relativ) 
positive  und  eine  (relativ)  negative  Alterirung"  unter- 
scheiden, wobei  noch  hervorzuheben  ist,  dass  nicht  „die  ver- 
änderte chemische  Zusammensetzung  diese  Alterirung  charak- 
terisirt,  sondern  das  veränderte  chemische  Geschehen,  aus  welchem 
sich  allerdings  eine  veränderte  Zusammensetzung  ergeben  kann". 
Wie  an  anderer  Stelle  (vergl.  den  Abschnitt  über  Ermüdung  des 
Muskels)  bereits  ausgeführt  wurde,  unterscheidet  Hering  in  jeder 
lebenden  Substanz  die  aufsteigende  Aenderung,  die  absteigende 
Aenderung  und  den  Zustand  des  Gleichgewichtes.  „So- 
wohl die  aufsteigende  als  die  absteigende  Aenderung  kann  mit  sehr 
verschiedener  Geschwindigkeit  erfolgen,  je  nachdem  die  auf  die  Ein- 
heit der  Substanz  bezogene  Stärke  der  Assimilirung,  die  Stärke  der 
gleichzeitigen  Dissimilation,  oder  letztere  die  erstere  mehr  oder  Aveniger 
übertriff't.  Befinden  sich  alle  Theile  eines  lebenden  Continuums  im  Gleich- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  301 

gewichte  oder  verändern  sie  sich  alle  mit  derselben  Geschwindigkeit 
aufsteigend  oder  absteigend,  so  erzeugen  sie  keine  ableitbaren  Ströme. 
Jede  Verschiedenheit  aber  in  der  Geschwindigkeit  oder  in  der  Rich- 
tung der  Aenderung  bedingt  einen  ableitbaren  Strom."  .,Wir  können 
uns  demnach  a  1 1  e  v  e  r  s  c  h  i  e  d  e  n  e  n  G  e  s  c  h  w  i  n  d  i  g  k  e  i  t  e  n  der 
]3  0sitiven  oder  negativen  Aenderung  in  einer  Reihe  ge- 
ordnet denken,  der  Art,  dass  die  schnellste  aufsteigende 
Aenderung  das  obere,  so  zu  sagen  positive,  die  schnellste 
aufsteigende  das  untere,  sozusagen  negative  Ende  der 
Reihe  bildet."  „Wenn  wir  nun  zwei  Theile  eines  lebenden  Con- 
tinuums,  welche  sich  in  Betreff  des  chemischen  Geschehens  verschieden 
verhalten,  durch  eine  äussere  Leitung  mit  einander  verbinden,  so  geben 
dieselben  ceteris  paribus  einen  um  so  stärkeren  Strom,  je  Aveiter  die 
Zustände  der  beiden  ableitend  verbundenen  Stellen  in  der  erwähnten 
Reihe  auseinander  liegen,  und  es  fliesst  der  positive  Strom  durch  die 
äussere  Leitung  stets  von  derjenigen  Stelle,  deren  Zustand  dem  posi- 
tiven Ende  der  Reihe  näher  steht,  zu  derjenigen,  deren  Zustand  dem 
negativen  Ende  näher  steht."  „Dies  wäre  also  das  allgemeine 
Gesetz  aller  vitalen  Eigenströme  der  Nerven  und 
Muskeln." 

„Ein  mit  möglichster  Schonung  präparirter  M.  sartorius,  z.  B. 
der  nicht  mehr  normal  ernährt  wird,  befindet  sich  wahrscheinlich  in 
einer,  wenn  auch  sehr  langsamen  absteigenden  Aenderung,  weil  die 
Dissimilirung  die  Assimilirung  überwiegt;  er  geht  also  langsam  dem 
Tode  entgegen.  Erfolgte  seine  absteigende  Aenderung  in  allen  Theilen 
genau  mit  derselben  Geschwindigkeit  oder  Langsamkeit,  so  würde 
man  selbst  mit  dem  empfindlichsten  Galvanometer  keine  Ströme  an 
ihm  nachweisen  können. 

Dieser  ideale  Fall  ist  natürlich  in  voller  Strenge  nie  verwirklicht. 
Geht  aber  die  Empfindlichkeit  des  Galvanometers  nicht  über  eine 
gewisse  Gi'enze  hinaus,  so  lässt  sich  an  einem  solchen  Muskel  in  der 
That  kein  Strom  nachweisen,  was  sowohl  Du  B  o i  s - R e y  m  o  n  d  wie 
spätere  Beobachter  gezeigt  haben.  Sobald  wir  dagegen  einen  Quer- 
schnitt am  Muskel  anbringen,  tritt  sofort  an  der  Schnittstelle  eine 
raschere  absteigende  Aenderung  der  Muskelsubstanz  ein ;  der  unmittel- 
bar am  Querschnitt  liegende  Theil  stirbt  ab.  Dieser  todte  Theil  gehört 
nicht  mehr  dem  lebenden  Continuum  an  und  ist  als  ein  hier  unwesent- 
liches Anhängsel  desselben  zu  betrachten.  Aber  die  raschere  ab- 
steigende Aenderung  und  damit  das  Absterben  schreitet,  wie  sich  an 
der  Muskelfaser  unter  dem  Mikroskop  zuweilen  direct  verfolgen  lässt, 
langsam  in  der  Faser  vorwärts,  und  es  findet  daher  nach  dem  Quer- 
schnitt hin  immer  eine  schnellere  absteigende  Aenderung  statt,  als  in 
der  übrigen  Faser.  Daher  verhält  sich  der  Querschnitt 
negativ  zur  Längsoberfläche  des  Muskels." 

Aber  nicht  bloss  allgemeine  theoretische  Erwägungen  sind  es,  welche, 
abgesehen  von  der  ausserordentlichen  Einfachheit,  die  H  ermann - 
Hering'sche  Auffassung  vor  allen  anderen  auszeichnen,  sondern 
es  lassen  sich  auch  directe  experimentelle  Thatsachen  zu  Gunsten  der- 
selben anführen ,  die  geradezu  als  Beweise  gelten  dürfen.  Hierher 
gehört,  abgesehen  von  allen  bereits  besprochenen  Erfahrungen  über 
die  Stromlosigkeit  unversehrter  Muskeln ,  zunächst  ein  Versuch  von 
Hermann,  welcher  die  Frage  zu  entscheiden  sucht,  ob  die  Ent- 
wicklung des  Demarcationsstromes  bei  Anlegen  eines  künstlichen  Quer- 


3Q2  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Schnittes  eine  merkliche  Zeit  erfordert,  oder  ob  der  volle  Werth 
der  Spannungsdifferenz  zwischen  Längsschnitt  und  Querschnitt  sofort 
nach  der  Verletzung  gegeben  ist,  wie  es  unter  der  Voraussetzung  der 
Präexistenz  der  elektromotorischen  Kraft  nothwendig  der  Fall  sein 
müsste.  Hermann  construirte  zu  diesem  Zwecke  ein  „Fallrheo- 
tom",  wobei  durch  einen  schweren  Fallkörper  der  Achillessehnen- 
spiegel des  Gastrocnemius  abgerissen  und  zugleich  der  Bussolkreis  für 
eine  kurze  Zeit  geschlossen  wird.  Erfolgt  diese  Schliessung  einmal 
im  Momente  des  Abreissens  und  dann  bei  schon  vorhandenem  Quer- 
schnitt, so  ist  im  letzteren  Falle  die  Ablenkung  grösser  als  im  ersten, 
woraus  auf  eine  „Entwicklungszeit"  des  Muskelstromes  geschlossen  wird. 
Aehnliche  Versuche  hat  Hermann  mit  gleichem  Erfolg  auch  an 
parallelfaserigen  Muskeln  angestellt  (15). 

Ein  sehr  schlagender  Beweis   für   die  Richtigkeit  der  zuletzt  ent- 
Avickelten    theoretischen    Anschauungen    über    die    Ursachen    thierisch 
(und  pflanzlich)  elektrischer  Ströme   und    zugleich    ein    entscheidender 
Grund  zur  Ablehnung  jeder  wie  immer  gearteten  Molekularhypothese 
liegt  ferner  in  dem  von  mir  gelieferten  Nachweis  der  directen  Ab- 
hängigkeit  des  Muskelstromes   von    localen  chemischen 
Veränderungen    der    Substanz.    Wenn    es    richtig  ist,    dass   die 
an  Muskeln  und  Nerven,  sowie  auch  an  andern  thierischen  und  pflanz- 
lichen   Gebilden    unter   Umständen    nachweisbaren    elektrischen   Span- 
nungsdifl'erenzen  im  Wesentlichen  immer  darauf  zurückgeführt  werden 
können,  dass  einander  benachbarte  Theile    der  lebendigen  Substanzen 
sich  in   ihrem  Chemismus   verschieden  verhalten ,    so  muss   von    vorn- 
herein   die    Möglichkeit   zugegeben    werden,    die    daraus    resultirenden 
elektromotorischen  Wirkungen  wieder  zu  vernichten,  sofern  es  noch 
nicht  zu  einer    die  Wiederherstellung   der  normalen  Be- 
schaffenheit    des     chemisch     veränderten     Substanzan- 
theils    völlig     aussch  liessenden     Zerstörung     desselben 
gekommen    ist.     Es    ist   bekannt,    dass    auch    der    ausgeschnittene 
Muskel  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Fähigkeit  besitzt,  chemische, 
durch   gewisse  Eingriffe  (Reize)    bewirkte  Veränderungen    seiner  Sub- 
stanz wieder  auszugleichen,  worauf  ja  die  „Erholung"  eines  „ermüdeten" 
Muskels  beruht.     Es   wurde  oben    auch  schon   der  interessanten  That- 
sache  gedacht,    dass  man    auch  unabhängig  von   einer  vorhergehenden 
Erregung  einen  Muskel  in  einen  der  Ermüdung  ähnlichen  Zustand  zu 
versetzen  vermag,  indem  man  ihn  der  Einwirkung  gewisser  chemischer 
Substanzen    („Ermüdungsstoffe")    aussetzt,     durch    deren    Entfernung 
mittels  Auslaugen    mit    einer   indifferenten  Flüssigkeit   es  gelingt,    die 
normale    Erregbarkeit    wieder    herzustellen    (Ranke).     Es    kam    also 
wesentlich  darauf  an,    zu  untersuchen,  inwieweit   aus    dem  Nebenein- 
andersein    chemisch      veränderten,      jedoch      noch      restitutions- 
fähigen   Faserinhaltes    einerseits    und    Faserinhaltes    von    normaler 
chemischer  Beschaffenheit    andererseits    elektromotorische    Wirkungen 
resultiren.     Die  beste  Aussicht  auf  Erfolg  schien   die  von  J.    Ranke 
näher    untersuchte    „chemische    Muskelermüdung"    durch   Kalisalze 
oder  Milchsäure  zu  versprechen,  deren  auffallende  Einwirkung  auf  die 
Erscheinungen  der  polaren  Erregung   durch   den  Strom  bereits  früher 
ausführliche  Besprechung  fand.     In    der  That  zeigte  sich  sofort,    dass 
sich    schon    nach    kurzdauerndem    Eintauchen    des    einen 
Endes  eines   ström  freien  Sartorius    in  einen   wässerigen 
Auszug    von    Muskelfleisch    oder     stark    verdünnte   Lö- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  303 

sungen  verschiedener  Kalisalze  (KNO3,  KH2PO4,  KCl) 
dasselbe  stark  negativ  gegen  jeden  anderen  Punkt  des 
Muskels  verhielt.  Die  Grösse  der  Ablenkung  Avar  in  vielen 
Fällen  nur  um  weniges  geringer,  als  wenn  an  einem  mit  künstlichen 
Querschnitt  versehenen  Sartorius  der  ableitende  Bogen  die  Schnitt- 
fläche mit  einem  entsprechenden  Oberflächenpunkt  verbindet.  Wir 
sehen  also  hier  verminderte  Erregbarkeit  Hand  in  Hand  gehen  mit 
Negativität  der  Muskelsubstanz,  und  wie  sich  jene  einfach  durch  Aus- 
laugen mit  physiologischer  NaCl-Lösung  beseitigen  lässt,  so  ist  das- 
selbe auch  hinsichtlich  des  Stromes  der  Fall.  Schon 
nach  wenigen  Minuten  erscheinen  die  Spannungsdiffe- 
renzen  bis  auf  Spuren  verschwunden,  welche  bei  län- 
gerem Auswaschen  auch  noch  zu  beseitigen  sind,  so 
dass  nun  der  Muskel  wie  zu  Beginn  des  Versuches  voll- 
kommen stromlos  und  von  normaler  Erregbarkeit  ist. 
Dasselbe  Resultat  lässt  sich  auch  am  stromlosen  (parelektronomischen) 
Gastrocnemius  durch  Bepinseln  des  Achillessehnenspiegels  mit  den 
betreftenden  Flüssigkeiten  erzielen,  und  es  ist  der  dann  entstehende 
aufsteigende  Strom  ausserordentlich  kräftig  und  durchaus  von  gleicher 
Ordnung  wie  der  gewöhnliche  Demarcationsstrom  (16).  Gerade  dieser 
Umstand  aber  ist  es  nun,  der  die  Thatsache  um  so  bedeutungsvoller 
erscheinen  lässt,  dass  es  so  leicht  gelingt,  die  „Kaliströme'"  durch  Aus- 
waschen mit  einer  indifferenten  Flüssigkeit  vollständig  zu  beseitigen, 
was  sich  in  besonders  auffallender  Weise  wieder  am  Gastrocnemius 
zeigen  lässt,  indem  es  genügt,  denselben,  nachdem  die  Muskelsubstanz 
am  Achillesspiegel  durch  kurzes  Bepinseln  mit  einer  verdünnten  Kali- 
salzlösung stark  negativ  geworden  ist,  während  einiger  Minuten  mit 
^'4  *^/o  NaCl-Lösung  abzuspülen,  um  bei  abermaliger  Prüfung  mittels  des 
Galvanometers  den  ursprünglichen,  stromlosen  Zustand  vollständig 
wieder  hergestellt  zu  sehen.  Es  beweist  dies,  dass  der  nachtheilige 
Einfluss  der  Lösung  sich  nur  auf  die  äussersten  Enden  der  sich  schräg 
inserirenden  Fasern  erstreckt  haben  konnte.  Nach  diesen  Erfahrungen 
erscheint  nun  auch  die  stromentwickelnde  Eigenschaft  jedes  künst- 
lichen Muskelquerschnittes  leicht  erklärlich,  da  sich  bei  der  Erstarrung 
der  Muskelsubstanz  stets  saures  Kaliumphosphat  bildet. 

Im  Gegensatze  zu  den  „Kaliströmen"  scheinen  die  durch  gleiche 
Behandlung  strondoser  Muskeln  mit  sehr  verdünnten  Säurelösungen 
(etwa  Milchsäure)  hervorzurufenden  Spannungsdiff"erenzen  auf  viel  ein- 
greifenderen chemischen  Veränderungen  der  Muskelsubstanz  zu  be- 
ruhen, denn  sie  lassen  sich  durch  noch  so  langes  Auswaschen  nicht 
wieder  beseitigen,  obschon  sie  an  sich  schwächer  sind,  als  die  durch 
Kalisalze  bedingten. 

Du  Bois-ßeymond  stellte  seiner  Zeit  die  Behauptung  auf,  dass 
es  für  die  chemische  Angreifbarkeit  der  Muskelsubstanz  durch  irgend 
eine  Flüssigkeit  kaum  ein  empfindlicheres  Prüfungsmittel  gebe,  als  den 
natürlichen  Querschnitt  eines  parelektronomischen  Muskels  damit  zu 
benetzen  und  die  Veränderungen  zu  beobachten,  die  dadurch  in  dem 
elektrischen  Zustande  des  Querschnittes  hervorgerufen  werden.  Von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  müssen  daher  die  Kalisalze  im  Allgemeinen 
als  entschiedene  Muskelgifte  angesehen  werden,  während  die  ent- 
sprechenden Natriumverbindungen  in  gleicher  Verdünnung  nahezu 
unschädlich  sind  und  in  manchen  Fällen  sogar  einen  entschieden  er- 
regbarkeitssteigernden  Einfluss  besitzen  (NaoCOg).    Gerade  dieses  letz- 


304  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

teren  Umstandes  wegen  darf  man  aber  eine  Flüssigkeit  nicht  als  ganz 
indifferent  für  den  Muskel  ansehen,  wenn  dieselbe  bei  örtlicher 
Application  keine  merkliche  Stromentwicklung  bedingt.  Selbst  die 
physiologische  NaCl-Lösung  (von  0,5 — 0,7  "/o),  welche  bei  stundenlang 
andauernder  Einwirkung  auf  den  natürlichen  Querschnitt  eines  un- 
versehrten, stromlosen  Muskels  niemals  zu  einer  auch  nur  spurweisen 
Entwicklung  eines  Demarcationsstromes  Anlass  giebt,  wirkt  nach  Be- 
obachtungen von  F.  S.  Locke  (17)  schon  deutlich  erregbarkeits- 
steigernd,  was  bei  Anwendung  stärkerer  Lösungen  seit  lange  bekannt 
ist.  Sicher  darf  man  aber  die  stromentwickelnde  Kraft  einer  Lösung 
als  Maassstab  ihrer  Schädlichkeit  für  den  Muskel  gelten  lassen, 
und  wenn  Nasse  eine  0,7  ^/o  Lösung  von  KCl  oder  KNOg  für  gleich 
günstig  hält,  wie  eine  0,2 — 1,5  ^/o  Lösung  von  NaCl,  so  kann  man 
dem  auf  Grund  der  Galvanometerversuche  gewiss  nicht  beistimmen. 
Wenn  man  das  untere  Ende  eines  curarisirten  Sartorius  in  eine  selbst 
2  °/o  Lösung  von  NaCl  taucht,  so  beobachtet  man  auch  nach  10 — 20 
Minuten  noch  keinen  merklichen  Demarcationsstrom  oder  selbst  eine 
geringe  entgegengesetzte  Ablenkung  im  Sinne  eines  im  Muskel  ab- 
steigend gerichteten  Stromes.  Auch  Engel  mann  hat  bei  seinen 
Untersuchungen  über  das  elektromotorische  Verhalten  der  unverletzten 
Oberfläche  des  Froschherzens  gefunden ,  dass  NaCl-Lösungen ,  deren 
Gehalt  0,6  ^/o  übersteigt,  die  damit  berührte  Stelle  positiv  elektrisch 
gegenüber  andern  Punkten  der  Herzoberfläche  machen.  Noch  weniger 
deletär  als  NaCl  wirken  auf  die  Muskelsubstanz  andere  neutrale  Natron- 
Salze,  wie  z.  B.  Na2S04  und  NaNOg,  die  selbst  in  starken  Lösungen 
(4 — 12  ^/o)  nur  in  geringem  Grade  stromentwickelnd  wirken,  wenn 
man  etwa  den  Erfolg  der  localen  Behandlung  des  M.  sartorius  mit 
der  Wirkung  gleichstarker  Lfisungen  von  NaCI  oder  gar  der  ent- 
sprechenden Kalisalze  vergleicht.  Auch  das  alkalische,  kohlensaure 
Natron,  unter  dessen  Einfluss  die  Erregbarkeit  quergestreifter  Muskeln 
ausserordentlich  gesteigert  wird,  wirkt  in  verdünnter  Lösung  entweder 
gar  nicht  stromentwickelnd  oder  bedingt  sogar  einen  schwachen  ver- 
kehrten Strom  im  Sinne  einer  Positivität  des  eingetauchten  Muskel- 
endes (18). 

Fast  allgemein  ist  die  Meinung  herrschend,  dass  das  destillirte 
Wasser  eine  die  Muskelsubstanz  sehr  rasch  und  energisch  angreifende 
Substanz  sei;  so  schliesst  z.  B.  Kühne  aus  dem  Umstände,  dass 
seinen  Beobachtungen  zu  Folge  ein  in  destillirtes  Wasser  getauchter 
Sartorius  vom  Frosch  früher  seine  Erregbarkeit  einbüsst,  als  ein  zur 
selben  Zeit  in  Salpetersäure  (1  pro  mille)  getauchter  Muskel,  dass  das 
Wasser  schneller  zerstörend  wirke,  als  die  verdünnte  Säure,  und  D  u 
Bois-Reymond  giebt  an,  dass  ein  Gastrocnemius ,  eingetaucht  in 
destillirtes  Wasser  (bei  15°  C.),  binnen  einer  Stunde  Avirklich  todten- 
starr  und  sauer  gefunden  werde.  Folgerichtig  hätte  man  daher  auch 
erwarten  sollen,  dass,  wenn  die  Stromentwicklung  an  einem  „par- 
elektronomischen"  Muskel  nur  auf  Zerstörung  einer  am  natürlichen 
Querschnitt  vorhandenen  besonderen  Schicht  beruht,  bei  Benetzung 
desselben  mit  destillirtem  Wasser  in  kurzer  Zeit  ein  kräftiger,  gesetz- 
mässiger  Strom  nachweisbar  sein  müsste,  da  ja  erfahrungsgemäss  die 
stromentwickelnde  Eigenschaft  einer  Flüssigkeit  von  deren  Leitungs- 
vermögen völlig  unabhängig  ist.  Dem  widersprachen  jedoch  zum  Theil 
schon  die  Versuche  Du  Bois-Reymond's,  indem  die  Entwicklung 
des   Stromes   parelektronomischer   Muskeln    bei   Eintauchen    derselben 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  305 

in  destillirtes  Wasser  nur  träge  und  schwach  erfolgte.  Noch  besser 
eignet  sich  der  Sartorius.  Taucht  man  das  Knieende  in  Wasser,  so 
macht  sich  schon  kurze  Zeit  nachher  eine  Vokimszunahme  desselben 
bemerkbar,  und  man  findet  es  dann  regelmässig  schwach  }30sitiv 
gegen  Punkte  der  normalen  Oberfläche.  Nach  längerer  Dauer  der 
Wasserwirkung  (20 — 40  Minuten)  erscheint  der  betreffende  Muskel- 
abschnitt stark  gequollen  und  nahezu  doppelt  so  breit  als  vorher;  er 
sieht  weisslich  trübe  aus  und  trägt  alle  äusseren  Zeichen  der  Starre 
an  sich.  Gleichwohl  zeigt  sich  auch  jetzt  der  partiell  wasserstarre 
Muskel  elektromotorisch  ebenso  unwirksam  wie  vorher,  oder  es  treten 
noch  später  schwache  Spuren  eines  gesetzmässigen  Demarcations- 
stromes  hervor.  Selbst  nach  stundenlanger  Einwirkung  destillirten 
Wassers  sind  die  nachweisbaren  Spannungsdifferenzen  der  beiden  Muskel- 
abschnitte trotz  der  so  ausserordentlich  auffalligen  Unterschiede  ihrer 
physikalischen  Eigenschaften  nur  verhältnissmässig  unbedeutend  und 
nicht  zu  vergleichen  mit  jenen,  welche  dem  gewöhnlichen  Demar- 
cationsstrom  zwischen  Längsschnitt  und  künstlichem  Querschnitt  zu 
Grunde  liegen  (18). 

Wenn  man  sich  erinnert,  dass  alle  bisher  bekannten  Mittel,  durch 
welche  es  gelingt,  die  contractile  Substanz  des  Muskels  in  den  Zu- 
stand der  Erstarrung  zu  versetzen  (Erwärmung  auf  40"  C. ,  Behand- 
lung mit  Chloroform,  Säuren  u.  s.  w.),  bei  örtlicher  Einwirkung  immer 
auch  zur  Entwicklung  kräftiger  Demarcationsströme  Anlass  geben,  so 
muss  die  elektromotorische  Unwirksamkeit  des  partiell  wasserstarren 
Sartorius  als  höchst  auffällig  bezeichnet  werden,  da  sie  sich,  wie  es 
scheint,  mit  einer  chemischen  Theorie  des  Muskelstromes  nicht  wohl 
würde  vereinen  lassen.  Demgegenüber  muss  jedoch  hervorgehoben 
werden,  dass  der  Zustand  der  „Wasserstarre"  nicht  ohne  Weiteres 
mit  jener  tiefgreifenden  chemischen  Veränderung  der  Muskelsubstanz 
identificirt  werden  kann,  welche  das  Wesen  der  spontanen  oder  Zeit- 
starre, sowie  auch  der  Wärmestarre  ausmacht.  Dies  geht  einerseits 
aus  dem  Umstände  hervor,  dass  die  Säuerung,  wenn  sie  überhaupt 
auftritt,  doch  keineswegs  gleichen  Schritt  hält  mit  der  fortschreitenden 
Entwicklung  der  „Starre",  während  andererseits  die  Möglichkeit  der 
Wiederherstellung  der  Erregbarkeit  wasserstarrer  Muskeln  durch  ein- 
fache Wasserentziehung  (durch  2  ^lo  NaCl-Lösung)  dafür  spricht,  dass 
auch  die  Gerinnungserscheinungen  anderer  Natur  sind,  als  bei  den  ge- 
wöhnlichen Starreformen.  In  überzeugendster  Weise  wird  aber  die 
Verschiedenheit  der  Wasserstarre  und  anderer  Starreformen  durch  den 
Umstand  dargethan,  dass  Froschmuskeln  selbst  in  einem  sehr 
vorgerückten  Stadium  der  Wasserstarre  (nach  einer  Stunde 
und  später)  in  demselben  Sinne  und  in  fast  gleichem  Grade 
elektromotorisch  wirksam  werden  können,  wie  unver- 
sehrte Muskeln.  Wenn  man  das  untere  Ende  eines  vertikal  auf- 
gehängten Sartorius  etwa  30  Minuten  lang  in  destillirtes  Wasser 
taucht,  so  erweist  sich,  wie  erwähnt,  der  Muskel  bei  Ableitung  vom 
geometrischen  Aequator  und  dem  wasserstarren  Abschnitt  in  der  Regel 
stromlos,  oder  er  zeigt  einen  schwachen  verkehrten  Strom.  Erwärmt 
man  nun  einen  Theil  des  gewässerten  Muskelabschnittes  durch  Ein- 
tauchen in  Wasser  von  40°  C,  so  findet  man  den  Muskel  bei  gleicher 
Ableitung  wie  vorher  stets  elektromotorisch  wirksam;  das  Gleiche  ist 
der  Fall  nach  Durchquetschen  oder  Durchschneiden  des  wassei'starren 
Endes.     Es  kann  daher  wohl  keinem  Zweifel    unterworfen   sein,    dass 

Biedermauu  ,  Elektrophysiologie.  20 


306  I^iö  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

in  chemischer  Hinsicht  ein  durchgreifender  Unterschied  besteht  zwi- 
schen dem  durch  die  Einwirkung  destillirten  Wassers  bewirkten  starre- 
ähn liehen  Zustande  und  der  wirklichen  Todtenstarre  eines  Muskels, 
nach  deren  völliger  Entwicklung  die  Möglichkeit  elektromotorischer 
Wii'ksamkeit  gänzlich  ausgeschlossen  erscheint. 

Wenn  diese  letztere  demnach  sicher  als  eine  Eigenschaft  des 
lebenden  Muskels  betrachtet  werden  muss,  so  darf  es  als  um  so 
bemerkenswerther  gelten,  dass  sie  keineswegs  an  das  Erhaltensein 
aller  Lebenseigenschaften  desselben  gebunden  ist.  Es  lässt  sich 
nämlich  zeigen,  dass  der  Demarcationsstrom  im  Zustande 
derUnerregbarkeit  des  Muskels  nach  Chloro form-,  Aet he r- 
oderAmyleneinwirkung  in  normalerRichtungundStärke 
fortbesteht.  Ranke,  welcher  diese  auffallende  Thatsache  zuerst 
beobachtete,  setzte  stets  den  ganzen,  unversehrten  Frosch  der  Einwir- 
kung der  Dämpfe  der  genannten  Anästhetica  aus  und  untersuchte  in 
verschiedenen  Stadien  der  Narcose.  Rascher  kommt  man  zum  Ziele, 
wenn  man  den  freipräparirten,  mit  künstlichem  Querschnitt  versehenen 
Sartorius  nebst  den  ableitenden  Pinselelektroden  und  einem  Schälchen 
mit  Aether  unter  einen  nicht  zu  kleinen  Glassturz  bringt.  Man  über- 
zeugt sich  dann  leicht,  dass  die  Spann ungsdifferenzen  zwi- 
schen Längsschnitt  und  künstlichem  Querschnitt  zu 
einer  Zeit,  wo  beide  m  Muskel  alle  sichtbaren  Erregungs- 
erscheinungen gänzlich  fehlen,  nicht  in  irgend  erheb- 
lichem Grade  vermindert,  ja  unter  Umständen  sogar 
verstärkt  erscheinen  (19). 

Während  die  Contractilität  und  das  Leitungsvermögen  in  der 
Regel  schon  nach  10 — 15  Minuten  gänzlich  erloschen  zu  sein  pflegen, 
lässt  sich  selbst  nach  stundenlanger  Einwirkung  von  Aetherdämpfen 
nur  eine  sehr  geringe  Schwächung  des  Demarcationsstromes  nach- 
weisen, was  um  so  bemerkenswerther  ist,  als  man  sonst  sieht,  dass 
ganz  allgemein  alle  diejenigen  Einflüsse,  welche  die  Erregbarkeit  her- 
absetzen, auch  schwächend  auf  den  Muskelstrom  einwirken.  Wenn 
nun  in  der  Aethernarcose  ein  Muskel,  dessen  Erregbarkeit  anscheinend 
vollkommen  aufgehoben  ist,  nichtsdestoweniger  wie  unter  normalen 
Verhältnissen  elektromotorisch  wirkt,  so  sieht  man  sich  zu  der  An- 
nahme gedrängt,  dass  die  Veränderungen  der  chemischen 
Thätigkeit  der  Muskelsubstanz,  welche  in  der  Nähe 
e  i  n  e  r  S  c  h  n  i  1 1 f  1  ä  c  h  e  unter  a  1 1  e n  Um  s t  ä  n  d  e  n  angenommen 
werden  müssen,  auch  w  ä  h  r  e  n  d  d  e  r  A  e  t  h  e  r  n  a  r  c  o  s  e  i  n  d  e  r  - 
selben  Weise  wie  unter  normalen  Verhältnissen  statt- 
finden können.  In  gleichem  Sinne  spricht  auch  die  Thatsache, 
dass  locale  Behandlung  mit  Kalisalzen  in  entsprechend  verdünnter 
Lösung  auch  den  Aethermuskel  an  der  betreffenden  Stelle  negativ 
macht.  Berücksichtigt  man  ferner  noch  das  Erhaltenbleiben  der  nor- 
malen physikalischen  Eigenschaften  des  narcotisirten  Muskels  zu  einer 
Zeit,  wo  selbst  bei  stärkster  Reizung  keine  Spur  sichtbarer  Gestalt- 
veränderung erfolgt,  so  erscheint  die  Thatsache  nicht  so  befremdend, 
dass  ein  Muskel  auch  in  tiefster  Narcose  noch  elektromotorisch  zu 
wirken  vermag,  wenngleich  ein  Theil  der  normalen  Lebenseigen- 
schaften dadurch  wesentlich  beeinträchtigt  oder  gänzlich  aufgehoben 
wird.  Denn  giebt  man  zu,  dass  der  „Ruhestrom"  einer  partiellen 
„Alterirung"  der  Substanz  seine  Entstehung  verdankt,  so  wird  man 
folgerichtig  in  allen  jenen  Fällen  einen  solchen  noch  erwarten  dürfen. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  307 

WO  es  sich  um  Präparate  handelt,  deren  normale,  chemische  Zu- 
sammensetzung nicht  wesentlich  gestört  Avurde,  und  dies  muss  man 
ebensowohl  bei  Aetherbehandlung  wie  nach  Quellung  des  Muskels  in 
Wasser  voraussetzen.  Es  werden  später  noch  Thatsachen  mitzutheilen 
sein,  welche  darauf  hinweisen,  dass  durch  die  Narcose  in  erster  Linie 
das  Leitungsvermögen  und  die  Contractilität  des  Muskels  aufgehoben 
werden,  während  die  örtliche  Erregbarkeit  in  dem  Sinne  erhalten 
bleibt,  dass  unter  dem  Einfluss  äusserer  Reize  noch  gewisse  chemische 
Veränderungen  entstehen,  welche  unter  Anderem  mit  Negativität  der 
betreffenden  Stellen  Hand  in  Hand  ffehen. 


II.    Die  Actionsströine  der  Muskeln. 

Von  einer  ausführlichen  Darstellung  der  älteren  Geschichte 
aller  Bemühungen,  bei  der  Muskelcontraction  elektrische  Wirkungen 
nachzuweisen,  darf  hier  um  so  eher  Umgang  genommen  werden, 
als  dieselbe,  wie  die  Geschichte  des  „ruhenden  Muskelstromes", 
von  Seite  Du  B  o  i  s  -  R  e  y  m  o  n  d  s  im  IL  Theil  seiner  Unter- 
suchungen eine  eingehende  und  mustergiltige  Darstellung  erfahren 
hat.  Es  sei  daher  nur  erwähnt,  dass  schon  im  Jahre  1837  Prevost 
im  Anschluss  an  gewisse  Beobachtungen  von  Ampere  eine  elektrische 
Theorie  der  Muskelzusammenziehung  aufstellte,  die  insofern  von  Inter- 
esse ist,  als  sie  zeigt,  bis  zu  welchem  Grade  unter  Umständen  die  An- 
schauungen auf  physiologischem  Gebiete  durch  herrschende  physika- 
lische Theorien  beeinflusst  werden.  Prevost  glaubte  sich  durch 
mikroskopische  Untersuchung  überzeugt  zu  haben,  dass  die  Querstreifung 
der  Skeletmuskelfasern  lediglich  der  optische  Ausdruck  parallel  nebenein- 
anderliegender Nervenendschiingen  sei,  die  sich  in  dem  Momente  gegen- 
seitig anziehen,  wo  ein  elektrischer  Strom  das  ganze  System  von 
Schlingen  in  derselben  Richtung  durchfliesst.  Um  diesen  Strom  nach- 
zuweisen, stiess  Prevost  „eine  sehr  feine  unmagnetische  Nadel  in  den 
Schenkel  eines  Frosches  in  der  Richtung  der  Fasern  ein;  die  Spitze 
ragte  hervor  und  war  mit  Eisenfeile  umgeben" ;  im  Augenblicke,  wo 
durch  Verletzung  des  Rückenmarkes  eine  heftige  Zusammenziehung 
hervorgerufen  wurde,  ordnete  sich,  wie  Prevost  angiebt,  die  Eisen- 
feile um  die  Spitze  der  Nadel  an,  als  ob  sie  magnetisch  geworden 
wäre.  Eine  ganz  ähnliche  Theorie  erfand  1844  Wharton  Jones 
(Du  Bois  1.  c.  p.  10).  „Seiner  Ansicht  nach,  die  sich  an  Bowman's 
Beobachtungen  (Zusammensetzung  der  Muskelfasern  aus  „discs")  knüpft, 
bestehen  die  Muskelfasern  aus  säulen-  oder  geldrollenartig  aneinander 
gereihten  Scheiben,  welche  durch  eine  biegsame  und  elastische  Substanz 
verbunden  sind,  die  ihnen  gestattet,  sich  einander  zu  nähern  oder  zu  ent- 
fernen. Diese  Scheiben  würden  nach  Jones  unter  dem  Einfluss  der 
Nerven  zu  Elektromagneten,  und  ihre  gegenseitige  Anziehung  bewirke 
die  Verkürzung  des  Muskels.  Zwar  seien  diese  Elektromagnete 
(„Appareils  nevro-magnetiques")  nicht  allseitig  von  den  Nerven  um- 
geben, wie  die  eisernen  es  mit  Kupferdraht  zu  sein  pflegen;  dies 
beweise  jedoch  nur,  dass  die  Natur  schon  mit  der  einfacheren  An- 
ordnung auszukommen  vermocht  habe.  Der  erste  grosse  Fortschritt 
auf  diesem  Gebiete  ist  wieder  jenem  unermüdlichen  Forscher  zu  ver- 
danken,   der    fast   gleichzeitig    mit   Du  Bois-Reymond    auch    den 

20* 


308  I^i^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Muskelstrom  entdeckte.  Nachdem  C.  Matteucci  seit  1838  sich 
mannigfach  bemüht  hatte,  elektrische  Wirkungen  bei  der  Muskel- 
thätigkeit  nachzuweisen,  und  unter  Anderem  auch  die  Pre- 
vo  st 'sehen  Versuche  in  verschiedener  Form,  jedoch  stets  mit  ne- 
gativem Erfolge,  wiederholt  hatte,  gelang  es  ihm  endlich,  eine  That- 
sache  zu  finden,  welche  mit  einem  Schlage  die  gewünschte  Entschei- 
dung zu  bringen  schien.  Am  28.  Februar  1842  theilte  Matteucci 
der  Pariser  Akademie  die  Beschreibung  eines  Versuches  mit,  der  zu 
den  schönsten  und  interessantesten  der  Experimentalphysiologie  gezählt 
werden  muss.  Es  handelte  sich  um  die  „secundäre  Zuckung", 
wie  Du  Bois-Reymond  später  die  Thatsache  nannte,  dass  ein 
Froschschenkel,  dessen  Nerv  auf  die  Muskeln  eines  zweiten  Schenkels 
gelegt  wird,  lebhaft  zuckt,  wenn  der  letztere  erregt  wird.  Von  einer 
Kommission  der  Akademie,  der  auch  der  ältere  Bequerel  angehörte, 
wurde  Matteucci  in  demselben  Jahre  der  Preis  für  Experimental- 
physiologie zuerkannt,  und  speciell  der  genannte  Physiker  zog  aus 
dem  Versuch,  dessen  Richtigkeit  allseitig  bestätigt  wurde,  den  Schluss, 
„dass  im  Augenblicke  der  Zusammenziehung  eine  elektrische  Ent- 
ladung in  dem  Muskel  vor  sich  gehen  müsse,  und  dass  ein  Theil 
derselben  seinen  Weg  durch  den  Nerven  des  zweiten  Frosches  nehme"  ; 
Matteucci  hatte  bereits  beobachtet,  dass  die  secundäre  Zuckung 
durch  feuchtes  Fliesspapier  nicht  verhindert  werde,  wohl  aber 
durch  Goldplättchen  oder  Nichtleiter,  welche  zwischen  den  Nerven 
des  secundären  Präparates  und  den  Muskel  des  primären  gelegt 
werden.  Offenbar  standen  diese  Erfahrungen  mit  der  erwähnten  Auf- 
fassung in  voller  Uebereinstimmung.  Matteucci  war  nun  seinerseits 
lebhaft  bestrebt,  für  die  vermeintliche  Elektricitätsentwicklung  bei  der 
Zusammenziehung,  welche  Bequerel  direct  in  eine  Parallele  mit  dem 
Schlag  der  Zitterfische  gestellt  hatte,  immer  neue  Beweise  beizubringen. 
Schon  1845  erschien  eine  neue  Abhandlung  in  englischer  Sprache 
über  die  „inducirte  Zuckung",  wie  sie  Matteucci  jetzt  nannte. 
Er  findet  das  Eintreten  derselben  von  der  Art  der  Lagerung  des 
secundären  Nerven  auf  dem  Muskel  des  primären  Präparates  unab- 
hängig; man  kann  jenen  der  Faserung  parallel  oder  quer  oder 
irgendwie  verschlungen  anlegen,  immer  erfolgt  die  secundäre 
Zuckung.  Matteucci  schnitt  mit  einem  Rasirmesser  eine  Scheibe 
Muskelfleisch  vom  Oberschenkel  ab;  die  secundäre  Zuckung  blieb 
nicht  aus ,  als  der  stromprüfende  Nerv  nur  die  Schnittfläche 
berührte.  Er  sah  ferner  auch  Zuckungen  3.  und  4.  Ordnung,  wenn 
er  auf  den  Gastrocnemius  des  stromprüfenden  Präparates  den  Nerven 
eines  zweiten,  auf  den  Muskel  dieses  den  Nerven  eines  dritten 
legte  und  nun  den  primären  Nerven  reizte.  Mit  Rücksicht  auf  die 
vermuthlich  elektrische  Natur  der  secundären  Zuckung  benetzte 
Matteucci  die  Oberfläche  des  primären  Muskels  mit  verschiedenen 
leitenden  und  nichtleitenden  Flüssigkeiten,  z.  B.  Serum,  Blut,  Oel 
und  verdünntem  Alkohol,  Firniss,  Terpentinöl  etc.,  in  welche  dann 
der  Nerv  des  secundären  Präparates  gebettet  Avurde.  Keine  einzige 
sah  Matteucci  die  Zuckung  aufheben,  wohl  aber  vermochte  dies  das 
dünnste  Blättchen  eines  festen  Körpers,  wie  Glas,  Glimmer  etc. 
Durch  Froschhaut  gelang  es  wie  durch  Fliesspapier  secundäre 
Zuckung  zu  erhalten.  Diese  letzteren  Beobachtungen  machten 
Matteucci  an  der  bis  dahin  festgehaltenen  Anschauung  von  dem 
elektrischen  Ursprung    der  secundären   Zuckung   völlig   irre,    und    er 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


309 


glaubte  nun  eine  ganz  besondere  durch  Fernwirkung  sich  mani- 
festirende  Kraft  gefunden  zu  haben,  welche  von  dem  Muskel  im 
Augenblick  der  Zusammenziehung  ausgeht,  wesshalb  er  denn  auch 
vorschlug,  die  von  ihm  entdeckte  Erscheinung  als  „inducirte 
Zuckung"  zu  bezeichnen. 

Bis  zu  diesem  Zeitpunkte  hatte  Matteucci  keine  Kenntniss  von 
einer  Entdeckung,  welche  DuBois-Reymond  im  Jahre  1842  bei 
Weiterverfolgung  einer  älteren  Angabe  des  italienischen  Forschers  ge- 
macht hatte.  Schon  1838  hatte  nämlich  Matteucci  gefunden,  dass 
der  aufsteigende  „Frosch ström"  (courent  propre),  welchen  N o b i  1  i 


Fig.  112. 


1827  mittelst  des  Schweigger 'sehen  Multiplicators  am  galvanischen 
Präparate  nachgewiesen  hatte,  und  den  Du  B o i  s  auf  die  Ströme  der 
einzelnen  Muskeln  zurückführte,  während  einer  tetanischen  Contrac- 
tion  derselben  fehlt  oder  doch  wesentlich  geschwächt  erscheint  (später 
glaubte  er  sich  vom  Gegen theil  überzeugt  zu  haben).  Du  Bois- 
Reymond,  welcher  unterdessen  das  „Gesetz  des  Muskelstroms" 
formulirt  hatte,  legte  sich  nun  folgerichtig  die  Frage  vor :  w  i  e  v  e  r  - 
hält  sich  der  Muskelstrom  während  dauernder  Er- 
regung? Die  erste  Bekanntmachung  der  wesentlichsten  Resultate 
dieser  Untersuchungen  erfolgte  1842  in  einem  „vorläufigen  Abriss". 
Es  hatte  sich  dabei  herausgestellt,  dass  der  Längsquerschnittsstrom 
des  M.  gastrocnemius  bei  tetanisirender  Reizung  des  zugehörigen 
Nerven  während  der  Contraction  zwar  bei  Weitem  nicht  verschwindet, 
allein  doch  merklich  an  Intensität  abnimmt. 


310  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Der  Grundversuch,  um  den  es  sich  hier  handelt,  AA^ar  in  der  ur- 
sprünglichen Form  in  folgender  Weise  angeordnet  (Fig.  112).  Der 
Gastrocnemius  liegt  mit  Längsschnitt  und  künstlichem  (bezw.  ange- 
ätztem natürlichen)  Querschnitt  auf  den  Bäuschen  der  Zuleitungs- 
gefässe;  das  centrale  Ende  des  Nerven  wird  über  Platinelektroden 
gebrückt,  welche  ihrerseits  mit  dem  die  tetanisirenden  Ströme  liefern- 
den Apparat  in  Verbindung  stehen.  Das  Ergebniss  des  Versuches 
ist  nun  stets  eine  deutliche  Abnahme  des  Muskelstromes  wäh- 
rend des  Tetanus,  eine  negative  Schwankung  desselben,  die  sich 
durch  einen  Rückschwung  der  Nadel  des  Multiplicators  bezw,  des 
Magnetringes  am  Galvanometer  kundgiebt.  Alle  überhaupt  möglichen 
Fehlerquellen  und  Einwände  gegen  die  Beweiskraft  dieses  Versuches 
wurden  von  Du  B o i s - R e y m o n  d  mit  gewohnter  Gründlichkeit  ge- 
prüft und  erwogen  und  über  jeden  Zweifel  festgestellt,  dass  es  sich 
in  der  That  um  eine  mit  dem  Erregungszustand  verknüpfte  Vermin- 
derung der  elektromotorischen  Kraft  handle.  Bei  späteren 
Versuchen  bediente  sich  Du  B o i s  zur  Untersuchung  der  negativen 
Schwankung  mit  gleichem  Erfolge  an  Stelle  des  complicirt  gebauten 
Gastrocnemius  regelmässig  parallelfaseriger  Oberschenkelmuskeln, 
deren  Gestaltveränderung  durch  Ausspannen  zwischen  zwei  Fixations- 
punkten  dauernd  verhindert  wurde.  Einen  wesentlichen  Vortheil  ge- 
währt dabei  das  von  Du  Bois  eingeführte  Verfahren  der  Compen- 
sation  des  „Ruhestromes",  wobei  sich  die  negative  Schwankung  als 
eine  der  ursprünglich  vorhandenen  gegensinnige  Ablenkung  verräth, 
deren  zeitlicher  Verlauf,  bei  aperiodisch  schwingendem  Magneten  An- 
fangs beschleunigt,  in  der  Folge  allmählich  langsamer  wird.  Bei  Fort- 
dauer der  Reizung  erfolgt  dann  eine  langsame  Rückkehr  zur  Ruhe- 
lage, die  unter  Umständen  noch  während  der  Schliessung  des  Reiz- 
kreises, andernfalls  aber  erst  nach  Oeffnung  desselben  wieder  erreicht 
wird;  doch  ist  dies  kaum  jemals  vollständig  der  Fall.  Gewöhnlich 
bleibt  eine  dauernde  Verminderung  des  Muskelstromes  zurück 
(negative  Nachwirkung),  deren  Grad  von  der  Stärke  der 
vorhergehenden  Reizung  abhängt. 

Die  nächstliegende  Annahme  betreffs  der  Deutung  des  Rück- 
schwunges des  Magneten  während  des  Tetanus  würde  offenbar  die 
sein,  dass  es  sich  um  eine  dauernde,  gleichmässig  während  der 
Reizung  anhaltende  Abnahme  des  Längsquerschnittsstromes  handelt. 
Man  durfte  dann  mit  Berücksichtigung  der  bekannten  Eigenthümlich- 
keit  des  physiologischen  Rheoskops,  vorwiegend  nur  auf  das  Entstehen 
und  Verschwinden  sowie  plötzliche  Dichtigkeitsschwankvmgen  eines 
Stromes  zu  reagiren,  erwarten,  dass  es  gelingen  würde,  den  strom- 
prüfenden Schenkel  zum  Zucken  zu  bringen  durch  die  rasche  Strom- 
abnahme im  Beginn  des  Tetanus,  wenn  der  Nerv  in  passender  Weise 
über  Längsschnitt  und  Querschnitt  des  erregten  Muskels  gebrückt 
wurde.  Dagegen  lässt  sich  dies  kaum  am  Ende  des  Tetanus  er- 
warten, da  der  Muskel  nur  allmählich  in  seinen  ursprünglichen 
Zustand  zurückkehrt.  Dieser  Versuch ,  welchen  Du  Bois-Rey- 
m  0  n  d  anstellte ,  lieferte  nun  ein  den  erwähnten  Voraussetzungen 
nicht  entsprechendes,  sehr  auffallendes  Resultat.  Der  stromprüfende 
Schenkel  zuckt  nämlich  nicht  nur  im  Beginn  des  Tetanus,  son- 
dern er  geräth  selbst  in  secundären  Tetanus  während 
der  ganzen  Dauer  des  primären.  Ist  dieser  kein  „voll- 
kommener",   so    dass    noch   jede    Einzelzuckung    deutlich    erkennbar 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


311 


bleibt,  und  verbindet  man  den  Muskel  einerseits  mit  dem  Galvano- 
meter, andererseits  mit  dem  physiologischen  Rheoskop,  so  beantwortet 
dieses  jede  primäre  Zuckung  mit  einer  secundären,  während  der 
Magnet  in  Folge  seiner  Trägheit  nur  einfach  im  Sinne  der  negativen 
Schwankung  zurückschwingt.  Man  darf,  ja  muss  daher  annehmen, 
dass  auch  bei  vollkommenster  Ve rschmelzung  der  sicht- 
baren Contractionen  des  primären  Muskels  zum  stetigen 
Tetanus,  jedem  Reizanstoss  eine  von  der  nächstfol- 
genden zeitlich  gesonderte,  äusserst  kurz  dauernde 
negative  Schwankung  entspricht,  so  dass  demnach  der 
Muskelstrom  so  zu  sagen  im  Rhythmus  der  tetanisi- 
r  enden  Reize  auf-  und  ab  seh  wankt,  wodurch  zugleich  be- 
wiesen ist,  dass,  ungeachtet  der  scheinbar  ganz  stetigen  Contraction 
des  Muskels  im  Tetanus,  dieser  doch  d  i  s  c  o  n  t  i  n  u  i  r  1  i  c  h  e  n  Zu- 
standsänderungen  seine  Entstehung  verdankt,  die  sich  vor  Allem 
durch  das  geschilderte  galvanische  Verhalten  verrathen.  Bei  dieser 
Gelegenheit  tritt  die  ausserordentliche  Ueberlegenheit  des  physiolo- 
gischen Rheoskops  gegenüber  allen  anderen  bis  dahin  bekannten 
physikalischen,  stromprüfenden  Apparaten  in  das  hellste  Licht,  und  es 
ist  in  der  That  erst  in  neuester  Zeit  gelungen,  Vorrichtungen  zu 
finden,  welche  sich  hinsichtlich  der  Möglichkeit,  kurzdauernde,  insbe- 
sondere sehr  rasch  aufeinander  folgende  Stromschwankungen  nach- 
zuweisen, mit  dem  gerade  die  flüchtigsten  elektrischen  Veränderungen 
am  sichersten  anzeigenden  physiologischen  Rheoskop  messen  können. 
Die  beistehende  graphische  Darstellung  (Fig.  113)  giebt  eine  klare 
Vorstellung  vom  Verhalten  des  Muskelstromes  im  Tetanus,  wie  es  aus 
der  Beobachtung  des  secundären 
Tetanus  gefolgert  werden  muss. 
„Stellt  die  Abscisse  o  t  die  Zeit 
vor,  auf  welche  die  Grösse  des 
Stromes  in  jedem  Augenblicke  als 
Ordinate  bezogen  ist,  entspricht 
ferner  o  a  der  beständigen  Grösse 
des  Muskelstromes  im  Zustand  der 
Ruhe:  dann  ist  es,  damit  eine 
blosse  Abnahme  der  Multiplicator- 
wirkung  stattfinde,  gleichgültig,  ob 
0  a  stetig  kleiner  wird,  wie  es 
va.  h  p  g  angedeutet  ist,  oder  ob 
dies  stossAveise  geschieht,  wobei  der 
Strom  viel  tiefer,  ja  selbst  bis  unter 
die  Abscissenaxe  sinken  kann, 
was  Umkehr  der  Stromesrichtung 
bedeutet.      Die    Wirkung    auf   das 

Galvanometer  wird  in  beiden  Fällen  die  gleiche  sein.  Ganz  anders 
verhält  es  sich  aber  mit  dem  physiologischen  Rheoskop.  Die  Gestalt 
der  Curve  h  p  g  könnte  niemals  Tetanus  im  stromprüfenden  Schenkel 
hervorbringen;  wir  sind  also  zu  der  Annahme  genöthigt,  dass  es  die 
Gestalt  der  gezackten  Curve,  aber  mit  constanter,  noch  unbekannter 
Tiefe  der  Einbiegungen,  sei,  welche  in  Wirklichkeit  beim  Tetanisiren 
stattfinde"  (Du  B  o  i s -  R e y  m  o  n d).  Um  den  thatsächlichen  Verhält- 
nissen Rechnung  zu  tragen,  muss  auch  noch  berücksichtigt  werden,  dass 
in  Folge  der  Nachwirkung  jede  einzelne  elementare  Schwankungscurve 


Fig.   113.     Negative  Schwankung  im  Te- 
tanus.    (Nach  Hermann.) 


312  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Mnskeln. 

sich  nicht  wieder  zum  anfänglichen  Ordinatenwerth  erhebt,  so  dass  die 
Fusspunkte  der  einzelnen  Curven  auf  einer  treppenförmig  absteigenden 
Linie  liegen,  wie  Fig.  113  zeigt.  Auf  diese  Thatsachen  und  Erwägungen 
gestützt,  glaubte  nun  Du  Bois-Reymond  eine  allgemein  gültige 
Theorie  der  secundären  Zuckung  Matte ucci's  aufstellen  zu  dürfen, 
indem  er  dieselbe  einfach  als  die  physiologische  Wir- 
kung der  negativen  Schwankung  des  Muskelstromes 
auffasste,  welche  ja  auch  bei  jeder  Einzelzuckung  vorhanden  und 
nur  der  Trägheit  des  Magneten  wegen  nicht  nachweisbar  war.  (Es  sei 
hier  bemerkt,  dass  dies  mit  Hülfe  neuerer  Bussolen  mit  leichtem,  aperio- 
dischem Magneten  keinerlei  Schwierigkeiten  bietet  und  ebenso  sicher 
gelingt,  wie  mit  Hülfe  des  physiologischen  Rheoskops.)  Seiner  An- 
schauung zu  Folge  hielt  es  Du  Bois  zunächst  auch  für  eine  noth- 
wendige  Bedingung  des  Eintretens  der  secundären  Zuckung,  dass  der 
Nerv  des  secundären  Präparates  eine  ganz  bestimmte  Lagerung 
auf  dem  primären  Muskel  erhält.  Es  tritt  nach  Du  Bois' 
erster  Angabe  die  secundäre  Zuckung  regelmässig  nur  dann  ein, 
„wenn  der  Nerv  die  Kette  zwischen  den  beiden  ungleichartigen 
Flächenbegrenzungen  des  Muskels  (Längsschnitt  und  Querschnitt) 
schliesst".  Schon  Matte ucci  hatte  indessen  das  Eintreten  der 
secundären  Zuckung  ziemlich  unabhängig  von  der  Art  der  Lage- 
rung des  Nerven  auf  dem  primären  Präparate  gefunden  und  auch 
so  abgebildet,  dass  derselbe  in  Schlingen  gebogen  dem  zuckenden 
Muskel  anliegt.  Es  ist  in  der  That  sehr  leicht,  den  Naclnveis  zu 
liefern,  dass  die  secundäre  Zuckung  keineswegs  immer  durch  nega- 
tive Schwankung  eines  präexistenten  Stromes  bedingt  wird,  und  D  u 
Bois  hat  dies  später  selbst  nachgewiesen ,  als  er  die  negative 
Schwankung  „parelektronomischer"  Muskeln  untersuchte. 

Ehe  jedoch  auf  diesen  wichtigen  Punkt  näher  eingegangen  werden 
kann,  soll  zunächst  noch  eine  Frage  Erledigung  finden,  die  oben  un- 
entschieden gelassen  werden  musste. 

Es  wurde  erwähnt,  dass  das  Auftreten  des  secundären  Tetanus 
als  ein  Beweis  dafür  angesehen  werden  könne,  dass  der  Muskelstrom 
während  der  Zusamraenziehung  keine  c  o  n  t  i  n  u  i  r  1  i  c  h  e  Verminderung 
erfährt,  sondern  während  dieser  Zeit  in  fortwährendem  Auf-  und  Ab- 
schwanken begriffen  ist,  dem  jedoch  der  Magnet  wegen  seiner  Träg- 
heit nicht  zu  folgen  vermag.  Der  stromprüfende  Froschschenkel 
lässt  uns  jedoch  andererseits  wieder  darüber  im  Unklaren,  wie  weit 
die  Gipfel  der  einzelnen  Schwankungscurven  zur  Nulllinie  herabreichen 
(was  in  Fig.  113  durch  Punktirung  angedeutet  wurde),  ob  sie  dieselbe 
erreichen,  der  Strom  also  im  Augenblick  der  Zusammenziehung  Null 
wird,  oder  endlich  gar  überschreiten,  was  einer  Stromesumkehr  ent- 
sprechen würde. 

Du  Bois-Reymond  selbst  hatte  es  schon  versucht,  die  erstere 
Frage  zu  lösen  (Unters.  II.  p.  120),  und  construirte  zu  diesem  Zwecke 
einen  Apparat,  „durch  welchen  man  den  Muskel  vom  Nerven  aus  in 
schnell  auf  einander  folgenden  Momenten  reizen  konnte.  Nach  jedem 
Reizmoment  konnte  der  Muskelstrom  auf  eine  kurze  Zeit  geschlossen 
werden,  und  diese  Schliessung  konnte  zu  beliebiger  Zeit  zwischen  je 
zwei  Reizen  erfolgen.  Wenn  also  während  des  Tetanisirens  zwischen 
je  zwei  Reizen  der  Muskelstrom  in  einer  gesetzmässigen  Curve  sinkt 
und  wieder  steigt,  so  wird  man  den  tiefsten  Punkt  dieser  Curve  er- 
mitteln, sobald  die  Schliessunffszeit  des  Muskelstroms  der  Laiie  nach  mit 


Die  elektromoterischen  Wirkunoen  der  Muskeln. 


313 


diesem  Punkte  zusammenfällt."  Das  zu  lösende  Problem  wird  durch 
beistehende  graphische  Darstellung  noch  besser  verdeutlicht  (Fig.  114). 
Es  sei  wieder  0  T  die  Abscisse  der  Zeit,  auf  welche  als  Ordinaten  die 
Höhe  des  Muskelstromes  aufgetragen  wird  {h\  so  dass  die  Linie  m  m 
u.  s.  w.  dem  Verlauf  des  Stromes   während   der  Ruhe   entspricht.     In 


1 

^^B 

H 

L^l 

1 

1 

hH 

1 

Fig.  114. 


Fig-.  115.     Differcntial-Rheotom  von  Bernstein  (von  oben  gesehen). 


den  gleichweit  von  einander  entfernten  Zeitmomenten  t  t^  f^  f^  u.  s.  w. 
erfolge  je  eine  Reizung  des  Muskels,  deren  Folgewirkung  eine  negative 
Schwankung  des  bestehenden  „Ruhestromes"  sein  wird,  deren  Verlauf 
sich,  wie  wir  annehmen  wollen,  zwischen  je  zwei  Reizungen  durch  die 
Curve  m  o  m  u.  s.  w.  darstellen  lässt.  Die  wahre  Gestalt  dieser  letzteren 
lässt  sich  nun,  wie  man  leicht  sieht,  bestimmen,  wenn  man  den  Bussol- 


314  I^ie  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

kreis  in  der  Pause  zwischen  je  zwei  Reizungen  immer  nur  für  eine  ganz 
kurze  Zeit  (T)  schliesst,  welche  sich  periodisch  wiederholt  und  stets  in 
gleicher  Entfernung  von  t^  t^  t^  u,  s.  w.  befindet.  Es  wird  also  immer 
derselbe  Flächenraum  (in  Fig.  114  der  schraiFirte  Abschnitt  der  Curven- 
fläche)  aus  dem  Areale  einer  Schwankungscurve  ausgeschnitten  und 
durch  die  Summation  derselben  eine  Ablenkung  von  bestimmter  Grösse 
erzielt.  Dadurch,  dass  die  Zeit  des  Bussolschlusses  beliebig  über 
den  ganzen  Zeitraum  zwischen  je  zwei  Reizen  verschoben  werden 
kann,  lässt  sich  die  Gestalt  und  Grösse  der  jedem  Einzelreize  entspre- 
chenden Schwankungscurve  leicht  linden.  Das  Verdienst,  einen  Apparat 
construirt  zu  haben,  welcher  diesen  Anforderungen  durchaus  entspricht, 
gebührt  Bernstein  (20),  dessen  „D i f f  e r e n t i a  1  - R h e o t o m"  seither 
eine  ausgedehnte  Anwendung  in  der  Experimentalphysiologie  gefunden 
hat.  Im  Wesentlichen  besteht  das  Instrument  aus  einem  um  die  centrale 
Axe  leicht  drehbaren  Rade  (r)  (Fig.  115),  dessen  möglichst  gleich- 
massige  Bewegung  (5 — 10  Umdrehungen  in  der  Sekunde  genügen) 
durch  ein  Uhrwerk  oder  einen  kleinen  Motor  bewirkt  Avird.  An  der 
Peripherie  des  Rades  befinden  sich  drei  isolirte  Metallspitzen  (oder 
nach  Hermann  Bürsten  aus  Kupferdraht),  von  denen  eine  (c)  den 
Reizcontact,  die  beiden  anderen  c,  c„  den  Bussolschluss  vermitteln. 
Die  erstere  schleift  bei  jeder  Umdrehung  über  einen  dünnen,  aus- 
gespannten Draht  oder  die  Kuppe  eines  Quecksilbertropfens  hin  und 
schliesst  hierbei  den  Kreis  R,  R„  der  primären  Spirale  eines  Inductions- 
Apparates.  Die  dabei  in  der  secundären  Spirale  erzeugten,  äusserst  rasch 
aufeinander  folgenden  Ströme  (Schliessungs-  und  Oeffnungsschlag)  werden 
dem  Präparat  zugeführt  und  können  zusammen  als  ein  Momentreiz  be- 
trachtet werden.  Der  Reizcontactspitze  diametral  gegenüber  befinden  sich, 
vom  metallischen  Rade  isolirt,  aber  unter  sich  in  leitender  Verbindung, 
die  beiden  dem  Bussolschluss  dienenden  Spitzen  (Bürsten),  welche  an 
einem  bestimmten  Punkte  der  Umdrehung  über  die  Quecksilberkuppen 
zweier  isolirter  Stahlnäpfchen  g'^  g"^,  beziehungsweise  über  amalgamirte 
Kupferbänke  hinstreifen,  die  in  den  Bussolkreis  (Bj  Bg)  eingeschaltet 
sind.  Die  Näpfchen  (Bänke)  sind  gegen  einander  verstellbar,  so  dass 
die  Dauer  des  gleichzeitigen  Eintauchens,  d.  h.  die  Dauer  des  Bussol- 
schlusses (T),  innerhalb  weiter  Grenzen  verändert  werden  kann.  An- 
statt nun,  wie  oben  vorausgesetzt  wurde,  diesen  Zeitraum  über  die 
Fläche  der  Schwankungscurve  zu  verschieben,  lässt  sich  bei  dem 
Bernstein'schen  Instrument  der  Abstand  der  Zeiten  (T)  von  den  Reiz- 
momenten (t  t^  etc.)  durch  Verstellung  des  den  Reizcontact  tragenden 
Schiebers  bewerkstelligen.  Das  ganze  Arrangement  eines  solchen  Ver- 
suches soll  die  beistehende  Zeichnung  versinnlichen  (Fig.  116).  Wegen 
des  verwickelten  Faserverlaufs  des  M.  gastrocnemius  ist  es  zweck- 
mässig, zum  genaueren  Studium  der  negativen  Schwankung  sich  des 
Sartorius  zu  bedienen,  dessen  Demarcationsstrom  zunächst  compen- 
sirt  wird.  In  Folge  dessen  bleibt  der  Bussolmagnet  auch  während 
der  Rotation  in  Ruhe  und  erfährt  nur  dann  eine  Ablenkung,  wenn 
während  der  Zeit  (T)  eine  Aenderung  des  Muskelstromes  erfolgt. 
Nehmen  wir  nun  zunächst  an,  der  Reizschieber  stehe,  wie  in  Fig.  116, 
so,  dass  die  Schliessung  des  Kreises  der  primären  Spirale  in  demselben 
Momente  eintritt,  in  M^elchem  die  OefFnung  des  Bussolkreises  durch 
die  beiden  Spitzen  geschieht,  so  vergeht  die  Zeit  einer  ganzen  Um- 
drehung, bis  wieder  ein  Schluss  des  Muskelkreises  zu  Stande  kommt, 
und  wenn  während  dieser  Zeit  der  Process  der  negativen  Schliessung 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  315 

abgelaufen  ist,  so  wird  man  keine  Ablenkung  erhalten.  Wenn  man 
den  Versuch  in  dieser  Weise  Avirklich  macht,  so  zeigt  sich  nichts- 
destoweniger eine  während  der  ganzen  Dauer  der  Reizung  langsam 
zunehmende  Ablenkung  im  negativen,  d.  i.  im  Sinne  des  Compen- 
sationsstromes,  welche  offenbar  auf  die  schon  erwähnte,  den  Muskel- 
strom schwächende  Nachwirkung  der  Reizung  zu  beziehen  ist. 
Rückt  man  nun  den  Reizschieber  weiter  vor,  so  dass  die  Reizung 
geschieht,  während  noch  die  Bussolspitzen  ins  Quecksilber  tauchen,  so 
tritt  bei  einer  gewissen  Stellung  plötzlich  eine  rasche  Zu- 
nahme der  Ablenkung  ein,  welche  beim  Weiterrücken  des 
Schiebers  stets  im  negativen  Sinne  rasch  zunimmt,  ein  Maximum  er- 
reicht, um  bei  noch  weiterem  Vorschieben  wieder  abzunehmen  und 
endlich  auf    constanter  niedrigerer  Höhe    zu    verharren,    als  Anfangs, 


Fig.  116.     Schema  eines  Rheotomversuches.     (Nach  Bernstein.) 

vor  der  Reizung.  Diese  Thatsachen  beweisen  also,  dass  zwischen 
dem  Moment  der  Reizung  an  einem  Punkte  des  parallel- 
faserigen  Muskels  (Bernstein  wählte  stets  das  untere,  nerven- 
freie Sartoriusende)  und  dem  Beginn  der  negativen  Schwan- 
kung am  anderen,  mit  künstlichem  Querschnitt  ver- 
sehenen Muskelende  eine  messbare  Zeit  vergeht,  sowie 
dass  die  Erscheinung  der  negativen  Schwankung  in  dem 
abgeleiteten  Muskelstück  selbst  eine  gewisse  Dauer 
besitzt.  Denn  bei  dem  Vorrücken  des  Reizschiebers  wachsen  die 
Ablenkungen  bis  zu  einem  Maximum,  auf  welchem  sie  einige  Zeit 
verharren.  Rückt  man  dann  den  Schieber  noch  weiter  vor,  so  erhält 
man  von  keiner  Stelle  aus  irgend  einen  Ausschlag  des  Magneten,  Ja, 
man  kann  den  Schieber  über  den  ganzen  Theilkreis  des  Apparates 
herumdrehen,  es  tritt  nicht  eher  wieder  eine  Ablenkung  am  Galvano- 


316  Die   elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

meter  ein,  bis  der  Schieber  wieder  über  seine  erste  Stellung  binaus- 
gerückt  ist  und  diejenige  erreicht  hat,  bei  welcher  vorher  die  erste 
Ablenkung  im  negativen  Sinne  erfolgte.  Der  Versuch  bestätigt  daher 
durchaus  die  aus  der  Beobachtung  des  secundären  Tetanus  gezogene 
Schlussfolgerung,  dass  der  negativen  Schwankung  des  Muskelstromes 
bei  tetanisirender  Reizung  nicht  eine  stetige  Verminderung  der 
SpannungsdifFerenz  zwischen  Längsschnitt  und  Querschnitt  entspricht, 
sondern  eindiscontinuirlichesAuf-  und  Abschwanken  im 
Rhythmus  der  Reizung.  Es  zeigt  sich  ferner,  dass  jede  negative 
Einzelschwankung  rascher  entsteht,  als  verschwindet;  gi-aphisch  aus- 
gedrückt würde  also  ihre  Curve  steil  zum  Maximum  ansteigen  und 
langsamer  wieder  absinken  (vergl.  Fig.  114).  Ist  die  Umdrehungs- 
geschwindigkeit des  Rheotomrades  und  die  in  Graden  ausgedrückte  Ent- 
fernung zwischen  der  anfänglichen  Schieberstellung  (avo  gleichzeitig 
gereizt  und  abgeleitet  wird)  und  derjenigen  bekannt,  bei  welcher  eben 
die  erste  Ablenkung  erfolgt,  so  lässt  sicli  selbstverständlich  mit  Berück- 
sichtigung der  Länge  der  Muskelstrecke  zwischen  dem  Reizorte  und 
dem  abgeleiteten  Punkte  des  Längsschnittes  die  Zeit  berechnen,  welche 
der  Vorgang  der  negativen  Schwankung  braucht,  um  sich  von  der  Reiz- 
stelle zum  abgeleiteten  Längsschnittpunkte  des  Muskels  fortzupflanzen. 
In  ähnlicher  Weise  lässt  sich  auch  die  Dauer  der  negativen  Schwan- 
kung aus  der  Distanz  der  Anfangs-  und  Endstellung  des  Reizschiebers 
und  der  Umdrehungsgeschwindigkeit  des  Rades  berechnen.  Man  sollte 
meinen,  dass  die  Dauer  der  negativen  Schwankung  mit  der  Länge  der 
abgeleiteten  Strecke  wachsen  müsste,  da  die  Durch  Wanderung  der 
letzteren  offenbar  doch  auch  eine  gewisse  Zeit  beansprucht,  welche 
um  so  kürzer  ausfallen  muss,  je  kürzer  man  die  abgeleitete  Strecke 
wählt.  Der  Versuch  bestätigt  aber  diese  Voraussetzung  nicht.  Die 
Dauer  der  negativen  Schwankung  ist  annähernd  gleich 
gross,  wie  lang  auch  die  abgeleitete  Strecke  sein  mag. 
Dies  bedeutet  aber,  dass  der  den  Rückschwung  des  Magneten  be- 
wirkende Process  vom  Galvanometer  nur  angezeigt  wird,  während  er 
den  die  Längsoberfläche  berührenden  Fusspunkt  des  ableitenden 
Bogens  passirt,  darüber  hinaus  aber  nicht  mehr.  Als  Fortpflan- 
zungsgeschwindigkeit der  negativen  Schwankung  fand  Bern- 
stein im  Mittel  2,92  7  Meter  in  der  Sekunde.  Die  Dauer  beträgt 
V250  bis  ^/3oo  Sek. 

Mit  Hülfe  der  geschilderten  Repetitionsmethode  lässt  sich  nun 
auch  die  Frage  nach  dem  Betrag  der  negativen  Einzel- 
schwankung entscheiden  und  untersuchen,  ob  in  dem  Momente, 
wo  die  Schwankungscurve  ihr  Maximum  erreicht  hat,  der  abgeleitete 
Strom  auf  Null  sinken  oder  gar  sich  umkehren  kann.  Zu  diesem  Be- 
hufe  werden  die  beiden  Quecksilber-Gefässe  des  Apparates  so  eingestellt, 
dass  die  Schliessungszeit  des  Bussolkreises  (T)  möglichst  kurz  ist.  Der 
Reizschieber  muss  ferner  bei  dem  Versuche  in  eine  solche  Lage  ge- 
bracht werden,  dass  nach  jedesmaligem  Reize  der  Bussolschluss  auf 
das  Maximum  der  darauf  folgenden  negativen  Schwankung  fällt.  Hat 
man  dies  in  bekannter  Weise  ermittelt,  so  hebt  man  die  Compensation 
auf  und  misst  den  ersten  Ausschlag  am  Galvanometer,  welcher  durch 
den  Strom  des  nicht  gereizten  Muskels  während  der  Drehung  des 
Rheotomrades  bewirkt  wird.  Bestimmt  man  jetzt  bei  derselben  Um- 
drehungsgeschwindigkeit die  Grösse  des  Ausschlages  während  des 
Tetanisirens,  so  hängt  dieselbe  offenbar   ab    von    dem  Unterschied  der 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln,  j  317 

Stärke  des  „ruhenden"  Muskelstromes  und  der  der  negativen 
Schwankung  in  dem  beobachteten  Zeiträume.  Die  Richtung  des  Aus- 
schlages zeigt  daher  unmittelbar  an,  welcher  Strom  der  stärkere  ist. 
Fände  in  diesem  Momente  der  negativen  Schwankung,  also  zur  Zeit, 
wo  sie  ihren  grössten  Werth  erreicht  hat,  eine  Umkehr  des  Stromes 
statt,  so  müsste  die  Scala  nach  der  negativen  Richtung  wandern. 
Bernstein  fand  aber  niemals  eine  Ablenkung  im  negativen  Sinne, 
meist  trat  eine  solche  im  positiven  Sinne  auf,  die  aber,  wie  zu  er- 
warten war,  bedeutend  schwächer  ausfiel,  als  die  entsprechende  Ab- 
lenkung, welche  durch  den  Strom  des  ruhenden  Muskels  erzeugt 
wurde.  Es  sinkt  also  die  Schwan kungscurve  in  der  Regel 
nicht  einmal  auf  Null  herab. 

Zur  Verdeutlichung  der  vorstehenden  Erörterungen  dürfte  die 
graphische  Darstellung  der  erhaltenen  Resultate  wesentlich  beitragen, 
die  übrigens  zum  Theil  schon  oben  vorweggenommen  wurde,  als  es  sich 
um  die  Erklärung  des  Rheotomprincips  handelte.  Sei  t  t,  (Fig.  117) 
die  Abscisse   der   Zeit,  t  t,  zugleich    zwei  auf  einander  folgende  Reiz- 


Fig.   117.     Schema  der  Eheotomversuche.     (Nach  Bernstein.) 

momente,  h  die  Höhe  des  ruhenden  Muskelstromes,  T  die  Zeit  des 
Bussolschlusses,  welche  zwischen  t  f,  verschiebbar  angenommen  wird. 
Befindet  sich  diese  Zeit  in  T,  so  zeigt  sich  noch  keine  merkliche 
Ablenkung,  welche  erst  beginnt,  wenn  der  Bussolschluss  bei  T„  er- 
folgt; von  da  ab  nehmen  bei  weiterem  Vorrücken  der  Schliessungs- 
zeit die  negativen  Ablenkungen  rasch  an  Grösse  zu  und  schliesslich 
(langsamer)  wieder  ab,  so  dass  eine  Curve  entsteht,  welche  steil  ab- 
fällt, um  langsam  wieder  anzusteigen,  ohne  jedoch  (in  Folge  der  Nach- 
wirkung) die  anfängliche  Höhe  wieder  zu  erreichen.  Der  tiefste  Punkt 
dieser  Curve  erreicht  in  der  Regel  nicht  die  Abscissenlinie  (der  Muskel- 
strom wird  nicht  Null).  Die  Länge  (riu)  entspricht  nun  offenbar  der 
Zeit  vom  Momente  der  Reizung  bis  zu  dem  Augenblick,  wo  der  Process 
der  negativen  Schwankung  unter  der  ersten  ableitenden  Elektrode  an- 
gekommen ist,  während  die  durch  die  Linie  mo  dargestellte  Zeit 
der  Dauer  der  negativen  Schwankung  entspricht.  Die  Figur  muss 
man  sich,  um  den  wirklichen  Vorgang  graphisch  darzustellen,  sehr 
oft  hinter  einander  wiederholt  denken.  Während  die  Reize  sich  in 
immer  gleichen  Zwischenräumen  bei  t,  t^,  t^  u.  s.  w.  folgen,  liegen 
die  Schliessungszeiten  (T,)  immer  gleich  weit  von  dem  entsprechenden 
Reizmomente  ab ;  die  Wirkung  aufs  Galvanometer  wird  dann  gleich 
Null  sein.     Fällt  aber  der  Bussolschluss  mit  dem  Anfang  der  negativen 


318  I^'ß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Schwankung  zusammen,  so  wiederholt  sich  der  gleiche  Anstoss  bei 
jeder  Umdrehung,  und  es  resultirt  daraus  eine  gemeinsame  Wirkung 
auf  den  Magneten.  Diese  ist  offenbar  „gleich  der  eines  constanten 
Stromes,  dessen  Höhe  gleich  ist  dem  Flächeninhalt  aller  über  T  be- 
findlichen Curvenstücke,  dividirt  durch  die  Zeit  der  Beobachtung". 
Auf  diese  Weise  ist  es  möglich,  durch  auf  einander  folgende  Beob- 
achtungen die  ganze  Schwankungscurve  zu  construiren,  und  es  ist  dies 
wenigstens  für  den  quergestreiften  Stammesmuskel  bisher  das  einzige 
Mittel  gewesen,  Form  und  Verlauf  derselben  festzustellen.  Ohne  An- 
wendung des  Summationsverfahrens  (der  Repetitionsmethode)  ist  dies  bis- 
her nicht  gelungen,  da  alle,  auch  die  scheinbar  am  besten  geeigneten  In- 
strumente, wie  insbesondere  das  Capillarelektrometer,  nicht  ausreichend 
erscheinen,  um  die  einem  Einzelreize  entsprechende  negative  Schwan- 
kung ^enau  zur  Darstellung  zu  bringen.  Es  ist  zwar,  wie  schon  er- 
wähnt wurde,  ein  Leichtes,  durch  die  jede  einmalige  Zuckung  be- 
gleitende negative  Schwankung  an  einer  aperiodischen  Bussole  mit 
möglichst  leichtem  Magneten  eine  deutliche  Ablenkung  zu  erzielen, 
allein  der  zeitliche  Verlauf  der  Bewegung  des  letzteren  entspricht  hier 
noch  viel  weniger  dem  zeitlichen  Verlauf  der  Stromschwankung,  als 
der  Ausschlag  des  für  den  vorliegenden  Zweck  übrigens  viel  zu  wenig 
empfindlichen  Capillarelektrometers.  Demungeachtet  musste  es  in 
hohem  Grade  erwünscht  erscheinen,  die  Construction  der 
Schwankungscurve  durch  eine  directe  graphische  Darstellung  er- 
setzen zu  können.  Da  es  nun  nicht  möglich  scheint,  die  Trägheit  des 
Magneten  zu  überwinden  und  seine  Beweglichkeit  so  Aveit  zu  steigern, 
dass  er  rascheren  Stromesschwankungen  treu  zu  folgen  vermöchte,  so 
schlug  neuerdings  Hermann  den  umgekehrten  Weg  ein,  indem  er 
bestrebt  war,  den  zu  untersuchenden  galvanischen  Vorgang  hinreichend 
zu  verlangsamen  (21).  In  einfacher  und  sehr  sinnreicher  Weise  erreichte 
er  dies  Ziel  dadurch,  dass  während  der  Drehung  des  Bernstein'schen 
Rheotoms  .die  beiden  den  Bussolcontact  vermittelnden  Kupferbänke, 
welche  auf  einer  Ebonitscheibe  angebracht  waren,  in  derselben  Rich- 
tung aber  viel  langsamer  als  das  Rad  selbst  mitgedreht  wurden.  Wie 
man  leicht  sieht,  wird  dadurch  der  Abstand  zwischen  Reiz  und  Bussol- 
schluss  continuirlich  verändert,  so  dass  sich  der  ganze  Vorgang  der 
negativen  Schwankung  beliebig  verlangsamt  am  Galvanometer  abspielt. 
Der  Magnet  wird  daher  dem  zeitlichen  Verlauf  der  elektrischen  Ver- 
änderung mit  vollkommener  Treue  zu  folgen  im  Stande  sein,  und  man 
hat  nur  nöthig,  die  Bewegung  desselben  mittels  eines  vom  Spiegel 
reflectirten  Lichtstrahles  auf  eine  bewegte  lichtempfindliche  Platte 
zu  übertragen,  um  ein  treues  photographisches  Abbild  der  Schwankungs- 
curve zu  erhalten.  Es  braucht  kaum  bemerkt  zu  werden,  dass  die 
Resultate,  welche  durch  dieses  Verfahren  („Rheotachygraphie")  ge- 
wonnen werden ,  durchaus  mit  den  aus  den  gewöhnlichen  Rheotom- 
versuchen  abgeleiteten  Schlussfolgerungen  übereinstimmen. 

Wie  sich  aus  den  vorstehenden  Erörterungen  unmittelbar  er- 
giebt,  entspricht  die  „Schwankungscurve"  der  Entwicklung 
und  dem  zeitlichen  Verlauf  der  negativen  Schwankung  an  einer 
bestimmten  Stelle  des  Muskels,  nämlich  dem  abgeleiteten  Längs- 
schnittpunkt. Da  jedoch  die  ihr  zu  Grunde  liegenden  Verände- 
rungen, deren  directe  Beziehung  zum  Erregungsvorgang  nicht 
zweifelhaft  sein  kann,  mit  einer  der  Fortpflanzgeschwindigkeit  dieser 
letzteren  entsprechenden  Schnelligkeit  von  Querschnitt  zu  Querschnitt 


Die  elektromotorischen  Wirkuno-en  der  Muskeln. 


319 


fortschreiten,  so  erscheint  die  Frage  gerechtfertigt,  wie  lang  wohl 
die  Muskelstrecke  sein  wird,  deren  einzelne  Punkte  nach  der  Reizung 
gleichzeitig  in  verschiedenen  Phasen  der  negativen  Schwankung 
sich  befinden.  Wir  gelangen  so  zu  dem  zuerst  von  Bernstein 
entwickelten  Begriff  der  „Reiz welle"  des  Muskels.  „Eine  Muskel- 
faser 31  31  (Fig.  118)  sei  von  ihrem  künstlichen  Querschnitt  (q) 
und  von  der  Oberfläche  des  Elementes  d  Mi  abgeleitet,  welches 
man  sich  als  von  zwei  sehr  nahe  Hegenden  Querschnitten  begrenzt 
denken  möge.  Wenn  die  Faser  in  p  momentan  gereizt  wird,  so 
wird  nach  einer  bestimmten  Zeit  die  negative  Schwankung  das 
Element  d  J/j  erreicht  haben,  und  zwar  in  dem  Momente,  in  dem 
man  im  abgeleiteten  Kreise  die  ersten  Zeichen  der  negativen  Schwankung 
wahrnimmt.  Zu  derselben  Zeit  aber  wird  das  Maximum  der  negativen 
Schwankung  in  einem  dem  gereizten  Punkte  näher  gelegenen  Elemente 
{d  Jfg)  sich  befinden,  und  in  einem  dritten  Elemente  {d  M^)  wird  die 
negative  Schwankung  ihr  Ende  erreicht  haben.     Tragen  wir  nun  über 


dJL       <IM, 


Fig.  118.     Schema  der  „Keizwelle".     (Nach  Bernstein.) 

diese  und  die  dazwischen  gelegenen  Elemente  der  Muskelfaser  die 
Grösse  der  negativen  Schwankung  als  Ordinaten  auf,  so  erhalten  wir 
die  Curve  m  n  o,  welche  darstellt,  in  welchem  Zustand  der  elektro- 
motorischen Veränderung  sich  das  darunter  liegende  Element  der 
Muskelfaser  befindet."  Bernstein  bezeichnet  die  Curve  m.  n  o  als 
„Reiz welle",  Sie  schreitet  natürlich  wie  ein  M^ellenberg  von  der 
gereizten  Stelle  aus  in  der  Muskelfaser  und  zwar  nach  beiden  Seiten 
hin  fort,  indem  sich  successive  in  jedem  Element  der  Faser  der  Process 
der  negativen  Schwankung  von  seinem  Beginn  bis  zum  Ende  voll- 
zieht, so  dass  die  Welle  wähi-end  der  Dauer  der  negativen  Schwankung 
um  ihre  eigene  Länge  fortschreitet.  Bernstein  berechnet  für  diese 
letztere  aus  seinen  Versuch  einen  mitteren  Werth  von  10  mm. 

Fassen  wir  schliesslich  das  Resultat  der  vorstehend  mitgetheilten 
Versuche  und  Erörterungen  betreffs  der  negativen  Schwankung  eines 
mit  künstlichem  Querschnitt  versehenen  parallelfaserigen  Muskels  noch- 
mals in  Kürze  zusammen,  so  ergiebt  sich  Folgendes:  Wird  das  eine 
Muskelende  durch  einzelne  Inductionsschläge  gereizt,  während  das 
andere  abgeleitet  wird,  so  beginnt  einige  Zeit  nach  jedem  Einzelreize, 
deren  Dauer  dem  Abstände  des  abgeleiteten  Längsschnittpunktes  vom 
Reizorte  entspricht,  in  dem  dem  ersteren  zugehörigen  Muskelsegmente 
eine  Veränderung  sich  zu  entwickeln,  welche,  allmählich  anwachsend, 
in  einem  gewissen  Zeitmoment  ein  Maximum  erreicht,  um  endlich 
wieder  Null  zu  werden.    Es  äussert  sich  dieselbe  dadurch,  dass  sie  die 


320  -Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

elektrische  Spannungsdifferenz  der  beiden  abgeleiteten  Punkte  des 
Muskels  zu  vermindern  bestrebt  ist.  Da  wir  nun  wissen,  dass  der 
künstliche  Querschnitt  des  Muskels  sich  negativ -elektrisch  verhält 
gegen  jeden  Punkt  der  unversehrten  Oberfläche,  so  lassen  sich  alle 
bisher  erwähnten  Erscheinungen  leicht  erklären ,  wenn  man  sich  vor- 
stellt ,  dass  jene  von  der  Reizstelle  aus  sich  durch  die 
Muskelfaser  fortpflanzende  Veränderung  der  erreg- 
baren Substanz  mit  einem  Negativ  wer  den  derselben 
verbunden  ist.  Wir  werden  in  der  Folge  noch  directe  Beweise 
für  die  Richtigkeit  dieser  Vorstellung  zu  erwähnen  haben.  Vorläufig 
mag  dieselbe  hier  noch  als  Hypothese  gelten,  welche  geeignet  erscheint, 
das  bisher  Mitgetheilte  anschaulicher  zu  machen.  Wir  Averden  uns 
also  vorzustellen  haben,  dass  im  selben  Augenblick,  wo  ein  kurz- 
dauernder Reiz  (Momentreiz)  auf  irgend  eine  Faserstelle  einwirkt,  da- 
selbst eine  chemische  Veränderung  sich  zu  entwickeln  beginnt,  welche 
sich  durch  Negativwerden  der  betreffenden  Faserstellen  gegen  benach- 
barte, nicht  gereizte  Stellen  kundgiebt.  Es  muss  Nachdruck  darauf 
gelegt  werden,  dass  allen  Erfahrungen  zu  Folge  diese  Veränderung 
(welche  wir  als  identisch  mit  dem  Erregungsvorgang  ansehen  müssen) 
unmittelbar  im  Momente  der  Reizung ,  also  ohne  merkliches 
Latenzstadium,  beginnt,  dann  ziemlich  rasch  zu  einem  Maximum 
ansteigt,  um  endlich  langsamer  wieder  abzuklingen.  Die  zeitliche 
Aufeinanderfolge  der  verschiedenen  Stadien  dieser  Veränderung  an 
ein  und  derselben  direct  oder  indirect  gereizten  Faserstelle  lässt  sich 
durch  eine  Curve  darstellen,  welche  oben  als  „Schwan kungs - 
curve"  bezeichnet  wurde.  Da  aber  der  in  Rede  stehende  Vorgang 
nicht  local  beschränkt  bleibt,  sondern  sich  in  der  Regel  mit  messbarer 
Geschwindigkeit  vom  Reizorte  aus  über  die  ganze  Faser  fortpflanzt, 
so  befindet  sich  stets  ein  kürzerer  oder  längerer  Abschnitt  des  Mus- 
kels gleichzeitig,  und  zwar  an  seinen  verschiedenen  Punkten,  in 
verschiedenen  Phasen  der  Negativität.  Trägt  man  die  Werthe  dieser 
als  Ordinaten  auf  den  Muskel  als  Abscissenaxe  auf,  so  erhält  man 
eine  Curve  von  ähnlicher  Form  Avie  die  Schwankungscurve,  welche 
man  als  „Reiz welle"  bezeichnet.  Da  die  Geschwindigkeit  bekannt 
ist,  mit  der  sich  der  Vorgang  des  Negativwerdens  (der  Erregung)  im 
Muskel  fortpflanzt,  und  da  andererseits  auch  die  Zeit  bekannt  ist,  in 
welcher  sich  die  Reizwelle  um  ihre  eigene  Länge  fortpflanzt,  denn 
diese  ist  identisch  mit  der  Dauer  der  negativen  Schwankung  an  einer 
bestimmten  Faserstelle,  so  lässt  sich  die  Länge  der  Reizwelle  leicht 
berechnen  nach  der  Formel  s  ^  et  =^  D  (Dauer  der  negativen  Schwan- 
kung) X  G  (Fortpflanzungsgeschwindigkeit).  Da  die  beiden  Werthe,  aus 
denen  sich  die  Länge  der  Reizwelle  berechnet,  an  verschiedeneu  Mus- 
keln und  auch  an  einem  und  demselben  zu  verschiedenen  Zeiten  sehr 
verschieden  sind,  so  ist  natürlich  auch  die  Wellenlänge  der  Reizwelle 
eine  sehr  wechselnde.  Schon  Bernstein  fand  dies,  und  Kühne, 
auf  dessen  diesbezügliche  Versuche  später  noch  näher  einzugehen  sein 
wird ,  fand ,  dass  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  und  damit  auch 
die  Länge  der  Reizwelle  in  hohem  Grade  variirt.  Im  ungünstigsten 
Falle  betrug  die  erstere  25  cm  in  der  Sekunde,  in  anderen  Fällen  da- 
gegen mehr  als  2  m.  Es  erinnert  dies  sofort  an  jene  auffallende 
Thatsache,  dass  ein  und  derselbe  Muskel  schnelle  und  langsame  Con- 
tractionswellen  fortzupflanzen  vermag,  und  in  der  That  handelt  es  sich 
in  beiden  Fällen  im  Grunde  um    dieselbe  Erscheinung,    da   nichts    im 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Mnskeln.  321 

Wege  steht ^  Keizwelle  und  „Erregungswelle"  zu  iclentiticiren.  Es 
würde  sich  daher  nur  darum  handeln,  die  Beziehungen  zwischen  dieser 
letzteren  und  der  „Contractionswelle'^  festzustellen.  Der  Umstand,  dass 
die  Contraction  des  Muskels  ein  Latenzstadium  besitzt,  Avährend  die 
„Reizwelle"  ein  solches  nach  Bernstein  nicht  erkennen  lässt,  beweist 
ohne  Weiteres,  „dass  in  einer  gereizten  Muskelfaser  die  Keizwelle  der 
Contractionswelle  wenigstens  theilweise  voranläuft".  In  der  That 
machte  Helmholtz  schon  im  Jahre  1854  die  Angabe,  dass  die 
negative  Schwankung,  wenigstens  der  steilste,  die  secundäre  Zuckung 
erregende  Theil  derselben,  der  Zusammenziehung  vorangeht.  Er 
verlegte  sie  in  die  Mitte,  v.  Bezold  später  in  den  Anfang  des 
Latenzstadiums.  Helmholtz  (22)  verfuhr  folgendermaassen.  Der 
Nerv  A  eines  Muskels  (Fig.  119),  der  mit  dem  Zeichenstift  eines 
Myographions  in  Verbindung  stand,  war  über  Längsschnitt  und  Quer- 
schnitt des  Muskels  B  gebrückt,  dessen  Nerv  durch  einen  Oeffnungs- 
inductionsschlag  gereizt  wurde,  so  dass  die  nega- 
tive Schwankung  des  Muskelstromes  von  B  eine 
secundäre  Zuckung  des  Muskels  A  hervorrief. 
Die  messbare  Zeit,  welche  zwischen  dem  Moment 
der  Reizung  des  primären  Präparates  und  dem 
Beginn  der  secundären  Zuckung  von  A  verging, 
war  die  Summe  folgender  vier  Zeitwerthe:  1)  der 
Zeit  zwischen  der  Ankunft  der  Nervenerregung 
in  A  und  dem  Beginn  der  Verkürzung,  d.  h. 
das  Stadium  der  latenten  Reizung  von  A;  2)  der 
Zeit,  welche  die  Fortpflanzung  der  Erregung  im 
Nerven  des  Muskels  A  vom  Reizorte  bis  zum 
Muskel  beansprucht;  3)  die  Zeit,  die  zwischen 
der  Ankunft  der  Erregung  in  B  und  dem  Mo-  j-ig.  119.  Versuch  von 
mente  vergeht,  wo  die  negative  Schwankung  Helmholtz  über  die 
den  Nerven  A  erregt,  und  endlich  4)  die  Zeit  Zeit  der  negativen 
der  Leitung   im   Nerven  von  B.     Durch  Abzug  Schwankung. 

der  aus  anderweiten  Versuchen  bekannten  Zeit- 
räume 1 ,  2  und  4  von  der  Summe  fand  sich  die  Grösse  der  ge- 
suchten Zeit  3,  und  zwar  ergab  sich  dieselbe  zu  etwa  ^^200  Sekunde, 
d.  h.  es  vergeht  zwischen  dem  Momente  der  Reizung  eines  Muskels 
und  dem  Momente  der  stärksten  elektrischen  Aenderung  desselben 
etwa  ^/2oo  Sekunde;  legt  man  nun  den  ursprünglich  angenommenen 
Werth  der  Latenzzeit  von  */ioo  Sekunde  zu  Grunde,  so  würde 
das  Maximum  des  negativen  Schwankungsstromes  in  der  Mitte  der 
Periode  der  latenten  Reizung  fallen.  Nach  v.  Bezold  (23)  beginnt 
die  elektrische  Schwankung  übrigens  unter  den  günstigsten  Ver- 
hältnissen unmittelbar  nach  dem  Augenblick  der  Reizung  und  fällt 
daher  in  den  Beginn  des  Latenzstadiums.  Die  Bestimmungen  der 
Grösse  des  letzteren  haben  seit  Helmholtz  zu  immer  kleineren 
Werthen  geführt,  und  noch  jüngst  fand  Burdon-Sanderson  wieder 
eine  wesentlich  kleinere  Grösse  als  Tigers tedt,  welcher  0,005  Se- 
kunde für  die  Froschmuskeln  angenommen  hatte.  Nach  Burdon- 
Sanderson  (24)  beträgt  hier  das  Intervall  zwischen  der  Reizung  und 
dem  ersten  Anzeichen  einer  Formänderung  nur  0,0025  =  V400  Sek., 
und  da  er  auch  der  negativen  Schwankung  ein  gleich  grosses  Latenz- 
stadium zuschreibt,  so  würde  kein  merklicher  Zwischenraum  zwischen 
beiden  Erscheinungen  existiren,  wähi^end  nach  Bernstein  (1.  c.  p.  92) 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  21 


322  I^ie  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

umgekehrt  „jedes  Element  der  Muskelfaser  erst  den  Process  der 
negativen  Schwankung  vollendet,  bevor  es  in  den  Zustand  der  Con- 
traction  eintritt".  Da  man  jedoch  einerseits  die  Thatsache  des  früheren 
Beginns  der  elektrischen  Veränderung  bei  langsamer  sich  contra- 
hirenden  Muskeln ,  wie  z.  B.  dem  Herzen ,  direct  mit  dem  Auge  be- 
obachten kann,  worauf  unten  noch  zurückzukommen  sein  wird,  und 
da  es  andererseits  schon  aus  rein  theoretischen  Gründen  als  im  höch- 
sten Grade  unwahrscheinlich  bezeichnet  werden  muss ,  dass  die  Er- 
regung selbst,  d.  h.  die  mit  Negativwerden  verknüpften  Veränderungen 
der  contractilen  Substanz,  ein  Latenzstadium  besitzen,  so  wird  zunächst 
daran  festzuhalten  sein,  dass  der  Anfang  der  Reizwelle  der  Con- 
tractionswelle,  wenn  auch  um  einen  noch  so  kleinen  Zeitwert,  voran- 
Jäuft  (vergl.  Engelmann,  25).  Damit  ist  natürlich  durchaus  nicht 
gesagt,  dass  die  erstere  im  Sinne  Bernsteins  auch  früher  erlischt, 
bezw.  an  einer  Stelle  schon  erloschen  ist,  bevor  die  Contraction  da- 
selbst beginnt,  denn  während  es  ganz  wohl  denkbar  erscheint,  dass 
eine  Muskelstelle  erregt  ist  und  sich  daher  negativ  zu  benachbarten 
ruhenden  Stellen  verhält,  ohne  dabei  in  merklichem  Grade  contrahirt 
zu  sein,  so  ist  doch  wohl  das  Umgekehrte  völlig  ausgeschlossen,  und 
jede  contrahirte  Strecke  wird  nothwendig  auch  als  im  Zustand  der 
Erregung  befindlich  betrachtet  werden  müssen.  In  diesem  Sinne  wird 
man  daher  wohl  auch  sagen  dürfen,  dass  die  elektrische  Welle 
ein  Ausdruck  der  Contraction  selbst  ist  (vergl.  Lee,  26). 
Nimmt  man  mit  Bernstein  für  das  Stadium  der  latenten  Reizung 
die  Zeit  von  0,015 — 0,023  Sek.  an  (was  bekanntlich  nicht  zu- 
treffend ist)  und  legt  man  die  von  ihm  gefundenen  Werthe  für  die 
Länge,  Dauer  und  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Reizwelle  zu 
Grunde,  so  würde  bei  Reizung  eines  Muskels  an  einem  bestimmten 
Punkte  die  Reizwelle  nach  dem  Stadium  der  latenten  Reizung  bereits 
eine  Strecke  von  45 — 92  mm  in  den  Fasern  zurückgelegt  haben,  ehe 
überhaupt  die  Contraction  am  Reizorte  beginnt.  Dabei  würde  noch 
ausserdem  der  enorme  Unterschied  in  Betracht  kommen,  der  nach 
Bernstein  zwischen  beiden  Wellen  hinsichtlich  ihrer  Länge  besteht. 
Während  die  der  Reiz  welle  etwa  10  mm  beträgt,  würde  die  der  Con- 
tractionswelle  zwischen  198  und  380  mm  schwanken.  Diese  letztere 
Angabe  muss  aber  füglich  Bedenken  erregen,  wenn  man  die  Berech- 
tigung anerkennt,  jede  contrahirte  Faserstelle  als  „erregt"  zu  be- 
zeichnen, und  andererseits  die  Negativität  als  galvanischen  Ausdruck 
der  Erregung  gelten  lässt.  Die  ersterwähnte  Behauptung  wird  nun 
schon  dadurch  ganz  wesentlich  eingeschränkt,  dass  das  Latenzstadium 
nach  allen  neueren  Erfahrungen  sehr  viel  kürzer  ist,  als  ursprünglich 
angenommen  wurde.  Zudem  hat  F.  S.  Lee  (1,  c.)  neuerdings  mittelst 
des  Capillarelektrometers  auch  erheblich  grössere  Werthe  für  die  Dauer 
der  Reizwelle  gefunden,  als  alle  früheren  Beobachter,  so  dass  es  keinem 
:Zweifel  unterworfen  sein  kann,  dass  wenigstens  für  den  frischen  Muskel 
„ elektrische  Spann ungsdifferenzen,  welche  mit  der  Contraction 
zusammenhängen,  sich  durch  eine  viel  längere  Zeit  nachweisen 
lassen,  als  bisher  angenommen  wurde".  Damit  fällt  aber  auch  die 
Vorstellung,  dass  die  elektrische  Welle  in  das  Latenzstadium  der  Con- 
traction fällt  und  dieser  (als  Ganzes)  vorausläuft  (F.  S.  Lee).  Die 
von  Lee  gefundenen  Zeitwerthe  für  die  Dauer  der  Reizwelle  sind  in 
der  That  von  gleicher  Ordnung  mit  der  Zuckungsdauer  (0,05 — 0,26 
Sek.). 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  323 

So  schien  es  denn,  als  sei  die  von  Du  Bois-Reymond  ge- 
gebene Deutung  der  secundären  Zuckung  wirklich  die  einzig  zu- 
treffende und  mögliche,  indem  bewiesen  war,  dass  bei  jeder  Einzel- 
reizung der  Demarcationsstrom  eines  Muskels  eine  sehr  rasche 
negative  Schwankung  erleidet,  die  nun  ihrerseits  einen  über  Längs- 
schnitt und  Querschnitt  gebrückten  Nerven  erregen  konnte,  falls 
die  Empfindlichkeit  des  Präparates  genügend  gross  war.  Diese  Er- 
klärung musste  jedoch  eine  wesentliche  Aenderung  erfahren,  als  sich 
die  Richtigkeit  der  ursprünglichen  Behauptung  Matteucci's  heraus- 
stellte, dass  das  Eintreten  der  secundären  Zuckung  von  der  Lagerung 
des  Nerven  am  primären  Muskel  unabhängig  ist ,  indem  auch 
„parelektronomische"  Gastrocnemien  bei  Reizung  vom  Nerven 
aus  ein  secundäres  Präparat,  dessen  Nerv  den  Längsschnitt  des 
primären  Muskels  mit  dessen  natürlichem  Querschnitt  verband 
oder  überhaupt  nur  den  ersteren  berührte,  zu  erregen  vermögen.  Es 
kann  hier  offenbar  so  ohne  Weiteres  von  einer  negativen  Schwankung 
nicht  gesprochen  werden,  da  ja  der  Strom,  welcher  schwanken  sollte, 
wenigstens  als  nach  aussen  ableitbarer  Z^veig  fehlt.  Es  kam  da- 
her vor  Allem  darauf  an,  die  galvanischen  Wirkungen  bei  der  Erregung 
stromloser  unversehrter  Muskeln  zu  untersuchen.  Ehe  jedoch  auf  die 
complicirten  Verhältnisse  bei  indirecter  Reizung  des  Gastrocnemius 
näher  eingegangen  werden  kann,  wird  es  sich  wieder  empfehlen,  an 
den  einfachsten  Fall  der  directen  Erregung  des  stromlosen  Sar- 
torius  anzuknüpfen. 

Wird  das  eine  Ende  desselben  tetanisirend  gereizt,  während  am 
andern  Ende  vom  natürlichen  Querschnitt  und  einem  etwa  der  Mitte 
des  Muskels  entsprechenden  Punkte  der  Längsoberfläche  abgeleitet  wird, 
so  tritt,  wie  zuerst  Du  Bois-Reymond  fand,  während  der  Reizung 
ein  Strom  im  Sinne  einer  negativen  Schwankung  hervor,  auch  wenn  keine 
Spur  eines  gesetzmässigen  Muskelstromes  vorher  vorhanden  war,  indem 
sich  das  Sehnenende  positiv  gegen  jeden  Punkt  der  Längsoberfläche 
verhält.  Mit  Hermann  bezeichnen  wir  diesen  Strom  als  „Actions- 
strom",  weil  er  unabhängig  von  dem  Vorhandensein  oder  Fehlen 
eines  Ruhestromes  für  den  thätigen  Zustand  des  Muskels  charak- 
teristisch ist.  Im  Anschlüsse  an  die  Auffassung  Her mann's  wurde  im 
Vorhergehenden  die  negative  Schwankung  des  Demarcationsstromes 
dadurch  erklärt,  dass  die  contractile  Substanz  unter  der  den  Längs- 
schnitt berührenden  Elektrode  in  dem  Augenblicke  mehr  oder  weniger 
negativ  wird,  wo  eine  Erregungs-  oder  Reizwelle  unter  derselben  ab- 
läuft, wodurch  dann  natürlich  die  ursprünglich  vorhandene  Spannungs- 
differenz zwischen  Längsschnitt  und  künstlichem  Querschnitt  entsprechend 
vermindert  wird.  W^ie  man  leicht  sieht,  lässt  sich  dasselbe  Erklärungs- 
princip  nicht  so  ohne  Weiteres  auch  auf  den  jetzt  vorliegenden  Fall 
des  unversehrten  und  daher  stromlosen  Muskels  anwenden.  Denn  darf 
man  annehmen,  dass  die  normalen  Faserenden,  wie  jede  andere  Stelle 
des  Muskels,  an  der  Erregung  Theil  nehmen  (und  es  spricht  keine 
Thatsache  für  ein  gegentheiliges  Verhalten),  so  müssten  sie,  wenn  die 
Reizwelle  bis  dahin  fortgeschritten  ist,  ebenso  negativ  werden,  wie 
jedes  vorhergehende  Segment.  Dann  dürfte  aber  unter  den  gegebenen 
Bedingungen  ein  im  Muskel  vom  Längsschnitt  zur  Sehne  gerichteter 
absteigender  Strom  während  des  Tetanisirens  nicht  auftreten,  vielmehr 
müsste  die  Stromlosigkeit,  welche  vor  der  Reizung  bestand,  auch 
während  derselben  fortbestehen.   Wir  werden  später  sehen,    in    welch 

21* 


324 


Die  elekti-omotoriscben  Wirkungen  der  Muskeln. 


einfacher  Weise  die  Hermann'sche  Theorie  diesen  scheinbaren  Wider- 
spruch löst,  während  Du  Bois-Reymond,  auf  dessen  Deutung  der 
negativen  Schwankung  des  Muskelstromes  unten  noch  näher  einzugehen 
sein  wird,  sich  gezwungen  sieht,  die  vorhin  angedeutete,  im  höchsten 
Grade  unwahrscheinliche  Annahme  zu  machen,  dass  die  natürlichen, 
unversehrten  Faserenden,  beziehungsweise  die  „parelektronomische 
Schicht'"  derselben,  an  dem  Erregungsvorgang  gar  nicht  oder  doch 
nur  in  geringerem  Maasse  Theil  nehmen. 

Hiergegen  ist  vor  Allem  zu  bemerken,  dass  ein  tetanischer  Actions- 
strom  von  gleicher  Richtung  immer  auch  dann  beobachtet  wird,  wenn 
die  Faserenden  gar  nicht  in  die  abgeleitete  Strecke  hineinfallen, 
sondern  zwei  beliebige  Stellen  der  Längsoberfläche  des 
Muskels    von    den  Fuss punkten   des    ableitenden  Bogens 


M 


Fig.  120.     Schema  der  doppelsinnigen  (phasischen)  Actionsströme.     (Nach  Bernstein.) 


berührt  werden  (Hermann  27).  Ueber  die  Ursache  desselben 
giebt  ein  Versuch  Aufschluss,  welcher  zuerst  von  Bernstein  (1.  c. 
p.  60  ff.)  mittels  des  Rheotoms  angestellt  wurde  und  auch  in  anderer 
Beziehung  von  Wichtigkeit  ist. 

Sei  wieder  J/  il/j  ein  regelmässiger  parallelfaseriger  Muskel,  dessen 
einem  Ende  mittels  des  Rheotoms  einzelne  in  gleichen  Zeiten  auf  ein- 
ander folgende  Reize  zugeführt  werden  (Fig.  120),  Avährend  zwischen 
je  zwei  Reizen  der  Bussolkreis  jedes  Mal  für  eine  ganz  kurze  Zeit 
geschlosen  wird,  was  bekanntlich  in  beliebigen  Momenten  der 
Reizpause  geschehen  kann,  so  wird,  wenn  Reizung  und  Bussol- 
schluss  gleichzeitig  eintreten,  kein  Ausschlag  erfolgen  können,  da  die 
Reizwelle,  welche  von  jj  ausgeht,  eine  gewisse  Zeit  braucht,  um  die 
zunächst  liegende  abgeleitete  Stelle  (a)  zu  erreichen.  W^ird  aber  der 
Bussolkreis  gerade  immer  in  dem  Momente  geschlossen,  wo  der  An- 
fangstheil  der  Reizwelle  den  genannten  Punkt  erreicht  hat,  also  so 
lange  nach  jedem  Einzelreize,  als  die  Welle  braucht,  um  den  Weg 
^  a  zurückzulegen ,  so  wird  eine  merkliche  Ablenkung  des  Magneten 
in  dem  Sinne  zu  erwarten  sein,  dass  sich  («)  zu  der  zweiten  abgeleiteten 
Stelle  (&)  negativ  verhält,  wenn  es  richtig  ist,  dass  jeder  Punkt  inner- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  325 

halb  der  Reizwelle  negativ  ist  gegen  jede  Stelle  ausserhalb  derselben. 
Wird  dann  die  Schliessungszeit  des  Galvanometerkreises  noch  weiter 
in  derselben  Richtung  verschoben,  so  dass  andere  Flächenstücke  der 
Schwankungscurve  ausgeschnitten  werden,  so  müssen  die  Ausschläge  in 
demselben  Sinne  zunächst  wachsen,  ein  Maximum  erreichen,  wenn  der 
Gipfel  der  Reizwelle  abgefangen  wird,  und  endlich  wieder  abnehmend 
Null  werden,  wenn  die  ganze  Reizwelle  unter  dem  Punkte  a  ab- 
gelaufen ist.  Legen  wir  den  von  Bernstein  angegebenen  Werth 
von  10  mm  für  die  Länge  derselben  zu  Grunde,  und  sind  daher  die 
beiden  ableitenden  Elektroden  um  mehr  als  10  mm  von  einander  ent- 
fernt, so  würde  zu  einer  Zeit,  wo  eben  das  Ende  der  Reizwelle  den 
Punkt  a  passirt,  der  Anfangstheil  derselben  h  noch  nicht  erreicht 
haben,  und  auch  wenig  später  wird  das  nicht  der  Fall  sein,  wenn  die 
Distanz  der  Elektroden  genügend  gross  ist.  Bei  einer  gewissen,  diesem 
Zeitwerth  entsprechenden  Schieberstellung  am  Rheotom  wird  daher 
keinerlei  Spannungsdifferenz  zwischen  a  und  h  angezeigt  werden. 
Erst  wenn  die  Schliessung  des  Bussolkreises  so  spät  nach  jedem 
Einzelreiz  erfolgt,  dass  die  ausgelöste  Reiz  welle  mit  ihrem  Anfangs- 
theil gerade  den  Punkt  h  erreicht  hat,  wird  wieder  eine  merkliche 
Ablenkung  erfolgen,  jedoch  in  einer  der  früheren  gerade 
entgegengesetzten  Richtung,  indem  sich  jetzt  h  negativ  zu 
a  verhält.  Die  Spannungsdifferenz  wird  nun  wieder  bei  weiterem 
Vorrücken  des  Bussolschlusses  im  gleichen  Sinne  zunehmend  ein  Maxi- 
mum erreichen  und  schliesslich,  wenn  das  Ende  der  Reizwelle  unter 
h  abgelaufen  ist.  Null  werden.  Wir  haben  es  also  bei  Ableitung 
von  zwei  symmetrischen  Längsschnittpunkten  eines  durch  Inductions- 
schläge  rhythmisch  gereizten  (tetanisirten)  Muskels  nach  jedem  Einzel- 
reiz mit  einer  doppelsinnigen  Schwankung  oder  richtiger  mit 
einem  doppelsinnigen  Actionsstrom  zu  thun.  Bernstein, 
welcher  diese  Thatsache  entdeckte,  bezeichnete  den  Strom,  welcher  be- 
obachtet wird,  während  die  Reizwelle  unter  dem  Punkte  a  abläuft, 
und  im  Muskel  die  Richtung  des  unteren  Pfeiles  hat,  als  negative 
Schwankung,  den  darauf  folgenden,  in  der  Richtung  des  oberen 
Pfeiles  fliessenden  dagegen  als  positive  Schwankung.  Wie  leicht 
ersichtlich  ist,  müsste  eigentlich  die  absolute  Grösse  der  durch  den 
ersten  Actionsstrom  bewirkten  Ablenkung  genau  derjenigen  gleich 
sein,  welche  durch  den  zweiten  Actionsstrom  bedingt  wird ;  dies  ist 
aber  nach  Bernstein 's  Untersuchungen  niemals  der  Fall,  sondern  d  i  e 
positiven  Ausschläge  werden  stets  kleiner  gefunden, 
als  die  negativen.  Es  geht  aus  dieser  Thatsache  hervor,  dass 
die  Reizwelle  bei  ihrer  Fortpflanzung  in  der  Muskel- 
faser an  Höhe  abnimmt  oder  mit  andern  Worten  (wenigstens 
im  ausgeschnittenen  Muskel)  ein  Decrement  besitzt.  Mit  Her- 
mann (27)  bezeichnet  man  die  eben  besprochenen  doppelsinnigen 
Actionsströme,  welche  am  unversehrten,  an  sich  stromlosen  Muskel  nach 
jedem  Einzelreize  beobachtet  werden,  als  „phasische  Actions- 
ströme". Die  erste  Phase  ist  von  der  Reizstelle  weg,  die  zweite  zu 
ihr  hin  gerichtet.  Liegt  die  eine  Ableitungsstelle  an  einem  künst- 
lichen Querschnitt,  so  fällt  natürlich  die  ihr  entsprechende  Phase 
aus.  Da  der  Bussolmagnet  viel  zu  träge  ist,  um  diese  bei  tetani- 
sirender  Reizung  sich  äusserst  rasch  folgenden,  entgegengesetzt  ge- 
richteten Ströme  durch  entsprechende  Ablenkungen  anzuzeigen,  so 
würde  von  vornherein  zu  erwarten  sein,  dass  bei  stromloser  Ableitung 


326  ^i^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

von  2  Längschnittpunkten  auch  während  des  Tetanus  keine  Wirkung 
erfolgt.  Doch  ist  dies  thatsächlich  nicht  der  Fall,  was  sich  leicht 
aus  dem  Umstände  erklärt,  dass  die  Reizwelle  bei  ihrer  Fortpflanzung 
im  Muskel  an  Grösse  abnimmt;  daraus  ergiebt  sich  unmittelbar,  dass 
bei  Ableitung  von  zwei  Längsschnittpunkten  eines  unversehrten,  strom- 
losen, parallelfaserigen  Muskels  eine  elektrische  Spannungsdifferenz 
zwischen  diesen  beiden  Punkten  auftreten  muss,  wenn  das  eine  Ende 
mittels  eines  gewöhnlichen  Schlittenapparates  tetanisirt  wird,  und 
zwar  muss  immer  der  der  Reizstelle  nähere  Längsschnittpunkt  sich 
negativ  zu  dem  davon  entfernteren  verhalten,  da  dieser  wiegen  des 
Decrementes  der  Reizwellen  schwächer  negativ  als  jener  (d.  h.  relativ- 
positiv) sein  muss.  Ein  derartiger  tetanischer  Actionsstrom  ist  nun, 
wie  schon  erwähnt,  thatsächlich  vorhanden,  wie  Du  B  o  is-Rey  mond 
und  Hermann  übereinstimmend  feststellten.  Der  Letztere  fand  die 
Kraft  dieses  Stromes,  welchen  er  aus  den  eben  erwähnten  Gründen 
als  „tetanischen  decrementiellen  Actionsstrom"  bezeich- 
nete, ziemlich  bedeutend  (0,002—0,02  Dan.).  Du  Bois-Reymond 
war  ursprünglich  der  Meinung,  dass  decrementielle  Actionsströme  nur 
an  ermüdeten,  absterbenden  Muskeln  beobachtet  werden,  und  dass  dem- 
nach die  Reizwelle  nur  in  diesem  Falle  abnehme.  Hermann  hat 
jedoch  gezeigt,  dass  das  Decrement  bereits  unmittelbar  nach  der  Prä- 
paration vorhanden  ist.  Da  die  Reizwelle  um  so  kleiner  wird,  je 
weiter  sie  sich  von  dem  Reizorte  entfernt,  so  müssen  die  einzelnen 
Querschnitte  eines  am  einen  Ende  tetanisirten  Muskels  um  so  weniger 
negativ  sein,  je  näher  sie  dem  nicht  gereizten  Ende  liegen. 
Hermann  hat  hierfür  den  directen  Beweis  erbracht,  indem  er  an 
einem  regelmässig  gebauten,  parallelfaserigen  Muskel  eine  Anzahl  ab- 
leitender, ringförmig  umfassender  Fadenschlingen  anlegte,  und  während 
das  eine  Ende  tetanisirt  wurde,  die  elektromotorische  Kraft  des  Actions- 
stromes  zwischen  je  zwei  Ableitungsstellen  bestimmte.  Er  fand  die- 
selbe „annähernd  proportional  dem  gegenseitigen  Abstände  derselben 
und  sonst  ganz  unabhängig  von  deren  Lage".  Es  ist  somit  „jeder 
von  der  Erregung  durchlaufene  Punkt  während  des  Tetanus  Sitz  einer 
elektromotorischen  Kraft,  die  der  Verlaufsrichtung  der  Erregungs- 
wellen gleichgerichtet  ist".  Man  sieht  nun  auch,  dass  die  „negative 
Schwankung"  in  ihrer  ursprünglichen  Erscheinungsweise  nichts 
weiter  ist,  als  ein  specieller  Fall  des  tetanischen  Actions- 
strom es,  in  dem  bei  Ableitung  von  einem  künstlichen 
Querschnitt  die  entsprechenden  Phasen  ausfallen. 

Da  unter  normalen  Verhältnissen  die  Muskeln  stets  nur  indirect, 
d.  h.  vom  Nerven  aus,  erregt  werden,  so  hat  es  ein  besonderes  Inter- 
esse, die  Actionsströme  unversehrter  Muskeln  auch  bei  dieser  Art  der 
Reizung  zu  untersuchen,  zumal  alle  früheren  Versuche  über  negative 
Schwankung  lediglich  aus  Bequemlichkeitsgründen  an  dem  an  sich  wohl 
am  wenigsten  geeigneten  Objecte,  dem  vom  Nerven  aus  tetanisirten 
Gastrocnemius  des  Frosches,  angestellt  worden  sind.  An  demselben 
unversehrten  Muskel  wurde  in  der  Folge  auch  die  erste  genauer  zer- 
gliedernde Versuchsreihe  über  die  Actionsströme  bei  indirecter  Reizung 
und  Ableitung  von  beiden  sehnigen  Enden  unter  Bernstein's  Lei- 
tung und  mit  dessen  Rheotom  von  Sigmund  Mayer  (28)  ausgeführt. 
Die  complicirten  Erscheinungen,  welche  man  diesfalls  beobachtet,  und 
die  zu  den  verschiedensten  Deutungen  und  Erklärungsversuchen  An- 
lass  gaben,  wurden  aber  erst  verständlich,  als  L.  Hermann  im  Jahre 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  des  Muskeln.  327 

1877  daran  ging,  die  Actionsströme  regelmässiggebauter  parallel- 
faseriger Muskeln  bei  indirecter  Reizung  zu  untersuchen  (27).  Nach 
unseren  derzeitigen  Kenntnissen  über  die  Beziehungen  zwischen  Nerv  und 
Muskel  sind  wir  zu  der  Annahme  berechtigt,  dass  die  Erregung  jeder 
Muskelfaser  bei  Reizung  der  zugehörigen  Nervenfaser  an  einer  be- 
schränkten Stelle  und  zwar  dort  ausgelöst  wird,  wo  jener  nei'vöse 
Endapparat  liegt,  welcher  zwischen  der  contractilen  Substanz  als  Er- 
folgsorgan und  der  Nervenfaser  als  Leitungsorgan  eingeschaltet  ist. 
Wir  werden  später  die  histologischen  und  physiologischen  Beziehungen 
zwischen  Nerv^  und  Muskel  noch  eingehender  zu  erörtern  haben;  für 
jetzt  mag  es  genügen,  zu  bemerken,  dass  es  als  bewiesene  Thatsache 
gelten  darf,  dass  die  Nervenfaser  mit  der  oder  den  zugehörigen 
Muskelfasern  nur  in  einem  beschränkten  Gebiete  in  Verbindung  steht, 
was  natürlich  nicht  ausschliesst,  dass  eine  und  dieselbe  Muskelfaser 
von  mehreren  Nervenfasern  an  verschiedenen  Stellen  versorgt 
wird.  Die  in  neuerer  Zeit  mehrfach  aufgetauchte,  insbesondere  von 
J.Ger  lach  vertretene  Anschauung,  dass  es  eine  eigentliche  Nervendigung 
im  Muskel  gar  nicht  gebe,  indem  der  zutretende  Nerv  die  contractile 
Substanz  in  der  ganzen  Ausdehnung  der  Faser  durchsetze  und  in 
Gestalt  feinster  varicöser  Fibrillen  überall  zwischen  die  Elemente  der 
Muskelfaser  eindringe,  darf  wohl  zur  Zeit  als  widerlegt  angesehen 
werden,  umsomehr,  als  sich  herausstellte,  dass  Gerlach's  Nervenfibrillen 
im  Wesentlichen  nichts  weiter  sind,  als  die  durch  Goldchlorid  dunkel- 
roth  gefärbte,  also  stark  reducirende,  interfibrilläre  Substanz  (Sarko- 
plasma)  des  Muskels.  Entsteht  daher  die  Erregung  bei  indirecter 
Reizung  an  den  der  Nervenendigung  entsprechenden  Faserstellen,  so 
muss  sie  sich  von  hier  aus  nothwendig  und  zwar  wellenförmig  durch 
die  Faser  nach  beiden  Seiten  hin  fortpflanzen.  Es  lässt  sich  dies 
jedoch  nicht  nur  theoretisch  erschliessen,  sondern  ganz  direct  beweisen, 
und  zwar  sowohl  auf  dem  Wege  der  histologischen  Untersuchung  als 
auch  durch  das  physiologische  Experiment.  In  ersterer  Beziehung 
wurde  neuerdings  von  verschiedenen  Seiten  (Föttinger,  Rollett 
u.  A.j  der  wichtige  Nachweis  geliefert,  dass  die  an  den  Muskelfasern 
mancher  Insecten  nach  geeigneter  Behandlung  des  lebenden  Gewebes 
mit  härtenden  und  conservirenden  Flüssigkeiten  leicht  zu  beobachten- 
den „fixirten  Contractions wellen"  sich  ganz  vorwiegend  an 
den  Eintrittsstellen  von  Nerven  befinden ,  und  zwar  so ,  dass  das 
Maximum  der  Verkürzung,  d.  i.  der  Gipfel  der  Welle,  meist  in  der 
Mitte  der  Berührungsfläche  (Sohle)  des  Doyer'schen  Hügels  gelegen 
ist.  Dies  sowie  die  directe  Beobachtung  noch  lebender  Fasern  beweist 
unwiderleglich,  dass  die  Nerveneintrittsstelle  der  Ausgangspunkt  einer 
wellenförmig  nach  beiden  Seiten  fortschrei4;enden  Contraction  werden 
kann. 

Ebenso  sicher  lässt  sich  nun  aber  auch  galvanometrisch  bei  in- 
directer Reizung  des  ganzen  Muskels  das  Fortschreiten  einer  negativen 
Reizwelle  feststellen  und  so  die  von  Du  Bois-Reymond  seiner  Zeit 
gehegten  Zweifel  an  dem  wellenförmigen  Ablauf  der  Erregung  bei 
Reizung  eines  Muskels  vom  Nerven  aus  entkräften.  Wir  besitzen 
im  M.  adductor  magn.  des  Frosches  mit  dem  zugehörigen,  etwa 
in  der  Mitte  des  Muskels  eintretenden  Nerven  ein  allen  Anforderungen 
entsprechendes  Präparat,  dessen  Herstellung  zwar  etwas  mühevoller 
ist  im  Vergleich  mit  der  des  gewöhnlichen  aus  Gastrocnemius  und 
Ischiadus  bestehenden  Nerven-Muskelpräparates,  aber  durch  die  Regel- 


328  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

mässigkeit  und  Klarheit  der  Versuclisergebnisse  reichlich  entschädigt. 
Auf  Grund  der  schon  mitgetheilten  Erfahrungen  darf  man  annehmen, 
dass  sich  ein  derartiges  Präparat  bei  Reizung  seiner  Nerven  mit  In- 
ductionsschlägen  in  elektromotorischer  Beziehung  ganz  ebenso  ver- 
halten wird,  als  in  dem  Falle,  wenn  der  Muskel  an  der  Nerven- 
eintrittsstelle, im  speciellen  Falle  also  in  der  Mitte,  direct  gereizt 
wird.  Dabei  ist  es  ein  wesentlicher  Vortheil,  dass  man  bei  indirecter 
Reizung  von  der  Reizstelle  selbst  mit  abzuleiten  vermag.  Läge  jede 
Nervenendigung  genau  in  der  Mitte  der  zugehörigen  Faser  des 
parallelfaserigen  Muskels,  so  würde  sich  offenbar  von  da  aus  im  Augen- 
blicke der  Reizung  eine  negative  Reiz-  bezw.  Contractionswelle  nach 
beiden  Seiten  hin  durch  den  Muskel  fortpflanzen.  Würde  dann  von 
der  Mitte  und  dem  einen  Sehnenende  eines  solchen  Muskels  zum  Gal- 
vanometer abgeleitet,  während  der  Nerv  mittels  des  Bernstein 'sehen 
Rheotoms  in  gleicJien  Pausen  einzelne  Reizanstösse  erhält,  so  müsste 
ein  doppelsinniger  phasischer  Actionsstrom  nachzuweisen  sein,  bestehend 
aus  einer  ersten  „atterminalen  (abnervalen)"  und  einer  zweiten  „ab- 
terminalen (adnervalen)"  Phase.  In  der  That  fand  nun  Hermann  ein 
solches  Verhalten  bei  seinen  Versuchen  am  Sartoriuspräparat.  Beide 
Muskelhälften  zeigten  gleichzeitig  zuerst  einen  atterminalen,  von  der 
Mitte  nach  jedem  Sehnenende  hin  gerichteten  Strom,  wenig  später,  und 
zwar  um  soviel,  als  die  Reizwelle  braucht,  um  sich  von  der  Mitte  aus 
nach  den  Enden  hin  fortzupflanzen,  trat  ein  abterminaler  Actionsstrom 
auf,  der  wegen  des  Decrements  der  Reizwelle  stets  schwächer  war,  als 
der  erstere.  Wird  von  beiden  Sehnenenden  abgeleitet,  so  ergiebt  sich 
in  jedem  Momente  die  algebraische  Summe  der  Wirkungen  beider 
Hälften  für  sich;  diese  Summe  würde  natürlich  bei  einem  genau  sym- 
metrisch gebauten  Muskel  =  Null  sein,  bei  anderen  wechselt  sie  mit 
der  Zeit  ihr  Vorzeichen.  Durch  diese  Versuche  Hermann 's  ist 
daher  der  wellenförmige  Ablauf  der  Erregung  auch  bei  indirecter 
Reizung  physiologisch  bewiesen,  und  wir  können  nunmehr  dazu  über- 
gehen, die  Actionsströme  auch  in  dem  verwickeiteren  Falle,  bei  in- 
directer Reizung  des  Gastrocnemius,  zu  betrachten.  S.  Mayer  (1.  c.) 
hatte  gefunden,  dass  bei  Ableitung  von  beiden  sehnigen  Enden  des 
genannten  Muskels  nach  jedem  Einzelreize  zuerst  ein  absteigender, 
dann  ein  aufsteigender  Actionsstrom  oder  —  wie  man  sich  damals 
ausdrückte,  weil  der  erstere  Strom  mit  der  negativen  Schwankung 
des  am  Achillesspiegel  angeätzten  Muskels  identificirt  wurde  —  eine 
zuerst  negative,  dann  positive  Schwankung  auftritt,  eine  Thatsache, 
welche  später  von  Du  Bois-Reymond  mittels  des  Bernstein'schen 
Rheotoms,  das  auch  S.  Mayer  benutzt  hatte,  von  Hermann  mittels 
des  schon  früher  erwähnten  (nicht  repetirenden)  Fallrheotoms  be- 
stätigt wurde.  War  der  Achillesspiegel  angeätzt,  so  fehlte  der  auf- 
steigende (positive)  Theil  des  Actionsstromes.  Uebrigens  hatte  schon 
vor  Mayer  Holmgren  (29)  mittels  eines  leichten  Magneten  (ohne 
Rheotom)  häutig  doppelsinnige  Schwankungen  am  Gastrocnemius  be- 
obachtet, ausserdem  aber  auch  Fälle  rein  positiver  und  rein  negativer 
Schwankung.  Man  kann  sich  den  M.  gastrocnemius  nach  Hermann 
schematisch  als  einen  Muskelrhombus  vorstellen  und  kommt  ausserdem 
der  Wahrheit  ziemlich  nahe,  wenn  man  annimmt,  dass  jede  Faser 
ihre  Nerveneintrittsstelle  in  der  Mitte  hat  (Fig.  121).  '  Dann  ist 
aber  leicht  ersichtlich,  dass  alle  der  oberen  Ableitungslinie  {a  b), 
das   heisst  dem   dickeren    Theil  des  Muskels,   entsprechenden  Punkte 


Die  elektromotorischen  Wirkunofen  der  Muskeln. 


329 


durch  die  von  den  Nerveneintrittsstellen  (a  —  ß)  ausgehenden  Er- 
regungswellen früher  und  stärker  beeinflusst  werden  müssen,  als  die 
unteren,  der  Achillessehne  entsprechenden  Faserenden.  Es  wird 
also  zunächst  ein  absteigender,  dann  aber  ein  schwächerer  aufsteigender 
Actionsstrom  resultiren.  „Die  obere  Muskelhälfte  müsste  gerade  um- 
gekehrt zuerst  aufsteigend,  dann  absteigend  wirken;  jedoch  ist  der 
Bau  des  Muskels  hier  wesentlich  anders;  der  grösste  Theil  des  oberen 
Neigungsstromes  kann  wegen  der  Einfaltung  des  oberen  Spiegels  über- 
haupt kaum  nach  aussen  zur  Wirkung  kommen ,  so  dass  erstens  die 
abterminale  Phase  der  oberen  Muskelhälfte  meist  gar  nicht  merklich 
ist  und  zweitens  die  obere  Sehne  im  Ganzen  wie  eine  Ableitung  vom 
Längsschnitt  zu  betrachten  ist.  Bei  Ableitung  von  beiden  Sehnen 
sind  in  Folge  dessen  die  Erscheinungen  nicht  wesentlich  anders  als 
bei  Ableitung  von  Bauch-  und  Achillessehne.  Die  erste  absteigende 
Phase  rührt  also  zweifellos  nicht  vom  Achillesspiegel ,  sondern  vom 
Längsschnitt  her,  dagegen  die  zweite  aufsteigende  vom  Achillesspiegel" 
(Hermann).  Mit  Anätzen  des  letzteren 
fällt  die  zweite  Phase  natürlich  weg,  da 
sich  die  Faserenden  dann  ohnedies  negativ 
verhalten.  Im  Tetanus  aber ,  wo  Du 
Bois-Reymond   zuerst   den   stromlosen 


Fig.  121. 


Fig.  122. 


Gastrocnemius  absteigend  wirksam  fand,  muss  dies  natürlich  so  sein, 
da  dann  im  Allgemeinen  nur  die  algebraische  Summe  der  entgegen- 
gesetzten Actionsströme  auftritt.  Diese  aber  ist  wegen  des  Ueber- 
wiegens  der  ersten  absteigenden  Phase  eben  absteigend.  Auf  weitere 
Einzelheiten  in  Betreff  der  elektromotorischen  Wirkungen  des  gereizten 
Gastrocnemius  näher  einzugehen,  liegt  hier  um  so  weniger  Grund  vor, 
als  irgend  welche  neue  theoretische  Gesichtspunkte  sich  dabei  nicht  er- 
geben würden.  Doch  sei  noch  erwähnt,  dass  Matthias  (30)  in  neuester 
Zeit  mittels  des  schon  oben  beschriebenen  Verfahrens,  der  „Rheotachy- 
graphie"  von  Hermann  die  Actionsströme  des  Gastrocnemius  gra- 
phisch dargestellt  hat,  wobei  sich  bei  Ableitung  von  der  Achillessehne 
und  einer  Stelle  in  der  Nähe  des  nervösen  Aequators  doppelgipfelige 
Curven  ergaben,  die  nach  einer  ersten  absteigenden  Phase  eine  zweite 
schwächere,  aufsteigende  erkennen  lassen,  worauf  der  Magnet  mit  ge- 
ringen Abweichungen  zum  Nullpunkt  zurückkehrt  (Fig.  122).  Diese 
Ungleichheit  hat  ihren  Grund  hauptsächlich  in  einer  theilweisen  Super- 
position  der  beiden  Phasen,  indem  die  Erregung  die  obere  Ableitungs- 
stelle noch  nicht  ganz  passirt  hat,  wenn  sie  an  der  unteren  angelangt 
ist.  Noch  complicirter  würde  sich  der  Verlauf  der  elektrischen 
Schwankungscurve  des  Gastrocnemius  bei  Ableitung  von  Mitte  und 


330 


Die  elektromotorischen  Wirkun<jen  der  Muskeln. 


Achillessehne  nach  den  schon  mehrfach  envähnten  Untersuchungen  von 
Lee  (1.  c.)  gestalten,  bei  welchen  an  Stelle  der  trägeren  Bussole  das 
leicht  bewegliche  Capillarelektroraeter  trat;  im  Uebrigen  wurde  auch 
hier  das  Rheotomverfahren  angewendet.  Die  Curve  (Fig.  r23a)  ent- 
spricht einer  dreiphasischen  Schwankung,  deren  beide  negative  Ab- 
schnitte durch  ein  zweigipfeliges,  positives  und  sehr  steiles  Stück  ge- 
trennt erscheinen.  Die  Dauer  des  ganzen  Vorganges  betrug  0,26 
Sek.;  ein  Werth,  der,  wie  schon  erwähnt,  etwa  der  Zuckungs- 
dauer des  Muskels  gleichkommt.  Die  Schwankungswelle  des  Sar- 
torius  (bei  Ableitung  von  Mitte  und  Ende  des  Muskels)  fand  dagegen 
auch  Lee  zweiphasisch,  wobei  ein  merkliches  Decrement  am 
frischen,  unversehrten  Muskel  nicht  bemerkbar  war  und  beide  Ab- 
schnitte ziemlich  symmetrische  Gestalt  zeigten  (Fig.  123  b).  Ist  dagegen 
das  Sehnenende  des  Muskels  auch  nur  in  geringem  Grade  beschädigt, 
so    überwiegt   die    erste  („negative")  Phase,    und   leicht   verschwindet, 


Fig.  123.     a  Dreiphasische  Schwankungscurve  des  M.  gastrocuemius.     b  zweiphasische 

Schwankuugscurve  des  M.  sartorius.     Oben  des  normalen,  unten  des  verletzten  Muskels. 

(Nach  Fr.  S.  Lee.) 

wie  die  untere  Curve  derselben  Figur  zeigt,  die  zweite  ganz.  In  diesem 
Falle  erscheint  die  nunmehr  einsinnige  Schwankung  nicht  merklich 
kürzer  als  früher  beide  Phasen  zusammen ,  M-as  wieder  auf  eine 
Superposition  der  beiden  Componenten  hinweist.  Auch  die  drei- 
phasische  Welle  des  Gastrocnemius  erleidet  bei  fortschreitender  Er- 
müdung oder  Verletzung  des  unteren  Muskelendes  eine  Veränderung 
in  dem  Sinne,  dass  zunächst  der  mittlere  positive  Abschnitt  ver- 
schwindet oder  nur  angedeutet  erscheint.  Im  Uebrigen  bieten  die 
Ermüdungsveränderungen  der  elektrischen  Schwankungscurve  quer- 
gestreifter Muskeln  auch  noch  insofern  ein  besonderes  Interesse,  als 
sie  einen  weiteren  Beleg  für  die  schon  oben  hervorgehobenen  nahen 
Beziehungen  zwischen  dem  Actionsstrom  und  den  Contractionserschei- 
nungen  liefern.  Nach  Lee  ändert  sich  die  Curve  des  ersteren  in 
gleichem  Sinne  wie  die  der  Zuckung,  indem  einerseits  durch  Verklei- 
nerung aller  Ordinaten  die  Höhe  abnimmt,  während  andererseits  der 
zeitliche  Verlauf  ein  gedehnterer  wird. 

Wie    sich    aus   den    bisherigen  Erörterungen    ergiebt,    lassen    sich 
alle  an  freipräparirten  Muskeln    während   der    durch    directe    oder  in- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  331 

directe  Reizung  angeregten  Thätigkeit  zu  beobachtenden  elektro- 
motorischen Wirkungen  mit  grösster  Leichtigkeit  und  ohne  Zuhülfe- 
nahme  weiterer  Hypothesen  aus  der  Hermann'  sehen  Alterationstheorie 
unter  der  einfachen  Voraussetzung  erklären,  dass  erregter  Faser- 
inhalt ganz  ebenso  wie  absterbender  sich  normalem 
bezw.  ruhendem  gegenüber  negativ-elektrisch  verhält. 
Mit  Rücksicht  auf  die  der  Theorie  zu  Grunde  liegenden  Vorstellungen 
erscheint  dies  eigentlich  selbstverständlich,  da  es  sich  ja  in  beiden  Fällen 
um  eine  im  Sinne  H  er  ing 's  „absteigende"  Aenderung  der  lebendigen 
Substanz  handelt,  so  dass  die  Actions-  und  Ruheströme  auf  dieselbe 
Ursache  zurückzuführen  wären,  „insofern  beide  als  das  äussere 
Symptom  einer  verschiedenen  Geschwindigkeit  der  absteigenden 
Aenderung  der  beiden  ableitend  verbundenen  Theile  anzusehen  sind". 
Ein  principieller  Unterschied  zwischen  Actions-  und 
Ruhestrom  existirt  hiernach  ebensowenig  wie  zwischen 
erregter  und  absterbender  Muskelsubstanz.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  ist  auch  die  Frage  gegenstandslos,  ob  man  die 
oben  besprochenen  „Kaliströme"  des  Muskels  als  Actionsströme  auf- 
zufassen habe  oder  nicht.  Der  Umstand,  dass  sie  auch  am  ätherisirten 
Muskel  hervortreten,  kann  ebensowenig  etwas  gegen  die  erstere  Ansicht 
beweisen,  wie  das  Auftreten  des  gewöhnlichen  Demarcationsstromes 
unter  denselben  Bedingungen  für  die  letztere. 

Vom  Standpunkte  der  Molekulartheorie  aus  bieten  namentlich  die 
elektromotorischen  Wirkungen  unversehrter,  an  sich  stromloser  Muskeln 
der  Erklärung  grössere  Schwierigkeiten,  die  sich  nur  durch  die  An- 
nahme gewisser  Hülfshypothesen  beseitigen  lassen.  Von  einer  eingehen- 
deren Erörterung  derselben  darf  hier  um  so  eher  Umgang  genommen 
werden,  als  ihren  Ausgangspunkt  die  Lehre  von  der  Parelektronomie 
bildet,  deren  Unrichtigkeit  zur  Zeit  wohl  kaum  noch  bezweifelt  werden 
dürfte.  Nur  mit  einem  Worte  sei  daher  das  Grundprincip  erwähnt, 
welches  Du  Bois-Reymond  zur  Erklärung  der  negativen  Schwan- 
kung des  Demarcationsstromes  aufstellte.  Dieselbe  beruht  hiernach 
wesentlich  auf  einer  Abnahme  der  elektromotorischen  Kraft  der  „Mo- 
lekeln" oder  der  Herstellung  einer  nach  aussen  schwächer  wirksamen 
Anordnung  derselben.  Auch  Bernstein's  neue  „elektrochemische 
Theorie"  setzt  eine  „Abnahme  der  Ladungen  in  den  Molekülen"  voraus 
und  erklärt  hieraus  die  Negativität  jeder  erregten  Stelle.  „Pflanzt  sich 
die  Reizwelle  zum  Querschnitt  hin  fort,  so  nehmen  auch  bis  zu  diesem 
die  Ladungen  der  Moleküle  ab;  aber  ist  die  Welle  zum  Querschnitt 
gelangt,  so  kann  sie  nicht  einen  Strom  in  umgekehrter  Richtung  er- 
zeugen, etwa  eine  zweite  positive  Phase  der  Schwankung,  weil  die 
Ladungen  der  Moleküle  nach  ihren  Querschnittseiten  hin  immer  die 
gleichen  sind."  Um  die  elektromotorischen  Wirkungen  stromloser 
Muskeln  zu  erklären,  muss  Du  Bois-Reymond  seine  Zuflucht  zu 
der  Hypothese  nehmen,  dass  die  am  natürlichen  Querschnitt  voraus- 
gesetzte parelektronomische  Schicht  oder  Strecke  an  der  negativen 
Schwankung  gar  nicht  oder  nur  in  geringerem  Maasse  theilnehme, 
während  sich  nach  Bernstein  die  unversehrten  Faserenden  wie  jeder 
andere  Längsschnittpunkt  verhalten.  Du  Bois-Reymond  glaubte 
sogar  in  dem  Anbranden  der  Erregungswellen  am  natürlichen  Quer- 
schnitt direct  die  Ursache  der  Parelektronomie  erblicken  zu  dürfen, 
indem  er  die  Ansicht  aussprach ,  dass  dadurch  die  Entwicklung  par- 
elektronomischer  Molekeln  begünstigt  werde. 


332  Die  elektromotorischen  Wirkimg-en  der  Muskeln. 

Es  dürfte  aus  dem  Vorhergehenden  klar  geworden  sein,  dass  sich 
demgegenüber  die  Hermann'sche  Alterationsstheorie  schon  durch  ihre 
unvergleichlich  grössere  Einfachheit  empfiehlt;  nicht  minder  aber  fällt 
der  Umstand  ins  Gewicht,  dass  sie,  wie  im  Folgenden  noch  zu  zeigen 
sein  wird,  auch  solche  elektromotorische  Wirkungen  lebender  Gewebe 
unter  einheitlichen  Gesichtspunkten  zu  behandeln  gestattet,  denen  gegen- 
über sich  die  Molekulartheorie  bisher  als  völlig  ohnmächtig  erwiesen 
hat  (Drüsen-  und  Pflanzenströme).  Sie  erhebt  sich  endlich  über  den 
Rang  einer  bloss  willkürlichen,  den  Thatsachen  angepassten  Hypothese 
durch  eine  Reihe  experimenteller  Erfahrungen,  welche  an  der  Richtig- 
keit der  zu  Grunde  liegenden  Vorstellungen  nicht  zweifeln  lassen. 
Abgesehen  von  allen  schon  ausführlich  besprochenen,  den  „Ruhestrom" 
betreffenden  Erfahrungen,  sowie  den  Beobachtungen  über  die  Actions- 
ströme  der  Muskeln,  wo  sich  die  Altei-ationstheorie  glänzend  bewährte, 
sind  noch  einige  Befunde  zu  erwähnen,  deren  Besprechung  sich  hier 
am  besten  anschliessen  lässt.  Hierhergehört  vor  Allem  das  elektro- 
motorische Verhalten  der  sogenannten  idiomusculären 
Contraction.  Bekanntlich  verlieren  absterbende  Muskeln,  insbe- 
sondere von  Warmblütern,  ihr  Leitungsvermögen  beträchtlich  früher 
als  ihre  Erregbarkeit;  die  contractile  Substanz  gewinnt,  wie  sich 
Funke  ausdrückte,  immer  mehr  die  Eigenschaften  einer  zähen  Masse, 
die  den  local  erhaltenen  Eindruck,  statt  ihn  weiter  zu  leiten,  immer 
dauernder  behält.  Schliesslich  erhält  man  bei  local  beschränkter 
Reizung  überhaupt  nur  eine  locale  Contraction  der  Fasern,  welche 
meist  nicht  mehr  schwindet.  Es  handelt  sich  also  hier  so  zu  sagen 
um  eine  fixirte  Contractionswelle ,  die  sich  über  einen  grösseren  oder 
kleineren  Faserabschnitt  ausdehnt.  Der  localen  Dauercontraction  muss 
aber  auch  eine  örtliche  Dauererregung  entsprechen,  und  diese  ihrer- 
seits bedingt  wieder  Negativität  gegen  normale  Faserstellen.  Czer- 
mak  hat  nun  in  der  That  bereits  im  Jahre  1857,  also  10  Jahre 
vor  Begründung  der  Alterationstheorie,  den  Nachweis  geliefert,  dass 
wenn  man  den  Nerven  eines  Froschpräparates  auf  einen  Muskel  mit 
idiomusculärem  Wulst  fallen  lässt,  so  dass  er  diesen  und  einen  normalen 
Längsschnittpunkt  berührt,  eine  Zuckung  eintritt,  womit  also  bewiesen 
war,  dass  zwischen  dem  Wulst  einer-  und  der  unveränderten 
Oberfläche  andererseits  eine  elektrische  SpannungsdifFerenz  besteht. 
Spätere  Untersuchungen  von  Kühne  und  Harless  haben  nun  in 
der  That  gezeigt,  dass  er  sich  stets  negativ  verhält  gegen  alle  übrigen 
Faserstellen. 

Ich  selbst  hatte  wiederholt  Gelegenheit  (16),  mich  davon  zu  über- 
zeugen, dass  auch  in  der  Continuität  des  Sartorius  vom  Frosch  nega- 
tive Zonen  vorkommen  können,  welche  durch  partielle  Dauercontrac- 
tionen  des  sonst  gänzlich  unversehrten  Muskels  bedingt  werden  und 
unter  Umständen  zu  sehr  kräftigen  Strömen  Anlass  geben.  Wie  man 
leicht  sieht,  kann  hierdurch  unter  Umständen  der  Anschein  erweckt 
werden,  dass  an  den  unversehrten  Faserenden  eine  parelektronomische 
Schicht  von  messbarer  Ausdehnung  (parelektronomische  Strecke)  be- 
steht, da  es  denkbar  erscheint,  dass  in  einem  solchen  Falle  oberfläch- 
liches Anätzen  des  natürlichen  Querschnittes  in  der  Nähe  eines  Sehnen- 
endes den  gesetzmässigcn  Strom  nicht  sofort  hervortreten  lässt,  wenn 
der  abgeleitete  Längsschnittpunkt  sich  in  gleichem  Grade  oder  stärker 
negativ  verhält,  als  der  künstliche  Querschnitt  des  betreffenden  Muskel- 
endes.    Künstlich  lässt  sich  eine  solche  stehende  Contractionswelle  an 


Die  elektromotorischen  Wirkunj^en  der  Muskeln.  333 

einer  beliebigen  Stelle  eines  parallelfaserigen  Muskels  leicht  durch 
örtliche  Einwirkung  einer  Veratrinlösung  erzeugen,  durch  welche  be- 
kanntlich das  Abklingen  der  Erregung  ganz  ausserordentlich  ver- 
zögert wird.  Hermann  erreichte  dasselbe  durch  energische  Ab- 
kühlung des  Muskels.  Wenn  es  endlich  als  Prüfstein  einer  Theorie 
gelten  darf,  dass  sich  neue  Thatsachen  auf  Grund  derselben  vorher- 
sagen lassen,  so  müssen  endlich  auch  die  „secundär-elektromotorischen 
Erscheinungen"  genannt  werden,  deren  Erörterung  später  folgt. 

Als  es  durch  Versuche  an  freipräparirten  Muskeln  sichergestellt 
war,  dass  der  Zustand  der  Thätigkeit  von  galvanometrisch  nachweis- 
baren elektromotorischen  Veränderungen  begleitet  wird ,  war  es  ein 
naheliegender  Wunsch,   dieselben    auch   an    den  unversehrten,    in  situ 


Fig.  124.     Der  Du  Bois'sche  „Willkürversucli".     (Nach  Du  Bois-Rey mond.) 

befindlichen  Muskeln  der  Warmblüter  und  des  Menschen  festzustellen, 
und  Du  Bois-Rey  mond  hat  dieser  Aufgabe  eine  mit  bewunderns- 
werthem  Fleiss  durchgeführte  Untersuchung  gewidmet,  welche  als  ein 
Muster  consequenter,  zielbewusster  Forschung  gelten  muss.  Waren 
seine  Bemühungen,  am  nicht  enthäuteten  Frosch  durch  die  Haut  hin- 
durch Spannungsdifferenzen  im  Sinne  des  „ruhenden  Muskelstromes" 
zu  entdecken,  durch  die  starke  elektromotorische  Wirksamkeit  der 
Haut  selbst  vereitelt  worden,  so  begegneten  dieselben  Versuche  am 
Menschen  nicht  minderen  Schwierigkeiten,  deren  nähere  Erörterung 
hier  unterbleiben  kann,  da  zur  Zeit  ebensowenig  Grund  vorliegt,  den 
menschlichen  Muskeln  während  der  Ruhe  eine  merkliche  elektro- 
motorische Wirksamkeit  zuzuschreiben,  wie  denen  des  Frosches  oder 
irgend  eines  anderen  Thieres,  Dagegen  schienen  Du  Bois-Rey- 
m  0  n  d  '  s  Bemühungen ,  während  der  willkürlichen  Contraction  nach 
aussen   ableitbare    Ströme    nachzuweisen    oder   in    der    Sprache   seiner 


334  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Theorie    die    negative    Schwankung    des    präexistenten   Muskelstromes 
zu    demonstriren ,    in    der   That    von    Erfolg    gekrönt    zu    sein.      Der 
berühmte  Versuch,  um  den  es  sich  hier  handelt,  und  der  seiner  Zeit 
grosses  Aufsehen  hervorrief,  besteht  in  Folgendem.     Ein  oder  mehrere 
Finger  (am  besten  die  Zeigefinger)  jeder  Hand  werden  in  Zuleitungs- 
gefässe  getaucht,    welche   mit   den  Enden  des  Bussol-  bezw.  Multipli- 
catorkreises    in    passender  Weise    verbunden   sind  (Fig.  124).     Ist  der 
Magnet  unter  dem  Einflüsse  des  in  diesem  Falle  meist  genügen  Eigen- 
stromes, der  von  verschiedenen  Ungleichartigkeiten  beider  abgeleiteten 
Hautstellen   herrühren   kann,   zur  Ruhe  gekommen,    und   man  spannt 
nun  die  Muskeln  des  einen  Armes  kräftig  an,  so  entsteht  in  der  Regel 
sofort  ein  Ausschlag   im  Sinne   eines  im  Arme  aufsteigenden  Stromes, 
dessen   elektromotorische   Kraft   nach   späteren   Messungen  von  Her- 
mann    sehr     gering     ist     (0,0014  —  0,0023     Dan.).       Ein     analoges 
Resultat     lässt     sich    auch     bei    Ableitung    von    beiden    Füssen     er- 
zielen.    Für  das  Gelingen  des  Versuches    ist   es    wesentlich,   dass   die 
willkürliche    Muskelaction    eine    möglichst    kräftige    sei.      Du    Bois- 
Reymond  spannte  den  Arm  stets  derart  an,   „dass  die  Muskeln  sich 
hart  wie  Holz  anfühlen,  dass  der  Arm  heftig  erzittert,  und  dass  nach 
einigen  Sekunden  ein  lebhaftes  Gefühl  von  Wärme    im  Arm  verspürt 
wird".      Bisweilen    erwies    sich    auch,     nach    einem    Vorschlag    von 
Mousson,  ein  gleichzeitiges  Zusammenwirken  mehrerer  Personen, 
nach  Art  einer  Säule,  vortheilhaft,  wobei  zwischen  je  zwei  ein  Gefäss 
mit  concentrirter  NaCl-Lösung  angebracht  wurde,  in  welches  jede  der 
beiden  Personen  einen  Finger    taucht   und   dann  gleichzeitig  je  einen 
(gleichnamigen)  Arm  anstrengt.     Alle  so  zu  beobachtenden  galvanischen 
Wirkungen  zeichnen  sich  durch   eine  auffallend  lange  Nachdauer  aus, 
sowie  durch  ihre  Unfähigkeit,  secundäre  Erregung  des  physiologischen 
Rheoskopes    hervorzurufen,    ein    Umstand,    auf  den    wir    später   noch 
zurückkommen  werden,  und  der  seinerseits  gegen  die  Auffassung  D  u 
Bois-Reymond's,  dass  es  sich  hier  um  den  Ausdruck  der  negativen 
Schwankung  des  Muskelstromes  der  menschlichen  Gliedmaassen  handelt, 
durchaus  keinen  begründeten  Einwand   bilden  könnte.     Dagegen  sind 
in  der  Folge    noch  verschiedene   andere  Bedenken   geäussert   worden, 
die  sich  theils  auf  die  Richtung  der  beobachteten  Ströme,    theils  aber 
auf  die    Möglichkeit    beziehen,    jene    auf  Temperaturänderungen    der 
Muskeln  oder  irgendwie   vermittelte  elektromotorische  Wirkungen  der 
Haut  zurückzuführen.     In  ersterer  Beziehung  wurde  auf  den  Wider- 
spruch hingewiesen,    der   darin   liege,    dass  die  Wirkung  bei  der  Zu- 
sammenziehung der  Muskeln  am  Froschbeine  absteigend,  an  den  Armen 
(und   Füssen)    des    Menschen    dagegen    aufsteigend    sein    sollte.      Du 
Bois-Reymond  fand  nun  am  enthäuteten  Unterschenkel  des  Kanin- 
chens thatsächlich  Spannungsdifferenzen    im  Sinne    eines   absteigenden 
„Ruhestromes"     und     constatirte     dementsprechend    eine    aufsteigende 
negative  Schwankung.     Mit  Rücksicht  auf  das,  was  vom  Standpunkte 
der  Hermann'schen  Theorie  über  Ströme  von  Muskelcomplexen ,    wie 
sie  ganze  Extremitäten  darstellen,    gilt,    ist    allerdings  weder  dem  ge- 
nannten Einwände ,    noch   auch   dem   von   Du   Bois-Reymond   ge- 
lieferten   Nachweis   der    entsprechenden    Schwankung    am   Kaninchen- 
unterschenkel   irgendwelche  Bedeutung'  beizumessen.     In   der  von  der 
Pariser  Akademie  zur  Prüfung  des  Du  Bois-Reymond' sehen  Ver- 
suches am  Menschen   eingesetzten  Commission   hat  dagegen  der  ältere 
Bequerel  zuerst  einen  Einwand  gegen  dessen  Deutung  erhoben,  auf 


Die  elektromotorischen  Wirkuno-en  der  Muskel 


335 


P 


den  wir  noch  etwas  näher  eingehen  müssen,  da  er  sich  in  der  Folge 
trotz  des  Widerspruchs  von  Seiten  Du  Bo  is-Reyni  ond's  als  durch- 
aus begründet  erwiesen  hat.  Nach  BequereFs  Meinung  würde  beim 
Avillkürlichen  Tetanus  des  Armes  eine  verstärkte  Hautabsonderung 
am  Finger  stattfinden,  wodurch  die  elektromotorische  Beschaffenheit 
der  Haut  selber  eine  Veränderung  erleiden  könnte. 

In  der  That  zeigte  sich,  als  Du  Bois-Reymond  auf  Wunsch 
Bequerel's  die  beiden  Zeigefinger  seinerHände  erst  dann  indieZuleitungs- 
gefässe  tauchte,  nachdem  der  eine  Arm  willkürlich  angespannt  und 
wieder  erschlafft  war,  „ein  schwacher  Ausschlag  in  derselben  Richtung, 
als  ob  bei  eingetauchtem  Finger  derselbe  Arm  angespannt  worden 
wäre" ;  doch  wurde  dieser  Umstand  auf  die  schon  erwähnte  lange 
Nachwirkung  der  vermeintlichen  negativen  Schwankung  bezogen.  Für 
entscheidend  zu  Gunsten  seiner  Anschauung  hielt  Du  Bois-Rey- 
mond jedoch  vor  Allem  folgenden  Versuch.  Um  örtlichen  Seh  weiss 
hervorzurufen,  wurden  die  Hand  und  der  Unterarm  in  einen  Gutta- 
perchasack gesteckt,  der  unterhalb  des  Ellenbogens  um  den  Arm  zu- 
gebunden wurde.  Darüber  wurde  Hand  und  Unterarm  noch  mit  einer 
wollenen  Decke  umwickelt.  Nach  einiger  Zeit  wurde  dann  die 
schweissbedeckte  Hand  mit  der  nor- 
malen in  bekannter  Weise  galvano- 
metrisch verglichen,  wobei  sich 
herausstellte,  dass  nicht,  wie  es 
nach  Bequerel's  Ansicht  zu  er- 
warten schien,  die  erstere  negativ, 
sondern  umgekehrt  positiv  gegen  die 
letztere  sich  verhielt.  Dass  es  sich 
dem  ungeachtet  bei  dem  Du  Bois- 
R  e  y  m  0  n  d 'sehen  Willkürversuch  um 
nichts  weiter  handelt,  als  um  das  Auf- 
treten eines  Secretionsstromes ,  hat 
erst  viel  später  L.  Hermann  fest- 
gestellt,   dem    wir    auch    den    ersten 

sicheren  Nachweis  wirklicher,  durch  den  Actionsstrom  bedingter 
vanischer  Muskelwirkungen  am  lebenden  menschlichen  Körper  ver- 
danken. Im  Anschluss  an  seine  Untersuchungen  (über  die  Actions- 
ströme)  an  Froschmuskeln  versuchte  es  Hermann  zunächst  an  einer 
einzelnen  passenden  Muskelgruppe,  den  hier  zu  erwartenden  teta- 
nischen  decrementiellen  Actionsstrom  nachzuweisen,  und  wählte  hierzu 
den  Vorderarm,  indem  er  mittels  geeigneter  Elektroden  vom  dicken 
Fleische  und  von  der  Gegend  dicht  über  dem  Handgelenk  ableitete. 
Die  Elektroden  bestanden  aus  dicken  mit  ZnS04  getränkten  Seilen, 
welche  um  die  erwähnten  Stellen  des  Armes  herumgeschlungen  wurden. 
Es  trat  aber  hier  ebensowenig  wie  bei  analogen  Versuchen  am  Ober- 
schenkel der  erwartete  absteigende  Strom  hervor,  sondern  nur  geringe 
und  unregelmässige  Ablenkungen.  Es  schien  daher  durchaus  fraglich, 
ob  es  an  menschlichen  Muskeln  unter  den  bezeichneten  Umständen 
bei  willkürlicher  Erregung  überhaupt  zur  Entwickelung  eines  decre- 
mentiellen Actionsstromes  kommt.  Hermann  wendete  sich  daher, 
und  zwar  mit  um  so  grösserem  Erfolge,  der  Aufgabe  zu,  die  phasi- 
schen Actionsströme  unter  denselben  Bedingungen,  jedoch  bei 
künstlicher  Reizung  vom  Nerven  aus  zu  untersuchen  (27).  Wie  oben 
auseinandergesetzt    wurde,    lässt    sich    mittels    des   Rheotom Verfahrens 


phasische 


Fig.     125.       Doppelsinnig 
Actionsströme  am  menschlichen  Vorder- 
arm.    Rechts  eine  unpolarisirbare  Seil- 
elektrode. 


gal- 


336  -^'6  elektromotorischen  Wirkniigeu  der  Muskeln. 

zwischen  je  zwei  Punkten  eines  unversehrten,  clirect  oder  indirect  ge- 
reizten Muskels  ein  doppelsinniger  Strom  nachweisen,  dessen  erste 
Phase  abnerval,  dessen  zweite  adnerval  gerichtet  ist.  In  Folge  des 
Decrementes  der  Reizwelle  im  ausgeschnittenen  Muskel  erscheint  die 
zweite  Phase  merklich  schwächer  als  die  erste.  Die  Anordnung  des  Ver- 
suches zeigt  die  beistehende  Figur  125  nach  Hermann.  Die  Reize 
müssen  so  stark  sein,  dass  kräftige  Zuckungen  der  Vorderarmmuskeln 
eintreten.  Das  Resultat,  welches  in  dem  Auftreten  eines  zwei- 
p hasischen,  zuerst  absteigenden  (atterminalen),  dann 
aufsteigenden  (abterminalen)  Actionsstromes  besteht, 
war  so  regelmässig,  dass  Hermann  diesen  Versuch  als  einen  der  sicher- 
sten in  der  Elektrophysiologie  bezeichnen  durfte,  „in  welchem  ausnahms- 
weise einmal  der  Mensch  schönere  und  weitergehende  Resultate  giebt,  als 
der  Frosch".  Auch  bei  Ableitung  von  dem  oberen  Theil  der  Vorderarm- 
muskeln in  der  durch  die  Fig.  125  angedeuteten  Weise  liefert  der 
Versuch  das  zu  erwartende  Resultat,  nämlich  im  Sinne  der  eingezeich- 
neten Pfeile  wieder  zuerst  eine  atterminale  (diesmal  aufsteigende),  dann 
eine  ab  terminale  (absteigende)  Phase  des  Actionsstromes.  Der  „nervöse 
Aequator",  d.  h.  derjenige  Muskelquerschnitt,  „in  den  der  gemeinsame 
Schwerpunkt  aller  Nerveneintrittsstellen  fallen  Avürde,  wenn  letztere 
ein  gewisses,  überall  gleiches  Gewicht  hätten",  liegt  am  menschlichen 
Vorderarm  ziemlich  nahe  dem  Ellenbogen.  Bemerkenswerth  ist  die 
annähernde  Gleichheit  beider  Phasen,  Avoraus  zu  schliessen, 
„dass  ein  Decrement  der  Erregungswelle  am  ganz  nor- 
malen, blutdurchströmten  Muskel  nicht  existirt",  woraus 
sich  unmittelbar  erklärt,  dass  es  nicht  gelingt,  beim  Tetanisiren  ohne 
Rheotom  mit  Sicherheit  Actionsströme  nachzuweisen.  Es  kann  daher 
auch  der  bei  willkürlicher  Innervation  von  Du  Bois-Reymond  be- 
obachtete aufsteigende  Arm-  und  Beinstrom  kein  von  den  Muskeln 
herrührender  Actionsstrom  sein.  Dass  es  sich  dabei  im  Sinne  der  ur- 
sprünglichen Vermuthung  Bequerel's  um  einen  durch  die  Thätig- 
keit  der  Hautdrüsen  bedingten  .,Secretionsstrom"  handelt,  haben 
Hermann  und  Luchsinger  in  der  Folge  direct  durch  Versuche 
erwiesen,  auf  welche  noch  näher  einzugehen  sein  wird.  Dass  aber, 
wie  Du  Bois-Reymond  fand,  bei  gleichzeitiger  Ableitung  von  einer 
schwitzenden  und  einer  trockenen  Hand  die  erstere  einen  absteigen- 
den Strom  anzeigt,  kann  nicht  als  ein  entscheidender  Gegengrund  an- 
gesehen werden,  da  es  nicht  sowohl  auf  das  vorhandene  Secret,  als 
vielmehr  auf  den  durch  Nervenreizung  vermittelten  Secretions  vo  r- 
gang  selbst  ankommt.  Wie  die  Bernstein '  sehen  Versuche  über 
die  negative  Schwankung,  beziehungsweise  die  Actionssti'öme  an  Frosch- 
muskeln, so  bieten  auch  die  Untersuchungen  Hermann  '  s  am  Vorder- 
arm des  Menschen  erwünschte  Gelegenheit  zur  Bestimmung  der  Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit der  Erregung  im  normalen  menschlichen  Mus- 
kel. Als  wahrscheinlichster  Werth  derselben  ergaben  sich  10 — 13  m 
in  der  Sekunde. 

Matthias  (30)  ist  es  neuerdings  gelungen,  mittels  des  Hermann'- 
schen  Verfahrens  der  „Rheotachygraphie",  dessen  bereits  oben  gedacht 
wurde,  auch  die  Actionsströme  des  menschlichen  Vorderarmes  graphisch 
darzustellen. 

Es  ist  leicht  ersichtlich,  dass  sich  glattmuskelige  Theile  in  Folge 
des  viel  langsameren  Ablaufs  aller  Erregungserscheinungen  in  vieler 
Hinsicht  besser  zur  Untersuchung    der  Actionssti'öme   eignen    würden. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  337 

als  quergestreifte,  an  denen  derartige  Untersuchungen  bisher  fast 
ausschliesslich  angestellt  wurden.  So  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  bei 
einer  so  langsamen  Fortpflanzung  der  Contractionswelle  wie  etwa 
im  Ureter  des  Kaninchens  die  phasischen  Actionsströme  selbst  ohne 
Zuhülfenahme  der  Repetitionsmethode  unmittelbar  an  einer  empfind- 
lichen Bussole  nachweisbar  sein  würden.  Leider  ist  aber  die  Zahl 
der  eventuell  brauchbaren  Objecte  eine  äusserst  beschränkte ,  ins- 
besondere desshalb,  weil  eine  örtlich  ausgelöste  Erregung  bei  den 
meisten  glattmuskeligen  Organen  local  beschränkt  bleibt  und  sich  nicht 
fortpflanzt.  Dagegen  bildet  der  Herzmuskel,  dessen  physiologische 
Eigenschaften  ihm  gewissermaassen  eine  Mittelstellung  zwischen  quer- 
gestreiften Skeletmuskeln  und  glatten  Muskelzellen  verschafi'en  ein 
ausserordentlich  geeignetes  Object  zur  Untersuchung  der  galvanischen 
Erscheinungen.  Schon  im  Jahre  1855  beobachteten  Kölliker  und 
H.  Müller  (31)  die  negative  Schwankung  bei  der  spontanen  Con- 
traction  eines  mit  künstlichem  Querschnitt  versehenen  Froschherzens 
mittels  des  Multiplicators  und  entdeckten  bald  darauf,  dass  auch 
secundäre  Zuckung  vom  gleichen  Pi-äparat  aus  zu  erhalten  ist,  wenn 
der  Nerv  eines  stromprUfenden  Froschschenkels  in  geeigneter  Weise 
über  Längsschnitt  und  Querschnitt  gebrückt  wird.  Bei  jeder  Systole 
erfolgte  eine  Zuckung  des  Schenkels,  und  zwar  derart,  dass  sie  sich 
immer  nach  der  Systole  der  Vorkammern  und  um  ein  kaum  merk- 
liches Zeitmoment  vor  der  Systole  der  Kammern  einstellte.  „Die 
Zuckung  am  stromprüfenden  Schenkel  trat  bald  am  Unterschenkel, 
bald  am  Tarsus  und  den  Zehen  ein  und  war  immer  sehr  deutlich  als 
einmalige  vorübergehende  Contraction."  (1.  c,  p.  99.) 

Später  stellte  sich  dann  heraus,  dass  derselbe  Versuch  auch  am 
gänzlich  unversehrten  Herzen  von  Erfolg  begleitet  ist  und  selbst 
bei  querer  Lagerung  des  secundären  Nerven  über  der  Mitte  der 
vorderen  Fläche  der  Kammer  gelingt.  Da,  wie  früher  mitgetheilt 
wurde,  die  Oberfläche  des  unversehrten  Herzens  isoelektrisch  ist,  so 
beweist  auch  wieder  die  zuletzt  erwähnte  Beobachtung  am  stromlosen 
Herzmuskel,  dass  die  von  Du  Bois-Reymond  seiner  Zeit  vertretene 
Deutung  der  secundären  Zuckung  als  einer  Folgeerscheinung  negativer 
Schwankung  nicht  richtig  sein  kann,  sondern  dass  die  mit  der  Thätig- 
keit  des  Muskels  verknüpften  elektromotorischen  Wirkungen  (Actions- 
ströme) als  auslösender  Reiz  auf  den  anliegenden  Nerven  gewirkt  haben 
müssen.  Die  von  Kölliker  und  Müller  entdeckten  Thatsachen 
wurden  später  von  Meissner  und  Cohn  bestätigt  und  erweitert  (32). 
Donders  (33)  wiederholte  dann  die  Versuche  über  secundäre  Er- 
regung vom  Herzen  aus  unter  Anwendung  der  graphischen  Methode. 
Er  verzeichnete  bei  Kaninchen  und  Hunden  gleichzeitig  die  Herz- 
schläge und  die  Contractionen  eines  stromprüfenden  Froschschenkels, 
dessen  Nerv  auf  dem  Herzen  ruhte.  Es  zeigte  sich,  dass  in  der  Regel 
jede  Systole  eine  einfache  Zuckung  des  Schenkels  auslöste.  Aus- 
nahmsweise sah  Donders,  wie  vordem  schon  Kölliker  und  Müller, 
die  einfache  Systole  von  einer  secundären  Doppel  zuckung  gefolgt. 
Stets  Hess  sich  auch  hier  nachweisen,  dass  die  secundäre  Zuck- 
ung merklich  früher  eintrat,  als  dieprimäre  Contraction 
des  Herzens  (beim  Kaninchen  um  etwa  Vio  Sekunde).  Bei  einem 
eben  getödteten  Hunde,  dessen  rechter  Vorhof  noch  schwach  schlug, 
betrug  die  Zeitdifi'erenz  sogar  Vit  Sekunde.  Dieselbe  Thatsache  con- 
statirte    auch    wieder  Nuel    am   Froschherzen.     Beim  Hunde  konnte 

Bieder mauu,  Elektrophysiologie.  22 


338 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


er  mit  Hülfe  des  physiologischen  Rheoskops  nachweisen,  dass  die  Zu- 
sammenziehung des  Vorhofes  ganz  ebenso  von  einer  elektromotorischen 
Schwankung  begleitet  ist,  wie  die  des  Ventrikels,  und  dass  der  Zeit- 
unterschied zwischen  den  beiden  elektromotorischen  Vorgängen  dem  der 
Contraction  beider  Herzabschnitte  ganz  entspricht. 

Um  den  zeitlichen  Verlauf  und  die  Form  der  die  Thätigkeit  des  Herz- 
muskels begleitenden,  elektromotorischen  Schwankung  (der  „Reizwelle") 
genauer  festzustellen,  unternahmen  fast  gleichzeitig  Enge  Imann  (34) 
und  M  ar  chand  (35)  Versuche  am  Froschherzen  mittels  des  Bernstein- 
schen  Rheotoms.  Der  durch  Abtrennung  vom  Vorhof  ruhig  gestellte 
Ventrikel  wurde  entweder  an  der  Basis  oder  an  der  Spitze  mit  je 
einem  einzelnen  Inductionsschlag  gereizt;  wie  nun  auch  die  Lage  der 
abgeleiteten  Strecke  auf  der  Kammeroberfläche  gelegen  sein  mochte, 
wie  immer  ihre  Länge  und  ihr  Abstand  vom  Reizorte  verändert  wurde, 
stets  trat  als  erster  Erfolg  ein  im  Herzen  vom  Orte  des 
Reizes  weg  gerichteter  Strom  auf.  Zum  Nachweis  dieser 
Thatsache  ist  übrigens  das  Rheotom  gar  nicht  nöthig.  Der  Galvano- 
meterkreis kann  dauernd  geschlossen  bleiben;  bei  genügender  Länge 
der  abgeleiteten  Strecke  sieht  man  dann  schon  bei  massiger  Eraplind- 

lichkeit  der  Bussole  jedes  Mal  als 
erste  Wirkung  des  Reizes  eine  Ab- 
lenkung des  Scalenbildes  in  dem 
angegebenen  Sinne.  Es  folgt  hieraus 
zunächst ,  dass  jeder  Theil  des 
Kammermuskels  während 
der Erregung  vorübergehend 

negativ  -  elektromotorisch 
wirksam  wird  und  dass  diese 
Negativität  sich  (wie  auch  die 
Contraction  nach  Engelmann 's 
Untersuchung)  vom  Orte  der 
Reizung,  gleichviel,  wo  dieser 
gelegen  ist,  nach  allen  Rich- 
tungen durch  die  Kammer 
fortpflanzt.  Mittels  des  Rheo- 
toms Hess  sich  nun  weiter  feststellen,  dass  bei  Ableitung  der  äusseren 
Kammeroberfläche  von  zwei  in  der  Ruhe  unwirksamen,  ungleich  weit 
vom  Orte  der  Reizung  entfernten  Stellen  das  elektromotorische 
Verhalten  des  Herzens  in  der  Regel  vollständig  dem  eines 
parallel  faserigen,  gewöhnlichen,  quergestreiften,  von 
zwei  Längsschnittpunkten  abgeleiteten  Muskels  ent- 
spricht, indem  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  eine  doppelsinnige 
Schwankung  auftritt,  und  zwar  derart,  dass  die  dem  Reizorte 
näher  gelegeneStelle  zunächstnegativ  unddann  positiv 
gegen  die  entferntere  wird  (Fig.  126).  In  einer  nicht  geringen 
Zahl  von  Fällen  fehlte  jedoch  die  zweite  (positive)  Phase,  und  stellte  sich 
entweder  der  anfängliche  indiff"erente  Zustand  wieder  her,  oder  es  hinter- 
blieb eine  schwache  Nachwirkung  im  Sinne  einer  Negativität  der  dem 
Reizorte  näheren  Stelle,  die  unter  allen  Umständen  zuer  st 
negativ-wirksam  wird.  Das  Fehlen  der  zweiten  Phase  in  den 
zuletzt  erwähnten  Fällen  würde  sich  unter  der  Voraussetzung  er- 
klären lassen,  dass  die  beiden  Schwankungen  zeitlich  zu  nahe  bei- 
sammenlagen, um  sich  deutlich  sondern  zu  können.   Denn  bei  kurzer  ab- 


Fig.  126.  Doppelsinnige  Schwankung 
am  Ventrikel  des  Froschherzens  (Rheo- 
tomversuch).  N  negative,  P  positive 
Phase.  Die  Zeit  (in  Vio  Sek.)  ist  vom 
Momente  der  Keizung  gerechnet.  (Nach 
Engelmann.) 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  339 

geleiteter  Strecke  und  normaler  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  kann  die 
Negativitätswelle,  wie  leicht  ersichtlich,  an  der  zweiten  Elektrode  schon 
anlangen,  bevor  an  der  ersten  der  Gipfel  der  Negativität  noch  erreicht 
ist.  Im  Einzelnen  ergiebt  sich  aus  Engel  mann 's  Versuchen  be- 
züglich des  zeitlichen  Verlaufs  der  Schwankung,  dass  dieselbe  am 
Orte  der  Reizung  anscheinend  sofort  nach  Eintreffen 
des  Reizes,  also  ohne  merkliche  Latenz  beginnt.  Das 
Stadium  der  steigenden  Negativität  hat  durchschnittlich  eine 
Dauer  von  etwa  0,09  Sekunde,  so  dass,  da  der  Beginn  der  Con- 
traction  nach  Engelmann 's  Messungen  beim  Froschherzen  sicher 
nicht  früher  als  nach  0,1  Sekunde  anhebt,  das  Maximum  der  Nega- 
tivität, wie  auch  schon  aus  früher  erwähnten  Thatsachen  hervorgeht, 
sicher  vor  Anfang  der  Zuckung  fällt. 

Bemerkenswerth  ist  das  conti  nuirliche  und  ziemlich 
geradlinige  Ansteigen  der  Negativität,  da  es  neuer- 
dings beweist,  dass  die  Systole  eine  einfache  Zuckung 
und  nicht  ein  Tetanus  ist.  Gegentheilige  Beobachtungen 
hat  Fredericq  am  Hundeherzen  gemacht.  Das  Stadium 
sinkender  Negativität  zeigt  im  Allgemeinen  eine  erheblich 
längere  Dauer  und  einen  verwickeiteren  Verlauf  der  Schwankungs- 
curve.  Kommt  es  wie  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  zur  Stromumkehr, 
so  eilt  die  Kraft  durchschnittlich  in  ziemlich  geradem  Laufe  vom 
Maximum  der  Negativität  aus  dem  Maximum  der  Positivität  zu,  um 
von  diesem  allmählich  auf  Null  zu  sinken.  Die  Gesammtdauer 
der  Schwankung  hängt  von  vielen  Umständen  ab.  Bei  doppel- 
sinniger Schwankung  fand  sie  Engelmann  im  Mittel  zu  0,436,  bei 
einfacher  zu  0,211  Sekunde.  Die  örtliche  Dauer  der  negativ  elektro- 
motorischen Wirksamkeit  wird  hiernach  durchschnittlich  auf  wenigstens 
0,2  Sekunde  veranschlagt  werden  dürfen.  In  Bezug  auf  die  absolute 
Grösse  der  elektromotorischen  Kraft  der  Erregungsschwankung  kann 
zunächst  soviel  mit  Sicherheit  gesagt  werden,  dass  sie  von  einer  Ord- 
nung mit  der  künstlicher  Querschnitte  ist.  Bei  Ableitung  von  natür- 
lichem Längsschnitt  und  ganz  f r  i  s  c  h  hergestelltem,  nicht  zu  kleinem 
künstlichen  Querschnitt  beobachtet  man  niemals  eine  Stromumkehr 
in  Folge  der  Reizung,  sondern  nur  Schwächung  und  höchstens  gänz- 
liches Verschwinden ;  dagegen  tritt  Umkehr  bei  gesunkener  manifester 
Kraft  sehr  gewöhnlich  ein,  und  zwar  um  so  auffälliger,  je  tiefer  die 
Kraft  gesunken  ist.  Die  Geschwindigkeit,  mit  welcher  die  Nega- 
tivitätswelle  durch  das  Herz  läuft,  beträgt  nach  Engelmann  etwa 
20  bis  40  mm;  doch  dürfte  dieselbe  vor  dem  Herausschneiden  des 
Herzens  wesentlich  grösser  sein  und  hängt  ausserdem  in  hohem  Grade 
von  der  Temperatur  ab.  Bei  Reizung  des  Ventrikels  von 
den  Vorkammern  aus  und  in  der  Ruhe  unwirksamer  Ableitung 
der  Kammer  von  Basis  und  Spitze  wird  zunächst  die  Basis 
negativ,  darauf  —  wenigstens  häufig  —  positiv  wirksam 
gegen  die  Spitze.  Dies  zeigt  sich  sowohl  bei  spontan  klopfendem 
Herzen  als  bei  künstlicher  Erregung  des  Vorhofes.  Da  die  Negativität 
der  Basis  erst  nach  Ablauf  der  Vorhofcontraction  anhebt,  kann  sie 
nicht  auf  Erregung  des  Vorhofes  bezogen  werden,  wogegen  auch  die 
erhebliche  Grösse  der  Wirkung,  im  Gegensatz  zu  der  höchst  ge- 
ringen bei  directer  Ableitung  von  den  Atrien,  spricht.  Man  muss 
demnach  annehmen,  dass  die  Erregung  des  Ventrikels  unter 
normalen  Verhältnissen  an  der  Basis  beginnt. 

22* 


340 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


Von  den  Resultaten  Engelmann's  und  Marchand's  weichen 
jene  nicht  unerheblich  ab ,  welche  mittels  der  gleichen  Methode 
(Rheotom)  B.-Sanderson  und  Page  am  Froschherzen  erhielten  (36), 
indem  sie  die  Actionsströme  des  vom  Vorhof  durch  eine  Ligatur 
getrennten  und  mit  einzelnen  Inductionsschlägen  gereizten  Ventrikels 
mittels  eines  (besonders  hierzu  construirten)  Rheotoms  untersuchten. 
Auch  bei  diesen  Versuchen  zeigte  sich,  dass  jede  erregte  Stelle 
des  Herzmuskels  sich  negativ  verhält  zu  jeder  nicht 
erregten  und  dass  sich  der  Vorgang  der  Erregung  (bezw.  die  Ne- 
gativität)  vom  Reizorte  aus  nach  allen  Seiten  hin  gleichmässig  ver- 
breitet, und  zwar  mit  einer  erheblich  grösseren  Geschwindigkeit,  als 
Engelmann  angenommen  hatte.     Nach  den  Messungen  von  B. -San- 


Fig.  127.  b  Schematische  Darstellung  der  elektrischen  Schwan- 
kung bei  einer  künstlich  hervorgerufenen  Herzcontraction.  (Nach 
B.-Sanderson  nnd  Page.)  Die  ausgezogene  Linie  entspricht 
dem  Verlauf  der  Negativität  an  der  dem  Reizorte  näher  ge- 
legeneu Elektrode.  Die  punktirte  Curve  dagegen  der  Negativi- 
tät an  der  davon  entfernten  Ableitiingsstelle.  Die  mittlere  Linie 
markirt  die  Zeit  in  '/lo  Sek.  /  'N  entspricht  der  negativen, 
VF  der   positiven  Schwankung   am  Rheotom   von  Bernstein. 


l 


derson  und  Page  beträgt  nämlich  die  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit der  Negativitätswelle  im  Froschherzen  bei  etwa  12*^  C.  125  mm  in 
der  Sekunde,  während  Engelmann  nur  20 — 40  mm  fand.  An  jedem 
Punkte  des  Ventrikels  erreicht  die  Negativität  rasch  eine  gewisse 
Höhe,  auf  der  sie  sich  dann  verhältnissmässig  lange  (mehr  als 
1  Sekunde)  gleichmässig  erhält,  um  hierauf  langsamer  wieder  ab- 
zusinken. Die  Gesammtdauer  der  örtlichen  Negativität  beträgt  bei 
+  IS^C.  1,6"  bei  +  12«  C.  2,1"  (nach  Engelmann  im  Mittel  0,2"). 
Es  sind  dies  Zeitwerthe,  welche  ziemlich  genau  der 
Contractionsdauer  des  Herzmuskels  entsprechen.  Wie 
man  leicht  sieht,  steht  diese  Thatsache  in  vollkommener  Ueberein- 
stimmung  mit  der  (Hermann'schen)  Theorie,  der  zu  Folge  ein  Muskel- 
punkt so  lange  negativ  bleiben  muss,  als  der  Erregungs-  (bezw.  Con- 
tractions-)  Vorgang  dauert.  Man  darf  demnach  erwarten, 
dass  die  Oberfläche  des  Ve ntrikels  während  der  Dauer 
der    systolischen    Contraction    isoelektrisch    sein    wird. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


341 


wie  es  thatsächlich  nach  den  Versuchen  von  B. -Sanderson  und 
Page  der  Fall  ist.  Nehmen  wir  an,  es  sei  in  beistehender  Fig.  127« 
X  die  gereizte  Stelle,  f  und  m  die  beiden  abgeleiteten  Ventrikel- 
punkte, so  erfolgt  nach  jeder  Reizung  eine  sehr  rasch  verlaufende 
(nur  wenige  Hundertel  einer  Sekunde  betragende)  elektrische  Schwan- 
kung im  Sinne  eines  vom  Reizorte  weggerichteten  Stromes,  die  von 
einer  längeren  (1 — 2")  Periode  gefolgt  ist,  während  deren  die  Bussole 
keinen  Strom  anzeigt;  darauf  folgt  eine  entgegengesetzte  Phase  der 
Ablenkung  (positive  Schwankung),  welche  viel  schwächer  ist  und 
länger  dauert,  als  die  anfängliche  „negative"  Schwankung.  Das  Inter- 
vall, welches  beide  Phasen  trennt,  entspricht  genau  der  Dauer  der 
Ventrikelcontraction,  so  dass  der  eine  (negative)  phasische  Actions- 
strom  den  Beginn ,  der  andere  (positive)  das  Ende  der  Erregung 
(Contraction)  des  Muskels  markirt.  OflPenbar  entspricht  die  erste 
Phase  des  Actionsstromes  der  (sehr  kurzen)  Zeit,  während  welcher 
die    Negativitätswelle    sich    bereits    an    der    dem    Reizorte    zunächst- 


Fig.   128.     b  Capillarelektrometer  nach  L.  Fredericq. 


gelegenen  Ableitungsstelle  befindet,  aber  die  davon  entferntere  noch 
nicht  erreicht  hat.  Das  darauffolgende  Stadium  der  Stromlosigkeit 
(und  scheinbarer  Ruhe)  entspricht  der  Periode,  während  welcher  beide 
abgeleiteten  Stellen  sich  im  Maximum  der  Negativität  (Erregung)  be- 
finden. Die  positive  Phase  am  Ende  entspricht  dem  Zeitmomente, 
wo  die  Negativität  an  der  dem  Reizorte  zunächstgelegenen  Ableitungs- 
stelle bereits  abnimmt,  an  der  davon  entfernteren  aber  noch  unge- 
schwächt fortdauert. 

Figur  127  ^  giebt  eine  graphische  Darstellung  des  zeitlichen  Ver- 
laufs der  Reizwelle  im  Ventrikel  des  Froschherzens.  So  leicht 
es  ist,  mit  Hülfe  der  modernen,  empfindlichen  Galvanometer,  die 
von  der  durch  die  spontane  oder  durch  künstliche  Reizung  bewirkten 
rhythmischen  Thätigkeit  des  Herzens  erzeugten  Spannungsdifferenzen 
nachzuweisen,  so  bietet  doch  eine  andere,  in  neuester  Zeit  vielbenützte 
Methode  der  Untersuchung  noch  wesentliche  Vorzüge.  Es  ist  dies 
die  Untersuchung  mit  dem  Capillarelektrometer.  Dieses  be- 
reits vor  längerer  Zeit  von  Lippmann  angegebene,  aber  erst  viel 
später  von  Physiologen  benützte  Instrument  besteht  im  Wesentlichen 
aus  einem  in  eine  feine  Capillare  ausgezogenen  Glasrohr  (Fig.  128  a  und 


342 


Die  elekti-omotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


b,  Ä),  dessen  offene  Spitze  in  ein  mit  verdünnter  Schwefelsäure  ge- 
fülltes Gefäss  (B)  taucht;  auf  dem  Boden  dieses  letzteren  wie  in  dem 
Capillarrohr  selbst  befindet  sich  Q.uecksilber.  Der  Stand  des  Me- 
niscus im  Capillarrohr  wird  mit  dem  Mikroskop  beobachtet.  Tritt 
ein  Strom  in  der  einen  oder  andern  Richtung  in  die  Capillare  ein, 
so  erfolgt  durch  Oberflächenpolarisation  eine  Veränderung  der  Capil- 
laritätsconstante  und  dementsprechend  eine  Verschiebung  des  Queck- 
silbermeniscus.  Selbst  ausserordentlich  schnellen  Schwankungen  des 
Stromes  vermag  die  Quecksilberkuppe  in  der  Capillare  noch  zu  folgen ; 
ganz  besonders  aber  erscheint  das  Instrument  geeignet,  die  Actions- 
ströme  des  Herzens  zu  untersuchen. 

Marey  (37)  benützte  dieses  Instrument  zuerst  zu  dem  Zwecke, 
die  elektrische  Phänomene,  welche  die  Systole  des  Herzens  begleiten, 
festzustellen.  Er  fand,  dass  bei  Ableitung  vom  Ventrikel  des  Frosches 
oder  irgend  eines  anderen  Thieres  das  Elektrometer  bei  jeder  Systole 
eine  einfache  Oscillation  zeigt.  Wenn  man  das  ganze  Herz  mit 
demselben  in  Verbindung  bringt,  so  sieht  man  zwei  Oscillationen  der 
Quecksilbersäule.      Die    eine    bezieht    Marey    auf    die    Systole    der 


Fig.  129.  Photographische 
Darstellung  der  Actions- 
ströme  des  Herzens  a  vom 
Frosch ,  b  von  der  Schild- 
kröte. Die  Zeitnaarken  ent- 
sprechen Sekunden.  (Nach 
Marey.) 


Vorhöfe,  die  andere  auf  die  des  Ventrikels.  Es  gelang  Marey 
auch ,  diese  Bewegungen  zu  fixiren ,  indem  er  das  Bild  der  Queck- 
silberkuppe auf  einer  sehr  lichtempfindlichen  und  mit  gleichmässiger 
Geschwindigkeit  bewegten  Platte  photographirte.  Marey  schliesst 
aus  diesen  Versuchen,  dass  mit  jeder  Systole  nur  eine  einfache 
Stromesschwankung  ablaufe  (Fig.  1 29  a  und  h).  B.  S  a  n  d  e  r  s  o  n  und 
Page  haben  sich  dieses  Hülfsmittels  bedient,  um  ihre  Rheotomver- 
suche  zu  controlHren  und  zu  ergänzen.  In  der  That  stellte  sich  nun 
eine  weitgehende  lieber einstimmung  der  auf  Grund  der 
Rheotomversuche  „theoretisch  construirten"  Sc h wan- 
kung scurve  des  an  einer  Stelle  gereizten  Ventrikels 
des  Froschherzens  mit  jener  heraus,  welche  die  Queck- 
silbersäule des  Capillarelektrometers  auf  das  licht- 
empfindliche Papier  zeichnete.  Dies  ergiebt  sich  unmittel- 
bar aus  der  Vergleichung  der  beiden  Figg.  127  &  und  130«.  Man  er- 
kennt an  dem  Photogramm,  dass  der  erste  „phasische  Actionsstrom" 
der  Erregung  nach  einem  sehr  kurzen  Intervall  folgt,  indem  die 
Herzspitze  sehr  rasch  und  für  äusserst  kurze  Zeit  sich  positiv  zur 
Basis  des  Ventrikels  verhält,  worauf  ein  längeres  Intervall  folgt, 
während    dessen    das    Elektrometer    keine    Ablenkung    zeigt;    daran 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskelr 


343 


schliesst  sich  unmittelbar  die  etwas  längere  zweite  (positive)  Phase 
des  Actionsstromes,  Avobei  die  Spitze  negativ  zur  Basis  sich  verhält. 
Bei  Verletzung  des  Ventrikels  an  einer  der  beiden  Ableitungsstellen 
fällt  natürlich  die  eine  Phase  weg,  die  Schwankung  wird  monopha- 
siscli  (Fig.  130  &)  und  rein  negativ.  Aehnliche  Photographien  vom 
spontan  schlagenden  Herzen  sind  auch  noch  von  andern  Forschern 
veröffentlicht  worden,  und  es  möge  hier  noch  eine  solche  Figur  von 
Waller  raitgetheilt  sein,  die  auf  den  ersten  Blick  sehr  verschieden, 
doch    im   Wesentlichen    mit    den  Ergebnissen   von    Sanderson   und 


h 

Fig.  130.  a  Photographische  Darstellung  der  Actionsströme  des  Froschherzens  bei 
künstlicher  Reizung  (wie  in  Fig.  127  «).  Die  Unterbreeiiungen  der  dunklen  Linie 
markiren  die  Reizmomente,  ö  Photographische  Darstellung  des  Actionsstromes  nach 
Verletzung  der  Spitze  des  Ventrikels.  Die  Schwankung  wird  dadurch  monophasisch. 
(Nach  Burdon-Sanderson  und  Page.) 

Page  übereinstimmt  (Fig.  131).  Es  handelt  sich  dabei  um  eine  gleich- 
zeitige Verzeichnung  der  Contractionscurve  h  h  und  der  durch  den 
Actionsstrom  des  spontan  schlagenden  Froschventrikels  bedingten  Aus- 
schläge des  Capillarelektrometers  c  e.  Man  sieht,  dass  die  erste  Phase 
des  Actionsstromes  merklich  früher  beginnt,  als  die  Contraction,  dass 
das  Maximum  der  Spannungsdifferenz  zwischen  Basis  und  Spitze  ent- 
sprechend Negativität  der  ersteren  (Herabgehen  der  Hg-Kuppe)  lange 
vor  dem  Maximum  der  Contraction  erreicht  wird,  worauf  dann  als 
zweite  Phase  ein  umgekehrter  Strom  entsteht,  indem  die^^  Spitze 
negativ  gegen   die  Basis  wird.     In  Fig.  131    bezeichnet  t   die  Zeit  in 


344 


Die  elektromotorischen  Wirkungfen  der  Muskeln. 


V20  Sekunden.  Das  Capillarelektrometer  war  mit  der  Basis  und  Spitze 
der  Herzkammer  so  verbunden,  dass  sein  Ausschlag  nach  unten  ge- 
richtet war,    wenn    die  Basis   negativ    elektrisch  gegen  die  Spitze  ist. 


Fig.  132. 


Fig.  131. 


Fig.  131.     Zuckungscurve  (h)  nnd  Actionsstror 

(e)  des  spontan  schlagenden  Froschherzens. 

(Nach  Waller.) 


Fig.  132.  Photographische  Darstellung  der 
Actionsströme  des  Säugethierherzens  mit  dem 
Capillarelektrometer  untersucht.  1  Spontaner 
Herzschlag;  die  erste  Phase  entspricht  Nega- 
tivität  der  Spitze  gegen  die  Basis,  die  zweite 
dem  umgekehrten  Verhalten.  2  Nach  Ver- 
letzung der  Spitze  des  Ventrikels.  3  Nach 
Verletzung  der  Basis  des  Ventrikels.  4  Reiz- 
erfolg bei  künstlicher  Erregung  der  Spitze. 
5  Eeizerfolg  bei  künstlicher  Erregung  der 
Basis.     (Nach  A.  D.  Waller.) 


das     Froschherz     verhält      sich     auch     das 
und    nach   den   Untersuchungen    von  August 


Ganz     analog     wie 
Schildkröten  herz 

Waller    und    Reid    (39)    das    Herz    der    Warmblüter    (Säuge 
thiere).      Bei    künstlicher  Reizung    des    ausgeschnittenen,    bereits    zur 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


345 


Ruhe  gelangten  Ventrikels  verhält  sich  dann  wieder  von  den  zwei 
Ableitungsstellen  die  dem  Reizorte  näher  gelegene  zunächst  negativ 
und  unmittelbar  darauf  positiv  zu  der  entfernteren,  und  es  entsteht 
daher  gerade  wie  beim  Froschherzen  unter  gleichen  Verhältnissen 
eine  doppelsinnige  Schwankung  in  Folge  der  beiden  phasischen 
Actionsströme.  In  Folge  der  wesentlich  grösseren  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit der  Erregung  im  Herzen  der  Warmblüter  und  der 
Kürze  der  Contractionsdauer  gehen  jedoch  die  beiden  Phasen  ähnlich 
wie  beim  quergestreiften  Skeletmuskel    unmittelbar   in    einander   über. 


^-"^N 


N 


/    t T- 


\ 


(       1 


-       // 


Fig.  133.     Schematische   Darstellung    der    durch   die   Actionsströme    des    menschlichen 
Herzens  bedingten  Spannungsvertheilung  (Stromcurven).     (Nach  A.  D.  Waller.) 


Fig.  132,  welche  Photogramme  der  Ausschläge  des  Capillarelektro- 
meters  von  einem  normal  schlagenden  und  einem  künstlich  gereizten 
Säugethierherzen  darstellt,  lässt  deutlich  erkennen,  dass  jeder  Phase 
eine  einfache  Schwankung  im  Sinne  einer  einzelnen  Erregungs- 
welle entspricht.  Auch  bei  der  spontanen  Thätigkeit  des  Säugethier- 
herzens  lässt  das  Capillarelektrometer  bei  Ableitung  von  zwei  Punkten 
des  Ventrikels  (Basis  und  Spitze)  normaler  Weise  eine  doppelsinnige 
Schwankung  erkennen.  Während  aber  in  diesem  Falle  beim  Frosch- 
herzen stets  zuerst  die  Basis  negativ  wird,  entsprechend  der 
unveränderlich  von  der  Basis  zur  Spitze   fortschreitenden  Reiz-   bezw. 


346 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


Contractiotiswelle,  scheint  dieses  zwar  auch  beim  Warmblüterherzen 
die  Regel  zu  sein,  wie  besonders  neuere  Versuche  von  Bayliss  und 
Starling  (40)  zeigen,  doch  kommen  angeblich  Ausnahmen  vor,  indem 
entweder  umgekehrt  die  Spitze  früher  negativ  wird  als  die  Basis,  ein 
Verhalten,  das  Waller  (1.  c.)  für  das  normale  hielt,  oder  überhaupt 
nur  eine  einsinnige  Schwankung  auftritt.  In  diesem  letzteren  Falle 
dürfte  es  sich  wohl  meist  um  eine  Schädigung  der  einen  Ableitungs- 
stelle durch  Verletzung  etc.  handeln.  Bayliss  und  Starling  (1.  c.) 
geben  an,  dass  es  gelingt,  willkürlich  durch  ungleichmässige  Erwär- 
mung bezw.  Abkühlung  des  Ventrikels  am  spontan  schlagenden  Hunde- 


Fig.  134.  Schema  der 
durch  die  Actionsströme 
des  Herzens  bedingten 
Spannungsvertheilung 
an  der  Körperoberfläche 
beim  Menschen  und  beim 
Hunde.  Die  dunkler  ge- 
haltenen Partieen  ent- 
sprechen Ableitung  von 
der  Herzspitze,  die  hel- 
leren Ableitung  von  der 

Basis. 
(Nach  A.   D.   Waller.) 


herzen  die  Richtung  der  beiden  zusammengehörigen  phasischen  Actions- 
ströme umzukehren.  Es  genügte  hierzu  schon  Erwärmung  bezw.  Ab- 
kühlung der  Inspirationsluft. 

Mittels  des  Capillarelektrometers  gelingt  es,  die  phasischen 
Actionsströme  des  Herzens  auch  am  unversehrten  Körper  eines 
Thieres  oder  des  Menschen  nachzuweisen  ,  indem  man  entweder  bei 
Thieren  zwei  dünne  Nadelelektroden  durch  die  Brustwandung  in  den 
Ventrikel  stösst  und  diese  mit  dem  Gapillarelektrometer  verbindet  oder 
von  verschiedenen  Punkten  der  Körperoberfläche  ableitet  (41).  Ab- 
leitung vom  Munde  entspricht  in  diesem  Falle  der  Ableitung  von  der 
Basis,  Ableitung  vom  Rectum  oder  einer  Hinter- (Unter-) Extremität 
der  Ableitung  von  der  Spitze  des  Herzens.  Ausserdem  erwiesen  sich 
noch  folgende  Combinationen  von  Ableitungsstellen  als  günstig  (beim 
Menschen)  (vergl.  Figg.  1 33  und  134): 


Die  elektromotorischen  Wirkunoren  der  Muskeln. 


347 


linke  Hand  und  rechte  Hand 
rechte  Hand  und  linker  Fuss 
Mund  und  linke  Hand  }    Fig.  134. 

„       und  rechter  Fuss 

„       und  linker  Fuss 

Ungünstig  verhielten  sich: 

linke  Hand  und  linker  Fuss 

„  „       und  rechter    „ 

rechter  Fuss  und  linker    „ 
Mund  und  rechte  Hand. 

Diese  Thatsachen  erklären  sich  aus  dem  Verlauf  der  (den  Actions- 
strömen  des  Herzens  entsprechenden)  Ströraungs-  bezw.  Spannungs- 
curven  im  Körper.  Bei  Scäugethieren  bedingt  die  annähernd  mediane 
Lage  des  Herzens  keine  so  auffallende  Assymetrie  in  der  Vertheilung 


Fig.  135.     Gleichzeitige   Darstellung    des    Cardiogramms  (/*  /*)    und    der  Actionsströme 

des  Herzens  vom  Menschen  (e  e)  mittels  des  Capillarelektrometers. 

(Nach  A.  D.  Waller.) 


der  Spannungsdifferenzen,  welche  durch  die  Thätigkeit  des  Herzmuskels 
bedingt  sind.  Stets  handelt  es  sich  auch  bei  diesen  Versuchen  um 
doppelsinnige  oder  gar  dreiphasische  Ausschläge  (Fig.  135),  und  zwar 
würde  nach  Wall  er 's  ersten  Beobachtungen  stets  die  Herzspitze 
zuerst  negativ,  entsprechend  einem  basalwärts  gerichteten  Verlauf  der 
Reizwelle. 

Die  ausserordentliche  Empfindlichkeit  des  Capillarelektrometers 
und  besonders  die  Schnelligkeit  seiner  Reaction  ermöglichen  es  nun 
auch,  mit  Hülfe  desselben  die  Actionsströme  des  quergestreiften 
Skeletmuskels  bei  tetanisirender  Reizung  direct  sichtbar  zu  machen. 
Verbindet  man  das  CapiUarelektrometer  mit  der  secundären 
Spirale  eines  Inductionsapparates ,  so  erzeugt  natürlich  jede  Unter- 
brechung oder  Schliessung  des  primären  Kreises  eine  deutlich  sichtbare 
Verschiebung  des  Meniscus  in  der  Capillare  (bei  entsprechendem  Rollen- 
abstand). Bei  schwingendem  Neff  sehen  Hammer  verschmelzen  die 
einzelnen  Oscillationen  für  das  Auge  zu  einem  grauen  Saume,  der 
bei  geringer  Stromstärke  das  vorher  scharfe  Bild  der  Hg-Kuppe  wie 
verwaschen  erscheinen  lässt  und  bei  grösserer  Stromstärke  in  mess- 
barer Höhe  auf  dasselbe  sich  aufsetzt.  Bei  Anwendung  eines  ent- 
sprechend   rasch    unterbrochenen   Kettenstromes    von    gleichbleibender 


348  I^iß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Richtung  erleidet  der  Meniscus  ausserdem  eine  Gesammtverschiebung 
in  der  Richtung  des  Stromes,  Diese  sowohl  wie  die  Oscillationen 
werden  um  so  kleiner,  je  grösser  die  Zahl  der  Unterbrechungen  ist 
—  und  umgekehrt.  Um  bei  hohen  Frequenzen  neben  der  Gesammt- 
verschiebung  den  grauen  Saum  erscheinen  zu  sehen,  bedarf  es  einer 
viel  grösseren  Stromstärke,  als  bei  geringer  Zahl  der  Unterbrechungen 
(Marti US,  42).  Dies  ist  für  die  Beurtheilung  der  mit  dem  In- 
strument gemachten  Beobachtungen  wesentlich,  denn  es  kann  ein  von 
elektromotorischen  Wirkungen  begleiteter  physiologischer  Vorgang  im 
Capillarelektrometer  sich  nur  durch  eine  Gesammtverschiebung  ohne 
Oscillationen  anzeigen,  obschon  es  sich  um  unstetige  Stromes- 
schwankungen handelt,  die  nur  deswegen  am  Meniscus  nicht  sichtbar 
werden,  weil  entweder  für  die  vorhandene  elektromotorische  Kraft  die 
Frequenz  der  Oscillationen  zu  gross  oder  in  Anbetracht  der  Frequenz 
die  elektromotorische  Kraft  zu  gering  ist.  Um  nun  die  raschen  Os- 
cillationen des  Meniscus  sichtbar  zu  machen,  giebt  es  zwei  Wege; 
einmal  könnte  man  daran  denken,  die  Schwingungen  auf  einer 
entsprechend  rasch  bewegten  lichtempfindlichen  Platte 
zu  photographiren,  was  bei  dem  gegenwärtigen  Stande  der 
Momentphotographie  keinen  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  be- 
gegnen dürfte.  Leider  wurde  eine  planmässige  Untersuchung  der 
Actionsströme  der  Skeletmuskeln  nach  dieser  Methode  bisher  nicht 
unternommen.  Andererseits  kann  man  Form  und  Verlauf  der  Bewe- 
gung des  Meniscus  durch  Anwendung  der  stroboskopischen 
Methode  direct  (verlangsamt)  sichtbar  machen.  Martins  (1.  c.  p. 
590  ff.)  befestigte  an  die  Spitze  des  Schreibhebels  eines  sehr  beweg- 
lichen elektromagnetischen  Schreibapparates  (Pfeil' s  Chronograph) 
an  Stelle  der  Schreibspitze  ein  viereckiges  Papierblättchen  von  1  qcm 
Grösse.  Schaltet  man  diesen  Apparat  in  den  Unterbrecherkreis  ein, 
so  schwingt  der  Schreibhebel  in  der  Periode  der  unterbrechenden 
Feder  mit.  Das  Papierblättchen  zeigt  dann  bei  genügender  Frequenz 
an  seinem  oberen  und  unteren  Rande  einen  breiten,  grauen  Saum, 
während  das  Blättchen  selbst  in  Ruhe  zu  verharren  scheint.  Be- 
trachtet man  nun  den  oscillirenden  Meniscus  des  Capillarelektrometers 
durch  den  unteren  oder  oberen  grauen  Saum,  so  verschwinden  die 
Oscillationen  des  Meniscus  und  derselbe  erscheint  ganz  scharf  und 
unbeweglich,  wenn  erunddasBlättchen  in  derselben  Pe- 
riode schwingen.  Da  nun  die  Oscillationen  beider  durch  den- 
selben Unterbrecher  hervorgerufen  werden,  so  ist  bewiesen,  dass  das 
Quecksilber  keine  eigene  Schwingungsperiode  hat,  sondern  genau  den 
Oscillationen  des  Unterbrechers  folgt,  wenn  (bis  zu  100  pro  Sekunde) 
bei  jeder  Frequenz  der  letzteren  die  vorher  sichtbaren  Schwingungen, 
resp.  der  graue  Saum  des  Meniscus  durch  das  Stroboskop  für  das 
Auge  ausgelöscht  werden  können.  Es  ist  klar,  dass  man  mit  Hülfe 
dieser  Methode  leicht  die  unbekannte  Frequenz  periodischer  Stromes- 
schwankungen, die  durch  die  Oscillationen  des  Meniscus  sich  anzeigen, 
objectiv  genau  bestimmen  kann,  wenn  man  zwei  Unterbrecher  an- 
w^endet,  deren  einer  mit  dem  Capillarelektrometer,  der  andere  mit 
dem  Stroboskop  zu  je  einem  gesonderten  Kreise  geschlossen  ist. 
Stimmen  die  Schwingungsperioden  der  beiden  Unterbrecherfedern  ge- 
nau überein,  so  werden  die  Oscillationen  des  Meniscus  ausgelöscht. 
Differiren  sie,  so  treten  Interferenzen  ein,  aus  denen  die  Grösse  der 
Schwingungsdifferenz     beider     Federn     sich     leicht     berechnen     lässt 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


349 


(Marti US  1.  c.  p.  591).  Sei  beispielsweise  die  Schwingungszahl  der 
Stroboskopfeder  bekannt  und  betrage  sie  18  in  der  Sekunde.  Beob- 
achtet man  nun  anstatt  der  frequenten,  ohne  Hülfsmittel  unzähl- 
baren Oscillationen  des  Meniscus  durch  den  Saum  des  Stroboskops 
nur  zwei  regelmässige  Schwankungen  des  Meniscus  in  der  Sekunde, 
so  folgt  daraus,  dass  die  beiden  Unterbrecherfedern  um  zwei  Schwin- 
gungen differiren.  Zur  Prüfung  der  physiologischen  Anwendbarkeit 
der  Methode  leitete  Martins  (1.  c.  p.  592)  vom  Querschnitt  und 
Längsschnitt  des  Gastrocnemius  vom  Frosche,  mittels  unpolarisirbarer 
Elektroden  zum  Capillarelektrometer  ab  und  compensirte  den  Ruhe- 
strom. Bei  Reizung  des  Ischiadicus  mit  18  Oeffnungsinductschlägen 
in  der  Sekunde  gerieth  der  Meniscus  in  sehr  regelmässige,  deutliche 
Oscillationen;  wurde  dann  das  Stroboskop  in  den  primären  Kreis  des 
Inductionsapparates  eingeschaltet,  so  dass  das  Blättchen  synchron  mit  der 
Anzahl  der  Reize  vibrirte,    so    wurden  die  Oscillationen  des  Meniscus 


Fig.  136.  Photographische 
Darstellung  der  Actions- 
ströme  des  M.  gastrocne- 
mius vom  Frosch  im  Strych- 
nintetanus.  c  c  Contrac- 
tionscurven.  (Nach  D  e  1  - 
aux.) 


ausgelöscht:  ein  Beweis,  dass  jedem  Reizstoss  eine  negative  Stromes- 
schwankung im  Muskel,  jeder  negativen  Schwankung  aber  eine  Oscilla- 
tion  des  capillaren  Meniscus  entsprach.  Ebenso  verhielt  es  sich  bei 
einer  Reizfrequenz  von  30  pro  Sekunde.  Versuche,  auf  dieselbe  Weise 
den  Strychnintetanus ,  den  Krampf  bei  elektrischer  Rückenmark- 
reizung, sowie  die  willkürlichen  und  Reflexbewegungen  des  Frosches  zu 
analysiren,  sind  leider  in  ausgedehnterer  Weise  bisher  nicht  ange- 
stellt worden.  Die  Angaben  von  Loven  (43),  welcher  bei  Frosch 
und  Kröte  die  willkürliche  Muskelcontraction  mittels  des  Capillar- 
elektrometers  zu  analysiren  versuchte  und  dabei  zu  sehr  auffallenden 
Ergebnissen  gelangte,  sind  neuerdings  auch  von  Kries  bestätigt 
worden. 

Loven  glaubt  sich  überzeugt  zu  haben,  dass  sowohl  die 
dauernde  willkürliche  Zusammenziehung  der  Krötenmuskeln,  wie 
auch  der  Strychninkrampf  dieses  Thieres,  wie  des  Frosches,  von  sehr 
ausgesprochenen  und  ziemlich  regelmässigen  Stromesschwankungen 
begleitet  sind.  Die  Zahl  derselben  war  auffallend  gering  (etwa  8  in 
der  Sekunde).     Dass   so    seltene  Einzelzuckungen   zu   einer   scheinbar 


350  I^iß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

stetigen  Contraction  sollten  verschmelzen  können,  ist  um  so  be- 
merken swerther,  als  bekanntlich  20  Reize  und  mehr  in  der  Sekunde 
erforderlich  sind,  um  beim  Frosch  auf  elektrischem  Wege  einen  voll- 
kommenen Tetanus  zu  erzeugen  und  nach  v.  Limbeck's  Unter- 
suchungen selbst  noch  34  Reize,  auf  das  Rückenmark  wirkend,  auf  den 
Muskel  übertragen  werden.  Loven  sieht  sich  daher  zu  der  Annahme 
gezwungen,  dass  die  durch  den  Willen  beherrschten  Einzelzuckungen 
viel  langsamer  verlaufen,  als  die  elektrisch  ausgelösten.  Mit  diesen 
Beobachtungen  stehen  auch  die  Angaben  von  Delsaux  (44)  in  Ueber- 
einstimmung,  welcher,  wie  die  beistehenden  Figuren  (Fig.  136  a  und  1)) 
zeigen,  mittels  des  Capillarelektrometers  im  Strychnintetanus  nur 
etwa  5  Oscillationen  in  der  Sekunde  am  Gastrocnemius  des  Frosches 
beobachtete.  Bei  gleichzeitiger  .Verzeichnung  der  Gestaltveränderungen 
und  der  elektrischen  Schwankungen  des  Muskels  zeigte  sich  eine  voll- 
kommene Uebereinstimmung  beider. 

Da  das  Telephon  sich  ähnlich  wie  das  Capillarelektrometer 
durch  eine  ausserordentliche  Empfindlichkeit  für  kurzdauernde  Ströme 
(Stromschwankungen)  auszeichnet,  so  lag  die  Anwendung  desselben 
zum  Nachweis  der  Actionsströme  der  Muskeln  nahe.  Hermann  (45) 
prüfte  das  Telephon  zuerst  daraufhin,  konnte  aber  nichts  von  Actions- 
strömen  hören.  Dagegen  gelangten  Bernstein  und  Schoenlein 
1881  (46)  zu  positiven  Ergebnissen  mit  dem  Siemens'schen  Telephon. 
Wurden  gleichzeitig  4 — 6  Froschgastrocnemien  in  wirksamer  Anord- 
nung auf  unpolarisirbare  Elektroden  (Bäusche)  gelegt  und  deren  Nerven 
gemeinsam  und  gleichzeitig  gereizt,  so  hörte  man  ein  „deutliches  Knat- 
tern" im  Telephon,  das  bei  anhaltender  Reizung  an  Deutlichkeit  ab- 
nahm. Weitere  Untersuchungen  wurden  an  Kaninchen  angestellt. 
Die  Wadenmuskeln  wurden  entweder  blossgelegt  und  mittels  unpolari- 
sirbarer  Elektroden  mit  dem  Telephon  verbunden,  oder  es  wurden 
einfach  Metallnadeln  durch  die  Haut  in  den  Muskel  eingestochen  und 
von  diesen  zum  Telephon  abgeleitet  (Bernstein  47).  In  beiden 
Fällen  erhält  man  gut  wahrnehmbare  Töne,  wenn  der  vorher  durch- 
schnittene N.  ischiadicus  tetanisirt  wird.  Es  wurde  bei  Erregung  mit 
dem  akustischen  Stromunterbrecher  gefunden,  dass  die  Zahl  der  Reize 
700  in  der  Sekunde  erreichen  kann,  wobei  im  Telephon  der  dem 
Unterbrecher  entsprechende  Ton  mit  musikalischer  Reinheit  zu  hören 
war.  Jeder  in  ein  zweites  Telephon  (Reiztelephon  für  den  Ischiadicus) 
hineingesungene  Ton  war  deutlich  vom  Muskeltelephon  wahrzunehmen 
mit  der  der  Stimme  charakteristischen  Klangfarbe.  Auch  nach 
Strychninvergiftung  vernahm  man  im  Telephon  beim  Ausbruch  der 
Krämpfe  mit  Deutlichkeit  einen  tiefen,  singenden  Ton. 

Später  gelang  es  Wedenski  (48),  auch  die  Actionsströme  eines 
einzelnen  Gastrocnemius  vom  Frosch  bei  erhaltener  Circulation  und 
Ableitung  mittels  zweier  Stecknadeln  zum  Telephon  zu  hören,  und 
zwar  sowohl  bei  künstlichem,  elektrischen  Tetanus,  wie  auch  bei  will- 
kürlicher Contraction  und  bei  chemischer  Reizung  des  Nerven. 

Hesselba ch,  welcher  unter  Bernstein's  Leitung  arbeitete, 
zeigte,  dass  auch  schon  bei  einer  einfachen,  durch  einen  einzelnen 
Inductionsschlag  ausgelösten  Zuckung  ein  telephonisch  nachweisbarer 
Schall  entsteht,  was  mit  Rücksicht  auf  die  Entstehung  des  ersten 
Herztones  und  der  Natur  der  systolischen  Contraction  von  Wichtig- 
keit  ist.     Zur   Ausschliessung   jedes    Reflexes    und    der   willkürlichen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  351 

durchschnitten;  durch  zwei  nadelförraige ,  in  den  Wadenmuskel  ein- 
gestochene Elektroden  wurden  einzehie  Inductionsschläge  zugeführt. 
Man  hört  dann  mit  dem  Stethoskop  bei  jeder  Zuckung  einen  deut- 
lichen, momentanen,  dumpfen  Schall,  und  es  war  dies  auch  dann  noch 
der  Fall,  wenn  durch  Eingypsen  der  Extremität  jede  Formänderung 
und  Verschiebung  des  Muskels  ausgeschlossen  wurde.  Von  dem  mit 
dem  Ohre  direct  vom  Muskel  gehörten  „mechanischen  Zuckungs- 
schall" ist  der  durch  die  begleitende  Stromesschwankung  erzeugte 
„elektrische  ZuckungsschaU"  zu  unterscheiden,  der  übrigens  nach 
Bernstein  mit  jenem  zeitlich  zusammenfällt.  Bernstein  folgert 
daraus,  dass  wir  bei  der  Wahrnehmung  der  Muskelgeräusche  oder 
-Töne  keineswegs  die  Zuckungs-  oder  Contractionsvorgänge  hören, 
sondern  denjenigen  Molekularprocess ,  dessen  elektrischer  Ausdruck 
die  Actionsströme  sind,  wobei  allerdings  vorausgesetzt  wird,  dass 
die  elektrische  Schwankung  der  Contraction  als  Ganzes  voraus- 
eilt, was  nach  früheren  Auseinandersetzungen  mit  Grund  bezweifelt 
werden  darf. 

Es  wurde  schon  früher  bemerkt,  dass  zwar  jeder  contrahirte 
Muskel  als  im  Zustand  der  Erregung  befindlich  angesehen  werden 
muss,  dass  aber  nicht  umgekehrt  die  Erregung  immer  auch  von  ent- 
sprechenden Gestaltveränderungen  begleitet  sein  muss.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  erscheint  es  daher  auch  nicht  unmöglich,  dass  elek- 
trische Wirkungen  unter  Umständen  ohne  begleitende  Contractions- 
erscheinungen  auftreten.  Dass  dies  bei  passiver  Verhinderung  der 
Muskelverkürzung  der  Fall  ist,  ist  ja  längst  bekannt,  und  auch  am 
Vorhof  des  Herzens  verhindert,  wie  Fano  und  Fayod  (49)  zeigten, 
Spannung  bis  zur  Unbeweglichkeit  keineswegs  die  Entstehung  rhyth- 
mischer Actionsströme,  und  ebensowenig  ist  dies  der  Fall  während  des 
systolischen  Stillstandes  nach  Digitalinvergiftung.  Hierher  gehört 
vielleicht  auch  die  Beobachtung  von  Kühne  (50),  wonach  mit  NHg- 
Dämpfen  behandelte  und  bis  zur  stärksten  Verkürzung  gebrachte 
Muskeln  hinterher  häufig  sehr  auffallende  secundäre  Wirkungen  liefern, 
wenn  sie  auch  selbst  gar  keine  erkennbaren  Bewegungen  mehr  aus- 
führen. Es  geschieht  dies  während  des  Anlegens  eines  neuen  Quer- 
schnittes, wobei  man  den  Eindruck  empfängt,  als  ob  noch  sehr  wirk- 
same Erregungswellen  im  Muskel  abliefen,  ohne  von  Contractionswellen 
gefolgt  zu  sein.  Aehnliche  Beobachtungen  habe  ich  selbst  an  dem 
Schliessmuskel  der  Krebsscheere  gemacht,  worauf  unten  noch  näher 
einzugehen  sein  wird. 

Beachtenswerth  ist  die  Bemerkung  von  Fano  und  Fayod,  dass 
der  „elektrische  Puls"  des  Vorhofs  des  Schildkrötenherzens  bei 
Immobilisiren  durch  Spannung  an  Stärke  sogar  zunehmen 
kann;  man  wird  hierbei  sofort  an  den  so  wesentlichen  Einfluss  er- 
innert, welchen  die  Spannung  auf  die  gesammten  Umsetzungen  im 
Muskel  besitzt,  was  sich  bekanntlich  sowohl  in  Bezug  auf  die  mecha- 
nischen Leistungen,  wie  auch  in  Bezug  auf  das  thermische  Verhalten 
in  so  auffallender  Weise  äussert.  Hierher  gehört  wohl  auch  der  för- 
dernde Einfluss  der  Spannung  gewöhnlicher  quergestreifter  Stammes- 
muskeln auf  deren  secundäre  Wirksamkeit  (51).  Meissner  und 
Cohn  hatten  bereits  beobachtet,  dass  bei  indirecter  Muskelreizung  die 
Grösse  der  secundären,  reizenden  Wirkung  zunimmt,  wenn  der  pri- 
märe^ Muskel  im  ausgedehnten  Zustand  in  Tetanus  versetzt  wird ;  auch 
—  '       -       -  .     -        .      .  .       .         wenn  man  Mus- 


352  I^ie  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

kein  benützt,  deren  Erregbarkeit  merkh'ch  abgenommen  hat.  Es  ist 
dies  wesentlich,  weil  erfahrungsgemäss  bei  hoher  Erregbarkeit  des 
primären  Präparates  die  secundäre  Zuckung  schon  bei  geringer  Reiz- 
stärke maximale  Werthe  erreicht.  In  einem  gewissen  Stadium  der 
Erschöpfung,  wie  insbesondere  nach  längerer  Erwärmung,  verlieren 
erfahrungsgemäss  Muskeln  (Gastrocnemius  von  Rana  temporaria)  voll- 
ständig die  Fähigkeit,  unbelastet  secundäre  Zuckungen  auszulösen, 
obschon  selbst  schwache  Reizung  vom  Nerven  aus  noch  kräftige 
primäre  Zuckungen  bewirkt;  selbst  bei  stärkerer  Reizung  und  An- 
wendung höchst  empfindlicher  secundärer  Präparate  bleibt  dann  jede 
Wirkung  auf  die  letzteren  aus.  In  jedem  solchen  Falle  wird  nun  aus- 
nahmslos die  secundäre  Wirksamkeit  des  primären  Warmmuskels  durch 
Belastung  oder  in  anderer  Weise  bewirkte  Dehnung  sofort  wieder 
hergestellt,  um  momentan  wieder  zu  schwinden,  sobald  diese  beseitigt 
wird.  Bis  zu  einer  gewissen  Grenze  wächst  die  Grösse  der  secundären 
Zuckung  mit  der  Stärke  der  Belastung ,  doch  wird  sie  sehr  rasch 
maximal,  und  es  lässt  sich  daher  ohne  Weiteres  nicht  entscheiden,  ob 
die  Momente,  welche  während  der  Dehnung  die  secundäre  Wirksam- 
keit in  so  hohem  Grade  befördern,  auch  weiterhin  bei  immer  zu- 
nehmender Belastung  noch  eine  Steigerung  erfahren.  Auch  an  dem 
parallelfaserigen  Sartorius  lässt  sich  dieser  Einfluss  der  Spannung  sehr 
gut  demonstriren.  Da  es  keinem  Zweifel  unterworfen  sein  kann,  dass 
die  secundäre  Wirkung  eines  Muskels  auf  den  anliegenden  Nerven  eines 
andern  nur  durch  die  direct  oder  durch  Nervenreizung  in  jenem  aus- 
gelösten elektrischen  Schwankungswellen  zu  Stande  kommt,  so  kann 
es  sich  bei  einer  Veränderung  der  secundären  Wirksamkeit  im  posi- 
tiven Sinne  nur  um  zwei  verschiedene  Möglichkeiten  handeln:  ent- 
weder es  werden  die  Bedingungen  für  Abgleichung  der  vorhandenen 
Spannungsdifferenzen  durch  den  anliegenden  Nerven  günstiger,  oder 
es  ändert  sich  die  Grösse,  Form  und  Geschwindigkeit  des  Ablaufes 
der  Wellen  in  einer  die  Erregung  des  ersteren  begünstigenden  Weise, 
Dass  die  ersterwähnte  Möglichkeit  für  die  hier  vorliegenden  Fälle 
nicht  in  Betracht  kommt,  dürfte  schon  daraus  zu  schliessen  sein,  dass 
die  Versuche  ebenso  gut  bei  Anwendung  regelmässig  gebauter  Mus- 
keln gelingen,  wie  mit  dem  gewöhnlichen  Nerv  -  Muskelpräparat. 
Zudem  kann  man  durch  Veränderung  der  Lage  des  secundären  Nerven 
auf  der  Oberfläche  des  primären  Muskels  die  äusseren  Bedingungen 
für  Auslösung  secundärer  Zuckungen  während  der  Dehnung  so  un- 
günstig als  möglich  gestalten,  sei  es,  dass  man  denselben  nur  in  kurzer 
Ausdehnung  den  Muskel  berühren  lässt  oder  ihn  quer  oder  ringförmig 
anlegt,  ohne  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  den  Erfolg  zu  beeinträchtigen. 
Es  dürfte  daher  lediglich  die  andere  Möglichkeit  in  Betracht  zu  ziehen 
sein,  und  käme  es  darauf  an,  Grösse,  Form  und  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit der  elektrischen  Schwankungswelle  im  ungedehnten 
und  gedehnten  Muskel  vergleichend  zu  untersuchen.  Heidenhain 
hat  bekanntlich  zuerst  gezeigt,  dass  der  als  Wärme  erscheinende  Antheil 
der  bei  Coutraction  sich  entwickelnden  lebendigen  Kräfte  in  höchst  auf- 
fälliger Weise  von  der  Spannung  des  Muskels  abhängt,  derart,  dass 
bis  zu  einer  gewissen  Grenze  die  Wärmebildung  mit  der  Belastung 
wächst.  Es  erscheint  daher  der  Gedanke  naheliegend,  dass  durch  die 
Spannung  auch  jener  Theil  der  Kräftesumme,  welcher  als  Elektricität 
in  Form  der  die  Erregung  begleitenden  Actionsströme  erscheint,  in 
gleichem    Sinne    beeinflusst   wird.      Die    Versuche   von    Lamansky 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  353 

(Pflügers  Arch.  III.  p.  193),  Avelcher  eine  Zunahme  der  negativen 
Schwankung  am  Gastrocnemius  bei  wachsender  Belastung  beobachtete, 
würden  diese  Annahme  zu  unterstützen  geeignet  sein,  wenn  nicht  die 
ausschliessliche  Benützung  des  unregelmässig  gebauten  Gastrocnemius 
Bedenken  aufkommen  Hesse,  auf  welche  bereits  Du  Bois-Reymond 
aufmerksam  machte. 

Wenn  die  angedeutete  Auffassung  richtig  ist,  so  darf  man  er- 
warten, dass  auch  noch  andere  Momente,  durch  welche  erfahrungs- 
gemäss  die  Leistungsfähigkeit  des  Muskels  gesteigert  wird,  dessen 
secundäre  Wirksamkeit  erhöhen.  Es  wurde  früher  des  günstigen  Ein- 
flusses gedacht,  welchen  unter  Umständen  wiederholte  Reizung  bei 
gleichbleibender  Intensität  auf  die  mechanische  Leistungsfähigkeit 
des  Herzens  und  der  Skeletmuskehi  besitzt,  indem  es  im  Beginn  einer 
Zuckungsreihe  zur  Bildung  einer  „Treppe"  kommt.  Es  scheint  nun, 
dass  auch  die  elektromotorischen  Wirkungen  unter  gleichen  Umständen 
bisweilen  eine  erhebliche  Steigerung  erfahren.  Verwendet  man  als 
primäres  Präparat  gut  erregbare  Gastrocnemien  von  Kaltfröschen,  so 
sieht  man,  gleichgültig,  ob  dieselben  belastet  werden  oder  unbelastet 
bleiben,  bei  langsamer  rhythmischer  Reizung  durch  Schliessen  und 
Oeffnen  des  primären  Kreises  eines  Inductionsapparates  eine  mehr 
oder  minder  gedrängte  Reihe  von  Zuckungen  entstehen,  deren  jede 
auch  von  einer  secundären  Zuckung  gefolgt  ist,  so  dass  der  Be- 
ginn der  Reihe  der  primären  Zuckungen  mit  dem  der  secundären 
Zuckungsreihe  zeitlich  zusammenfällt.  Summiren  sich  schliesslich  bei 
beschleunigter  Reizfolge  die  primären  Zuckungen  zu  einem  ruhigen, 
gleichmässigen  Tetanus,  so  ist  in  der  Regel  das  Gleiche  auch  bei  dem 
secundären  Präparat  der  Fall.  Der  primäre  Tetanus  löst  einen  zeit- 
lich mit  ihm  zusammenfallenden  secundären  aus.  Wesentlich  ver- 
schieden verhält  sich  dies,  wenn  man  sich  eines  Warmmuskels  als 
primären  Präparates  bedient,  der  im  un gedehnten  Zustande  auch 
bei  stärkster  Reizung  keine  secundären  Einzelzuckungen  auszulösen 
vermag.  Es  hängt  dann,  abgesehen  von  dem  jeweiligen  Erregbarkeits- 
zustande des  Präparates,  lediglich  von  der  Grösse  der  die  einzelnen 
Reizmomente  von  einander  trennenden  Zeitintervalle  ab,  ob  die  secun- 
däre Unwirksamkeit  des  Muskels  auch  während  der  ganzen  Dauer 
des  unvollkommenen  Tetanisirens  bestehen  bleibt  oder  nicht. 

In  der  Regel  beginnt,  während  der  ström  prüfende 
Nerv  unverändert  d  er  Oberfläche  des  primären  Muskels 
anliegt,  dieser  letztere  je  nach  Umständen  nach  einer 
kürzeren  oder  längeren  Reihe  Wirkung sloserZuckungen 
das  secundäre  Präparat  zu  erregen.  Die  Zuckungen  des- 
selben, Anfangs  klein,  nehmen  rasch  an  Grösse  zu  und 
können  in  der  Folge  die  des  primären  Präparates  um 
ein  Vielfaches  übertreffen. 

Da  die  Contractionen  eines  Warmmuskels  in  einem  gewissen 
Stadium  der  Ermüdung  gedehnter  verlaufen,  wobei  insbesondere  die 
Wiederverlängerung  eine  immer  grössere  Zeit  in  Anspruch  nimmt,  so 
kann  es  geschehen ,  dass  selbst  bei  nur  massig  rascher  Aufeinander- 
folge der  Einzelreize  die  Zuckungen  des  unbelasteten  primären  Prä- 
parates zu  fast  stetigem  Tetanus  verschmelzen,  während  mächtige  und 
völlig  gesonderte  secundäre  Zuckungen  allein  die  jedem  Reizanstosse 
entsprechenden  inneren  Veränderungen  des  Muskels  erkennen  lassen, 
ähnlich  wie  dies  auch  bei  einem  straff  ausgespannten  Muskel  der  Fall 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  23 


354  ^i<2  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

ist.  Es  wurde  bereits  erwähnt,  dass  die  Zeitdauer,  nach  welcher  der 
ungespannte  Wadenmuskel  bei  unvollkommenem  Tetanisiren  secundär 
wirksam  wird,  einerseits  von  dem  Grade  abhängt,  bis  zu  welchem 
jener  eigenthümliche ,  durch  die  Erwärmung  herbeigeführte  Zustand 
der  Muskelsubstanz  entwickelt  ist,  und  andererseits  von  der  Stärke 
und  Zahl  der  in  der  Zeiteinheit  einander  folgenden  Reize  wesentlich 
beeinflusst  wird.  Es  lässt  sich  in  dieser  Beziehung  nur  sagen,  dass 
die  Verzögerung  im  Allgemeinen  um  so  grösser  zu  sein  pflegt,  je 
schwächer  die  Inductionsströme  und  je  grösser  die  Reizintervalle  bei 
einem  gegebenen  Erregbarkeitszustande  des  Muskels  sind.  Oft  be- 
ginnt der  secundäre  Muskel  erst  nach  minutenlanger  Reizung  des 
primären  zu  zucken,  zu  einer  Zeit,  wo  in  Folge  von  Ermüdung  die 
den  einzelnen  Reizen  entsprechenden  Gestaltveränderungen  des  letzteren 
bisweilen  kaum  mehr  wahrnehmbar  sind.  Der  nahe  liegende  Verdacht, 
dass  es  sich  hierbei  lediglich  um  eine  Summationserscheinung  im  secun- 
dären  Nerven  handelt,  lässt  sich  leicht  ausschliessen,  wenn  man  diesen 
letzteren  nicht  gleich  bei  Beginn  der  Reizung  des  primären  Muskels, 
sondern  erst  nach  Ablauf  einer  grösseren  oder  geringeren  Zahl  von 
Erregungen  auflegt.  Man  findet  dann  ausnahmslos,  dass  die  secun- 
dären  Zuckungen  in  voller  Stärke  sofort  bei  Berührung  des  Nerven 
und  des  primären  Muskels  hervortreten,  was  darauf  hinweist,  dass  das 
allmähliche  Wirksamwerden  des  letzteren  auf  Veränderungen  beruht, 
welche  durch  die  wiederholten  Erregungen  in  demselben  veranlasst 
werden. 

Wenn  es  in  den  beiden  vorerwähnten  Fällen  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  wahrscheinlich  zu  machen  ist,  dass  die  Verschiedenheit 
der  secundären  Wirkung  von  Muskel  zu  Nerv  auf  einer  Verschieden- 
heit der  Intensität  der  elektrischen  Wirkungen  des  ersteren  be- 
ruhen dürfte,  so  scheinen  in  anderen  Fällen  Unterschiede 
im  zeitlichen  Verlauf  und  in  der  Formder  elektrischen 
Schwankungswelle  maassgebend  zu  sein.  Hierher  gehört 
wohl  vor  Allem  der  so  auffallende  Unterschied  der  secundären  Wirkung 
von  Muskel  zu  Nerv,  wenn  der  erstere  in  verschiedener  Weise  d  i  r  e  c  t 
gereizt  wird.  Im  Allgemeinen  gelingt  es  schwerer,  secun- 
däre Zuckung  auszulösen,  wenn  der  primäre  Muskel 
direct,  als  wenn  er  vom  Nerven  aus  gereizt  wird;  ja  Du 
Bois-Reymond  machte  seiner  Zeit  sogar  die  Angabe,  dass  man 
überhaupt  keine  secundäre  Zuckung  erhält,  wenn  man  eine  Reizwelle 
in  einem  Sartorius  oder  Gracilis  erregt,  dem  das  erregbare  obere  Ende 
eines  Ischiadicus  anliegt.  Dagegen  hat  Kühne  zuerst  gezeigt,  dass 
die  durch  Berührung  des  frischen  Querschnittes  eines  curarisirten 
Sartorius  mit  einer  leitenden  Flüssigkeit  ausgelöste  Zuckung,  welche, 
wie  Hering  nachwies,  elektrischen  Urspi'ungs  ist,  sich  zu  secundärer 
Wirkung  höchst  geeignet  erweist,  ein  Umstand,  der  die  Thatsache  nur 
noch  auffallender  erscheinen  lässt,  dass  die  directe  elektrische  Reizung 
desselben  Muskels  durch  künstlich  zugeführte  Ströme  sich  zu  gleichem 
Zwecke  äusserst  ungeeignet  zeigt.  Zwar  beobachtete  Kühne  bei 
Reizung  des  einen  Muskelendes  mit  einzelnen  Inductionsschlägen  un- 
zweifelhafte, secundäre  Wirkungen,  indessen  bedurfte  es  hierzu  in  allen 
Fällen  so  starker  Ströme,  dass  besondere  Controllversuche  geboten 
waren,  um  eine  directe  Erregung  des  secundären  Nerven  durch  Strom- 
schleifen auszuschliessen.  Lässt  man  einen  Ketten  ström  seitlich 
durch  unpolarisirbare  Elektroden  nahe  dem  einen  oder  anderen  Ende 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  355 

des  beiderseits  mit  Knochenstümpfen  in  Verbindung  stehenden  M.  sar- 
torius  vom  Frosche  zutreten,  so  erfolgt  auch  bei  stärkster  Reizung 
keine  Spur  secundärer  Wirkung,  ti'otz  starker  Zuckung  des  primären 
Muskels  und  günstigster  Lage  des  stromprüfenden  Nerven,  so  lange 
beide  (Faden-)Elektroden  sich  in  der  Continuität  des  Muskels  belinden, 
so  dass  die  Stromfäden  sowohl  an  der  Ein-  wie  Austrittsstelle  die 
Muskelfasern  in  mehr  oder  weniger  schräger  Richtung  durchsetzen 
müssen.  Es  wird  an  diesem  negativen  Erfolge  auch  nichts  geändert, 
wenn  der  Muskel  noch  so  stark  gedehnt  wird.  Dagegen  beobachtet 
man  regelmässig  schon  bei  schwacher  Reizung  des  pri- 
mären Muskels  secundäre  Wirkungen  von  grosser  In- 
tensität, wenn  der  Ketten  ström,  gleichgültig,  an  welchem 
Ende  des  Muskels,  durch  die  natürlichen,  unversehrten 
Faser  enden  austritt  (51). 

Es  genügt ,  die  eine  Elektrode  (Kathode)  mit  dem  betreffenden 
Knochenstumpf  in  Verbindung  zu  setzen  und  die  andere,  den  Eintritt 
des  Stromes  vermittelnde,  direct  an  den  Muskel  zu  legen.  Dem  Ge- 
sagten zu  Folge  tritt  dann  secundäre  Zuckung  immer  nur  bei  der 
einen  Stromesrichtung  ein,  während  bei  Schliessung  in  der  andern 
Richtung  zwar  eine  starke  Zuckung  des  primären  Muskels,  aber  keine 
Erregung  des  secundären  Präparates  erfolgt.  Es  ist  nicht  unwahr- 
scheinlich, dass  bei  gleichzeitiger  und  gleichstarker  Erregung  sämmt- 
licher  Faserenden  auf  der  einen  Seite  des  M.  sartorius,  wie  sie  zu 
Stande  kommt,  wenn  der  Strom  in  der  Längsrichtung  der  Fasern  an 
dem  einen  oder  andern  Ende  austritt,  die  elektrische  Schwankungs- 
welle sich  wesentlich  von  der  unterscheiden  könne,  welche  bei  mehr 
oder  weniger  querem  Austritt  der  Stromfäden  durch  eine  dem  Muskel 
seitlich  angelegte  Elektrode  ausgelöst  wird.  Jedenfalls  wird  man  aber 
annehmen  dürfen,  dass  die  durch  Eintauchen  eines  frischen  Quer- 
schnittes in  leitende  Flüssigkeit  ausgelöste  Reizwelle  demselben  Um- 
stände ihre  besondere  Eignung  zu  secundärer  Wirkung  verdankt,  wie 
die  durch  Schliessung  eines  atterminalen  Kettenstromes  erzeugte  Welle, 
so  dass  also  die  secundäre  Unwirksamkeit  des  direct  gereizten  Curare- 
muskels  nur  eine  scheinbare,  durch  rein  äusserliche  Umstände  herbei- 
geführte ist. 

Mit  Rücksicht  auf  die  eben  erwähnten  Versuchsresultate  muss  es 
als  auffallend  bezeichnet  werden,  dass  die  Art  der  Lagerung  des 
secundären  Nerven  auf  dem  primären  Muskel  für  den 
Erfolg  relativ  geringen  Einfluss  zeigt.  Handelt  es  sich, 
wie  nicht  zu  bezweifeln,  um  eine  elektrische  Erregung  des  Nerven 
durch  den  Actionsstrom  des  primären  Muskels,  so  muss  jener  noth- 
wendig  zwei  Punkte  verbinden,  welche  in  einem  gegebenen  Augen- 
blicke eine  erhebliche  Spannungsdifferenz  darbieten.  Die  günstigste 
Anlage  des  secundären  Nerven  ist  augenscheinlich  die,  wo  er  in  mög- 
lichster Ausdehnung  auf  der  unteren  Sartoriusfläche  parallel  der 
Muskelfaserung  aufliegt.  Es  genügt  dann  unter  Umständen  ein  ganz 
dünnes  Bündel  von  Muskelfasern,  dessen  Durchmesser  kaum  der  Dicke 
eines  Froschischiadicus  entspricht,  um  bei  Querschnittsreizung  secun- 
däre Zuckung  auszulösen.  Im  Uebrigen  giebt  es  kaum  eine  An- 
lagerungsweise, welche  bei  nur  einigermaassen  guter  Nerven erregbar- 
keit  nicht  zu  sehr  kräftigen  secundären  Zuckungen  des  Schenkels 
genügte.  Besonderes  Interesse  verdient  die  secundäre  Erregung 
des  rechtwinkelig  über  den  Muskel  gebrückten  Nerven. 

23* 


356  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Diese  Lage  wird  leicht  erzielt,  indem  man  den  Ischiadicus  des  auf 
einer  beweglichen  Glasplatte  befestigten  Schenkels  mit  dem  Plexus 
sacralis  an  einen  geeignet  fixii'ten  Glasstab  klebt  und  ihn  nach 
massiger  Spannung  der  Innenfläche  des  hängenden  Sartorius  anlegt 
oder  diesen  einfach  darüber  hängt.  Im  letzteren  Falle  wird  die 
stärkste  secundäre  Zuckung  beobachtet,  wenn  man  dem  mit  beiden 
Enden  herabhängenden  Sartorius  auf  einmal  einen  Doppelquerschnitt 
anlegt  oder  diesen  in  bekannter  Weise  benetzt  (Kühne  5);  es  zeigt 
sich  also,  dass  die  secundäre  Wirksamkeit  dieses  regelmässigsten 
Muskels,  an  welchem  Du  Bois-Reymond's  Gesetz  des  Muskel- 
stromes ungetrübt  zur  Erscheinung  kommt,  von  der  Grösse  des  Ruhe- 
stromes in  dem  Grade  unabhängig  ist,  dass  es  an  dem  vom  Quer- 
schnitt aus  erregten  Muskel  thatsächlich  keine  Stellen  oder  Linien  giebt, 
die  secundär  unwirksam  wären.  Noch  überraschender  als  die  secundäre 
Erregung  bei  querer  Lagerung  des  Nerven  auf  dem  primären  Muskel 
ist  die  Thatsache,  dass  auch  Anlegen  an  die  Querschnitts- 
fläche  des  Muskels  die  secundäre  Wirkung  nicht  aus- 
schliesst,  was  nach  den  geläufigen  Vorstellungen  über  die  Ab- 
hängigkeit der  secundären  Erregung  vom  Muskelstrome  kaum  erwartet 
Averden  durfte  (Kühne  1.  c.  p.  24  f.),  ja  man  könnte  unter  diesen 
Umständen  fast  Zweifel  hegen,  ob  überhaupt  die  elektrische  Schwan- 
kungswelle unmittelbare  Ursache  der  secundären  Erregung  ist.  Kühne 
selbst  (1.  c.  p.  27 — 37)  hat  hierfür  einen  ganz  directen  Beweis  ge- 
liefert, indem  er  zeigte,  dass  die  mit  dem  secundären  Nerven  belegte 
Stelle  nicht  in  demselben  Augenblick  wirkt,  wo  der  primäre  Reiz  den 
Äluskel  an  einer  anderen,  entfernteren  Stelle  trifft,  sondern  um  so  viel 
später,  als  die  Schwankungswelle  Zeit  braucht,  um  vom  Ursprungs- 
orte an  den  abgeleiteten  zu  gelangen.  Es  wurden  die  Nerven  von 
zwei  Gastrocnemien  dem  Sartorius  in  einiger  Entfernung  von  einander 
angelegt  und  der  letztere  von  einem  Ende  aus  gereizt.  Das  Intervall 
zwischen  den  Erregungen  beider  secundärer  Nerven  war  stets  deutlich 
nachweisbar  und  oft  sogar  sehr  beträchtlich,  im  Uebrigen  aber  ungemein 
wechselnd:  Während  sich  im  ungünstigsten  Falle  der  die  secundäre 
Zuckung  erregende  Vorgang  nur  mit  der  Geschwindigkeit  von  25  cm 
in  der  Sekunde,  also  äusserst  langsam,  fortpflanzt,  ist  die  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit in  anderen  Fällen  so  gross,  dass  das  angewendete  Ver- 
fahren (welches  Geschwindigkeiten  von  2  m  in  der  Sekunde  zu  messen 
gestattete)  die  Bestimmung  nicht  zuliess.  Schon  aus  den  ersten  An- 
gaben Berns  tein's  ging  hervor,  dass  die  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit der  elektrischen  Schwankungswelle  im  Muskel  äusserst  wechselnd 
ist  und  an  ausgeschnittenen  Muskeln  relativ  rasch  abnimmt.  Darf 
man  aus  dem  Verlauf  der  Contractions welle  irgend  auf  den  der 
Schwankungswelle  schliessen,  so  wäre  hier  an  die  bekannten,  mit 
dem  Auge  wegen  ihrer  Langsamkeit  leicht  zu  verfolgenden  Con- 
tractionswellen  zu  erinnern,  die  man  besonders  bei  Insectenmuskeln, 
aber  auch  an  dem  frischesten  Froschmuskel  unter  Umständen 
auftreten  sieht;  (so,  wie  oben  erwähnt,  am  Sartorius  oder  Adductor 
magnus  bei  mechanischer  Reizung  mit  einer  Nadelspitze  (Kühne 
1.  c.  p.  36  f.)  oder  bei  Anwendung  starker  Kettenströme  als  galvani- 
sches Wogen). 

In  Bezug  auf  die  Frage,  welcher  Abschnitt  der  elektrischen 
Schwankungswelle  für  die  secundäre  Erregung  der  wesentlichste  ist, 
würde  man  von  vornherein  geneigt  sein,  dazu  den  vordersten,  als  den 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  357 

steilsten,  für  am  meisten  geeignet  zu  halten.  Jedenfalls  ist  es,  wie 
aus  den  erwähnten  Thatsachen  hervorgeht,  ein  sehr  kurzes 
Stück  der  Erregungswelle,  welches  den  angelegten  Nerven 
erregt. 

Wie  überhaupt  zur  wirksamen  Nervenerregung  (insbesondere  der 
elektrischen)  eine  gewisse  Geschwindigkeit  des  zeitlichen  Verlaufes 
der  durch  den  Reiz  gesetzten  Veränderungen  gehört,  so  zeigt  sich 
dies  auch  an  der  secundären  Erregung  von  Muskel  zu  Nerv,  indem 
langsam  bewegliche  Muskeln  im  Allgemeinen  ungeeignet 
sind  zu  secundärer  Erregung  von  Froschnerven. 

Matteucci  hat  bereits  angegeben,  dass  er  die  secundäre  Zuckung 
vermisste,  wenn  er  den  Schenkelnerven  des  Frosches  an  die  bewegten 
Muskelmassen  des  Darmes,  des  Magens  oder  der  Blase  anlegte.  Kühne 
bestätigte  dies  auch  am  lebhaft  beweglichen  Ureter  des  Kaninchens ; 
er  vermisste  secundäre  Wirkung  auch  an  den  quergestreiften 
Muskeln  von  Hydrophilus  und  Astacus,  bei  letzterem  auch, 
wenn  die  primären  Contractionen  des  Schliessmuskels  der  Scheeren 
durch  Nervenreizung  bewirkt  werden ;  ebenso  am  Darm  der  Schleie, 
der  sich  da,  wo  er  quergestreifte  Muskeln  führt,  auf  elektrische 
Reizung  ziemlich  rasch,  fast  zuckend  contrahirt.  Secundär  völlig  un- 
wirksam fand  Kühne  auch  die  Muskeln  vonEmys  europaea, 
und  zwar  sowohl  die  blasseren  Musculi  retrahentes  capitis  collique 
wie  die  rothen  der  Extremitäten,  als  er  die  ersteren  durch  Ausbohren 
des  Rückenmarkes  oder  nach  dem  Ausschneiden  an  einem  Ende  direct 
elektrisch,  die  letzteren  von  den  Nervenstämmen  her  reizte.  Da  die 
Schildkröte  den  Kopf  ziemlich  rasch  einziehen  kann  und  ihre  Beine, 
wenigstens  bei  künstlicher  Reizung  ihrer  Nerven  mit  Inductions- 
schlägen,  fast  zuckend  bewegt,  muss  die  secundäre  Unwirksamkeit  so- 
wohl für  Einzelzuckungen  wie  für  Tetanus  füglich  überraschen.  Wie 
sehr  die  secundäre  Erregung  vom  Muskel  zum  (Frosch-)Nerv  von  der 
Geschwindigkeit  der  Schwankungs-  (bezw.  Contractions-) Welle 
abhängt,  zeigt  sich  auch  sehr  schön  am  Herzen.  Während  Kühne 
(l.  c.)  von  dem  Ventrikel  des  schlagenden  Schildkrötenherzens  nur 
sehr  schwache  secundäre  Zuckungen  erhielt,  die  bald  nach  dem 
Herausnehmen  des  Herzens,  also  lange  vor  aller  merklichen 
Abnahme  des  Pulsiren s,  verschwanden,  wirkt  das  kleinere,  aber 
rascher  schlagende  Froschherz  wesentlich  besser  und  das  noch  viel 
rascher  pulsirende  Warmblüterherz  bekanntlich  sehr  kräftig  secundär. 
Von  den  rothen  Scheukelmuskeln  des  Kaninchens,  deren  Zuckung 
viel  träger  ist  als  die  der  weissen ,  erhielt  dagegen  Kühne  auf 
Nervenreiz  ebenso  gut  secundäre  Zuckung  und  secundären  Tetanus 
wie  von  jenen. 

J.  V.  Uexküll  (52)  fand,  dass  es  unter  sonst  gleichen  Um- 
ständen für  den  Erfolg  der  secundäi-en  Erregung  sehr  wesentlich  ist, 
an  welcher  Stelle  der  primäre  Muskel  (nicht  curarisirter  Sartorius)  ge- 
reizt wird, 

„Die  gleichzeitige  Reizung  von  Muskelsubstanz  und  Nerv  quer 
über  der  Eintrittsstelle  des  letzteren  beim  Sartorius  ist  secundär  un- 
wirksam, während  durch  reine  Muskelreizung,  sowie  reine  Nerven- 
reizung unter  den  gleichen  Bedingungen  secundäre  Effecte  erzielt 
werden."  Durch  Versuche  am  M.  gracilis  zeigte  Uexküll,  dass  der 
Ausfall  der  secundären  Wirkungen  an  die  Miterregung  der  Nerven- 
endigungen geknüpft  ist.     Unter  gewissen  Voraussetzungen  (Annahme 


358  DJG  elektromotorischeu  Wirkuugen  der  Muskeln. 

einer  Latenzzeit  für  die  Reizübertragung  vom  Nervenendorgane  auf 
den  Muskel  und  der  alleinigen  secundären  Wirksamkeit  des  Gipfels 
der  Schwankungscurve  des  Actionsstromes)  Hesse  sich  dann  die  Er- 
scheinung als  ein  Interferenzphänomen  erklären.  Nach  Uexküll 
würde  sich  dabei  der  Vorgang  in  folgender  Weise  gestalten:  „Ein 
Reiz  trifft  das  Nervenendorgan  und  die  Muskelfaser  zugleich,  er  löst 
in  letzterer  sofort  eine  Actionswelle  aus,  die  den  secundären  Schenkel 
in  Erregung  versetzen  würde,  wenn  nicht  das  zugleich  gereizte  End- 
organ des  Nerven  sich  einen  Moment  später  auf  den  Muskel  entladen 
würde.  Dadurch  kommt  keine  einfache  Actionswelle  zu  Stande,  son- 
dern zwei  aneinandergekoppelte  Wellen.  Diese  Koppelwelle  wird  in- 
sofern ungeeigneter  sein,  secundär  zu  wirken,  weil  sie  sich  in  ihrer 
Form  abgeflachter  darstellen  muss.  Dadurch  verliert  der  ganze  Vor- 
gang an  Plötzlichkeit  und  somit  auch  an  Fähigkeit,  erregend  zu 
wirken." 

Durch  die  vorstehend  mitgetheilten  Beobachtungen  ist  der  Ein- 
fluss,  welchen  die  Intensität  sowie  Form  und  zeitlicher  Verlauf  der 
elektrischen  Schwankungswelle  auf  die  secundäre  Erregung  von 
Muskel  und  Nerv  besitzen,  zweifellos  erwiesen.  Es  bleibt  jetzt  noch 
übrig,  den  Einfluss  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  sich 
wiederholender  Einzel  reize  auf  die  secundäre  Er- 
regung, wie  überhaupt  auf  die  elektrischen  Wirkungen 
des  Muskels  zu  erörtern. 

Da  die  secundäre  Erregung  nur  eine  besondere  Form  der  elek- 
trischen Reizung  eines  mit  seinem  Muskel  noch  zusammenhängenden 
Nerven  darstellt,  so  darf  man  von  vornherein  erwarten,  dass  im  Wesent- 
lichen dieselben  Gesetze,  welche  die  Erscheinungsweise  des  primären 
Tetanus  und  insbesondere  seine  Abhängigkeit  von  der  Intensität  und 
Frequenz  der  Reize  beherrschen ,  auch  für  den  secundären  Tetanus 
gelten  werden.  Weim  man  weiter  berücksichtigt,  dass  die  elektrischen 
Seh wankungs wellen,  wie  schon  aus  dem  Vorstehenden  sich  ergiebt, 
den  Contractionserscheinungen  nicht  immer  genau  parallel  gehen, 
so  lässt  sich  erwarten ,  dass  kein  völliger  Parallelismus 
zwischen  primärem  und  secundärem  Tetanus  bestehen 
dürfte,  wie  es  auch  thatsächlich  der  Fall  ist.  Ehe  man  die  Un- 
fähigkeit vieler  Tetani  zu  secundärem  Tetanus  erkannte, 
hielt  man  den  letzteren  für  ein  so  sicheres  Merkmal  des  primären 
Tetanus,  dass  er  nicht  nur  zum  Beweise  der  elektromotorischen  Dis- 
continuität  aller  Tetani,  sondern  auch  zur  Entscheii^ung  zwischen 
Contractur  und  Tetanus  allgemein  verwendet  wurde.  Ohne  Wider- 
spruch wurde  anerkannt,  dass  eine  Muskelbewegung,  die  wohl  secundäre 
Zuckung,  aber  keinen  secundären  Tetanus  erzeugt,  selbst  eine  ein- 
fache Zuckung  sein  müsse.  Dies  ist  nun  aber  oft  der  Fall  unter  Um- 
ständen, wo  an  der  Discontinuität  der  primären  Reize  kein  Zweifel 
bestehen  kann.  Der  Erfolg  am  secundären  Präparat  hängt,  wie  man 
sich  bald  überzeugt,  sehr  wesentlich  von  Charakter  und  Stärke 
der  primären  Reizwirkung  und  daher  von  Intensität  und  Frequenz 
der  das  primäre  Präparat  treffenden  Inductionsschläge  ab.  Werden 
die  Stromstärken  so  gewählt,  dass  sie  den  primären  Muskel  in  Tetanus 
versetzen,  so  erhält  man  theils  Tetanus  des  secundären  Muskels  von 
wechselnder  Höhe  und  Länge,  oder  man  erhält  Curven ,  die  sich  in 
nichts  von  denen  unterscheiden,  welche  der  primäre  Muskel  eventuell 
als  „Anfangszuckung"  verzeichnet.     In  seltenen  Fällen  kommt  es  nicht 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  359 

nur  bei  Beginn  des  primären  Tetanus  zu  einer  secundären  Anfangs- 
zuckung, sondern  auch  bei  Beendigung  der  Reizung  zu  einer  secun- 
dären „Endzuckung"  (Scliönlein  53).  Wenn  die  secundäre  Anfangs- 
zuckung bei  relativ  geringer  Reizfrequenz  auftritt,  so  ist  dies  haupt- 
sächlich durch  jene  Veränderungen  in  Stärke  und  Verlauf  der  Actions- 
ströme  des  primären  Muskels  bedingt,  welche  als  Folgen  der  Er- 
müdung aufzufassen  sind,  was  sich  hauptsächlich  darin  zeigt,  dass  der 
secundäre  Tetanus  oft  wieder  eintritt,  wenn  man  dem  primären  Mus- 
kel einige  Zeit  zur  Erholung  gegönnt  hat.  So  haben  auch  bereits 
Morat  und  Toussaint  (54)  durch  Ermüdung  des  primären  Muskels 
bei  einer  Frequenz  von  nur  70—80  Reizen  in  der  Sekunde  secundäre 
Anfangszuckung  beobachtet.  Ist  Ermüdung  möglichst  ausgeschlossen, 
so  kann  durch  Verstärkung  der  primären  Reize  innerhalb  weiter 
Grenzen  der  Frequenz  secundärer  Tetanus  erhalten  werden. 

Während  der  durch  rhythmische  elektrische  oder  mechanische 
Reizung  ausgelöste  primäre  Tetanus  wenigstens  in  der  Regel  auch 
secundären  Tetanus,  wenngleich  nicht  immer  von  entsprechend  langer 
Dauer,  auslöst,  giebt  es  andere  Formen  künstlich  erzeugter 
Tetani,  bei  welchen  dies  überhaupt  niemals  der  Fall 
ist,  und  die  im  günstigsten  Falle  secundäre  Zuckungen 
bewirken.  Wie  später  näher  zu  erörtern  sein  wird,  verfallen  quer- 
gestreifte Skeletmuskeln  unter  gewissen  Umständen  in  einen  oft  lange 
anhaltenden  Tetanus,  während  der  Nerv  von  einem  Kettenstrom  durch- 
flössen wird  (Schliessungs-Tetanus),  eventuell  auch  nach  der 
Oeffnung  des  Stromkreises  (Ritter 'scher  Oe f f n u n g s - T e t a n u s). 
J.  J.  Friedrich  (55)  fand  nun,  dass  das  secundäre  Präparat  in 
diesem  Falle,  wenn  überhaupt,  stets  nur  mit  einer  im  Beginn  des 
untersuchten  Tetanus  auftretenden  secundären  Zuckung,  nie  aber  mit 
einem  secundären  Tetanus  reagirte.  Bemerkenswerth  ist  noch, 
dass  der  Erfolg  beim  Oeffnungs-Tetanus  viel  häutiger  ganz  ausblieb, 
als  beim  Schliessungs-Tetanus. 

Ebenso  wenig  vermag  der  oft  äusserst  kräftige  Tetanus  durch 
chemische  Reizung  des  motorischen  Nerven  secundären  Tetanus  her- 
vorzubringen (Kühne  1.  c.  p.  Gif.).  Der  Kochsalz-  und  der 
Glycerin-Tetanus  stellen,  wie  Kü*hne  bemerkt,  eine  so  grosse 
mechanische  Muskelleistung  dar,  dass  sicherlich  nicht  Schwäche  der 
Muskelerregung  Schuld  sein  kann  an  dem  Ausbleiben  des  secundären 
Tetanus;  vielmehr  kann  es  nur  an  der  örtlichen  oder 
zeitlichen  Angriffs  weise  der  chemischen  Reizung  liegen, 
dass  die  darauf  indirect  reagirenden  Muskeln  sich  so 
ganz  anders  verhalten. 

Es  ist  dies  um  so  bemerk enswerther,  als  auch  jede  beliebige 
Form  des  vitalen  Tetanus  secundär  nur  eine  oder 
mehrere  Eingangszuckungen,  allenfalls  auch  bei  Inte r- 
misisonen  secundäre  Zwischenzuckungen,  aber  niemals 
secundären  Tetanus  liefert.  Schon  Du  Bois-Reymond 
hatte  die  Frage  untersucht,  „ob  der  Strychnintetanus  gleich  dem 
elektrischen  unterbrochener  Art  sei"  ;  der  Versuch  wurde  so  angestellt, 
dass  der  Nerv  eines  stromprüfenden  Schenkels  am  natürlichen  Längs- 
schnitt und  natürlichen  oder  künstlichen  Querschnitt  der  Schenkel- 
muskeln eines  mit  Strychnin  vergifteten  Frosches  angelegt  wurde. 
In  günstigen  Fällen  „sieht  man  den  stromprüfenden  Schenkel  in  einer 
zusammenhängenden,    obwohl  nicht   dichtgedrängten    Reihe   schwacher 


360  1*16  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Zuckungen  begriffen";  häufig  bleibt  er  aber  ganz  in  Ruhe.  Fried- 
rich (1.  c.  p.  422)  stellte  derartige  Versuche  an  Fröschen,  Kaninchen  und 
Meerschweinchen  an.  Einzelne  Zuckungen,  welche  dem  Ausbruche 
des  eigentlichen  Tetanus  vorangingen,  gaben  häufig  secundäre  Zuck- 
ungen ,  ein  ganz  ruhiger  (S  t  r  y  c  h  n  i  n  -)  Tetanus  dagegen 
gab,  Avennnicht,  wiehäufig,  jederErfolg  ausblieb,  stets 
nur  bei  seinem  Beginne  secundäre  Zuckungen,  nie  secun- 
d ä r e n  T e t a n u s.  Erscheinungen,  welche  den  von  Du  Bois-Rey- 
m  o  n  d  beobachteten  entsprachen,  traten  nur  auf,  wenn  auch  das  primäre 
Präparat  keinen  ruhigen  Tetanus,  sondern  einen  klonischen  Krampf 
zeigte.  Im  Uebrigen  wirkt  aber  der  Strychnintetanus  überaus  kräftig 
auf  angelegte  Nerven.  Starke  secundäre  Eingangszuckungen  begleiten 
fast  jeden  erneuten  Anfall  des  Starrkrampfes,  wenn  man  Frösche  so 
lange  in  äusserst  verdünnte  Strychninlösung  setzt,  dass  sie  für  Stunden 
und  Tage  zur  Demonstration  der  gesteigerten  Reflexe  geeignet  sind, 
und  den  Schenkelnerven  selbst  nur  an  die  Haut  der  Wade  des  un- 
verletzten Thieres  legt  (Kühne  1.  c.  p.  60). 

Ebenso  wenig  wie  der  Strychnintetanus  vermag  die  anhaltende 
Avillkürliche  oder  reflectorische  Contraction  secundären  Tetanus  zu  be- 
wirken. H  a  r  1  e  s  s  war  der  erste,  welcher  vom  präparirten  Gastro- 
cnemius  des  sonst  unversehrten  Frosches  bei  n  a  t  ü  r  1  i  c  h  e  n  B  e  w  e  g  u  n  - 
gen  desselben  secundäre  Wirkungen  zu  gewinnen  suchte.  Wenn 
der  Frosch  durch  intensive  Schmerzerregung  zu  langdauernder  Ver- 
kürzung der  betreffenden  Muskeln  gebracht  wurde,  beobachtete  Har- 
less  nie  secundären  Tetanus,  dagegen  meist  im  Beginn  der  Ver- 
kürzung secundäre  Zuckung.  Ebenso  verhielt  es  sich  bei  Reflex- 
bewegungen. Von  Interesse  ist  auch  ein  Versuch  von  Harless,  bei 
welchem  (am  Frosch)  einmal  das  Rückenmark  und  dann  der 
Plexus  ischiadicus  hoch  oben  elektrisch  gereizt  wurden: 
ersteren  Falls  trat  nur  secundäre  Anfangszuckung, 
letzteren  Falls  stets  secundärer  Tetanus  ein.  Hieran 
schliessen  sich  die  Beobachtungen  Hering' s  an  den  tetani sehen 
Contractionen  des  Zwerchfells,  welche  dasselbe  beim  Ath- 
men  erfährt;  es  gelingt  nicht,  vom  contrahirten  Zwerch- 
fell secundären  Tetanus  eines  mit  seinem  Nerven 
passend  angelegten  Frosch  sc  henkeis  zu  bekommen,  ob- 
wohl derselbe  sofort  in  secundären  Tetanus  verfiel,  sobald  der 
Phrenicus  schwach  elektrisch  tetanisirt  wurde  und  tertiär  zuckte,  wenn 
der  hoch  oben  abgeschnittene  Zwerchfellnerv  auf  das  noch  schlagende 
Herz  gelegt  und  so  das  Zwerchfell  durch  die  Herzschläge  zu  rhyth- 
mischen secundären  Zuckungen  gebracht  wurde.  Ein  einfaches  Mittel,  um 
eine  grosse  Reihe  secundärer  Z  uckungen  von  (reflectorisch)  gereizten 
gewöhnlichen  Skeletmuskeln  zu  erhalten,  giebt  Kühne  (1.  c.  p.  63)  an: 
ein  sich  krümmender  abgeschnittener  Eidechsen  seh  Avanz 
mit  Froschschenkelnerven  belegt,  erregt  diese  auf  das  Leb- 
hafteste. Wie  dieser  Versuch  zeigt,  besitzen  demnach  natür- 
liche, schnell  verlaufende  Contractionen  sehr  erhebliche  secun- 
däre Wirkung. 

Es  scheint,  dass  das  Telephon  in  Bezug  auf  den  Nachweis 
discontinuirlicher,  elektrischer  Schwankungswellen  im  Muskel  bei 
natürlichem  Tetanus  dem  stromprüfenden  Froschschenkel  wesentlich 
überlegen  ist.  Schon  Bernstein  und  Schönlein  (56)  hörten  an 
mit  Strychnin  vergifteten  Kaninchen  beim  Ausbruch  der  Krämpfe  „mit 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  361 

überzeugender  Deutlichkeit  einen  tiefen  singenden  Ton".  Später 
stellte  Wedenski  (48)  eine  grosse  Reihe  hierher  gehöriger  Versuche 
an.  Bei  jeder  energischen  natürlichen  Contraction  des  Triceps  femoris 
des  Frosches  gelang  es  mittels  des  Telephons,  ein  ganz  bestimmtes 
Geräusch  („Hauchen")  wahrzunehmen.  Dieselben  Erscheinungen,  nur 
noch  intensiver  und  anhaltender,  wurden  auch  während  der  durch 
Zerstörung  des  Rückenmarkes  hervorgebrachten  Krämpfe  gehört. 
Wedenski  stellte  auch  Versuche  an  sich  selbst  an  (durch  Ein- 
stechen von  zwei  Stecknadeln  in  den  Biceps  brachii),  wie  auch  an 
Hunden,  Kaninchen  und  Kröten.  Die  Thiere  wurden  entweder  mit 
Strychnin  vergiftet  oder  vom  Rückenmark  aus  tetanisirt.  Bei  allen 
diesen  Experimenten  vernimmt  man  ein  schwer  zu  definirendes,  tiefes, 
gleichmässiges  Rauschen  oder  Hauchen,  ähnlich  dem  eines  von  Ferne 
gehörten  Wasserfalles.  Hält  man  den  Arm  längere  Zeit  angestrengt 
gebeugt,  so  wird  das  Hauchen  schwächer  und  erlischt  endlich  (Er- 
müdung). Das  hauchende  Geräusch  ist  tief,  aber  seine  Tonhöhe 
unbestimmbar;  der  Versuch,  mit  Hülfe  künstlicher  Reizung  diese 
letztere  auf  synthetischem  Wege  zu  bestimmen,  ergab  insofern  ein 
negatives  Resultat,  als  Reizungen  mit  8—20  Schlägen  in  der  Sekunde 
elektrische  Muskeltöne  lieferten,  die  einen  vollkommen  verschiedenen 
Charakter  hatten  von  dem  bei  willkürlicher  Contraction  im  Tele- 
phon gehörten  Hauchen, 

So  vollkommen  daher  auch  der  telephonische  Beweis  der  oscilla- 
torischen  Natur  der  elektrischen  Vorgänge  im  willkürlich  thätigen 
Muskel  ist,  er  hat  den  einen  grossen  Mangel,  dass  er  keine  Frequenz- 
bestimmung der  Schwankungen  ermöglicht. 

Die  Ursache  des  Fehlschlagens  des  secundären  Tetanus  in  den 
oben  erwähnten  Fällen  ist  wiederholt  Gegenstand  der  Erörterung  ge- 
wesen. Schon  Du  Bois-Reymond  (1)  betont  die  vergleichsweise 
geringere  innere  Stetigkeit  des  willkürlichen  und  Strychnin-Tetanus. 
Wenn  aber  die  Contractionen  verschiedener  Fasergruppen  eines 
Muskels  nicht  gleichzeitig  erfolgen,  so  wäre  es  denkbar,  dass  die  nach 
aussen  ableitbaren,  elektrischen  Schwankungen  sich  gegenseitig  störten 
oder  vernichteten,  so  dass  die  Wirkung  auf  den  anliegenden  secundären 
Nerven  eventuell  ausbliebe,  was  nicht  der  Fall  sein  wird,  wenn 
sämmtliche  Elemente  bei  rhythmischer ,  künstlicher  Reizung  des 
Nerven  in  derselben  Phase  gleichmässig  zusammenwirken.  In  neuerer 
Zeit  haben  Hering  (55)  und  Brücke  ähnliche  Anschauungen  ge- 
äussert, und  der  Letztere  drückt  das  Verhältniss  bildlich  dadurch 
aus,  dass  er  die  künstliche  Erregung  vom  Nerven  aus  als  „salven- 
mässige"  Reizung  den  nach  Art  des  Pelotonfeuers  unregelmässig  er- 
folgenden Entladungen  der  Centralorgane  gegenüberstellt.  Auch  die 
Unwirksamkeit  des  durch  chemische  Nervenreizung  erzeugten  primären 
Tetanus  zur  Auslösung  eines  secundären  dürfte  in  ähnlicher  Weise  zu 
denken  sein.  „Vergegenwärtigt  man  sich,  dass  die  secundäre  Wirkung 
des  Muskels  nicht  von  einer  einzigen  Muskelfaser  ausgeht,  sondern 
immer  von  Fasergruppen,  und  dass  in  jeder  solchen  Gruppe  die 
Schwankungswellen  auch  ohne  Ordnung  neben  einander  verlaufen 
können,  so  findet  man  die  Umstände,  welche  vorzugsweise  Ver- 
nichtung des  äusseren  Effectes  zur  Folge  haben  werden,  da  die  Ab- 
gleichung  elektrischer  Spannungsunterschiede,  welche  die  einzige  Ur- 
sache aller  secundären  Erregung  ist,  nun  im  Muskel  selber  von  einer 
Faser  zur  andern,  von  jedem  negativen  Punkte  der  einen  zum  weniger 


362  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

negativen  oder  positiven  der  benachbarten  stattlindet"  (Kühne  50). 
Es  bleibt  also  nur  noch  das  Verständniss  zu  linden  für  das  frühe  Er- 
löschen des  secundären  Tetanus ,  beziehungsweise  für  das  Auftreten 
der  secundären  Anfangszuckung  bei  rhythmisch  „salvenmässiger", 
elektrischer  oder  mechanischer  Heizung.  Ich  glaube ,  dass  man  hier 
keinerlei  Schwierigkeiten  begegnet,  wenn  man  sich  der  Bedingungen 
für  das  Auftreten  der  primären  Anfangszuckung  erinnert  und  ins- 
besondere ihrer  Abhängigkeit  von  Intensität  und  Frequenz  der 
tetanisirenden  Reize.  Nach  Aussage  des  Capillar-Elektrometers  und 
Telephons  nimmt  die  Intensität  der  elektrischen  Schwankungen  des 
Muskels  sehr  rasch  und  jedenfalls  viel  früher  ab,  als  die  Verkürzung. 
Ist  nun  ausserdem  die  Reizfrequenz  erheblich,  so  liegt  hierin 
genügender  Grund  für  die  kurze  Dauer  des  secundären  Tetanus. 
Dazu  kommt  noch  ein  Umstand,  auf  den  Kühne  (1.  c.  p.  68)  zuerst 
aufmerksam  machte.  Bekanntlich  stellt  ein  quergestreifter  Muskel  in 
der  Regel  kein  physiologisch  einheitliches  Ganze  dar,  indem  zum 
Mindesten  zwei  functionell  verschiedene  Faserarten  in  seine  Zu- 
sammensetzung eingehen.  Die  trüben  (rothen),  langsam  beweglichen 
Fasern  brauchen  nur  in  anderem  Tempo  Veränderungen  der  Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit zu  erleiden,  als  die  flinken,  hellen  Fasern, 
um  ihre  Schwankungswellen  mit  denen  der  anderen  in  der  Weise 
interferiren  zu  lassen,  dass  an  der  Oberfläche  keine  elektrischen 
Spannungsdiff'erenzen  zur  Erregung  eines  angelegten  Nerven  mehr 
übrig  bleiben.  In  der  That  haben  wir  oben  gesehen,  dass  die  hellen 
Fasern  viel  rascher  ermüden  als  die  trüben. 

Mit  Rücksicht  auf  den  zuletzt  erwähnten  Punkt  ist  es  auch  kaum 
anzunehmen,  dass  die  an  einem  Ende  parallelfaseriger  Muskeln  er- 
zeugte Schwankungswelle  in  allen  Fasern  mit  gleicher  Phase  anlangt, 
und  hierin  dürfte  die  Erklärung  nicht  nur  der  kräftigen  Erregung, 
welche  ein  Nerv  erföhrt,  der  rechtwinklig  über  ein  starkes  Bündel 
solcher  Fasern  gelegt  ist,  sondern  vor  Allem  auch  für  die  sonst  kaum 
verständliche  secundäre  Wirksamkeit  des  regelrechten  Querschnittes 
liegen. 

Eine  bemerkenswerthe  Thatsache  ist  es,  dass  während  des 
Lebens  die  sich  contrahirenden  Muskeln  auf  die  zAvischen 
sie  gebetteten  Nerven,  wie  es  scheint,  keinerlei  secun- 
däre Wirkung  äussern.  Zwar  hat  Hering  gezeigt,  dass  die 
von  Schiff  zuerst  bemerkten  und  bis  dahin  unaufgeklärten,  mit  dem 
Herzschlag  isochronen  Zuckungen  des  Zwerchfells  (der  Katze)  bedingt 
sind  durch  die  Berührung  des  Nervus  phrenicus  mit  dem  schlagenden 
Herzen;  doch  ist  sonst  kein  Aveiterer  Fall  bekannt,  vielmehr  lässt 
sich  leicht  zeigen,  dass  unter  den  scheinbar  günstigsten  Um- 
ständen secundäre  Erregung  extramusculärer  Nerven 
in  situ  auch  durch  ihnen  fremde  Muskeln  nicht  zu 
Stande  kommt.  Durchschneidet  man  den  Nervus  ischiadicus  dicht 
unterhalb  des  Abganges  der  Oberschenkeläste,  so  bleiben  selbst  bei 
sehr  starker  tetanisirender  Reizung  des  Plexus  sacralis  die  Muskeln 
des  Unterschenkels  und  Fusses  ruhig,  obschon  der  Unterschenkel- 
nerv zwischen  lauter  contrahirten  Oberschenkelmuskeln  eingebettet 
liegt  (Kühne).  Dass  dies  nicht  auf  die  Nebenschliessung  der 
Actionsströme  innerhalb  der  umhüllenden  Muskelmasse  zu  beziehen 
ist,  lässt  sich  leicht  zeigen.  Kühne  erhielt  stets  secundäre  Wir- 
kungen,   wenn    er    den    Nerven    eines    Froschschenkels    in    den    aus- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  363 

gebeinten  Oberschenkel  einpackte  und  dann  den  Plexus  ischiadicus 
reizte,  und  ebenso  ist  es  auch  bekannt,  wie  wenig  andere  feuchte,  als 
Nebenschliessung  dienende  Körper  die  secundäre  Wirkung  zu  be- 
hindern vermögen.  Dicke  Lagen  von  Fliesspapier  oder  allseitige  Um- 
hüllung des  mit  dem  secundären  Nerven  belegten  primären  Muskels 
mit  den  Eingeweiden  eines  Froschweibchens  stören  in  keiner  Weise 
die  secundären  Reizerfolge.  Dass  es  sich  bei  der  secundären  Un- 
erregbarkeit  in  situ  befindlicher  Nerven  um  eine  besondere,  „den  Be- 
dürfnissen wohl  geregelter  Muskel-  und  Nerventhätigkeit  angepasste 
Anordnung  handelt,  welche  in  Wahrheit  weit  mehr  leistet,  als  die 
natürlichen  Verhältnisse  erfordern",  scheint  aus  dem  Umstände  hervor- 
zugehen, dass,  wie  Kühne  sah,  eine  selbst  nur  geringe  Dislocation. 
des  zwischen  den  Oberschenkelmuskeln  liegenden  Nerven,  ja  selbst 
nur  das  einfache  Biossiegen  desselben  die  sonst  fehlende  secundäre 
Wirksamkeit  sofort  hervortreten  lässt,  während  dieselbe  nach  Schliessung 
der  Wunde  wieder  schwindet.  Man  wird  mit  Kühne  „kaum  umhin 
können,  den  Schutz  in  situ  befindlicher  Nerven  vor  der  anscheinend 
gefährlichen  Nachbarschaft  der  Muskeln,  zwischen  welchen  sie  ver- 
laufen, in  Eigenthümlichkeiten  dieser  zu  suchen,  welche  denselben 
nicht  erlauben,  anders  neben  einander  thätig  zu  werden,  als  in  einer 
die  Abgleichung  der  myoelektrischen  Spannungen  durch  die  Gegend 
des  Nervenverlaufes  verhindernden  Weise",  was  vielleicht  auf  das 
Princip  der  Interferenz  oder  des  Ausschlusses  summirter  Wirkung  der 
Schwankungswellen  zurückführbar  sein  dürfte. 

Da  es  durch  Hering  festgestellt  wurde,  dass  der  Muskel  durch 
seinen  eigenen  Demarcationsstrom  erregt  werden  kann,  so  lag  die 
Vermuthung  nahe,  dass  es  auch  möglich  sein  müsste,  secundäre 
Erregung  von  Muskel  zu  Muskel  zu  erzielen.  Ungeachtet 
vieler  Bemühungen  blieben  die  ersten  Versuche,  dieses  Ziel  zu  er- 
reichen, stets  erfolglos,  indem  weder  bei  partieller  Erregung  eines 
Muskels  sämmtliche  Fasern,  noch  bei  Totalerregung  die  benachbarten 
Muskeln  mit  erregt  wurden.  Kühne  gelang  es  zuerst,  secundäre 
(praesystolische)  Erregung  des  Froschsartor ius  durch  die 
Actio nsströme  des  langsam  schlagenden  Schildkröten- 
herzens zu  erzielen,  welches  sich,  wie  oben  erwähnt  wurde,  gerade 
durch  seine  secundäre  Unwirksamkeit  auf  Froschnerven  auszeichnet. 
Es  zeigt  diese  Thatsache  neuerdings,  wie  sehr  es  bei  der  secundären 
Erregung  auf  den  zeitlichen  Verlauf  der  Actionsströnie  ankommt:  der 
langsamer  reagirende  Muskel  spricht  leichter  auf  eine  langsamer  ver- 
laufende Sehwankungswelle  an,  während  der  rasch  reagirende  Nerv 
auch  besser  durch  eine  rasch  verlaufende  Schwankung  erregt  wird. 
Später  gelang  es  Kühne,  unter  gewissen  besonderen  Umständen 
secundäre  Erregung  von  Muskel  zu  Muskel  auch  an  Skeletmuskeln 
des  Frosches  zu  erzielen. 

Während  es  niemals  glückt,  einen  Sartorius  dadurch  zur  Con- 
traction  zu  bringen,  dass  man  ihn  mit  einem  andern  direct  oder  in- 
direct  gereizten  Muskel  ohne  Druck  zusammenschmiegt,  bleibt  der 
Erfolg  nie  aus,  wenn  die  Muskeln  theilweise  auf  einander 
gepresst  werden  (Kühne  57).  Man  sieht  unter  diesen  Umständen 
einen  Muskel  sogar  auf  eine  ganze  Reihe  anderer,  mit  den  Enden 
unter  Druck  zusammengefügter  Muskeln  secundär  erregend  wirken. 
Indirecte  Reizung  des  primären  Präparates  vom  Nerven  aus  erweist 
sich   selbst   in   solchen  Fällen  noch  wirksam,    wo  sonst  die  secundäre 


3ß4  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Erregung  auf  einen  anliegenden  Nerven  in  der  Regel  ausbleibt. 
Dies  gilt  insbesondere  hinsichtlich  der  durch  Glycerin  erzeugten 
klonischen  und  tonischen  Krämpfe,  welche  das  secundäre  Nerv-Muskel- 
präparat bekanntlich  nur  ausserordentlich  schwach  erregen.  Dies 
ändert  sich  jedoch  sofort,  sobald  der  primäre  Muskel  partiell  gepresst 
wird,  indem  dann  auch  der  secundäre,  in  der  Nähe  der  Pressstelle  an- 
gelegte Nerv  bei  Glycerinreizung  des  primären  Nerven  auf  das  Aller- 
kräftigste  erregt  wird.  Dasselbe  ist  der  Fall,  wenn  ein  zweiter 
Sartorius  mittels  der  Presse  zwischen  den  ersten  und  den  Schenkel- 
nerven eingeschaltet  wird.  Dagegen  ist  die  kräftigste,  durch  Ein- 
wirkung von  Ammoniak  auf  den  primären  Muskel  bedingte  Erregung 
desselben  ebenso  unfähig,  auf  den  secundären  Nerven,  wie  auf  einen 
zweiten  Muskel  übertragen  zu  werden.  Directe  elektrische  Reizung  des 
primären  Muskels,  die  sonst  bekanntlich  wenig  geeignet  ist,  einen  an- 
liegenden Nerven  secundär  zu  erregen,  erweist  sich  an  gepressten 
Muskeln  höchst  wirksam  zu  secundärer  Erregung  des  angeschmiegten 
Muskels,  und  zwar  selbst  in  dem  Falle,  wenn  der  Strom  im  Muskel 
von  der  Sehne  zur  Oberfläche  gerichtet  ist.  Charakteristisch  für  jeden 
gepressten  Muskel  ist  die  Totalcontraction  auf  einen  locali- 
sirten  Reiz,  sowie  die  Neigung  zu  anhaltend  tetanischer 
Verkürzung.  Die  erstere  Erscheinung  erklärt  .sich  leicht  durch 
die  secundäre  Wirkung  von  Faser  zu  Faser,  und  beide  wirken  zu- 
sammen, um  den  partiell  gepressten  Muskel  so  ungemein  empfindlich 
erscheinen  zu  lassen:  „Bei  jedem  Anfassen,  worauf  der  normale  nur 
mit  ein  paar  Randfasern  fast  unmerklich  reagirt,  fährt  der  gepresste, 
in  seiner  Unfähigkeit,  bündelweise  zu  zucken,  gleich  in  ganzer  Breite 
zusammen,  und  während  der  erstere  an  einer  kleinen  Last  kaum 
rütteln  würde,  ist  dieser  im  Stande,  ein  grosses  Gewicht  zu  heben 
und,  indem  er  noch  tetanisch  wird,  es  auf  eine  bedeutende  Höhe  zu 
bringen  und  während  vieler  Sekunden  erhoben  zu  halten"  (K  ü  h  n  e).  Mit 
Rücksicht  auf  die  Frage  nach  der  Stetigkeit  oder  Discontinuität  des  elek- 
tromotorischen Vorganges  bei  der  tetanischen  Contraction  gepresster 
Muskeln  ist  es  von  Wichtigkeit,  zu  bemerken,  dass  im  Gegensatze  zu 
der  secundären  Unwirksamkeit  des  Schliessungs-  und  OefFnungstetanus 
oft  der  kräftigste  secundäre  Tetanus  erzielt  wird,  wenn  bei  Reizung 
des  primären,  partiell  gepressten  Sartorius  mit  einem  Kettenstrom  der 
secundäre  Nerv  dem  aus  der  Presse  hervorragenden  Stück  des  Muskels 
angelegt  wird.  Es  scheint  hieraus  hervorzugehen,  dass  der  den  Reiz 
überdauernde  Tetanus  gepresster  Muskeln  keineswegs  als  Contractur 
aufzufassen  ist,  sondern  bezüglich  des  elektromotorischen  Verhaltens 
als  ein  ähnlich  discontinuirlicher  Vorgang  sich  erweist,  wie^  bei  dem 
echten  oscillirenden  Tetanus  durch  rhythmische  Reizung. 

Könnte  es  noch  einem  Zweifel  unterliegen,  dass  es  sich  in  allen 
erwähnten  Fällen  um  eine  elektrische  Miterregung  des  anliegenden 
Muskels  (oder  Nerven)  handelt,  so  würde  derselbe  mit  Rücksicht  auf 
die  Erfahrung  hinfällig,  dass  selbst  die  dünnste  Schicht  eines  schmieg- 
samen Nichtleiters,  sowie  andererseits  eine  metallische  Zwischenschicht 
(Blattgold)  das  Zustandekommen  der  secundären  Erregung  verhindert. 
Kühne  ist  es  überdies,  wiewohl  nur  selten,  gelungen,  die  secundäre 
Erregung  von  Muskel  zu  Muskel  auch  unter  Vermittlung  von  Elek- 
tricitätsleitern  (Kochsalzthon)  zu  erzielen,  durch  welches  Verfahren 
seiner  Zeit  Du  Bois-Reymond  zuerst  den  unanfechtbaren  Beweis 
geliefert    hatte,    dass    die  Matteucci' sehe  Zuckung  auf  elektrischen 


Die  elektromotorischen  Wirkimg'en  der  Muskeln.  365 

Vorgängen  im  primären  Muskel  beruht.  Auf  die  eigentliche  Ursache 
des  merkwürdigen  Einflusses,  welchen  das  Pressen  der  Muskeln  auf 
deren  secundäre  Wirksamkeit  besitzt,  werfen  Versuche  Licht,  welche 
ich  selbst  über  die  Folgen  des  Wasserverlustes  durch  Eintrocknen 
angestellt  habe  (58). 

Lässt  man  todte,  enthäutete  Frösche  oder  auch  nur  Theile  von 
solchen  mehrere  Stunden  bei  nicht  zu  hoher  Aussentemperatur  frei 
der  Luft  ausgesetzt  liegen,  so  dass  die  Muskeln  an  der  Oberfläche 
allmählich  eintrocknen,  so  gewinnen  dieselben  in  einem  gewissen 
Stadium  der  Vertrocknung  sehr  auffallende  Eigenschaften,  durch 
welche  sie  sich  auf  das  Schärfste  von  normalen  Muskeln  unterscheiden, 
selbst  wenn  sich  diese  im  Zustande  höchster  Erregbarkeit  belinden. 
Wie  bei  partiell  gepressten  Muskeln  bewirkt  dann  jeder  auch  noch 
so  localisirte  Reiz  eine  äusserst  kräftige  und  zugleich  langanhaltende 
Dauerverkürzung  des  ganzen  direct  getroffenen  Muskels  und  in 
vielen  Fällen  auch  anderer,  anliegender  Muskeln,  so  dass  es  zu  höchst 
energischen  Bewegungen  und  Lageänderungen  der  betreffenden  Ex- 
tremität kommt,  die  oft  ganz  den  Eindruck  reflectorisch  oder 
willkürlich  ausgelöster  Bewegungen  machen.  Nicht  selten  ist  die 
Erregbarkeit  in  solchem  Maasse  gesteigert,  dass  schon  eine  leichte 
Erschütterung,  etwa  durch  Aufsetzen  des  Tellers,  auf  welchem  ent- 
häutete Froschreste  liegen,  genügend  erscheint,  um  gewisse  Muskeln 
in  anhaltende  Contractur  zu  versetzen;  immer  jedoch  reicht  eine 
leichte  Berührung  der  trocknenden  Oberfläche  aus,  um  diesen  Erfolg 
herbeizuführen.  Dass  das  geschilderte  Verhalten  vertrocknender 
Muskeln  hauptsächlich  durch  den  Wasserverlust  der  oberflächlichen 
Faserschichten  bedingt  wird,  lässt  sich  leicht  zeigen,  wenn  man  jene 
Stellen  eines  Präparates,  die  sich  bei  mechanischer  oder  elektrischer 
Reizung  als  die  empfindlichsten  erwiesen,  mit  physiologischer  Koch- 
salzlösung befeuchtet,  worauf  die  charakteristischen  Erfolge  sehr  bald 
dauernd  verschwinden,  obschon  es  nach  wie  vor  gelingt,  dieselben  von 
andern  trockenen  Stellen  aus  zu  erzielen. 

Legt  man  einen  freipräparirten,  im  richtigen  Stadium  der  Ver- 
trocknung befindlichen  Sartorius  so  auf  eine  Glasplatte,  dass  die  fas- 
cienlose  Innenseite  nach  unten  gekehrt  ist,  so  lassen  sich  sofort  und 
mit  den  einfachsten  Mitteln  eine  Reihe  von  Thatsachen  feststellen, 
welche  ein  derartiges  Präparat  in  schärfster  Weise  von  einem  nor- 
malen, wenn  auch  noch  so  erregbaren  Muskel  unterscheiden  lassen. 
Reizt  man,  etwa  mit  einer  Nadelspitze,  an  irgend  einer  Stelle  des  Innen- 
oder Aussenrandes  die  demselben  zunächstliegenden  Fasern,  so  tritt 
in  der  Regel  sofort  eine  kräftige  Zusammenziehung  des  ganzen 
Muskels  ein,  so  dass  kein  Zweifel  darüber  bestehen  kann,  dass  die  Er- 
regung, die  ursprünglich  nur  auf  wenige  Primitivfasern  beschränkt 
war,  sich  in  irgend  einer  Weise  auch  den  übrigen  mittheilt.  Auch 
hier  ist  die  Contraction  nach  möglichst  kurz  dauernder  Reizung  eine 
lang  anhaltende,  tetanische,  ganz  wie  bei  partiell  gepressten  Muskeln. 
Zu  einer  Totalerregung  des  ganzen  Sartorius  kommt  es  bei  beginnen- 
der Vertrocknung  auch  dann,  wenn  man  den  Muskel  der  Länge  nach 
theilweise  schlitzt  (Kühne' s  „Zweizipfelversuch")  und  nur  den  einen 
Zipfel  direct  elektrisch  oder  mechanisch  reizt.  Man  sieht  dann  regel- 
mässig beide  Zipfel  sich  gleichzeitig  contrahiren,  und  da  der  Versuch 
bisweilen  noch  gelingt,  wenn  die  verbindende  Muskelbrücke  kaum 
V2  cm    lang    ist,    so    dürfte    die    rein    mechanische    Wirkung   des 


3gg  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

direct  gereizten  Faserbündels  auf  die  benachbarte  Hälfte  kaum  ge- 
nügend sein,  um  innerhalb  der  kurzen  Strecke,  in  der  sie  sich  allein 
noch  geltend  zu  machen  vermag,  eine  wirksame  Miterregung  herbei- 
zuführen. Es  besteht  also,  wie  man  sieht,  fast  völlige  Ueberein- 
stimmung  hinsichtlich  des  Verhaltens  eines  isolirten,  vertrocknenden 
und  eines  frischen,  partiell  gepressten  Sartorius. 

Dies  zeigt  sich  ebenso  bei  Versuchen,  bei  welchen  die  Ueber- 
tragung  der  Erregung  von  einem  Sartorius  auf  einen  zweiten  ihm 
dicht  anliegenden  bewerksteUigt  wird.  Legt  man  zwei  geeignete 
Muskeln  mit  den  breiten  unversehrten  Beckenenden  derart  zusammen, 
dass  die  trockenen  Aussenseiten  beider  sich  in  einer  Aus- 
dehnung von  etwa  1  cm  dicht  berühren,  so  verhalten  sich  beide 
Muskeln  nunmehr  wie  ein  Ganzes,  wie  eine  in  sich  zusammen- 
hängende, allseitig  leitende,  erregbare  Masse.  Jede  durch  einen  noch 
so  beschränkten  Reiz  ausgelöste  Erregung  des  einen  Muskels  über- 
trägt sich  nicht  nur  in  diesem  selbst  von  Faser  zu  Faser,  sondern 
der  in  seiner  Gesammtheit  zuckende,  primär  gereizte  Muskel  versetzt 
sofort  auch  den  andern  in  secundäre  Miterregung. 

Es  wurde  schon  hervorgehoben,  dass  vertrocknende  Muskeln  sich 
ganz  ebenso  wie  gepresste  dadurch  auszeichnen,  dass  sie  auf  einen 
kurzdauernden,  einmaligen  Reiz  nicht  wie  unter  normalen  Verhält- 
nissen mit  einer  rasch  verlaufenden  Zuckung  reagiren,  sondern  fast 
regelmässig  in  eine  länger  anhaltende  Contractur  oder  wohl  auch 
einen  Zustand  dauernder  Unruhe  gerathen.  Letzterenfalls  hat  man 
Gelegenheit,  zu  beobachten,  dass  der  secundäre  Muskel  jeder  Be- 
wegung des  primären  in  allen  Einzelheiten  auf  das  Genaueste  folgt, 
als  würde  die  Erregung  von  einem  Präparat  direct  auf  das  andere 
tibertragen.  Bemerkenswerth  ist  auch  das  Verhalten  der  secundären 
Erregung  von  vertrocknenden  Muskeln  zu  angelegten  Nerven,  da  es 
zu  Gunsten  der  Annahme  zu  sprechen  scheint,  dass  der  scheinbar 
stetigen  Contractur  nach  einmaliger  kurzer  Reizung  eine  rhythmisch- 
discontinuirliche  Zustandsänderung  entspricht.  Legt  man  den  Nerven 
eines  empfindlichen  Präparates  der  Länge  nach  an  einen  frei  präpa- 
rirten  vertrocknenden  Sartorius,  so  sieht  man  bei  jeder  Contractur 
desselben  den  Schenkel  in  ruhigen  secundären  Tetanus  verfallen, 
gleichgiltig,  ob  jene  durch  eine  discontinuirliche  Erregung  oder  durch 
einen  einmaligen,  kurzdauernden  Reiz  ausgelöst  wurde.  Gepresste 
Muskeln  zeigen  nach  Kühne,  wie  oben  erwähnt  wurde,  ein  ganz 
gleiches  Verhalten. 

Die  vollkommene  Uebereinstimmung  vertrocknender  und  gepresster 
Muskeln  lässt  vermuthen,  dass  die  auffallende  Neigung  zu  secundärer 
Erregung  in  beiden  Fällen  einer  und  derselben  Ursache  zuzuschreiben 
ist,  nämlich  dem  Wasser  Verlust,  der  im  einen  Falle  durch  langsame 
Verdunstung,  im  andern  durch  starken  Druck  herbeigeführt  wird.  Es 
kann  dabei  kaum  in  Betracht  kommen,  dass  die  Veränderung  im 
einen  Falle  den  ganzen  Muskel,  im  andern  dagegen  nur  einen 
grösseren  oder  kleineren  Abschnitt  desselben  betrifft,  innerhalb  dessen 
die  secundäre  Erregung  erfolgt.  Kühne  erwähnt  selbst  gelegentlich, 
dass  „der  Muskel  wie  vertrocknet  aus  der  Presse  kam",  und  macht 
an  anderer  Stelle  auf  das  „trockene,  glanzlose  Aussehen"  der  ge- 
pressten, abgeplatteten  Muskelstrecke  aufmerksam,  deren  Verhalten 
auch  nach  Aufhören  des  Druckes  noch  bestehen  bleibt,  so  dass  noth- 
wendig   eine   durch   denselben   bewirkte  Veränderung    der  Muskel- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  367 

Substanz  als  die  eigentliche  Ursache  der  secundären  Wirksamkeit  an- 
gesehen werden  muss.  Auch  hinsichtlich  der  Erregbarkeit  scheinen 
im  Allgemeinen  gepresste  und  vertrocknende  Muskeln  übereinzu- 
stimmen, indem  dieselbe  in  beiden  Fällen  erheblich  gesteigert  er- 
scheint. Freilich  ist  dies  bei  langsamem  Wasserverlust  durch  Ver- 
dunstung in  einem  viel  höheren  Maasse  der  Fall,  als  bei  dem  Pressen, 
wo  Kühne  nur  Anfongs  eine  deutliche  Erregbarkeitssteigerung  der 
Pressstrecke  nachzuweisen  vermochte,  während  dieselbe  später,  un- 
geachtet starker  secundärer  Wirkungen,  eine  bedeutend  verminderte 
Anspruchsfähigkeit  zeigte.  Es  kann  übrigens  die  Erregbarkeitssteige- 
rung an  sich  nicht  als  die  alleinige  Ursache  der  secundären  Erregung- 
angesehen  werden,  da  sich  leicht  zeigen  lässt,  dass  eine  in  anderer 
Weise  herbeigeführte,  noch  viel  bedeutendere  Erregbarkeitserhöhung 
(etwa  durch  Einwirkung  von  Lösungen  von  Na^COg)  den  Muskeln 
nicht  die  Fähigkeit  ertheilt,  in  der  geschilderten  Weise  auf  einander 
zu  wirken.  Ebenso  wenig  kann  dies  ferner  durch  den  veränderten 
zeitlichen  Verlauf  der  Erregung  bedingt  sein,  da  sonst  Vergiftung 
mit  Veratrin,  wodurch  die  Muskeln  bekanntlich  auch  in  einen  Zu- 
stand gerathen,  in  welchem  sie  bei  jedem  leichten  Reize  in  lang- 
dauernde  Contractur  verfallen,  die  Fähigkeit  der  secundären  Er- 
regung von  Muskel  zu  Muskel  bedingen  müsste,  was  nie  der  Fall  ist. 
Ein  sehr  wesentliches  Moment  scheint  mir  dagegen  in  dem  Umstände 
zu  liegen,  dass  die  gegenseitige  Berührung  der  Präparate  eine  unver- 
hältnissmässig  innigere  ist,  wenn  die  sich  berührenden  Flächen  einen 
gewissen  Grad  von  Trockenheit  besitzen.  Dies  hat  vielleicht  auch 
für  den  einzelnen  Muskel  Geltung,  indem  sich  die  einzelnen  Primitiv- 
fasern in  dem  Maasse  dichter  an  einander  legen,  als  der  Muskel  Wasser 
verliert.  Doch  erscheint  es  dabei  auffallend,  dass,  ungeachtet  der  un- 
zweifelhaften Verschiedenheit  des  Wassergehaltes  in  den  oberflächlich 
und  tiefer  gelegenen  Faserschichten  des  Muskels,  die  Uebertragung 
der  Erregung  sich  doch  nicht  bloss  auf  die  ersteren  zu  beschränken 
scheint ,  obschon  die  directe  Reizung  der  feuchteren ,  fascienlosen 
Innenseite  weniger  sicher  zu  secundärer  Erregung  des  Muskels  führt, 
als  Reizung  der  trockenen  Aussenseite.  Es  scheint  dies  dafür  zu 
sprechen ,  dass  die  trockenen  Faserschichten ,  welche  zugleich  die 
erregbareren  sind,  sich  vielleicht  noch  in  anderer  Beziehung  (etwa 
durch  eine  stärkere  elektromotorische  Wirksamkeit)  vor  den  andern 
auszeichnen.  Jedenfalls  dürften  mehrere  Umstände  zusammenwirken, 
um  das  geschilderte  Verhalten  vertrocknender  oder  gepresster  Mus- 
keln herbeizuführen. 

Jüngst  hat  Langender  ff  (59)  interessante  Beobachtungen  über 
ganz  analoge  Erscheinungen  wie  an  vertrocknenden 
Muskeln  nach  Injection  von  Glycerin  unter  die  Haut 
von  Fröschen  mitgetheilt,  die  offenbar  ebenfalls  auf  der  durch 
Wasserentziehung  bedingten  Fähigkeit  zu  secundärer  Erregung  von 
Muskel  zu  Muskel  beruhen.  Werden  1,5 — 2  ccm  Glycerin  unter  die 
Rückenhaut  eines  curarisirten  Frosches  injicirt,  so  treten  nach  einiger 
Zeit  bei  jeder  Reizung  eines  Muskels  heftige  und  lang  andauernde 
Contractionen  nicht  nur  dieses  letzteren  selbst,  sondern  auch  benach- 
barter Muskeln  auf,  welche  durchaus  jenen  gleichen,  die  man  an  ver- 
trocknenden Präparaten  zu  beobachten  Gelegenheit  hat,  und  zweifellos 
auch  in  gleicher  Weise  zu  deuten  sind. 


368  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 


III.    Die  positive  Schwankung  des  Muskelstromes. 

Nach  Hering's  Auffassung  würde  von  den  „Actionsströmen"  im 
Hermann'schen  Sinne  ^  welche  nur  durch  absteigende  Aenderung  der 
einen  abgeleiteten  Stelle  entstehen,  „eine  andere  Art  von  Actions- 
strömen zu  unterscheiden  sein,  welche  durch  aufsteigende  Aenderung 
der  einen  abgeleiteten  Stelle  bedingt  sind,  während  die  andere  dabei 
nicht  nothwendig  in  absteigender  Aenderung  begriffen  zu  sein  braucht". 
Man  würde,  wie  leicht  ersichtlich,  wenn  dieser  Fall  bei  Muskeln 
wirklich  vorkommt,  als  Folge  tetanisirender  Reize  bei  Vorhandensein 
eines  künstlichen  Querschnittes  nicht,  wie  in  allen  bisher  besprochenen 
Fällen,  eine  negative,  sondern  umgekehrt  eine  positive  Schwankung 
des  Demarcationsstromes  zu  erwarten  haben,  indem  jeder  abgeleitete 
Punkt  der  unversehrten  Oberfläche  in  Folge  der  eingeleiteten  auf- 
steigenden Aenderung  sich  positiver  zum  Querschnitt  verhalten  müsste, 
als  vorher.  In  neuerer  Zeit  sind  nun  in  der  That  einige  Beobachtungen 
mitgetheilt  worden,  welche  zu  beweisen  scheinen,  dass  der  inRede  stehende, 
theoretisch  mögliche  Fall  wirklich  vorkommt.  Nachdem  zuerst  Gas  kell 
am  Herzmuskel  der  Schildkröte  bei  Reizung  des  N.  vagus  eine  aus- 
gesprochene positive  Schwankung  beobachtet  hatte,  ist  es  mir  selbst 
gelungen,  die  gleiche  Erscheinung  bei  indirecter  tetanisirender  Reizung 
des  Schliessmuskels  der  Ki-ebsscheere  nachzuweisen.  Auf  Grund  von 
ausgedehnten  Untersuchungen  über  die  Innervation  und  die  physio- 
logischen Eigenschaften  des  Herzmuskels  gelangte  Gas  kell  (60)  zu 
der  Ansicht,  dass  derselbe  (wie  auch  andere  Gewebe)  von  zweierlei, 
functionell  verschiedenen  Nervenfasern  versorgt  wird,  von  welchen  er 
die  einen  (motorische  bezw.  accellerirende  Nerven)  als  „katabolisch" 
bezeichnet,  weil  es  ihre  Aufgabe  sei,  in  dem  Gewebe  eine  destruc- 
tive  Veränderung  einzuleiten,  die  anderen  (Hemmungsfasern)  als 
„anabolisch",  weil  die  Veränderung ,  die  sie  hervorrufen ,  c  o  n  - 
structiver  Art  (assimilatorischer  Natur)  ist;  wie  dieser  Auffassung 
zu  Folge  „eine  Zuckung  oder  ein  Zuwachs  in  der  Kraft  der  Muskel- 
thätigkeit  ein  Zeichen  von  Disintegration  (Dissimilation)  ist  oder  ein 
Zeichen  der  Thätigkeit  eines  katabolischen  oder  motorischen  Nerven, 
ebenso  ist  Erschlaffung  ein  Zeichen  der  Integration  (Assimilation), 
d.  h.  der  Thätigkeit  eines  anabolischen  oder  Hemmungsnerven".  Eine 
ähnliche  Ansicht  hatte  schon  früher  in  Anlehnung  an  H  e  r  i  n  g  '  s  Ent- 
wicklungen Löwit  (61)  ausgesprochen.  Auch  waren  bereits  vor 
G  a  s  k  e  1 1 ,  w^iewohl  ohne  Erfolg,  daraufhin  Versuche  angestellt  worden, 
ob  etwa  der  durch  Vagusreizung  bewirkte  diastolische  Stillstand  des 
Herzens  von  besonderen  galvanischen  Wirkungen  begleitet  sei.  Mittels 
des  Telephons  untersuchte  Wedenski  (62),  mittels  des  Capillar- 
elektrometers  Taljantzeff  (63)  das  Froschherz  während  des  Vagus- 
stillstandes; da  im  einen  Falle  kein  Ton,  im  andern  kein  Ausschlag 
bemerkbar  wurde,  so  schien  der  Schluss  auf  Abwesenheit  einer  irgend- 
wie gearteten  galvanischen  Wirkung  begründet.  Bei  einer  Reizung, 
welche  keine  völlige  Aufhebung,  sondern  nur  eine  Verlangsamung 
der  Herzschläge  veranlasste,  hörte  Wedenski  eine  Reihe  von  kurzen, 
mit  den  Herzperioden  zusammenfallenden  Tönen,  deren  Höhe  derjenigen 
des  Inductoriums  entsprach.  Die  Deutung  derselben  als  Ausdruck 
der  Wirkung  motorischer  Vagusfasern  muss  aber  wohl  als  sehr  frag- 
lich bezeichnet  werden.     Es  ist  nun  ohne  Weiteres  klar,  dass  es  nicht 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  369 

wohl  angeht,  einen  beweisenden  Versuch  über  die  eventuellen  galva- 
nischen Folgewirkungen  der  Vagusreizung  wälirend  der  Fortdauer 
der  normalen  rhythmischen  Thätigkeit  des  Herzens  anzustellen;  an- 
dererseits ist  es  aber  nicht  leicht,  einen  länger  anhaltenden  Still- 
stand zu  erzielen ,  ohne  dass  die  anatomischen  und  functionellen 
Beziehungen  des  Nerven  zum  Muskel  in  erheblichem  Grade  gestört 
sind.  Gas  kell  ist  es  jedoch  gelungen,  aus  dem  Herzen  der  Schild- 
kröte ein  Präparat  zu  gewinnen,  welches  dem  gewöhnlichen  Nerv- 
Muskelpräparat  insofern  entspricht,  als  sich  der  Muskel  dauernd  in 
Ruhe  befindet,  während  dagegen  der  Nerv  ein  H  emmungsn  erv  ist. 
Bei  der  Schildkröte  sowohl  wie  auch  beim  Krokodil  verläuft  ein  be- 
sonderer Nerv  („Coronarnerv")  mit  einer  der  Coronarvenen  vom  Venen- 
sinus zu  der  Herzfurche,  den  man  im  Zusammenhang  mit  dem  Sinus 
von  den  übrigen  Herzabtheilungen  völlig  freipräpariren  kann,  so  dass 
der  Nerv'  nunmehr  die  einzige  Verbindung  zwischen  dem  vom  Sinus 
getrennten  Vorhof  mit  seinem  Ventrikel  bildet.  Da  beide  unmittelbar 
nach  der  Trennung  längere  Zeit  vollkommen  ruhig  bleiben  und  erst 
später  wieder  zu  pulsiren  anfangen,  so  ist  es  möglich,  während  der 
Ruhepause  den  beabsichtigten  Versuch  auszuführen.  Zu  diesem 
Zwecke  wird  die  Spitze  des  betreficnden  Vorhofes  verbrüht,  so  dass 
ein  starker  Demarcationsstrom  entsteht,  wenn  die  ableitenden  Elek- 
troden einerseits  den  thermischen  Querschnitt,  anderseits  die  unver- 
sehrte Basis  berühren.  Wie  der  Ventrikelstrom,  so  nimmt  auch  der 
Vorhofsstrom  Anfangs  rasch,  dann  immer  langsamer  ab.  Während 
dieser  Zeit  bewirkt  nun  jede  Vagusreizung  eine  posi- 
tive Schwankung,  welche,  rasch  beginnend,  in  der  Regel  schon 
nach  10  Sekunden  ihr  Maximum  erreicht,  um  nach  Beendigung  der 
Reizung  mit  zunehmender  Schnelligkeit  zu  verschwinden,  so  dass  in 
18 — 20  Sekunden  der  Magnet  jene  Lage  einnimmt,  in  die  er  auch 
ohne  Vagusreizung  gelangt  sein  würde.  Es  kann  nicht  bezweifelt 
werden,  dass  diese  Wirkung  auf  Veränderungen  beruht,  welche  in  dem 
unverletzten  Theil  des  Vorhofes  entstehen  und  „von  einem  Zuwachs 
der  Positivität  an  dieser  Stelle  begleitet  sind ,  geradeso  Avie  die  Con- 
traction  des  Vorhofes  von  einer  Verminderung  der  Positivität  des  un- 
verletzten Gewebes  begleitet  ist".  Beginnt  daher  der  Vorhof  wieder 
zu  schlagen ,  so  bewirkt  jede  Contraction  eine  in  der  Regel  viel 
stärkere  negative  Schwankung  des  Demarcationsstromes,  doch 
kommen  auch  Fälle  vor,  wo  beide  Schwankungsformen  annähernd 
gleich  gross  ausfallen ;  ein  charakteristischer  Unterschied  macht  sich 
jedoch  stets  hinsichtlich  der  Schnelligkeit  des  Abklingens  beider  Wir- 
kungen geltend.  Immer  erfolgt  der  Rückschwung  des  Magneten  nach 
der  negativen  Schwankung  unverhältnissmässig  rascher  als  nach  einer 
positiven.  Wird  die  Reizung  des  Vagus  längere  Zeit  fortgesetzt,  so 
kann  noch  während  derselben  die  positive  Schwankung  völlig  abklingen. 
Durch  Atropinvergiftung  lässt  sich  die  Fähigkeit  des  Vagus,  die  ge- 
schilderten galvanischen  Wirkungen  hervorzurufen,  ebenso  sicher  auf- 
heben, wie  die  bewegungshemmende  Function  desselben. 

Bekanntlich  steht  das  Herz  nicht  nur  unter  dem  Einfluss  hemmen- 
der, sondern  auch  antagonistisch  wirkender,  erregender  Nervenfasern, 
und  es  war  daher  an  die  Möglichkeit  zu  denken,  durch  Reizung  dieser 
letzteren  auch  gegensinnige  galvanische  Wirkungen  zu  erzielen.  In 
der  That  ist  es  Gaskell  gelungen,  hierbei  unter  gewissen  Umständen 
eine  negative  Schwankung  am  ruhenden  Ventrikel  hervorzurufen  (64). 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  24 


370  I^ie  elektroniotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Untersuchungen,  welche  ich  selbst  über  die  Innervationsverhält- 
nisse  der  Scheerenmuskeln  des  Krebses  ausführte  (65),  deren  Resultate 
später  noch  eingehend  zu  besprechen  sein  werden,  haben  ergeben,  dass 
auch  hier  jeder  der  beiden  antagonistisch  wirkenden  Muskeln,  ähnlich 
wie  das  Herz,  unter  dem  Eiufluss  von  zweierlei,  functionell  verschie- 
denen (hemmenden  und  erregenden)  Faserarten  steht,  die,  in  dem- 
selben Nervenstamm  verlaufend,  entgegengesetzte  mechanische  Effecte 
hervorzurufen  vermögen.  Es  lag  daher  der  Gedanke  nahe,  dass  den- 
selben auch  entgegengesetzte  elektromotorische  Wirkungen  als  negative 
beziehungsweise  positive  Schwankung  des  Muskelstromes  entsprechen 
Avürden.  Der  Untersuchung  standen  allerdings  nicht  unerhebliche 
Schwierigkeiten  entgegen,  die  einerseits  in  dem  Umstände  begründet 
sind,  dass  es  wenigstens  beim  Flusskrebs  nicht  möglich  ist,  den  Nei'ven 
in  erregbarem  Zustande  zu  isoliren,  während  man  andererseits  ge- 
zwungen ist,  auch  den  Muskel  innerhalb  der  Chitinschaale  zu  belassen. 
Dazu  zwingen,  abgesehen  von  allen  anderen  Gründen,  schon  die  Ur- 
sprungsverhältnisse der  einzelnen  Fasern,  welche,  von  einem  sehr 
grossen  Theil  der  Innenfläche  des  Sclieerenendgliedes  entspringend,  im 
Allgemeinen  convergent  nach  der  Sehne  hin  verlaufen.  Es  liegt  daher 
hier  ein  ähnliches  Verhältniss  vor,  wie  etwa  an  dem  Sehnenspiegel  des 
Gastrocnemius  vom  Frosch.  An  welcher  Stelle  der  Scheerenbasis  man 
auch  immer  die  Schaale  entfernen  mag,  immer  liegen  künstliche  Quer- 
schnitte der  Muskelbündel  vor,  und  nirgends  tritt  die  unversehrte 
Oberfläche  (der  natürliche  Längsschnitt)  allein  zu  Tage. 

Es  erscheint  unter  diesen  Umständen  am  zweckmässigsten,  einer- 
seits von  einer  verletzten  Stelle  im  Bereiche  jenes  Theiles  der  Scheere 
abzuleiten,  innerhalb  dessen  die  Fasern  des  Schliessmuskels  entspringen, 
wobei  es  auf  die  Lage  der  betreff'enden  Stelle  im  Allgemeinen  nicht 
ankommt,  und  sich  anderseits  des  in  elektromotorischer  Hinsicht  in- 
differenten Gewebes  zur  Ableitung  von  den  unversehrten  Theilen  des 
Muskels  zu  bedienen,  welches  das  Innere  der  hohlen  Scheerenbranchen 
ausfüllt  und  gewissermaassen  als  eine  Verlängerung  der  Sehne  ange- 
sehen werden  kann.  Man  bricht  daher,  am  besten  in  der  Nähe  der 
Scheerenbasis,  ein  kleines  Stück  der  Schaale  von  der  äusseren  Kante 
her  nach  der  Innen-  oder  Aussenfläche  hin  mittels  einer  Knochenzange 
weg.  Die  zweite,  zur  Ableitung  des  Demarcationsstromes  dienende, 
kleinere  Oeffnung  wird  nach  gänzlicher  Entfernung  des  kleinen  Oeff- 
nungsmuskels  ebenfalls  am  Aussenrande,  etwa  der  Mitte  der  unbeweg- 
lichen Scheerenbranche  entsprechend,  angelegt,  so  dass  die  Möglich- 
keit besteht,  gleichzeitig  auch  die  Gestaltveränderungen  des  Schliess- 
muskels durch  die  Bewegungen  des  anderen,  frei  eingelenkten  Scheeren- 
armes  zu  erkennen.  Die  Reizelektroden  (Platinspitzen)  werden  durch 
das  längste  Glied  des  Scheereuarmes  nahe  dem  Aussenrande  durch- 
gestochen. Bei  dieser  Versuchsanordnung  verhält  sich  natürlich  die 
der  Scheerenbasis  nähere  Ableitungsstelle  immer  negativ  zu  der  ent- 
fernteren. 

Wird  nun  nach  vorgängiger  Compensation  des  Demarcations- 
stromes der  Scheerennerv  tetanisirend  gereizt,  so  beobachtet  man  bei 
allmählicher  Annäherung  der  Rollen  des  Schlittenapparates  in  der  Regel 
zuerst  eine  mehr  oder  weniger  beträchtliche  Ablenkung  im  Sinne  einer 
positiven  Schwankung  des  Demarcationsstromes,  worauf  doppelsinnige 
(erst  negative,  dann  positive)  und  schliesslich  rein  negative  Ausschläge 
erfolgen.   Im  Allgemeinen  stehen  auch  hier  die  positiven  Ablenkungen 


Die  elektromotorischeu  Wirkungen  der  Muskeln.  371 

an  Grösse  hinter  den  negativen  zurück.  Bezüglich  des  zeitlichen  Ver- 
laufes der  positiven  Schwankung  ist  zu  bemerken,  dass  sie  dem  Be- 
ginn der  Reizung  in  der  Regel  rasch  folgt  und  während  derselben  nur 
sehr  langsam  abnimmt.  Da  der  Schliessmuskel  der  Krebsscheere 
häufig  in  einem  mehr  oder  weniger  ausgeprägten,  tonischen  Con- 
tractionszustand  sich  befindet,  welcher,  wie  später  gezeigt  werden  wird, 
durch  schwache  Reizung  des  Nerven  beseitigt  werden  kann,  während 
starke  Erregung  stets  die  Contraction  verstärkt,  beziehungsweise  her- 
vorruft, so  scheint  es  naheliegend,  die  erwähnten  galvanischen  Ver- 
änderungen mit  den  gleichzeitigen  Gestaltveränderungen  des  Muskels 
in  directeu,  ursächlichen  Zusammenhang  zu  bringen.  Doch  lässt  sich 
ein  derartiger  Parallelismus  der  beiderlei  Reizerfolge  durchaus  nicht 
constatiren.  Denn  man  hat  Gelegenheit,  sich  oft  genug  davon  zu 
überzeugen,  dass  der  elektrische  Erfolg  noch  rein  positiv  oder  doppel- 
sinnig sein  kann,  während  der  Muskel  schon  dauernd  tetanisch  verkürzt 
bleibt.  Es  kommen  ferner  gar  nicht  selten  Fälle  vor,  wo  der  Schliess- 
muskel sich  bei  einer  gewissen  Reizstärke  kräftig  contrahirt,  während 
die  elektrischen  Veränderungen  äusserst  geringfügig  erscheinen,  indem 
entweder  sichtlich  ein  Kampf  gegensinniger  Wirkungen  besteht  oder 
überhaupt  kein  merklicher  Erfolg,  weder  im  positiven  noch  im  nega- 
tiven Sinne,  zu  beobachten  ist.  Stärkere  Ströme  bewirken  in  solchem 
Falle  gewöhnlich  einsinnig  negative  Ablenkungen,  die  jedoch  meist 
eine  auffallend  geringe  Grösse  zeigen  und  gewöhnlich  von  einer  starken 
positiven  Nachschwankung  nach  Beendigung  der  Reizung  gefolgt  er- 
scheinen. 

Auffallend  geringe  galvanische  Wirkungen  oder  gänzliches  Fehlen 
derselben  kommen,  wie  es  scheint,  besonders  häufig  bei  Thieren  vor, 
welche  vorher  längere  Zeit  bei  sehr  niedriger  Temperatur  (0 — 5*^  C.) 
gehalten  wurden.  Unter  gleichen  Umständen  tritt  in  anderen  Fällen 
die  positive  Schwankung  bei  schwacher  Reizung  besonders  deutlich 
und  stark  hervor.  Im  Uebrigen  gestalten  sich  jedoch  die  Versuchs- 
resultate an  Präparaten  verschiedener,  scheinbar  gleich  beschaffener 
Krebse  überaus  wechselnd  und  mannigfaltig.  In  einzelnen  Fällen  ge- 
lang es,  durch  sehr  starke  Curaredosen  bei  beliebigen  Reizstärken 
nur  einsinnig  positive  Wirkungen  zu  erzielen,  obschon  sich  der  Muskel 
noch  bei  jeder  stärkeren  Reizung  tetanisch  verkürzt  und  daher  von  einer 
irgend  vollständigen  Curarewirkung  nicht  die  Rede  sein  kann.  Immer- 
hin findet  man  auch  sonst  nach  Curarevergiftung  die  positive  Schwan- 
kung im  Vergleich  zu  normalen  Präparaten  stärker  entwickelt,  wenn- 
gleich Ablenkungen  im  Sinne  einer  negativen  Schwankung  bei  grösserer 
Reizstärke  noch  hervortreten. 

In  der  Folge  ist  es  mir  aber  gelungen,  rein  einsinnige, 
positive  Wirkungen  durch  Anwendung  eines  einfachen  Kunstgriffes 
zu  erzielen,  indem  durch  Ermüdung  des  Schliessmuskels  in  Folge 
einseitiger  Inanspruchnahme  seiner  Leistungen  die  Erfolge  der  Reizung 
der  motorischen  Antheile  des  Scheerennerven  möglichst  herab- 
gedrückt wurden. 

Es  gelingt  bei  frischen,  möglichst  lebhaften  Krebsen  leicht  und 
in  verhältnissmässig  kurzer  Zeit,  den  Schliessmuskel  so  weit  zu  er- 
müden, dass  eine  willkürliche  oder  reflectorische  Contraction  desselben 
nicht  oder  nur  in  sehr  unvollkommener  Weise  möglich  ist.  Man  darf 
sich  nur  die  Mühe  nicht  verdriessen  lassen,  durch  beständig  fort- 
gesetzte   Reizung    des  Thieres    (Einschieben    fester  Körper    und    des 

24* 


372  I^ie  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Fingers  zwischen  die  Scheerenbranchen)  möglichst  oft  wiederholte,  kräf- 
tige Contractionen  des  betreffenden  Muskels  anzuregen.  Die  Anfangs 
sehr  bedeutende  Kraft  und  Ausdauer  desselben  erlahmt  dann  über- 
raschend bald;  es  werden  immer  längere  Ruhepausen  erforderlich, 
um  den  Krebs  zu  abermaliger,  wirksamer  Schliessung  der  Scheeren  zu 
veranlassen,  und  schliesslich  gelingt  dies  selbst  durch  die  schmerz- 
haftesten Eingriffe  nicht  mehr. 

Wird  nun  ein  so  ermüdetes  Präparat  in  der  oben  angegebenen 
Weise  auf  seine  elektromotorische  Wirksamkeit  während  der  Reizung 
geprüft,  so  zeigt  sich  ausnahmslos,  dass  jede  Spur  einer  nega- 
tiven Schwankung  fehlt,  während  starke  positive  Ab- 
lenkungen jede  überhaupt  wirksame,  tetanische  Er- 
regung des  Nerven  begleiten.  Die  Wirkung  beginnt  an  ver- 
schiedenen Thieren  bei  einer  ziemlich  wechselnden  Stromstärke,  nimmt 
dann  bei  Annäherung  der  Rollen  des  Schlittenapparates  bis  zu  einer 
gewissen  Grenze  zu,  um  bei  weiterer  Steigerung  der  Reizstärke  in  der 
Regel  wieder  etAvas  abzunehmen,  was  vielleicht  zum  Theil  noch  als  eine 
Interferenzwirkung  der  beiden  gegensinnigen  Reizerfolge  gedeutet 
werden  kann,  wofür  unter  Anderem  auch  der  Umstand  spricht,  dass 
bei  geringeren  Graden  der  Erschöpfung  des  Schliessmuskels  alle  nur 
möglichen  Uebergänge  zwischen  doppelsinnigen  Wirkungen  mit  vor- 
wiegend positiven  Ablenkungen,  deren  Grösse  mit  wachsender  Strom- 
stärke abnimmt,  und  rein  positiver  Schwankung  vorkommen. 

Die  mehrfach  betonte  Unabhängigkeit  der  galvanischen  Reiz- 
erfolge von  gleichzeitigen  Gestaltveränderungen  des  Muskels  ergiebt 
sich  aus  den  in  Rede  stehenden  Versuchen  mit  zweifelloser  Sicherheit. 
In  sehr  vielen  Fällen  treten  an  ermüdeten  Präparaten  bei  starker 
künstlicher  Reizung  vom  Nerven  aus  noch  mechanische  Erfolge  ein, 
die  sich  durch  Verkürzung  des  Schliessmuskels  äussern, 
welche  dann  aber  nicht  von  einer  negativen,  sondern 
stets  von  einer  positiven  Schwankung  des  Muskel  ström  es 
begleitet  erscheint.  In  anderen  Fällen  wieder  fehlen  Gestalt- 
veränderungen des  Muskels  selbst  bei  stärkster  Reizung,  während 
demungeachtet  die  positive  Schwankung  in  scheinbar  unverminderter 
Stärke  hervortritt.  Ich  hatte  Gelegenheit,  dieselbe  Erscheinung  auch 
einmal  an  einem  Schliessmuskelpräparate  von  einem  Krebs  zu  be- 
obachten, dessen  sämmtliche  Muskeln  offenbar  pathologisch  verändert 
waren  und  Aveisslich  getrübt,  wie  gekocht  aussahen.  Nach  der  in  der 
früher  angegebenen  Weise  herbeigeführten  Ermüdung  contrahirten  sich 
die  Schliessmuskeln  der  Scheeren  selbst  bei  Reizung  des  Nerven  mit 
übergeschobenen  Rollen  auch  nicht  spurweise,  obschon  die  positive 
Schwankung  des  Muskelstromes  sehr  stark  ausgeprägt  war.  Es  er- 
giebt sich  daher  aus  den  Versuchen  mit  voller  Bestimmtheit,  dass  eine 
positive  Schwankung  des  Muskelstromes  als  Folgewirkung  der  Reizung 
des  Nerven  nicht  nur  dann  eintreten  kann,  wenn  der  tonisch  verkürzte 
Muskel  erschlafft,  sondern  auch,  wenn  er  im  tonusfreien  Zustande 
keinerlei  Gestaltveränderungen  bei  der  Reizung  erkennen  lässt  oder 
sich  dabei  sogar  verkürzt. 

Bezüglich  des  zeitlichen  Verlaufes  der  positiven  Schwankung  ist 
zu  erwähnen,  dass  der  Beginn  der  Ablenkung  in  der  Regel  mit  dem 
Anfang  der  Reizung  zusammenfällt,  worauf  das  Scalenbild  bei  an- 
haltendem Tetanisiren  des  Nerven  zunächst  einige  Zeit  in  maximaler 
Ablenkung  verharrt,  um  bei  Oeffnung  des  Reizkreises  mit  abnehmen- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  373 

der  Geschwindigkeit  der  Ruhelage  sich  zu  nähern,  die  es  jedoch, 
wenigstens  bei  den  ersten  Reizungen,  nicht  vollständig  wieder  erreicht, 
so  dass  der  Muskelstrom  in  Folge  der  Nervenreizung  zunächst  dauernd 
zunimmt. 

Bewahrt  man  ein  Präparat,  das  sich  in  jenem  Zustande  der  Er- 
müdung befindet,  wo  jede  wirksame  Reizung  nur  zu  einer  positiven 
Schwankung  des  Muskelstromes  führt,  bei  niederer  Temperatur  länger 
auf,  und  prüft  man  von  Zeit  zu  Zeit  den  Erfolg  der  Nervenreizung, 
so  findet  man,  dass  die  Ablenkungen  unter  sonst  gleichartigen  Be- 
dingungen, bei  gleichem  Rollenabstand  und  gleicher  Schliessungsdauer 
allmählich  geringer  werden  und  unter  Umständen  sogar  ihre  Zeichen 
wechseln,  indem  bei  starker  Reizung  wieder  eine  schwache  negative 
Schwankung  entweder  als  Vorschlag  zu  einer  stärkeren,  positiven  Ab- 
lenkung oder  auch  allein  hervortritt.  Es  vermag  sich  daher  ein  er- 
müdetes Muskelpräparat  bei  längerer  Ruhe  dem  normalen,  durch  die 
Doppelsinnigkeit  der  galvanischen  Reizerfolge  charakterisirten  Zustande 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  wieder  zu  nähern.  Die  erwähnten  Ver- 
änderungen sind  unabhängig  von  der  gleichzeitigen  Abnahme  des 
Muskelstromes,  die  man  durch  nachti-ägliche  weitere  Verletzung  bis- 
her noch  unversehrter  Theile  des  Muskels  leicht  auszuschliessen  ver- 
mag. Wenn  es,  wie  die  vorstehend  mitgetheilten,  leicht  zu  bestätigen- 
den Thatsachen  zeigen,  gelingt,  den  Schliessmuskel  der  Krebsscheere 
einerseits  durch  anhaltende,  erschöpfende  Thätigkeit  von  Seite  des 
Centralorganes  und  andererseits,  wenn  auch  minder  sicher,  durch 
Vergiftung  mit  Curare  in  einen  Zustand  zu  versetzen,  wo  derselbe  bei 
tetanisirender  Reizung  des  zugehörigen  Nerven  nur  positive  Schwankung 
des  Muskelstromes  zeigt,  ist  es  noch  viel  leichter,  diese  letztere 
Wirkung  gänzlich  auszuschliessen  und  bei  sonst  gleicher  Versuchs- 
anordnung nur  einsinnig  negative  Schwankungen  zu  erzielen.  Es 
ist  dies  leicht  begreiflich,  wenn  man  berücksichtigt,  dass  die  negativen 
Wirkungen  schon  unter  normalen  Verhältnissen  beträchtlich  über- 
wiegen und  die  entgegengesetzten  positiven  nur  während  eines  sehr 
beschränkten  Intervalles  der  Reizscala  rein  hervortreten  lassen,  weiter- 
hin aber  vollständig  decken. 

Um  nun  diese  letzteren  auch  schon  bei  schwacher  Reizung  ganz 
zu  unterdrücken,  genügt  es  in  der  Regel,  die  Versuchsthiere  vorher 
während  mehrerer  Stunden  in  Wasser  von  20 — 25  ^  C.  zu  halten  oder 
auch  die  abgeschnittenen  Scheeren  längere  Zeit  (etwa  1  Stunde)  bei 
gewöhnlicher  Zimmertemperatur  im  feuchten  Räume  liegen  zu  lassen. 
Der  Schliessmuskel  zeigt  dann  in  Bezug  auf  die  bei  Nervenreizung 
zu  beobachtenden  elektromotorischen  Wirkungen  ein  gerade  entgegen- 
gesetztes Verhalten,  wie  nach  anhaltender  Thätigkeit. 

Während  der  Muskel  dann  sowohl  bei  schwächster  wirk- 
samer Reizung  der  Nerven  wie  auch  bei  Anwendung  der  stärksten 
Ströme  immer  nur  eine  einsinnig  negative  Schwankung  beobachten 
lässt  und  sich  daher  dann  wie  alle  anderen  bisher  untersuchten,  will- 
kürlichen, quergestreiften  Muskeln  der  Wirbelthiere  verhält,  treten 
andernfalls  an  demselben  Muskel  unter  gleichen  Bedingungen  der 
Reizung  und  Ableitung  gerade  gegentheilige  elektrische  Veränderungen 
ein,  die  sich  durch  eine  positive  Schwankung  des  Demarcationsstromes 
äussern,  und  für  welche  es  bisher  nur  noch  am  Herzmuskel  der  Wirbel- 
thiere eine  Analogie   zu  geben  scheint. 


374  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Beiderlei  gegensinnige  Schwankungen  des  Muskelstromes  zeigen, 
wenn  sie  unter  den  eben  erwähnten  Bedingungen  als  alleiniger  Reiz- 
erfolg auftreten,  sowohl  in  Bezug  auf  ihre  Stärke,  wie  auch  hinsicht- 
lich des  zeitlichen  Verlaufes  einige  bemerkenswerthe  Eigenthümlich- 
keiten,  welche  für  die  Deutung  der  Erscheinungen  nicht  ohne 
Belang  sind.  Vor  Allem  fällt  auf,  dass  im  einen  wie  im  andern  Falle 
die  Grösse  der  am  Galvanometer  zu  beobachtenden  Ablenkungen  fast 
immer  viel  bedeutender  ist,  als  unter  möglichst  gleichartigen  Be- 
dingungen bei  einem  ganz  normalen  frischen  Präparate  eines  „Kalt- 
krebses". Während  hier  die  Ausschläge  im  einen  oder  andern  Sinne 
nur  selten  mehr  als  50  Scalentheile  betragen,  gehören  an  einem  er- 
müdeten Schliessmuskel  positive  Ablenkungen  von  100  Scalenth eilen 
und  noch  bedeutendere  negative  Wirkungen  an  Präparaten  von  Warm- 
krebsen zu  den  häufigen  Befunden.  Eine  sehr  auffallende  Thatsache 
ist  ferner  am  normalen  Schliessmuskel  das  rasche  Zurückschwingen 
des  im  Sinne  einer  negativen  Schwankung  abgelenkten  Magneten  bei 
Fortdauer  einer  stärkeren  Reizung,  obschon,  wie  leicht  nachzuweisen 
ist,  die  tetanische  Zusammenziehung  des  Muskels  bei  Weitem  länger 
anhält.  Nicht  selten  überschreitet  dann  das  Scalenbild  sogar  den  Null- 
punkt und  bleibt  im  Sinne  einer  entgegengesetzten,  positiven  Schwankung 
abgelenkt.  Ein  vorher  erwärmtes  Präparat  verhält  sich  in  dieser  Be- 
ziehung wesentlich  verschieden :  die  negative  Schwankung  erreicht 
hier  rasch  ihren  grössten  Werth  und  zeigt  bei  Fortdauer  der  Nerven- 
reizung nur  eine  geringe  Abnahme.  Erst  bei  Oeffnung  des  Reizkreises 
kehrt  der  Magnet  in  die  Ruhelage  zurück.  Die  Erscheinung  verläuft 
also  in  diesem  Falle  ähnlich,  wie  bei  quergestreiften  Wirbelthier- 
muskeln. 

Es  wurde  schon  oben  erwähnt,  dass  die  positive  Schwankung 
des  ermüdeten  Schliessmuskels  Anfangs  in  der  Regel  zu  einer  dauern- 
den Verstärkung  des  Demarcationsstromes  führt,  während  sie  sich 
weiterhin,  bei  öfter  wiederholter  Reizung  jedes  Mal  langsam,  aber  voll- 
ständig ausgleicht.  Eine  negative  Nachschwankung,  wie  sie  häufig  an 
stark  curarisirten  Präparaten  beobachtet  wird,  fehlt  regelmässig  am 
ermüdeten  Muskel. 

Die  nächstliegende  Frage,  welche  sich  an  das  Auftreten  der  posi- 
tiven Schwankung  bei  indirecter,  tetanisirender  Reizung  des  Schliess- 
muskels knüpft,  ist  die,  ob  es  sich  hier  um  eine  ähnliche  discontinuir- 
liche  Zustandsänderung  der  Muskelsubstanz  handelt,  wie  bei  der  die 
Erregung  sonst  begleitenden  negativen  Schwankung.  Leider  ist  es 
mir  nicht  gelungen,  diese  Frage  mit  Hülfe  eines  Nerv-Muskel-Präparates 
vom  Frosche  zu  entscheiden,  da  es  auch  unter  den  günstigsten  Um- 
ständen nicht  möglich  scheint,  secundäre  Zuckung  oder  secundären 
Tetanus  vom  Schliessmuskel  aus  zu  erhalten. 

Die  Untersuchung  der  betreffenden  Erscheinungen  mittels  des 
Capillarelektrometers,  zu  der  ich  bisher  nicht  Gelegenheit  fand,  dürfte 
wohl  auch  hier  zum  Ziele  führen. 

Die  hier  mitgetheilten  Untersuchungsergebnisse  gestatten  nun  mit 
Rücksicht  auf  andere,  später  zu  erörternde  Beobaclitungen  an  dem- 
selben Präparate  eine  Deutung,  Avelche  sich  unmittelbar  an  die  oben 
erwähnte  Auffassung  G  as  kell 's  anlehnt.  Berücksichtigt  man,  dass  der 
Schliessmuskel  der  Krebscheere  nachweislich  A^on  zwei  functionell  ver- 
schiedenen, hemmenden  und  erregenden  (Assimilirungs-  und  Dissimi- 
lirungs-)  Nerven  versorgt  Avird,    welche  bei  ihrer  Erregung    entgegen- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  375 

gesetzte  Zustandsänderungen  der  Muskelsubstanz  herbeiführen,  die 
sich  einerseits  durch  gegensinnige  Gestaltveränderungen,  andererseits 
aber  durch  gegensätztliche  elektromotorische  Wirkungen  äussern  können, 
so  würde  man  anzunehmen  haben,  dass  der  bei  nicht  zu  ge- 
ringer Intensität  des  künstlichen,  auf  den  Nerven 
wirkenden  Reizes  zu  beobachtende  galvanische  Erfolg 
in  der  Regel  das  Resultat  des  Zusammenwirkens  von 
zwei  gegensätzlichen,  gleichzeitig  angeregten  Pro- 
cessen ist,  deren  wechselseitigesVerhältniss  einerseits 
von  der  Stärke  der  Reizung,  andererseits  aber  von  dem 
jeweiligen  Zustande  des  Muskels  abhängig  erscheint. 

Zu  Gunsten  der  Annahme  einer  versteckten  Doppelsinnigkeit  der 
galvanischen  Reizerfolge  auch  in  dem  Falle,  wo,  wie  bei  starker 
Reizung  des  normalen  Schliessmuskels ,  thatsächlich  nur  einsinnige 
negative  Ablenkungen  beobachtet  werden,  spricht  vor  Allem  deren 
überaus  wechselnde  Grösse  unter  annähernd  gleichen  Versuchs- 
bedingungen. Es  erklärt  sich  dann  auch  ohne  Weiteres  die  auffallende 
Thatsache,  dass  gerade  an  frischen,  sehr  lebenskräftigen  Thieren  ent- 
nommenen Präparaten  die  galvanischen  Wirkungen  der  Reizung  oft 
sehr  geringfügig  erscheinen  und  bei  einer  gewissen  mittleren  Strom- 
stärke gänzlich  fehlen  können.  Es  wird  dies  immer  dann  der  Fall 
sein  müssen,  wenn  die  beiden  entgegengesetzten  Processe  sich  in  Be- 
zug auf  die  dadurch  bewirkten  elektrischen  Veränderungen  des  Mus- 
kels gerade  aufheben.  Endlich  stehen  auch  die  früher  erwähnten 
doppelsinnigen  Wirkungen  und  Interferenzerscheinungen  (die  positive 
Nachschwankung  und  das  Oscilliren  des  Magneten  um  eine  neue 
Gleichgewichtslage)  mit  der  obigen  Annahme  im  Einklang.  Wenn 
es  sich  darum  handelt,  die  einsinnigen,  aber  entgegengesetzten 
Wirkungen  sehr  schwacher  und  stärkster  Reizung  zu  erklären,  so 
würde  ersterenfalls  eine  leichtere  Anspruchsfähigkeit  der  hemmenden 
(assimilirenden),  andererseits  ein  Ueberwiegen  der  durch  die  erregen- 
den (dissimilirenden)  Fasern  im  Muskel  ausgelösten  Processe  an- 
zunehmen sein. 

Es  muss  ferner  noch  der  Umstand  besonders  hervorgehoben 
werden,  dass  es,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  durch  künstliche  Reizung 
des  Nervenstammes  niemals  gelingt,  jenen  Ermüdungszustand  des 
Muskels ,  in  welchem  sich  derselbe  durch  eine  besondere  Dis- 
position für  die  positiven  galvanischen  Erfolge  auszeichnet,  herbei- 
zuführen, während  der  Versuch  niemals  fehlschlägt,  wenn  die  Er- 
müdung durch  natürliche  Erregung  des  Nerven  von  Seite  des  Central- 
organes  bewirkt  wird.  Dieser  Unterschied  wird  begreiflich,  wenn 
man  annimmt,  dass  letzterenfalls  die  erregenden  Fasern  allein  oder 
doch  vorwiegend  in  Anspruch  genommen  werden,  wähi'cnd  bei  künst- 
licher Reizung  nothwendig  immer  beide  Faserarten  zugleich  erregt 
werden,  so  dass  die  im  einen  und  im  andern  Falle  resultirenden  Zu- 
standsänderungen des  Muskels  auch  entsprechend  verschieden  sein 
müssen. 

Besonderer  Nachdruck  muss  endlich  auch  auf  die  Thatsache  ge- 
legt werden,  dass  bei  indirecter  Reizung  des  Schliessmuskels  die 
galvanischen  Wirkungen  keineswegs  in  so  naher  Beziehung  zu  den 
mechanischen  Reizerfolgen  stehen,  wie  dies  auf  Grund  zahlreicher  Er- 
fahrungen an  Nerv-Muskel-Präparaten  von  Wirbelthieren  anzunehmen 
ist.     Es  macht  sich  vielmehr,  wie  gezeigt  wurde,  eine  sehr  weitgehende 


376  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Unabhängigkeit  beider  bemerkbar,  indem  ungeachtet  kräftiger  Con- 
traction  des  Muskels  der  galvanische  Erfolg  der  Reizung  unter  Um- 
ständen nur  in  geringem  Maasse,  wenn  auch  im  richtigen  Sinne  (als 
negative  Schwankung)  entwickelt  erscheint,  in  anderen  Fällen  aber 
gänzlich  fehlen  kann  oder  sogar  als  positive  Schwankung  hervortritt. 
Diese  Thatsache  nöthigt  mit  Rücksicht  auf  die  vorstehenden  Er- 
örterungen zu  der  Annahme,  dass  das  gegenseitige  Verhält- 
niss  der  beiden  im  Muskel  gleichzeitig  angeregten 
Processe  in  Bezug  auf  den  mechanischen  Erfolg  der 
Reizung  einen  anderen  Werth  besitzen  kann,  als  in  Be- 
zug auf  die  elektromotorischen  Wirkungen,  indem  dort 
die  Folgen  der  Erregung,  hier  aber  die  der  gleichzeitigen  Hemmung 
überwiegen,  resp.  allein  zum  Ausdruck  gelangen. 

Es  sei  hierbei  auf  die  Analogie  hingewiesen,  welche  zwischen 
diesem  Verhalten  des  Schliessmuskels  und  Beobachtungen  von  Fano 
am  Herzmuskel  der  Schildkröte  zu  bestehen  scheint,  wo  ebenfalls 
keine  vollkommene  Uebereinstimmung  zwischen  den  Gestaltver- 
änderungen des  Muskels  und  den  gleichzeitig  zu  beobachtenden 
elektrischen  Erscheinungen  besteht  (66). 


IV.    Die  secundär  elektromotorischen  Ersclieinungen  au 
MusIlcIu. 

An  Muskeln  (wie  auch  Nerven ,  elektrischen  Organen  und  wohl 
überhaupt  an  irritablem  Plasma)  treten  im  Gefolge  elektrischer  Durch- 
strömung gewisse  elektromotorische  Wirkungen  hervor,  welche  sich 
den  Actionsströmen  auf's  Innigste  anschliessen  und  gewissermaassen 
nur  eine  besondere  Erscheinungsweise  derselben  darstellen.  Schon 
1834  entdeckte  P eitler,  dass  länger  durchströmte  Froschglied- 
maassen,  sowie  isolirte  Muskeln,  ja  Stücke  von  solchen  einen  Strom  im 
umgekehrten  Sinne  entwickeln.  Er  deutete  dies  darauf,  dass  an  den 
Grenzflächen  zwischen  thierischen  Theilen  und  zuleitender  Flüssigkeit, 
wie  an  einer  metallischen  Zwischenplatte,  Sauerstoff  und  Wasserstoff 
ausgeschieden  werden. 

Du  Bois-Reymond  (67) ,  der  die  Untersuchung  dieser  Ver- 
hältnisse später  wieder  aufnahm,  glaubte  sich  überzeugt  zu  haben, 
dass  der  secundäre  Strom  (Nachstrom),  wenn  überhaupt,  so  doch  nicht 
ausschliesslich  von  den  an  den  Polen  ausgeschiedenen  Jonen  abhängig 
ist,  sondern  auch  von  den  dazwischen  gelegenen  Strecken  ausgeht, 
indem  er  jeden  beliebigen  Abschnitt  der  intrapolaren  Strecke  eines 
längsdurchströmten  Muskels  nach  Oeffnung  des  polarisirenden  Stromes 
in  gleichem  Sinne  elektromotorisch  wirksam  fand ;  er  vertrat  dem- 
zufolge die  Ansicht,  dass  es  sich  hier  hauptsächlich  um  sogenannte 
„innere  Polarisation"   handelt. 

Zahlreiche  anorganische  und  organische  poröse,  mit  einem 
Elektrolyten  getränkte  Körper  besitzen  in  der  That  die  Fähigkeit, 
negative  innere  Polarisation  anzunehmen.  Der  polarisirende  Strom 
theilt  sich  dann  zwischen  der  schlechter  leitenden,  tränkenden  Flüssig- 
keit und  dem  porösen  Gerüst,  wobei  das  letztere  durch  ausgeschiedene 
Jonen  polarisirt  wird.  „Jedes  der  unzähligen  Zwischenplättchen  wirkt 
nun  elektromotorisch  im  umgekehrten  Sinne  von  dem,  in  welchem  es 
durchflössen  wurde."     Aus  der  Superposition  aller  dieser  Partialströme 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  377 

geht  dann  der  durch  den  angelegten  Bogen  sich  ergiessende  Stromzweig 
hervor.  Jede  gleich  lange  Strecke  eines  solchen  regelmässig  gestalteten 
(etwa  prismatischen  oder  cylindrischen)  Körpers  wirkt  im  Allgemeinen 
nach  der  Durchströmung  gleich  stark  secundär  elektromotorisch.  Es 
zeigte  sich  jedoch  bald,  dass  durchströmte  lebende  Muskeln  sich  in  dieser 
Beziehung  ganz  wesentlich  verschieden  verhalten,  wie  todte  organische 
oder  anorganische  Körper,  vor  allen  Dingen  in  dem  Punkte,  dass 
neben  den  negativen  unter  Umständen  auch  positive 
Nachströme  auftreten.  Um  die  Polarisationserscheinungen  an 
Muskeln  zu  untersuchen,  bediente  sich  Du  Bois-Reymond  in  der 
Regel  der  gehörig  ausgespannten  Musculi  gracilis  und  semimembra- 
nosus.  Je  ein  Paar  unpolarisirbarer  Elektroden  dienten  einerseits  zur 
Zuleitung  des  polarisirenden  Stromes,  andererseits  zur  Ableitung  des 
Polarisationsstromes.  Die  letzteren  wurden  in  der  Regel  zwischen 
jenen  innerhalb  der  intrapolaren  Strecke  angelegt.  Durch  eine  be- 
sondere Vorrichtung  war  es  möglich,  die  „Schliessungszeit",  d.  i.  die 
Zeit,  während  welcher  der  polarisirende  Strom  durch  das  Polarisations- 
object  gesandt  wird,  von  0,001 — 20  Sekunden  zu  verändern.  Die- 
selbe Vorrichtung  vermittelte  zugleich  die  Schliessung  des  Bussol- 
kreises nach  Oeffnung  des  Kettenkreises  nach  möglichst  kurzer  und 
immer  gleicher  Zeit. 

Die  secundär  elektromotorischen  Wirkungen,  welche  unter  den 
erwähnten  Versuchsbedingungen  an  Muskeln  beobachtet  werden, 
hängen  nun  sehr  wesentlich  ab  von  der  Dichte  und  Dauer  des  pri- 
mären Stromes,  und  erscheinen  wegen  der  beständigen  Interferenz 
negativer  und  positiver  Wirkungen  zunächst  sehr  verworren.  „Bei 
Stromdichten  unter  der  von  zwei  Grove  und  bei  ganz  kurzer 
Schliessungszeit  erscheint  überhaupt  keine  an  der  Bussole  bemerkbare 
Polarisation.  Die  ersten  Spuren,  welche  man  bei  einem  Daniell  und 
einer  Sekunde  Schliessungszeit  auftreten  sieht,  sind  negativ.  Die  ersten 
positiven  Spuren  dagegen  kommen  erst  bei  zwei  Grove  und  ungefähr 
0,3  Sek.    Schliessungszeit  zum  Vorschein." 

Bei  wachsender  Schliessungszeit  sah  Du  Bois-Reymond  die 
positive  Polarisation  rasch  ein  Maximum  erreichen,  um  dann  langsamer 
abzunehmen  und  in  negative  Polarisation  überzugehen,  welche  dann 
ihrerseits  bis  zu  einem  Maximum  zunimmt.  Als  „kritische"  Schliessungs- 
zeit bezeichnet  Du  Bois-Reymond  jene,  bei  welcher  die  positive 
Polarisation  in  die  negative  übergeht.  Die  stärkste  positive  Polari- 
sation wurde  bei  diesen  Versuchen  durch  0,075  Sek.  lange  Schliessung 
von  20  Grove  (!),  die  stärkste  negative  Polarisation  bei  10  Minuten 
langer  Schliessung  eines  Grove  beobachtet.  Kurz  dauernde  Strom- 
stösse  (Inductionsschläge)  erzeugen  stets  nur  positive  Polarisation. 

Sowohl  die  positive  als  auch  die  negative  Polarisation  sind  sehr 
nachhaltig  und  überdauern  unter  Umständen  die  Oeffnung  des  polari- 
sirenden Stromes  um  20  Minuten  und  mehr.  Erfolgte  diese  letztere 
um  die  kritische  Zeit,  so  beobachtete  Du  Bois-Reymond  nicht 
selten  doppelsinnige  Ablenkungen,  und  zwar  meist  zuerst  negativer, 
dann  positiver  Polarisation  entsprechend.  Es  hat  dies  Verhalten  seinen 
Grund  in  dem  Umstände,  dass  vom  Augenblick  der  Schliessung  an 
stets  beide  Polarisationen  gleichzeitig  vorhanden  sind,  aber  nach 
verschiedenen  Gesetzen  wachsen,  „indem  die  negative  Polarisation 
mehr  der  Schliessungszeit  proportional  zunimmt,  die  positive  zuerst 
schnell,  dann  langsam  ansteigt". 


378  I^iß  elektromotorisclien  Wirkungen  der  Muskeln. 

Durch  Versuche,  bei  Avelchen  abwechselnd  die  obere  und  untere 
Hälfte  regelmässiger  Muskeln  durchströmt  und  auf  ihren  Polarisations- 
zustand geprüft  wurde,  hielt  es  ferner  Du  Bois-Reymond  für 
erwiesen,  dass  „die  obere  Hälfte  in  aufsteigender,  die  untere  in  ab- 
steigender Richtung  stärkere  positive  Polarisation  zeigt". 

Abgestorbene  Muskeln  zeigen  zwar  noch  Spuren  negativer 
innerer  Polarisirbarkeit,  die  erst  durch  Kochen  ganz  vernichtet 
werden ;  positive  Polarisation  kommt  dagegen  ausschliesslich  nur 
lebenden  Muskeln  zu. 

Du  Bois-Reymond  gelangt  zu  dem  Schlüsse,  „dass  in  den 
positiv  -  polarisirbaren  Gebilden  nicht  dem  primären  Strome  gleich- 
gerichtete elektromotorische  Kräfte  erzeugt,  sondern  dass  die  Träger 
schon  vorhandener  elektromotorischer  Kräfte  (elektromotorischeMolekeln) 
dem  primären  Strome  gleichgerichtet  werden". 

Wie  wenig  jedoch  auch  diese  Befunde  geeignet  sind,  der  Mole- 
kulartheorie als  Stütze  zu  dienen,  ergiebt  sich  sehr  schlagend  aus  den 
späteren  Untersuchungen  von  Hering  und  Hermann   (68  und  69). 

Hering  lieferte  in  überzeugender  Weise  den  Beweis,  dass  von 
einer  inneren  positiven  oder  negativen  Polarisation  längsdurch- 
strömter  Muskeln  im  Sinne  Du  Bois-Reymond 's  zunächst  über- 
haupt nicht  die  Rede  sein  könne,  indem  der  wesentliche  Sitz  der 
durch  den  Reizstrom  bedingten  elektromotorischen  Veränderungen 
diejenigen  Stellen  der  contractilen  Substanz  sind,  an  welchen  der 
Strom  ein-  und  austritt  (die  physiologischen  Pole),  so  dass  die  nahe 
Beziehung  zwischen  diesen  Erscheinungen  und  den  polaren  Stromes- 
wirkungen unverkennbar  hervortritt. 

Wenn  im  Sinne  früherer  Auseinandersetzungen  jede  Veränderung 
der  chemischen  Thätigkeit  in  irgend  einem  Theil  der  Muskelfaser  die 
allgemeine  Bedingung  für  das  Auftreten  elektromotorischer  Wirkungen 
ist,  so  lässt  sich  von  vornherein  erwarten,  dass  bei  Durch- 
strömung eines  parallelfaserigen  Muskels  die  an  der  physiologischen 
Kathode  und  Anode  voraussichtlich  eintretende  Alterirung  des  Chemis- 
mus der  contractilen  Substanz  zur  Entstehung  von  Spannungsdifferenzen 
führen  dürfte,  welche  sich  verrathen  müssten ,  wenn  das  eine  oder 
andere  alterirte  Muskelende  mit  einer  Stelle  der  im  Uebrigen  unver- 
ändert gebliebenen  Muskeloberfläche  ableitend  verbunden  wird.  Die 
Resultate,  zu  welchen  Hering  durch  derartige  Versuche  am  Mus- 
culus sartorius  des  Frosches  gelangte,  entsprechen  in  der  That  durch- 
aus dieser  Voraussetzung. 

Wird  der  genannte  Muskel  bei  massiger  Spannung  fixirt  und  von 
den  beiderseits  belassenen  Knochonstümpfen  her  durchströmt,  so  zeigt 
sich  bei  Ableitung  von  dem  einen  oder  anderen  Sehnenende  und 
einem  Punkte  der  Längsoberfläche  der  vor  der  Durchströmung  ge- 
messene Muskelstrom  nach  der  Oeffnung  des  Reizstromes  wesentlich 
verändert  imd  je  nach  der  Richtung,  Stärke  und  Dauer  des  letzteren 
und  Stärke  und  Richtung  des  anfänglichen  Muskelstromes  vermehrt, 
vermindert,  ganz  verschwunden  oder  umgekehrt.  Hat  man  den 
Muskelstrora  zuvor  compensirt,  so  erhält  man  den  positiven  oder 
negativen  Zuwüchsen  des  Muskelstromes  entsprechende  „Polarisations- 
ströme", welche  positiv  oder  negativ,  d.  i.  dem  Reizstrom  gleich  oder 
entgegengesetzt  gerichtet  sein  können.  Da  dieselben  ihre  wesentliche 
Quelle  an  den  anodischen  und  kathodischen  Stellen  der  Muskelsubstanz 
haben,  so  untersclieidet  Hering  eine  a n o d i s c h e  und  kathodische 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  379 

Polarisation.  Die  erstere  kann  je  nach  der  Stärke  und  Dauer  des 
Reizstromes  sowohl  positiv  als  negativ  sein,  die  letztere  ist  in  der 
grossen  Mehrzahl  der  Fälle  nur  negativ. 

Sehr  schwache  Ströme  geben  am  frischen  Muskel,  sofern  sich 
nur  das  anodische  Sehnenende  und  ein  etwa  der  Mitte  entsprechender 
Punkt  der  Längsoberfläche  im  Bussolkreise  befinden,  bei  kurzer 
Schliessungsdauer  stets  einen  negativen  Polarisationsstrom.  Mit 
stärkeren  Reizströmen  erhält  man  dagegen  bei  nicht  allzu  kurzer 
Schliessungsdauer  immer  nur  positive  Polarisation,  die  um  so  stärker 
wird,  je  stärkere  Ströme  man  anwendet,  und  schliesslich  selbst  die 
stärkste  negativ-anodische  Polarisation  bei  Weitem  übertrifft. 

Sehr  starke  Ströme  geben  selbst  bei  möglichst  kurzer  Schliessungs- 
zeit sofort  positive  Polarisation,  während  schwächere  bei  kurzer 
Schliessungszeit  noch  negative  oder  doppelsinnige  (erst  negative,  dann 
positive)  Polarisation  und  erst  nach  längerem  Geschlossenbleiben  rein 
positive  Polarisation  geben.  Ganz  analog  den  starken  Strömen  bei 
kürzester  Schliessungsdauer  verhalten  sich  auch  Inductionsströme,  in- 
dem sie  nur  positive  anodische  Polarisation  geben. 

Alle  diese  Polarisationserscheinungen  (Nachströme) 
fehlen  vollständig  oder  treten  nur  spur  weise  auf,  wenn 
beide  ableitendeBussolelektroden  der  Längs  Oberfläche 
des  Muskels  anliegen,  ohne  dem  einen  oder  anderen 
Muskelende  zu  nahe  zu  kommen. 

Da  nach  der  Herman  n'schen  Alterationstheorie  erregte  Muskel- 
substanz sich  in  Bezug  auf  nicht  erregte  negativ  verhält,  so  kann  es, 
wenn  man  die  Bedingungen  und  das  Verhalten  der  Oeffnungserregung 
des  Muskels  berücksichtigt,  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  die  positive 
anodische  Polarisation  als  Ausdruck  derselben  zu  gelten  hat,  indem 
„der  durch  die  Veränderungen  der  anodischen  Stellen 
der  contractilen  Substanz  bedingte  positive  Polari- 
sationsstrom ein  Actionsstrom  ist,  erzeugt  durch  die 
von  der  Anode  ausgehende  Oeffnungserregung,  ein 
Actionsstrom,  der  sich  allerdings  wesentlich  anders 
verhält,  als  die  bisher  allein  besprochenen,  durch 
Schliessungsreize  bewirkten  Actionsstrom e. 

In  dieser  Beziehung  ist  insbesondere  die  lange  Dauer  der  Nega- 
tivität  der  anodischen  Stellen  bemerkenswerth ,  die  sich  jedoch  leicht 
aus  dem  Umstände  erklärt,  dass  die  Oeffnung  eines  Kettenstromes 
unter  Umständen  zu  einer  lang  andauernden  Erregung  (Oeffnungs- 
dauercontraction)  des  Muskels  führt.  Dieselbe  klingt  allmählich  ab, 
indem  sie  sich  mehr  und  mehr  auf  die  anodischen  Stellen  des  Muskels 
zurückzieht.  Aber  auch  dann,  wenn  es,  wie  bei  Anwendung  schwä- 
cherer oder  kurz  dauernder  stärkerer  Ströme,  nicht  zu  einer  sicht- 
baren Oeffnungsdauercontraction  oder  nicht  einmal  zu  einer  Oeffnungs- 
zuckung  kommt,  steht  nichts  im  Wege,  den  beobachteten  positiven 
Polarisationsstrom  als  den  Ausdruck  der  einige  Zeit  andauernden 
Oeffnungserregung  anzusehen,  da  sich  ein  geringer  Grad  von  Con- 
traction  überhaupt  nur  schwer  oder  gar  nicht  nachweisen  lässt,  ins- 
besondere wenn  sich  dieselbe  auf  die  unmittelbare  Nähe  der  anodischen 
oder  kathodischen  Muskelstellen  beschränkt  und  da  ausserdem  Nega- 
tivität  als  Ausdruck  der  Erregung  vorhanden  sein  kann  ohne  jede 
Spur  von  Contractionserscheinungen. 


380  I^i^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Hermann  weicht  in  seiner  Auffassung  der  positiv  -  anodischen 
Nachströme  nur  insofern  von  Hering 's  Anschauung  ab,  als  er, 
ausgehend  von  der  Annahme  eines  interpolaren  Elektro tonus,  den 
Oeffnungsactionsstrom  in  der  ganzen  anelektrotonischen  Muskelstrecke 
entstehen  lässt.  Es  wurde  dagegen  schon  früher  gezeigt,  dass,  wenn 
man  nicht  übermässig  starke  Ströme  anwendet,  alle  in  ihrer  Ge- 
sammtheit  als  „Elektrotonus"  zu  bezeichnenden  Veränderungen  allein 
auf  die  physiologischen  Elektrodenstellen  beschränkt  sind. 

Hinsichtlich  der  kathodischen  Polarisation  ist  zu  bemerken,  dass 
dieselbe  fast  ausnahmslos  am  quergestreiften  Muskel  negativ  ge- 
funden wird.  Sie  wird  bei  Ableitung  des  durchströmten  Sartorius 
vom  kathodischen  Muskelende  und  der  Muskelmitte  und  bei  An- 
wendung sehr  schwacher  Ströme  erst  nach  einer  Schliessungszeit  von 
mehreren  Sekunden  merklich,  und  nimmt  stetig  zu  bei  Steigerung  der 
Stromstärke  und  der  Schliessungszeit.  Vergleicht  man  sie  mit  den 
positiv -anodischen  Nachströmen,  welche  man  bei  derselben  Stärke 
des  Reizstromes  und  derselben  Stromesdauer  am  gleichen  Muskel- 
ende erhält,  so  sieht  man  die  letzteren  bald  viel  stärker  werden, 
als  die  ersteren.  Bei  sehr  starken  Strömen  und  langer  Schliessungs- 
dauer kann  die  negative  kathodische  Polarisation  so  stark  werden, 
wie  etwa  der  ebenfalls  abterminale  Muskelstrom,  welcher  sich 
zeigt,  wenn  man  bei  unveränderter  Lage  der  Bussolelektroden  das 
betreffende  Ende  des  Muskels  abgetödtet  hat.  Inductionsströme  geben 
ebenfalls  negative  kathodische  Polarisation,  welche  aber  wesentlich 
schwächer  ist,  als  die  positiv-anodische  Polarisation,  wie  sie  von 
gleichstarken  Inductionsströmen  an  demselben  Muskel  (Sartorius)  be- 
wirkt wird.  Das  allgemeine  Ergebniss  ist  also,  dass  mit  wachsen- 
der Stärke  und  Dauer  des  Reizstromes  die  kathodische 
Muskelgegend  (physiologische  Kathode)  zunehmend 
negativer  im  Vergleich  mit  der  Muskelmitte  wird. 
Würde  es  sich  diesfalls  um  eine  der  physikalischen,  inneren  Polari- 
sation gleichwerthige  Erscheinung  handeln,  so  müsste,  wie  schon 
früher  erwähnt  wurde,  der  negative  Polarisationsstrom  bei  beliebiger 
Ableitung  innerhalb  der  interpolaren  Strecke  in  annähernd  gleicher 
Stärke  hervortreten,  was  jedoch,  wie  Hering  zeigte,  niemals  der 
Fall  ist.  Vielmehr  wird,  wenn  die  beiden  Bussolelektroden  an  der 
Grenze  zwischen  dem  oberen  und  mittleren  Drittel  des  Sartorius  an- 
gelegt werden,  während  der  Reizstrom  wie  früher  durch  die  Knochen 
zugeleitet  wird,  entweder  gar  kein  Polarisationsstrom  beobachtet,  oder 
er  ist  im  Vergleich  zu  der  anodischen  und  kathodischen  Polarisation 
so  geringfügig,  dass  man  ihn  füglich  vernachlässigen  durfte.  Die 
relativ  scii wachen  Wirkungen,  welche  man  in  der  interpolaren  Strecke 
bei  Anwendung  sehr  starker  Ströme  und  langer  Schliessungszeit  zu 
beobachten  Gelegenheit  hat,  lassen  sich  hinreichend  bei  Berücksichti- 
gung des  Umstandes  erklären,  dass  die  polaren  Stellen  des 
Muskels  niemals  ausschliesslich  auf  die  Muskelenden  beschränkt  sind, 
was  unter  Anderem  schon  dadurch  bedingt  wird,  dass  der  Sartorius 
nicht  selten  kurze  Fasern  enthält,  die  im  Verlaufe  des  Muskels  endigen, 
beziehungsweise  beginnen.  Andei-erseits  bedingt  selbstverständlich  das 
Auftreten  der  Schliessungs-  und  Oeffnungsdauercontraction  Ungleich- 
artigkeiten  der  einzelnen  Theile  der  interpolaren  Strecke.  Es  liegt 
daher  vorläufig  kein  genügender  Anlass  vor,  eine  innere  Polarisation 
der  Muskelsubstanz  im  Sinne    Du    Bois-Reymond's    anzunehmen. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln,  381 

Vielmehr  lassen  sich  auch  alle  Erscheinungen  der  nega- 
tiven kathodischen  Polarisation  durch  die  chemische 
Alterirung  (Erregung  bezw.  locale  Ermüdung)  der  Ge- 
sammtheit  aller  kathodischen  Faserstellen  erklären. 

Daran  können  auch  neuere  Versuche  von  Du  Bois-Reymond 
nichts  ändern,  bei  welchen  am  curarisirten  Sartorius  des  Frosches 
bei  Anwendung  eines  Stromes  von  10  Grove'schen  Elementen  nach 
einer  Schliessungszeit  von  15  —  25  Minuten  „in  jeder  Strecke  des 
Muskels  eine  secundär-elektromotorische  Kraft  im  ungekehrten  Sinne 
des  polarisirenden  Stromes"  erzeugt  wurde,  deren  Grösse  mit  der 
Länge  der  abgeleiteten  Strecke  zunimmt.  Denn  wie  sehr  durch  solche 
übermässig  starke  Ströme  die  Erregungs-  und  Leitungsbedingungen 
des  Muskels  verändert  werden,  beweist  zur  Genüge  das  Auftreten  des 
galvanischen  Wogens  unter  solchen  Umständen,  sowie  jene  oft  ausser- 
ordentlich starke  und  weit  über  die  intrapolare  Mviskelstrecke  ver- 
breitete Dauererregung  in  der  Umgebung  der  Anode,  die,  wie  schon 
erwähnt,  auf  dem  Wirksamwerden  secundärer  Elektrodenstellen  beruht. 

Dass  aber  Versuche,  welche  unter  so  abnormen  Bedingungen 
angestellt  wurden,  das  einfache  und  klare  Resultat  der  Untersuchungen 
Hering's  in  keiner  Weise  zu  beeinträchtigen  vermögen,  dürfte  nach 
dem  Gesagten  wohl  kaum  zweifelhaft  sein. 

In  schlagendster  Weise  wird  aber  die  Thatsache,  dass  die  secundär- 
elektromotorischen  Erscheinungen  rein  polare  Wirkungen  des  Stromes 
darstellen,  durch  den  Umstand  bewiesen,  dass  Abtödtuug  der  ano- 
dischen beziehungsweise  kathodischen  Muskelstellen  das  Zustande- 
kommen sowohl  positiv  anodischer,  wie  auch  negativ  kathodischer 
Polarisation  in  ganz  gleicher  Weise  zu  hindern  vermag,  wie  bekannt- 
lich die  Oeffnungs-  und  Schliessungserregung.  Der  negative  und 
insbesondere  der  positive  Polarisationsstrom  sind  also 
geknüpft  an  die  Integrität  der  kathodischen  beziehungs- 
weise anodischen  Stellen  der  erregbaren  Substanz. 

Hermann  hebt  dies  nur  mit  Rücksicht  auf  den  positiv  anodischen 
Nachstrom  an  Muskeln  hervor  und  bezeichnet  denselben  daher  allein 
als  einen  „irritativen",  im  Gegensatz  zu  dem  „von  wirklicher 
Polarisation  herrührenden"  negativen  Nachstrom.  Er  lässt  den  letz- 
teren, wie  Du  Bois-Reymond,  auf  der  ganzen  interpolaren  Strecke 
und  nach  partieller  Durchströmung  auch  in  den  extrapolaren  Strecken 
in  Folge  einer  Polarisation  entstehen,  die  er  für  gleichwerthig  hält  mit 
gewissen,  später  zu  besprechenden  Polarisationserscheinungen,  welche 
man  an  markhaltigen  Nerven,  sowie  an  einem  von  einem  Elektrolyten 
umhüllten,  polarisirbaren  Draht  beobachtet,  dessen  Hülle  ein  Strom 
zugeleitet  wird.  Er  findet  die  Erscheinungen  an  derartigen  (Kern- 
leiter-)Modellen  in  Uebereinstimmung  mit  den  an  Muskeln  (und  Nerven) 
sowohl  interpolar  wie  auch  extrapolar  zu  beobachtenden  Polarisations- 
erscheinungen, indem  der  „polarisatorische  Nachstrom"  ersteren  Falls 
dem  polarisirenden  Strome  gegensinnig,  letzteren  Falls  aber  gleich- 
sinnig sei. 

Es  wird  auf  diese  Verhältnisse  bei  Besprechung  der  elektrischen 
Nervenreizung  noch  näher  einzugehen  sein;  vorläufig  möge  erwähnt 
sein,  dass,  so  wenig  derartige  Wirkungen  unter  gewissen  Bedingungen 
geläugnet  werden  sollen,  beim  Muskel  innerhalb  gewisser,  so  zu  sagen 
physiologischer  Grenzen  der  Stromstärke  auch  der  negativ  kathodische 
-Nachstrom,    wie  der    positiv   anodische    als    ein    „irritativer",    auf 


382  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

rein  polaren  Stromeswirkungen  beruhender  Nachstrom  bezeichnet 
werden  muss. 

Die  ursprünglichen,  ganz  abweichenden  Resultate  Du  Bois- 
Reymond's  sind,  wie  Hering  gezeigt  hat,  wesentlich  dem  Umstände 
zuzuschreiben,  dass  er  sich  zweier  Muskeln  bediente,  deren  einer 
gänzlich,  der  andere  wenigstens  theilweise  von  einer  sehnigen  Inscrip- 
tion  durchsetzt  wird.  Leitet  man  hier  von  zwei  Punkten  der  inter- 
polaren Strecke  ab,  so  werden  in  der  Regel  zahlreiche  anodische  und 
kathodische  Stellen  zwischen  den  Fusspunkten  des  ableitenden  Bogens 
gelegen  sein,  am  meisten  natürlich  dann,  wenn  die  sehnige,  noch  dazu 
sehr  schief  zur  Muskelaxe  verlaufende  Scheidewand,  welche  jeden  der 
beiden  Muskeln  so  durchtrennt,  dass  er  gleichsam  aus  zwei  hinter 
einander  liegenden  Sondermuskeln  besteht,  ganz  zwischen  den  beiden 
Bussolelektroden  liegt.  Vor  der  Inscription  tritt  der  Strom  aus  den 
Fasern  des  einen  Sondermuskels  aus,  um  hinter  derselben  wieder  in 
die  Fasern  des  zweiten  Sondermuskels  einzutreten.  Auf  der  einen 
Seite  der  Inscription  liegen  also  unzählige  kathodische,  auf  der  an- 
deren gleichviel  anodische  Stellen,  und  die  einen  wie  die  andern  sind 
Sitz  polarer  Veränderungen. 

Auch  hier  versuchte  Du  Bois-Reymond  neuerdings  vom  Stand- 
punkt der  Molekulartheorie  aus  eine  andere  Deutung  zu  geben,  deren 
Unzulänglichkeit  jedoch  zu  augenfällig  hervortritt,  als  dass  er  nicht 
selbst  die  grossen  Schwierigkeiten  hätte  erkennen  müssen,  die  auch 
durch  eine  ganze  Reihe  von  Hülfshypothesen  nicht  zu  bewältigen 
waren.  Die  Polarisationserscheinungen  am  Gracilis  sollen  aus  der  an 
einem  „Thonphantom"  (hestehend  aus  einem  in  der  Mitte  zerschnittenen, 
rundlichen  Thonstempel,  zwischen  dessen  beide  Hälften  die  Patellar- 
sehne  eines  Frosches  geldemmt  wurde)  geprüften  Annahme  hergeleitet 
werden,  dass  „in  jedem  Flächenelement  der  Inscription  eine  axial  ge- 
richtete Gegenkraft  entsteht".  Indessen  entsprachen  die  Beobachtungen 
dem  theoretisch  geforderten  Verhalten  des  Muskels  nicht  in  befrie- 
digender Weise,  so  dass  sich  Du  Bois-Reymond  zu  der  Annahme 
einer  „unechten  inneren  Polarisation"  gedrängt  sieht,  für  welche 
eine  Erklärung  überhaupt  nicht  gegeben  wird.  Als  Sitz  der  „echten" 
Polarisation  an  den  Faserenden  wird  wieder  die  parelektronomische 
Schicht  oder  Strecke  bezeichnet.  Dieselbe  auf  negative  Schwankung 
zu  beziehen  hält  aber  Du  Bois-Reymond  für  ausgeschlossen,  weil 
„zwischen  den  mechanischen  Reizerfolgen  und  der  Polarisation  durch- 
aus keine  solche  Beziehung  obzuwalten  scheint,  wie  sie  nöthig  wäre, 
um  die  Polarisation  als  Nachwirkung  negativer  Schwankung  oder  als 
negative  Schwankung  selbst  aufzufassen".  Dabei  wird  freilich  ganz 
ausser  Acht  gelassen,  dass  ein  derartiger  vollkommener  Parallelismus 
zwischen  den  sichtbaren  Folgen  der  Oeffnungserregung  und  dem 
positiv  anodischen  Nachstrom  ebensowenig  besteht,  wobei  doch  jeder 
Zweifel  über  den  ursächlichen  Zusammenhang  gänzlich  ausgeschlossen 
erscheint.  Du  Bois-Reymond  geht  aber  sogar  so  weit,  das  Vor- 
handensein einer  Dauerreguug  am  Sartorius  bei  Versuchen  zu  leugnen, 
welche  in  ähnlicher  Weise  angestellt  wurden,  wie  die  Polarisations- 
versuche. Unter  diesen  Umständen  auf  weitere  Einzelheiten  der  er- 
wähnten Abhandlung  näher  einzugehen,  scheint  mir  daher  an  dieser 
Stelle  kaum  gerechtfertigt,  und  kann  auf  die  jüngst  von  Hering  ge- 
gebene eingehende  Kritik  derselben  verwiesen  werden  (68). 

Auf  den   ersten   Blick   könnte   man  einen  Grund   für  Du  B o i s - 


Die  elektromotorischeu  Wirkungen  der  Muskeln.  383 

Reyinond's  Ansicht  und  gegen  die  Auffassung  des  positiv  anodischen 
Nachstromes  als  galvanischen  Ausdrucks  der  Oeffnungserregung  in  dem 
Umstand  erblicken,  dass  die  geschilderten  Folgewirkungen  der  Durch- 
strömung auch  im  Zustande  tiefster  Aethernarkose  des  Muskels  in 
gleicher  Weise  hervortreten,  wenngleich  selbst  die  stärkste  Reizung 
keine  Spur  sichtbarer  Gestaltveränderungen  bewirkt.  Es  scheint 
daher,  dass  die  örtliche  Reactionsfähigkeit  des  Muskels  durch  die 
Narkose  nicht  in  merklichem  Grade  beeinflusst  wird,  soweit  sich  dies 
durch  galvanometrisch  nachweisbare  Veränderungen  zu  erkennen  giebt, 
indem  sich  immer  zeigen  lässt ,  dass  die  Fähigkeit  desselben, 
bei  Reizung  mit  dem  elektrischen  Strome  einen  positiv 
anodischenNach Strom  zu  liefern,  selbst  durch  einelang 
fortgesetzte  Aetherbehandlung  nicht  nur  nicht  leidet, 
sondern  zu  nach  st  so  gar  beträchtlich  zunimmt,  sich  dann 
einige  Zeit  constant  erhält  und  erst  sehr  spät  merklich 
abnimmt.  Untersucht  man  in  gleicher  Weise  die  negativ  katho- 
disclie  Polarisation  des  Aethermuskels ,  so  zeigt  sich  auch  diese 
während  der  Narkose  nicht  vermindert. 

In  beiden  Fällen  wird  jedoch  das  Zustandekommen  des  Nach- 
stromes durch  Abtödtung  der  anodischen,  resp.  kathodischen  Faser- 
enden ganz  wie  unter  normalen  Verhältnissen  beeinträchtigt  oder  ganz 
verhindert.  An  Stelle  der  positiv  anodischen  Polarisation  beobachtet 
man  dann  eine  viel  schwächere  negative  Nachwirkung,  während  von 
der  negativ  kathodischen  Polarisation  unter  diesen  Umständen  selbst 
bei  langer  Schliessungsdauer  nur  Spuren  zurückbleiben. 

Der  Begriff  der  Erregung  erscheint  gerade  beim  Muskel  so  fest 
verknüpft  mit  der  Vorstellung  der  activen  Gestaltveränderung  oder 
wenigstens  der  Möglichkeit  einer  solchen,  dass  die  Annahme  eines 
Fortbestehens  der  Erregbarkeit  bei  gänzlich  aufgehobener  Contractilität 
von  vornherein  auf  Schwierigkeiten  stösst.  Wir  sehen  allerdings  die 
secundär  elektromotorischen  Erscheinungen  auch  an  einem  unbeweg- 
lich ausgespannten  Muskel  hervortreten,  allein  hier  ist  auch  noch  das 
Leitungsvermögen  und  daher  auch  die  negative  Schwankung  erhalten, 
und  der  Muskel  würde  sich  in  toto  contrahiren,  wenn  er  nicht 
mechanisch  daran  verhindert  wäre.  Der  Aethermuskel  hat  aber  nicht 
nur  die  Fähigkeit,  sich  bei  Reizung  zu  verkürzen,  vollständig  ein- 
gebüsst,  sondern  er  ist  auch  gänzlich  leitungsunfähig  geworden.  Die 
grosse  Mehrzahl  der  Erfahrungen  der  Muskel-  und  Nervenphysiologie 
berechtigt  aber  zu  der  Annahme  eines  nahen  Zusammenhanges 
zwischen  Leitungsvermögen  und  Erregbarkeit,  obschon  andererseits 
Veränderungen  beider  Functionen  durchaus  nicht  immer  gleichen 
Schritt  halten,  und  die  eine  Fähigkeit  bereits  erloschen  sein  kann, 
während  die  andere  noch  fortbesteht.  Es  sei  in  dieser  Beziehung  nur 
an  die  Thatsache  erinnert,  dass  im  Verlaufe  des  Absterbens  die  bei 
mechanischer  oder  elektrischer  Reizung  hervortretenden  Contractions- 
erscheinungen  sich  mehr  und  mehr  auf  die  Stelle  der  directen  Reizung 
beschränken  und  hier  noch  sehr  energisch  auftreten,  wenn  die  Fort- 
leitung schon  ganz  aufgehoben  ist  („idiomusculäre  Contraction").  Man 
pflegt  dies  gewöhnlich  darauf  zu  beziehen ,  dass  bei  sinkender  Erreg- 
barkeit das  Leitungsvermögen  der  Muskelsubstanz  früher  als  die 
directe  Anspruchsfähigkeit  schwindet.  Auch  im  Verlaufe  der  Aether- 
narkose macht  sich  die  gleiche  Thatsache  bemerkbar,  indem  bei 
elektrischer  Reizung  in  der  Umgebung  der  Kathode  noch  immer  eine 


384  ^i^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

deutlich  sichtbare  Contraction  eintritt,  wenn  bei  Reizung  an  einem 
und  Ableitung  am  anderen  Ende  bereits  jede  Spur  einer  negativen 
Schwankung  des  Demarcationsstromes  fehlt,  das  Leitungsvermögen 
daher  so  gut  wie  ganz  aufgehoben  ist.  Unter  diesen  Umständen  war 
daran  zu  denken,  ob  das  Fortbestehen  der  Polarisationserscheinungen 
nicht  etwa  darauf  zu  beziehen  ist,  dass  sowohl  die  Schliessungs-  wie 
die  Oeffnungserregung  lediglich  auf  die  äussersten  Faserenden  des 
Muskels  beschränkt  bleiben,  deren  Verkürzung  der  Beobachtung  ja 
leicht  entgehen  konnte.  Indessen  lässt  sich  ein  derartiges  Verhalten 
selbst  bei  mikroskopischer  Betrachtung  des  durchströmten  Muskels 
nicht  nachweisen,  und  darf  mit  Bestimmtheit  behauptet  werden,  dass 
bei  genügend  lange  fortgesetzter  Aetherwirkung  jede  merkliche  Spur 
einer  örtlichen  Contraction  bei  Reizung  mit  dem  elektrischen  Strome 
fehlt,  o bschon  dann  die  in  Rede  stehenden  Polarisationserscheinungen 
nach  wie  vor  in  unverminderter  Stärke  beobachtet  werden  können. 
Man  darf  daher  wohl  bestimmt  behaupten,  dass  das  Eintreten  der 
dem  Nachströmen  zu  Grunde  liegenden  Veränderungen 
gänzlich  unabhängig  von  dem  Erhaltensein  der  Con- 
tractilität  und  des  Leitungsvermögens  ist. 

Dies  schliesst  nun  aber  keineswegs  die  Zulässigkeit  derjenigen 
Auffassung  aus,  nach  welcher  der  positiv  anodische  und  negativ  katho- 
dische Nach  Strom  als  Folgewirkung  der  Oeffnungs-  und  Schliessungs- 
erregung zu  betrachten  sind,  sondern  lässt  sich  mit  derselben  in  Ein- 
klang bringen,  wenn  man  die  Möglichkeit  einer  örtlich  beschränkten 
Erregung  ohne  gleichzeitige  Gestaltveränderung  des  Muskels  zugiebt. 
Diese  Möglichkeit  wird  aber  um  so  weniger  geläugnet  werden  können, 
als  derartige  Erscheinungen  auch  unter  ganz  normalen  Verhältnissen 
vorkommen.  Es  sei  nur  an  die  Thatsache  erinnert,  dass  bei  directer 
elektrischer  Reizung  des  Muskels  stets  eine  Grenze  der  Reizstärke 
gefunden  wird,  unter  welcher  der  Strom  zwar  keine  merklichen 
mechanischen  Reizerfolge  mehr  auslöst,  wohl  aber  Veränderungen  der 
Muskelsubstanz  bewirkt,  die  sich  in  anderer  Weise,  insbesondere  durch 
einen  geänderten  Erregbarkeitszustand  an  den  Aus-  und  Eintrittsstellen 
äussern.  So  ist  ferner  auch  bekannt,  dass,  worauf  insbesondere 
Hering  aufmerksam  machte,  die  Oeffnungserregung  sich  mittels  des 
Galvanometers  als  positiv  anodischer  Nachstrom  unter  Umständen  er- 
kennen lässt,  wo  „dieselbe  mit  dem  Auge  gar  nicht,  vielleicht  nicht 
einmal  mikroskopisch  wahrnehmbar  ist".  Allerdings  handelt  es  sich 
hier  um  Reizungen,  welche  mit  Rücksicht  auf  die  Gestaltveränderungen 
des  Muskels  als  subliminal  bezeichnet  werden  müssen,  während  an 
einem  in  Narkose  befindlichen  Muskel  selbst  die  stärkste  Erregung 
keine  unmittelbar  sichtbare  Reaction  hervorbringt.  Indessen  beweisen 
jene  Thatsachen  doch,  dass  die  Beziehungen  zwischen  Contraction  und 
Erregung  keine  so  unmittelbaren  sind,  wie  man  vielleicht  von  vorn- 
herein anzunehmen  geneigt  sein  möchte,  dass  vielmehr  indirect  nach- 
weisbare Veränderungen  der  Muskelsubstanz  in  Folge  einer  vorher- 
gehenden Reizung  eintreten  können,  ohne  gleichzeitig  sichtbare 
Gestaltsveränderungen.  Sehr  bemerkenswerth  bleibt  aber  in  dem 
Verhalten  des  ätherisirten  Muskels  immerhin  der  Umstand,  dass  die 
erwähnten  Polarisationserscheinungen  während  der  ganzen  Dauer  der 
Narkose  keine  merkliche  Schwächung  erkennen  lassen.  Es  spricht 
dies  für  eine  sehr  weitgehende  Unabhängigkeit  der  Erregbarkeit  des 
Muskels  von  dessen  Contractilität  und  Leitungsvermögen. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  385 

Unter  diesen  Umständen  erscheint  es  von  um  so  grösserem  In- 
teresse, dass  die  Möglichkeit  der  Erregung  auch  bei  einer  ganz  anders- 
artigen Veränderung  der  Muskelsubstanz  gegeben  erscheint,  wobei  die 
Contractilität  ebenfalls  mehr  oder  weniger  beeinträchtigt  ist.  Es  be- 
stehen dann  nicht  nur  die  in  Rede  stehenden  Polarisationserscheinungen 
fort,  sondern  es  treten  auch,  falls  die  betreffenden  Veränderungen  nur 
local,  an  Stelle  der  directen  Reizung,  bewirkt  werden,  Gestaltver- 
änderungen des  normalen  Muskelabschnittes  hervor.  Es  wurde  schon 
früher  erwähnt,  dass  der  quergestreifte  Muskel  sehr  beträchtliche 
Mengen  Wasser  aufzunehmen  vermag,  ohne  die  Fähigkeit  zu  verlieren, 
bei  Verletzung  elektromotorisch,  wie  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen, 
zu  wirken.  Beschränkt  man  die  Wasserwirkung  auf  das  eine  oder 
andere  Ende  eines  Sartorius,  so  kann  dasselbe  durch  Quellung  hin- 
sichtlich seiner  physikalischen  Eigenschaften  bereits  hochgradig  ver- 
ändert erscheinen,  ohne  sich,  wie  schon  bemerkt  wurde,  negativ  zu 
dem  unversehrten  Theil  des  Präparates  zu  verhalten.  Damit  steht  in 
Einklang,  dass  auch  die  Erregbarkeit  durch  den  elektrischen  Strom 
zu  dieser  Zeit  nicht  merklich  beeinträchtigt  gefunden  wird,  wenn  man 
den  Muskel  derart  durchströmt,  dass  die  Stelle  der  directen  Reizung 
an  das  veränderte  Muskelende  zu  liegen  kommt.  Dies  ergiebt  sich 
einerseits  aus  der  Vergleichung  der  Zuckungshöhen,  andererseits  aus 
dem  Verhalten  der  secundär-elektromotorischen  Erscheinungen  vor 
und  nach  örtlicher  Wässerung.  Da  nun  ausnahmslos  durch  alle  jene 
Eingriffe,  welche  zu  einer  tiefer  greifenden  Schädigung  der  chemischen 
Beschaffenheit  der  Muskelsubstanz  führen,  auch  bei  örtlicher  Ein- 
wirkung die  mechanischen,  wie  die  galvanischen  Reizerfolge  in  gleicher 
Weise  beeinträchtigt  werden,  falls  die  Stelle  der  directen  Reizung 
mit  dem  geschädigten  Muskelende  zusammenfällt,  so  sieht  man  sich 
nothwendig  zu  der  Annahme  gedrängt,  dass  in  dem  hier  vorliegenden 
Falle  die  Erregbarkeit  der  gequollenen  Faserabschnitte  zunächst  nicht 
merklich  leidet.  Dem  gegenüber  kann  es  aber  nicht  bezweifelt  werden, 
dass  die  Contractilität  derselben  in  Folge  des  starreähnlichen  Zustandes 
schon  in  der  ersten  Zeit  der  Wasserwirkung  erheblich  vermindert  sein 
wird.  Wenn  man  nun  demungeachtet  unter  diesen  Umständen  nicht 
nur  das  Fortbestehen  des  positiv-anodischen  und  negativ-kathodischen 
Nachstromes,  sondern  auch  kräftige  Schliessungs-  beziehungsweise 
Oeffnungszuckungen  beobachtet,  wenn  der  Strom  an  dem  gewässerten 
Ende  aus-  oder  eintritt,  so  muss  man  nothwendig  zu  dem  Schlüsse 
gelangen,  dass  für  die  Erregung  des  Muskels  die  Fähigkeit  der  activen 
Gestaltveränderung  an  Stelle  der  directen  Reizung  keine  nothwendige 
Vorbedingung  darstellt.  Es  kann  daher  auch  der  vollkommene  Ver- 
lust der  Contractilität  des  ätherisirten  Muskels  ebensowenig,  wie  der 
des  Leitungsvermögens,  unter  gleichen  Umständen  als  ein  begründeter 
Einwand  gegen  die  Deutung  der  Polarisationserscheinungen ,  ins- 
besondere aber  des  positiv-anodischen  Nachstromes  als  Folge  der  Er- 
regung angesehen  werden,  und  zwar  um  so  weniger,  als  diejenigen 
Thatsachen,  welche  am  allerentschiedensten  zu  Gunsten  der  genannten 
Auffassung  sprechen,  an  dem  ätherisirten  Präparate  ganz  ebenso  wie 
an  einem  normalen  beobachtet  werden  können.  Dies  gilt  insbesondere 
bezüglich  der  Folgen  der  Verletzung  der  Faserenden.  Immer  lässt  sich 
zeigen,  dass  durch  eine  irgendwie  bewirkte  Abtödtung  des  anodischen 
Muskelendes  das  Zustandekommen  des  positiven  Nachstromes  unmög- 
lich gemacht  wird. 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  25 


386  I-^iö  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Als  Resultat  der  vorstehenden  Erörterungen  ergiebt  sich  daher  der 
Satz,  dass  der  quergestreifte  Muskel  durch  Einwirkung 
von  Aetherdämpfen  in  einen  Zustand  geräth,  in  welchem 
er  bei  Einwirkung  eines  äusseren  Reizes  keinerlei 
direct  wahrnehmbare  Veränderungen,  weder  örtlich, 
noch  entfernt  von  der  Reizstelle,  erkennen  lässt,  wäh- 
rend dagegen  an  dieser  letzteren  galvanisch  nachweis- 
bare Veränderungen,  und  zwar  in  gleicher  Stärke  wie 
vor  der  Narkose,  als  Ausdruck  der  Erregung  hervor- 
treten, die  sich  jedoch  in  Folge  des  aufgehobenen 
Leitungsvermögens   nur  local   zu   äussern  vermögen. 

Mit  dem  Nachweis  der  positiv-anodischen  und  negativ-kathodischen 
Polarisation  quergestreifter  Muskeln  ist  nun  aber  der  Kreis  der 
secundär-elektromotorischen  Erscheinungen  noch  nicht  geschlossen. 
Erinnert  man  sich  der  so  auffälligen  polaren  Hemmungs- 
wirkungen, welche  unter  gewissen  Umständen  nicht  nur  an  tonisch 
Contrahirten  glatten,  sondern  auch  an  quergestreiften  Muskeln  unter 
dem  Einflüsse  des  Kettenstromes  entstehen,  so  ist  ohne  Weiteres  klar, 
dass  die  Folgen  der  elektrischen  Reizung  eines  solchen  Muskels  mit 
Rücksicht  auf  die  secundär-elektromotorischen  Erscheinungen  sich 
unter  Umständen  als  positiv- kathodisch  er,  beziehungsweise 
negativ-anodischer  Nachstrom  geltend  machen  müssten.  In 
der  That,  denkt  man  sich  einen  parallelfaserigen  Muskel  in  allen  seinen 
Theilen  gleichmässig  erregt  (contrahirt),  so  würde  sich  derselbe  elektro- 
motorisch ebenso  unwirksam  nach  aussen  zeigen,  wie  im  ganz  un- 
versehrten Zustande;  wird  er  nun  der  Länge  nach  durchströmt,  so 
tritt  während  der  Schliessungsdauer  an  der  Anode  eine  Erschlaffung 
durch  Hemmung  der  bestehenden  Erregung  ein,  während  an  der 
Kathode  eventuell  noch  eine  Zunahme  der  Contraction  erfolgen  kann. 
Nach  Oeffnung  des  Kreises  kehrt  sich  Alles  um,  und  die  Hemmung 
ist  nun  an  der  Kathode  localisirt.  Denkt  man  sich  daher  das  der- 
selben entsprechende  Muskelende  mit  der  Mitte  durch  einen  ableiten- 
den Bogen  verbunden,  so  wird  in  demselben  ein  Strom  vom  Ende 
zur  Mitte,  im  Muskel  daher  umgekehrt,  d.  h.  im  Sinne  des  polari- 
sirenden  Stromes  (also  positiv),  fliessen  (70). 

Wie  sich  die  polare  Hemmung  der  Contraction  am  besten 
nach  Veratrinvergiftung  zeigen  lässt,  so  gelingt  es  mittels  derselben 
auch  leicht,  die  unter  dem  Einfluss  eines  elektrischen  Stromes  ein- 
tretenden galvanischen  Veränderungen  einer  abwechselnd  ruhen- 
den und  erregten  Muskelstrecke  zu  untersuchen.  Statt  den  ganzen 
Muskel  mit  Veratrin  zu  vergiften,  erscheint  es  für  den  vorliegenden 
Zweck  besser,  bloss  das  eine  Ende  des  vSartorius  zu  vergiften.  Es 
entsteht  dann  bei  jeder  Momentreizung,  wie  schon  an  anderer  Stelle 
bemerkt  wurde,  eine  sehr  starke  und  ziemlich  lang  anhaltende  Nega- 
tivität  der  vergifteten  Strecke.  Handelt  es  sich  um  das  untere 
Sartoriusende,  und  schliesst  man  nach  möglichst  rascher  Compensation 
des  durch  eine  kurzdauernde  Reizung  entwickelten  Veratrin-Actions- 
stromes  einen  absteigend  gerichteten  Kettenstrom  (2  Daniell)  für  kurze 
Zeit  (1 — 4  Sekunden),  so  sieht  man  ausnahmslos  einen  mehr  oder 
minder  beträchtlichen  Rückschwung  im  Sinne  eines  gleich- 
gerichteten, also  positiven  Nachstromes  erfolgen,  ent- 
sprechend einer  vorübergehenden  oder  dauernden  Ver- 
minderung    der    Negativität     der    kathodischen    Faser- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  387 

enden.  Wird  die  Schliessungsdauer  auch  nur  wenig  verlängert,  so 
schlägt  die  Wirkung  bald  in  ihr  Gegentheil  um  oder  wird  zum 
Wenigsten  doppelsinnig  (positiv  mit  negativem  Vorschlag).  Es  kann 
keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass  der  positiv-kathodisclie 
Nachstrom  in  diesem  Falle  durch  eine  im  Augenblick 
der  Oeffnung  des  Reizstromes  an  der  physiologischen 
Kathode  sich  entwickelnde  Hemmung  der  daselbst  be- 
stehenden Dauererregung  und  dadurch  bewirkte  rela- 
tive Pos  itivität  der  betreffenden  Faserstellen  bedingt 
wird. 

Wie  schon  mehrfach  hervorgehoben  wurde,  gleichen  die  Folge- 
erscheinungen der  unter  dem  Einfluss  der  Anode  während  der 
Schliessungsdauer  des  Stromes  erzeugten  Veränderungen  der  erregten 
Muskelsubstanz  in  jeder  Beziehung  denen,  welche  man  unter  denselben 
Umständen  an  der  Kathode  bei  Oeffnung  des  Stromes  wahrnimmt. 
Es  gilt  dies  nicht  nur  bezüglich  der  Gestaltveränderungen  des  Mus- 
kels, die  sich  in  beiden  Fällen  als  eine  örtlich  beschränkte  Ev- 
schlafFung  kennzeichnen,  sondern  auch  hinsichtlich  der  begleitenden 
elektromotorischen  Erscheinungen,  charakterisirt  durch  relative  Posi- 
tivität  der  Ein-  beziehungsweise  Austrittstellen  des  Stromes,  wodurch 
einerseits  ein  negativ-anodischer,  andererseits  ein  positiv-kathodischer 
Nachstrom  erzeugt  wird.  Da  die  Methode  der  Untersuchung  der 
secundär-elektromotorischen  Erscheinungen  nur  gestattet,  die  Folgen 
der  elektrischen  Reizung  nach  O  e  f  f  n  u  n  g  des  polarisirenden  Stromes 
festzustellen,  so  ist  klar,  dass,  sobald  die  Bedingungen  für  die  Aus- 
lösung deutlicher  Oeffnungserregung  gegeben  sind  (also  insbesondere 
bei  Anwendung  stärkerer  Ströme  und  längerer  Schliessungsdauer)  der 
durch  dieselbe  bedingte  positiv-anodische  Nachstrom  in  den  Vorder- 
grund treten  wird,  während  der  negative  Nachstrom  nur  bisweilen 
als  Vorschlag  sich  geltend  machen  kann.  Nur  in  dem  Falle,  wenn 
das  Zustandekommen  der  Oeffnungserregung  irgendwie  erschwert  oder 
verhindert  ist,  darf  man  erwarten,  stärkere  Wirkungen  im  Sinne  eines 
negativ -anodischen  Nachstromes  zu  beobachten,  wie  es  z.  B.  der 
Fall  ist  an  erschöpften  Präparaten  oder  nach  Abtödtung  der  anodischen 
Faserenden. 

Es  kann  nach  dem  Gesagten  nicht  Wunder  nehmen,  dass  Muskeln, 
welche  sich  von  vornherein  in  einem  dauernden  Erregungszustande 
befinden  (tonisch  contrahirt  sind),  dem  Strome  gegenüber  sich  sowohl 
in  Bezug  auf  die  sichtbaren  Gestaltveränderungen,  wie  auch  hinsicht- 
lich der  galvanischen  Nachwirkungen  ähnlich  wie  veratrinisirte  Mus- 
keln verhalten.  So  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  den  während  der 
Schliessung  an  der  Anode,  nach  der  Oeffnung  an  der  Kathode,  auf- 
tretenden Hemmungserscheinungen  am  contrahirten  Herzmuskel,  sowie 
an  Holothurienmuskeln  Positivität  der  betreffenden  Stellen  gegenüber 
allen  anderen  entsprechen  müsste,  und  auch  am  Schliessmuskel  von 
Anodonta,  der  durch  einen  starken  Tonus  ausgezeichnet  ist,  gehört 
nach  meinen  Beobachtungen  nicht  nur  negativ-anodische,  sondern 
auch  positiv-kathodische  Polarisation  zu  den  regelmässigen  Folge- 
wirkungen elektrischer  Durchströmung  (71). 

Handelt  es  sich  um  Präparate,  welche  möglichst  tonusfrei  (er- 
schlafft) sind,  so  zeigt  sich  in  der  Regel,  wie  beim  quergestreiften 
Muskel,  bei  Ableitung  vom  kathodischen  Ende  und  der  Muskelmitte 
ein  Vorherrschen  negativer  Nachströme,    die  in  Folge   des   langsamen 

25* 


388  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Schwindens  der  Schliessungsdauercontraction  sehr  nachhaltig  sind  und 
immer  dann  am  stärksten  erscheinen,  wenn  auch  die  Bedingungen 
für  die  Schliessungserregung  am  günstigsten  sind.  An  frischeren, 
stärker  tonischen  Präparaten  macht  sich  dagegen  ein  positiv-kathodischer 
Nachstrom  vorherrschend  geltend,  der  entweder  rein  hervortreten 
kann  oder  von  einem  negativen  Vorschlag  eingeleitet  wird.  In  ähn- 
licher Weise  wie  die  positiv  anodische  Polarisation  zeigt  sich  auch 
die  positiv-kathodische  abhängig  von  der  Stärke  und  Dauer  des  Reiz- 
stromes, derart,  dass  sie  im  Allgemeinen  mit  beiden  zunimmt.  Auch 
besteht  zwischen  den  antagonistischen  Polarisationserscheinungen  an 
der  Kathode  ein  ganz  ähnliches  Wechselverhältniss  wie  zwischen  jenen 
an  der  Anode,  indem  der  negative  Nachstrom  um  so  mehr  in  den 
Hintergrund  tritt,  je  stärker  der  positive  ist,  und  umgekehrt.  In  der 
Regel  ist  es  nicht  schwer,  in  einem  gegebenen  Falle  eine  Stromstärke 
und  Schliessungsdauer  ausfindig  zu  machen,  wo  man  auf  Seite  der 
Kathode  nur  einsinnig  positive  Wirkungen  beobachtet.  Aber  auch 
dann  treten  bei  wiederholter  Reizung  mit  gleichgerichtetem  Strome 
sehr  bald  doppelsinnige  Ausschläge  auf,  indem  der  positive  Nachstrom 
immer  schwächer  wird,  während  gleichzeitig  die  negative  Polarisation 
zunimmt. 

Hinsichtlich  der  anodischen  Nachströme  besteht  eine  fast  vollkommene 
Uebereinstimmung  zwischen  dem  monomeren  quergestreiften  und  dem 
glatten  Muschelmuskel,  nur  dass  alle,  also  auch  die  galvanischen  Folge- 
erscheinungen der  Reizung,  erst  bei  einer  viel  grösseren  Stromesinten- 
sität hervortreten  als  dort.  Im  Allgemeinen  nimmt  die  negativ  ano- 
dische Polarisation  des  Muschelmuskels  mit  wachsender  Stromesinten- 
sität zu,  doch  nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze,  indem  sich  weiterhin 
bald  ein  positiver,  rasch  wachsender  Nachstrom  hinzugesellt,  so  dass 
zunächst  wieder  doppelsinnige  Ausschläge  mit  abnehmender  negativer 
Phase  und  schliesslich  rein  positive  Wirkungen  erfolgen.  Diese  letz- 
teren hängen  wie  beim  quergestreiften  Muskel  wesentlich  mit  von 
dem  jeweiligen  Erregbarkeitszustande  des  Präparates  ab,  derart,  dass 
sie  um  so  früher,  d.  i.  bei  um  so  geringerer  Stromstärke  und 
Schliessungsdauer  hervortreten,  je  erregbarer  der  Muskel  ist.  Mit 
Berücksichtigung  aller  Eigenthümlichkeiten  der  positiv -anodischen 
Polarisation,  ihrer  Abhängigkeit  von  dem  Erregbarkeitszustande  des 
Präparates,  von  Stärke  und  Schliessungsdauer  des  Reizstromes,  ihrer 
Localisation  an  der  Anode  und  ihrer  grossen  Beständigkeit,  kann  es 
keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass  sie,  wie  beim  quergestreiften 
Muskel  lediglich  als  Ausdruck  der  Oeffnungserregung  anzusehen  ist. 
Dies  spiegelt  sich  auch  in  dem  Umstände  wieder,  dass  bei  ganz 
frischen,  stark  tonischen  Präparaten  die  positiv-anodische  Polarisation 
gerade  wie  die  Oeffnungsdauercontraction  gegenüber  der  negativ- 
kathodischen  Polarisation  als  Ausdruck  der  Schliessungserregung  in 
den  Vordergrund  tritt  (besonders  bei  erstmaliger  Reizung) ;  auch  wird 
die  Entwicklung  des  positiv-anodischen  Nachstromes  durch  Abtödtung 
des  anodischen  Muskelendes  wie  beim  quergestreiften  Muskel  er- 
schwert oder  ganz  verhindert. 

Nicht  das  Gleiche  gilt  hier  bezüglich  des  positiv-katho- 
dischen Nachstromes,  der  beim  quergestreiften  wie  beim  glatten 
Muskel  durch  Abtödtung  des  betreffenden  Muskelendes  nicht  nur 
nicht  geschwächt,  sondern  sogar  oft  nicht  unwesentlich  ver- 
stärkt wird. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln.  389 

Für  die  Auffassung  der  positiv- kathodischeu  Polarisation  ist  es 
von  Wichtigkeit,  dass,  wie  schon  Hering  fand,  bisweilen  auch  an 
ganz  frischen  Sartorien  von  R,  esculenta  und  besonders  temporaria 
gleich  nach  der  ersten  Reizung  mit  dem  Kettenstrome  schwache  Aus- 
schläge des  Magneten  im  Sinne  eines  positiv  -  kathodischen  Nach- 
stromes hervortreten,  die  unter  Umständen  auch  eine  erheblichere 
Stärke  erreichen  können.  Wesentlich  ist  hierfür  eine  gewisse  Kürze 
der  Schliessungszeit,  da  sonst  doppelsinnige  oder  rein  negative 
Wirkungen  hervortreten.  Nach  Abtödtung  des  der  physiologischen 
Kathode  entsprechenden  Muskelendes  werden  diese  Wirkungen  er- 
heblich verstärkt,  und  es  gelingt  dann  selbst  an  weniger  empfindlichen 
Präparaten  gewöhnlich  leicht,  noch  ziemlich  starke  positive  Nach- 
ströme bei  Reizung  mit  atterminal  (admortal)  gerichteten  Ketten- 
strömen auftreten  zu  sehen.  Man  kann  daher  dieselben  auf  diese 
Weise  so  zu  sagen  künstlich  durch  Abtödtung  des  kathodischen 
Muskelendes  hervorrufen.  Da  in  diesem  Falle  die  Schliessungs- 
erregung ganz  oder  theilweise  ausgeschaltet  ist,  so  scheint  mir  auch, 
abgesehen  von  andern  Gründen,  die  neuerdings  von  Locke  (17) 
versuchte  Deutung  der  positiv -kathodischen  Nachströme  als  Folge- 
wirkungen einer  in  der  Continuität  (Mitte)  des  Muskels  länger  als 
am  Kathodenende  anhaltenden  Dauererregung  nicht  zulässig^  zumal 
ich  mich  überzeugt  habe ,  dass  genau  dieselben  Wirkungen  auch 
dann  hervortreten,  wenn  die  Sartoriuspräparate  vorher  nicht  mit 
physiologischer  Kochsalzlösung  behandelt  wurden,  wodurch  nach 
Locke  eine  Neigung  des  Muskels  zu  tetanischer  Contraction  be- 
dingt wird. 

Nach  wie  vor  erscheint  mir  bei  Berücksichtigung  aller  Umstände 
und  insbesondere  der  auffallenden  Uebereinstimmung,  welche  hin- 
sichtlich der  Bedingungen  des  Eintretens  und  der  Erscheinungsweise 
der  positiv-kathodischen  Polarisation  einerseits  am  partiell  veratrini- 
sirten  Muskel  und  andererseits  nach  Abtödtung  der  kathodischen 
Faserenden  des  normalen  quergestreiften  und  glatten  Muskels  besteht, 
meine  ursprüngliche  Auffassung  als  die  wahrscheinlichste,  der  zu 
Folge  es  sich  hier  wie  dort  um  einen  bei  Oeffnung  des  Reizstromes 
an  der  physiologischen  Kathode  sich  entwickelnden ,  der  Erregung 
entgegengesetzten  Zustand  und  eine  dadurch  bewirkte  relative  Posi- 
tivität  der  Austrittsstellen  des  Stromes  gegen  andere  Muskelpunkte 
handelt. 

Dass  nach  einseitiger  Abtödtung  der  Faserenden  eines  normalen, 
regelmässig  gebauten  Muskels  die  nächstangrenzenden,  erregbaren 
Querschnitte  desselben  sich  in  einem  Zustande  mehr  oder  weniger 
starker  Dauererregung  befinden,  verräth  sich  oft  schon  makroskopisch 
durch  die  daselbst  nachweisbare  locale  Contraction,  welche  mittels 
des  Mikroskopes  in  allen  Fällen  leicht  zu  erkennen  ist. 

Unter  dieser  Voraussetzung  verliert  aber  das  Hervortreten  positiv 
kathodischer  Nachströme  sofort  alles  Befremdende;  es  ergiebt  sich 
vielmehr  dann  unmittelbar  als  nothwendige  Folge  jedes  derartigen 
Eingriflfes  unter  der  Voraussetzung  einer  kathodischen  Oeffnungs- 
hemmung.  Ein  solches  Präparat  verhält  sich  eben  im  Wesentlichen 
nicht  anders,  wie  ein  örtlich  mit  Veratrin  behandelter  Muskel  un- 
mittelbar nach  einem  Momentreiz. 

Es  bleibt  jetzt  nur  noch  die  Frage  zu  beantworten,  wie  die  posi- 
tiv-kathodische   Polarisation    an    möglichst    unversehrten,    stromlosen 


390  I^iö  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln. 

Muskeln  aufzufassen  ist.  Der  Ansicht  von  Locke  (1.  c),  wonach 
dieselbe  auf  einem  Ueberdauern  der  Erregung  in  der  Gegend  der 
Muskelmitte  an  Kochsalzmuskeln  beruhen  soll,  wurde  schon  oben  ge- 
dacht. Ich  halte  dieselbe  für  ausgeschlossen  durch  gleichartige  Ver- 
suche an  ganz  frischen,  nicht  benetzten  Präparaten. 

Man  wird  aber  die  positiv-kathodischen  Nachströme,  welche  dann 
unter  Umständen  hervortreten,  auch  nicht  ohne  Weiteres  mit  der  ent- 
sprechenden Erscheinung  am  unversehrten  Muschelmuskel  vergleichen 
dürfen;  denn  letzterenfalls  handelt  es  sich  um  ein  Gebilde,  das  sich 
in  allen  seinen  Theilen  im  Zustande  dauernder  (tonischer)  Erregung 
befindet,  während  dies  beim  normalen  quergestreiften  Muskel  nicht 
der  Fall  ist.  Handelt  es  sich  dort  nur  um  die  Folgeerscheinungen 
einer  an  bestimmten  Stellen  eintretenden  Hemmung  der  tonischen  Er- 
regung und  eine  dadurch  bewirkte  relative  Positivität  jener  Stellen, 
so  muss  hier  nothwendig  eine  locale  Veränderung  der  „ruhenden" 
Muskelsubstanz  angenommen  werden,  welche  sich  im  gegebenen  Falle 
durch  ein  Positivwerden  derselben  gegenüber  anderen,  nicht  alterirten 
Faserstellen  verräth.  Wie  sofort  ersichtlich  ist,  kann  eine  solche  Ver- 
änderung an  der  Kathode  unter  den  obwaltenden  Umständen  nur  als 
Folgeerscheinung  der  vorhergehenden  Schliessungserregung  betrachtet 
werden,  durch  welche  dieselben  Faserstellen  zweifelsohne  zunächst 
stark  negativ  wurden ,  so  dass  der  Gedanke ,  es  handle  sich  hier  so 
zu  sagen  um  eine  Reaction  der  lebendigen  Substanz  gegen  die  vor- 
ausgehende Erregung,  sich  unmittelbar  aufdrängt. 

Die  Resultate,  zu  denen  wir  fi'üher  bei  Erörterung  der  sichtbaren 
Folgewirkungen  der  elektrischen  Erregung  des  Herzmuskels,  sowie 
verschiedener  glattmuskeliger  Theile  (Holothurien  und  Echinusmuskeln) 
gelangt  waren,  gewinnen  durch  die  zuletzt  besprochenen  secundär- 
elektromotorischen  Erscheinungen  noch  wesentlich  an  Bedeutung  und 
Beweiskraft.  Denn  diese  gestatten  nunmehr  mit  Sicherheit  die  Verall- 
gemeinerung derjenigen  Folgerungen,  zu  denen  insbesondere  die  Be- 
obachtungen der  Reizerfolge  an  dem  in  wechselnden  Contractions- 
zuständen  befindlichen  Herzmuskel  führten. 

Die  Annahme  zweier,  den  polaren  Erregungsprocessen  antago- 
nistischer Hemmungsvorgänge,  die  für  den  Herzmuskel  im  Zustand 
der  Systole  unabweisbar  schien,  erweist  sich  nun,  wie  gezeigt  wurde, 
auch  als  diejenige,  welche  die  Folgeerscheinungen  der  elektrischen 
Reizung  des  quergestreiften  Stammesmuskels  in  einfachster  Weise  zu 
erklären  vermag.  Dies  gilt  ebensowohl  bezüglich  der  mechanischen 
Reizerfolge,  wie  hinsichtlich  der  elektromotorischen  Nachwirkungen. 
Beide  Untersuchungsmethoden,  die  Prüfung  der  Gestaltveränderungen 
des  gereizten  Muskels  einerseits  und  die  Feststellung  des  Polarisations- 
zustandes nach  Beendigung  der  Reizung  andererseits  ergänzen  sich 
aber  hierbei  wechselseitig  in  erwünschter  Weise,  so  dass  ein  befriedi- 
gender Einblick  in  das  Wesen  der  durch  den  Strom  bewirkten  Ver- 
änderungen in  der  That  erst  durch  die  Combinirung  beider  Unter- 
suchungsmethoden zu  gewinnen  ist.  Dabei  ist  insbesondere  zu 
bemerken,  dass  ein  directer  Beweis  für  das  Vorhandensein  eines  der 
Erregung  folgenden  oder  ihr  vorangehenden  antagonistischen  Vor- 
ganges durch  entsprechende  Gestaltveränderungen  des  Muskels  selbst- 
verständlich nur  während  einer  bereits  bestehenden  dauernden  Con- 
traction  desselben  möglich  ist,  anderenfalls  aber  höchstens  indirect, 
etwa  durch  Untersuchung  der  Erregbarkeitsveränderungen  erschlossen 


Die  elektromotorischen  WirkiiDgen  der  Muskeln.  391 

werden  könnte.  Dagegen  gestattet  die  Untersuchung  der  secundär- 
elektromotorischen  Erscheinungen,  auch  an  dem  ruhenden  Muskel  mit 
aller  Sicherheit  den  Nachweis  für  das  Vorhandensein  polarer  anta- 
gonistischer Vorgänge  zu  führen. 

Der  positiv-anodische  und  negativ-kathodische  Nachstrom  einer- 
seits, der  positiv-kathodische  und  negativ-anodische  Nachstrom  anderer- 
seits verdanken  hiernach,  paarweise  zusammengehörig,  polaren  anta- 
gonistischen Veränderungen  der  Muskelsubstanz  ihre  Entstehung,  von 
denen  die  einen  zu  Negativität  der  betreffenden  Faserstellen,  die  an- 
deren zu  Positivität  derselben  führen.  Den  ersteren  entspricht  als 
mechanischer  Reizerfolg  die  Schliessungs-  und  Oeffnungscontraction, 
den  letzteren  (bei  Vorhandensein  eines  tonischen  Contractionszustandes) 
die  Schliessungs-  und  Oeffnungserschlaffung,  Wie  jene  sind  wohl  auch 
diese  durch  chemische,  unter  dem  Einflüsse  des  Stromes  entstehende 
Veränderungen  der  erregbaren  Muskelsubstanz  bedingt,  über  deren 
Natur  allerdings  etwas  Bestimmtes  vorläufig  noch  nicht  gesagt  werden 
kann.  Während  aber  die  bei  Schliessung  des  Stromes  eintretenden 
Veränderungen  direct  durch  diesen  veranlasst  sind,  handelt  es  sich 
bei  den  Folgen  der  Oeffnung  wesentlich  um  Reactionserscheinungen 
der  veränderten  Muskelsubstanz  selbst,  und  ist  nicht  nur  die  anodische 
Oeffnungserregung ,  sondern  auch  die  kathodische  üeffnungshemmung 
in  diesem  Sinne  zu  deuten. 


E.    Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel- 
und  Drüsenzellen. 


Wenn  sich  schon  beim  Muskel  eine  scharfe  Trennung  zwischen 
„Ruhestrom"  und  „Actionsstrom"  nicht  durchführen  lässt,  in- 
dem beide  Erscheinungen  in  gewissem  Sinne  nur  gradweise  verschieden 
sind,  so  ist  dies  noch  viel  weniger  möglich  in  Bezug  auf  die  elektro- 
motorischen Wirkungen  anderer  thierischer  und  pflanzlicher  Zellen, 
bei  welchen  Spann ungsdifFerenzen,  gleichgiltig,  ob  sie  vor  oder  wäh- 
rend einer  künstlichen  Reizung  hervortreten,  beziehungsweise  Ver- 
änderungen im  einen  oder  anderen  Sinne  erleiden,  immer  nur  der 
Ausdruck  einer  Verschiedenheit  des  Chemismus  benachbarter  Theile 
des  lebenden  Continuums  sind.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  er- 
scheint es  daher  auch  völlig  willkürlich,  ja  geradezu  unrichtig,  von 
dem  „Ruhestrom"  einer  drüsigen  Schleimhaut  oder  eines  pflanzlichen 
Zellaggregates  im  Gegensatz  zum  Actionsstrom  zu  sprechen,  da  es  sich 
in  beiden  Fällen  um  Wirkungen  handelt,  welche  derselben  Ursache, 
d.  h.  der  Fortdauer  gewisser  chemischer  Stoffwechselprocesse  an  be- 
stimmten Stellen  der  Plasmamasse,  ihre  Entstehung  verdanken,  die 
durch  directe  oder  indirecte  Reizung  nur  quantitativ  oder  qualitativ 
verändert  werden.  Dies  schliesst  natürlich  keineswegs  aus,  dass  bei 
anfänglicher  Stromlosigkeit  solcher  Theile  SpannungsdifFerenzen  gerade 
wie  beim  „parelektronomischen"  Muskel  durch  die  Reizung  über- 
haupt erst  hervorgerufen  werden.  Es  empfiehlt  sich  daher,  auch  die 
hier  zu  besprechenden  elektromotorischen  Wirkungen  der  Drüsen 
und  Epithelzelleu  im  Zusammenhang  zu  behandeln  und  nicht,  wie  es 
bei  Muskeln  aus  Zweckmässigkeitsgründen  passend  erschien,  die 
während  der  Ruhe  und  während  der  „Thätigkeit"  hervortretenden 
Erscheinungen  einer  gesonderten  Besprechung  zu  unterziehen. 

Es  darf  vielleicht  als  eine  Folge  der  Schwierigkeiten  bezeichnet 
werden,  welche  die  theoretische  Behandlung  der  im  Folgenden  zu  be- 
sprechenden Thatsachen  vom  Standpunkte  der  lange  Zeit  ausschliess- 
lich herrschenden  Molekulartheoi'ie  darbot,  dass  auch  die  experimentelle 
Bearbeitung  des  fraglichen  Gebietes  ganz  unverhältnissmässig  hinter 
der  Entwicklung  der  Muskel-  und  Nervenphysik  zurücksteht,  obschon 
einige  grundlegende  Erfahrungen  bis  in  die  Zeit  der  Entdeckung  des 
Muskelstromes  zurückreichen. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  393 

Es  bestand  lange  geradezu  eine  gewisse  Abneigung,  Zellen,  bei 
welchen  eine  regelmässige  Molekularstructur,  wie  man  sie  bei  Muskeln 
voraussetzte,  nicht  wohl  angenommen  werden  konnte,  überhaupt 
elektromotorische  Wirksamkeit  zuzuschreiben.  So  äusserte  Engel- 
mann  noch  1872  (72)  bei  Gelegenheit  einer  Erörterung  der  Frage, 
ob  etwa  die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Froschhaut  auf  die 
Drüsenepithelien  bezogen  werden  dürften,  sein  Widerstreben,  „bei  Zellen, 
welche,  wie  die  vorliegenden,  nichts  von  einer  regelmässigen,  nach 
bestimmten  Axenrichtuugen  erfolgenden  Anordnung  ihrer  kleinsten 
Theilchen  zeigen,  einen  regelmässigen,  zu  jnerkbaren  Wirkungen  nach 
aussen  befähigten  elektromotorischen  Bau  anzunehmen",  und  hält  die 
Drüsenmuskeln  für  die  einzige  wesentliche  Quelle  der  elektrischen 
Ströme  im  Innern  der  Drüsenschicht. 

Wie  schon  erwähnt,  wurde  Du  Bois-Reymond,  dessen  Name 
auch  hier  wieder  an  der  Spitze  genannt  werden  muss,  bei  seinen  Be- 
mühungen, den  vermeintlichen  Ruhestrom  unversehrter,  in  situ  be- 
findlicher Muskeln  durch*  die  Haut  hindurch  nachzuweisen,  zur  Ent- 
deckung der  starken  elektromotorischen  Wirksamkeit  der  Froschhaut 
geführt.  Bei  ungleichzeitiger  Berührung  zweier  beliebiger  Stellen  der 
unversehrten  Oberfläche  eines  ausgeschnittenen,  auf  einer  Glasplatte 
ausgebreiteten  Hautstückes  mit  den  ableitenden  Kochsalzbäuschen  er- 
hielt er  stets  einen  Strom,  welcher  innerhalb  der  Haut  von  dem  zu- 
letzt angelegten  Bausche  nach  dem  anderen  hinfliesst.  Wurden  beide 
Bäusche  möglichst  gleichzeitig  aufgelegt,  so  blieb  die  Nadel  vergleichs- 
weise ruhig. 

Du  Bois-Reymond  erkannte  denn  auch  sofort  den  Grund 
dieser  Ausschläge  wegen  ungleichzeitiger  Berührung.  „Jede  Berührungs- 
stelle ist  der  Sitz  einer  elektromotorischen  Kraft  in  der  Richtung  von 
dem  Bausch  in  die  Haut  hinein;  allein  die  Berührung  der  Salzlösung 
beeinträchtigt  zugleich  die  Ursache  dieser  elektrischen  Triebkraft. 
Daher  bei  ungleichzeitiger  Berührung  der  Strom  im  Sinne  der  Trieb- 
kraft an  der  jüngsten  BerUhrungsstelle,  der  so  lange  anhält,  bis  der 
Unterschied  der  Triebkräfte  an  beiden  Stellen  unmerklich  geworden  ist." 
Sehr  viel  stärkere  Ablenkungen  erhielt  dann  DuBois-Reymond  bei 
Ableitung  von  der  äusseren  und  inneren  Hautfläche,  und  zwar  stets 
in  der  Richtung  von  der  ersteren  zur  letzteren.  Auch  hier  wurde 
aber  die  Triebkraft  durch  die  Kochsalzlösung  sehr  bald  vernichtet 
und  war  von  vornherein  gleich  Null,  wenn  die  Hautoberfläche  vor 
der  Ableitung  mit  NaCl  bepinselt  worden  war.  Ebenso  werden  die 
Ströme  vernichtet  durch  Abschaben  der  Epithel-  und  Drüsenschicht. 
Da  Du  Bois-Reymond  den  Hautstrom  bei  der  Kröte,  wo  die  Haut- 
drüsen sehr  mächtig  entwickelt  sind,  besonders  stark  fand,  während 
sich  die  drüsenlose  Haut  der  Fische  (Aal,  Schleie,  Hecht,  Barsch) 
als  gänzlich  stromlos  erwies,  so  war  die  Vermuthung  naheliegend, 
„dass  die  elektromotorische  Wirksamkeit  der  Haut  in  Verbindung 
stehe  mit  der  den  nackten  Amphibien  eigenthümlichen  Hautabsonde- 
rung". Diese  Vermuthung  erhielt  in  der  Folge  eine  wesentliche  Stütze 
durch  Beobachtungen  von  Rosenthal  (75)  und  Röber  (76).  Der 
Erstere  fand,  dass  nicht  nur  die  Hautdrüsen  des  Frosches  und  anderer 
nackter  Amphibien  der  Sitz  elektromotorischer  Kräfte  sind,  welche 
stets  von  der  Mündung  nach  dem  Drüsengrunde  gerichtet  erscheinen, 
sondern  dass  das  Gleiche  auch  bezüglich  der  Drüsen  der  Magen- 
schleimhaut gilt,  so  dass  diese  elektromotorischen  Kräfte  „mit  grosser 


394  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

Wahrscheiulichkeit  als  eine  wesentliche  Eigenschaft  der  Drüsensubstanz 
zu  betrachten  Avären,  nicht  anders,  als  Avir  die  elektromotorischen 
Kräfte  zu  den  wesentlichen  Lebensäusserungen  der  Nerven  und  Mus- 
keln zu  zählen  gewohnt  sind". 

Mit  dieser  Auffassung  steht  eine  später  von  Engelmann 
(72,  p.  97)  geäusserte  Ansicht  im  Widerspruch,  der  zu  Folge  die 
angeblichen  „Drüsenströme"  „myogenen"  Ursprunges  sein  sollten, 
vermittelt  durch  den  Belag  contractiler  Faserzellen,  welcher  jeden 
Drüsenkörper  aussen  umgiebt.  Diese  Deutung,  welche  natürlich  mit 
der  Präexistenslehre  steht  und  fällt,  suchte  Engel  mann  durch  eine 
grosse  Reihe  trefflicher  Beobachtungen  zu  stützen,  auf  die  im  Folgen- 
den noch  vielfach  zurückzukommen  sein  wird.  Doch  lässt  sich  nicht 
läugnen,  dass  selbst  vom  Standpunkte  der  Präexistenzlehre  aus  das 
Verhalten  der  Hautströme  des  Frosches  eher  gegen  als  für  Engel- 
m  a  n  n  '  s  Anschauung  spricht. 

Hermann  glaubt  neuerdings,  „dass  nicht,  oder  nicht  in  erster 
Linie,  die  Drüsen,  sondern  die  Epithelschicht  der  Sitz  der 
elektromotorischen  Hautwirkung  (während  der  Ruhe)  ist".  Die  Gründe, 
welche  seiner  Zeit  Du  Bois-Reymond  veranlassten,  gerade  die 
Drüsen  für  die  wesentliche  Ursache  der  Hautströme  nackter  Amphibien 
zu  halten,  nämlich  das  Fehlen  derselben  bei  der  „drüsenlosen"  Haut 
der  Fische,  glaubte  Hermann  als  nicht  stichhaltig  erweisen  zu  können 
durch  den  Nachweis  eines  regelmässigen,  einsteigenden  Hautstromes 
bei  einer  grossen  Zahl  daraufhin  untersuchter  Fische  (75).  Hiergegen 
Hesse  sich  freilich  der  Einwand  geltend  machen,  dass  die  Fischhaut 
thatsächlich  nicht  drüsenlos  ist,  sondern  zahllose  einzellige  Schleim- 
drüsen („Becherzellen")  enthält  und  in  manchen  Fällen  geradezu  als 
eine  grosse,  flächenhaft  ausgebreitete  Schleimdrüse  bezeichnet  werden 
könnte  (vgl.  F.  E.  Schnitze,  78).  Da  man  nun  weiss,  dass  weder 
in  morphologischer  Hinsicht  noch  auch  bezüglich  der  physiologischen 
Function  ein  durchgreifender  Unterschied  zwischen  ein-  und  mehr- 
zelligen Schleimdrüsen  besteht,  so  liegt  es  gewiss  nahe,  den  Ruhe- 
strom der  Fischhaut  auf  die  als  einzellige  Drüsen  fungirenden  „Becher- 
zellen" zu  beziehen.  Dies  that  Hermann  auch  thatsächlich,  indem 
er  im  Sinne  der  Alterationstheorie  jede  partielle  Mucinmetamorphose 
einzelner  Zellen,  sowie  der  Elemente  der  schleimabsondernden  Drüsen 
als  eine  Quelle  gesetzmässiger  elektromotorischer  Wirkungen  be- 
zeichnet, einer  Kraft,  „welche,  an  den  freien  Epithelien  einsteigend, 
an  den  Drüsen  vom  Lumen  gegen  die  Matrix  gerichtet  ist".  Solche 
Ströme  sind  denn  auch  thatsächlich  überall  nachgewiesen  worden,  wo 
immer  schleimbildende  Zellen  oder  Drüsen  sich  linden  (Haut  der 
Fische  und  nackten  Amphibien,  Zunge,  Rachenschleimhaut,  Magen  und 
Cloake  der  letzteren).  Dass  übrigens  im  Sinne  Hermann 's  auch 
andere,  nicht  drüsige  Epithelzellen  elektromotorische  Wirkungen  ver- 
anlassen können,  scheint  durch  neuere  Untersuchungen  von  E.  W. 
Reid  (88)  genügend  sichergestellt. 

Da  zur  Zeit  mit  Ausnahme  der  später  noch  näher  zu  besprechen- 
den Pflanzenströme  die  elektromotorischen  Wirkungen  ein-  und  mehr- 
zelliger Schleimdrüsen  fast  allein  allen  unseren  Erfahrungen  über  „Zell- 
ströme" zu  Grunde  liegen,  so  müssen  die  betreffenden  Thatsachen 
hier  auch  noch  eingehender  behandelt  werden.  Das  vielleicht  ge- 
eignetste Untersuchungsobject  bildet  die  an  Becherzellen  und  Schleim- 
drüsen überaus  reiche  Zunge  des  Frosches,  an  welcher  ausserdem  die 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  395 

secretorischen  Nerven  mit  Leichtigkeit  präparirt  werden  können.  Mit 
Rücksicht  auf  die  seiner  Zeit  von  Engelmann  geäusserte,  oben 
schon  erwähnte  Vermuthung  betreffs  des  Ursprungs  der  Hautströme 
ist  es  bemerkenswerth,  dass  die  mit  charakteristischen  iSchleimzellen 
ausgekleideten  Zungendrüsen  f  r  e  i  v  0  n  M  u  s  k  e  1  n  im  bindegewebigen 
Strome  dicht  unter  der  Oberfläche  liegen,  deren  Papillen  mit  einem 
einschichtigen,  aus  Becher-  und  Flimmerzellen  zusammengesetzten 
Epithel  überkleidet  sind.  Der  schleimige,  zähflüssige  Inhalt  der  Drüsen- 
schläuche steht,  wie  sich  an  Querschnitten  leicht  erkennen  lässt,  allent- 
halben mit  der  die  Zungenoberfläche  in  der  Regel  überziehenden 
Schleimschicht  in  directem  Zusammenhang,  Avas  bei  der  Weite  der 
Drüsenmündungen  leicht  begreiflich  ist.  Auch  das  Epithel  der  unteren, 
dem  Mundboden  zugcAvendeten  Zungenfläche  enthält  reichlich  Becher- 
zellen. 

Um  den  „Ruhestrom"  der  Zunge  zu  untersuchen,  kann  man 
sich  verschiedener  Methoden  bedienen,  die  im  Verlaufe  der  folgenden 
Erörterungen  zu  besprechen  sein  werden.  Wir  können  uns  die  Zungen- 
oberfläche im  Allgemeinen  als  eine  vielfach  und  unregelmässig  gefaltete 
Fläche  vorstellen,  die  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  von  schleim- 
absondernden Zellen,  untermischt  mit  verhältnissmässig  spärlichen  Flim- 
merzellen, in  einfacher  Schicht  überzogen  wird.  Die  Drüsen  erscheinen 
so  nur  als  mehr  oder  weniger  tiefe  Einstülpungen  in  der  Continuität 
des  Zellbelages,  von  deren  innerer  Oberfläche  eine  Ableitung  möglich 
erscheint,  da,  wie  schon  erwähnt,  die  die  Zunge  bedeckende  Secret- 
schicht  fast  allerorts  in  umittelbarem  Zusammenhang  mit  dem  flüssigen 
Inhalt  der  Drüsenschläuche  steht.  Denkt  man  sich  daher  die  an  der 
Wurzel  abgeschnittene  Zunge  auf  einer  indifferenten  leitenden  Unter- 
lage, wie  etwa  einem  Block  aus  Kochsalzthon,  ausgebreitet,  so  würde 
off'enbar  die  elektromotorische  Wirkung  des  gesammten,  nicht  nur  die 
Drüsen  auskleidenden,  sondern  auch  die  dazwischen  gelegenen  Papillen 
überziehenden  Oberflächenepithels  ohne  Weiteres  zu  prüfen  sein,  wenn 
nicht  auch  die  untere  Fläche  der  Zunge  von  einer  ähnlich  zusammen- 
gesetzten, ebenen  Zelllage  bekleidet  wäre,  deren  einzelne  Elemente 
im  Allgemeinen  symmetrisch  zu  jenen  der  Oberfläche  gelagert  sind. 
Zwischen  beiden  schiebt  sich  eine  dicke  Lage  von  Bindegewebe  und 
quergestreiften  Muskeln  ein,  die  wir  unter  normalen  Verhältnissen  als 
elektromotorisch  unwirksam  betrachten  dürfen. 

Sie  vermittelt  daher  in  jedem  Falle  die  Ableitung  von  dem  basalen 
Theile  der  einzelnen  Zellelemente  der  Ober-  wie  der  Unterseite  der 
Zunge.  Unter  der  Voraussetzung  völlig  gleicher  elektromotorischer 
Wirkungen  des  Epithels  beider  Flächen,  einer  Annahme,  die  übrigens 
schon  durch  die  so  sehr  verschiedene  Massenentwicklung  der  be- 
treß'enden  Zelllagen  als  ausgeschlossen  gelten  darf,  würde  off'enbar 
bei  Ableitung  von  zwei  symmetrisch  einander  gegenüber  liegenden 
Punkten  der  Ober-  und  Unterseite  keinerlei  Wirkung  nach  aussen 
resultiren.  So  geben  beispielsweise  auch  die  Schwimmhäute  der 
Hinterbeine  des  Frosches  bei  Ableitung  von  beiden  Seiten  in  Folge 
des  symmetrischen  Baues  nur  sehr  schwache  und  unregelmässige 
elektrische  Wirkungen.  Die  Zunge  dagegen  liefert  unter  denselben 
Bedingungen  fast  regelmässig  einen  sehr  kräftigen,  im  ableitenden 
Bogen  von  der  Unterseite  zur  Oberfläche  gerichteten,  also  im  Sinne 
Hermanns  „einsteigenden"  Strom,  der  das  Scalenbild  oft  weit  aus 
dem  Gesichtsfelde  treibt. 


396  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

Da,  wie  sich  aus  dem  Folgenden  ergeben  wird,  die  Zungenströme 
selbst  schon  durch  äusserst  geringfügige  mechanische  Insulte  sehr  er- 
hebliche Veränderungen  erleiden,  so  erscheint  es  von  vornherein  ge- 
boten, mit  möglichster  Schonung  vorzugehen  und  jede,  auch  die 
leiseste  Berührung  oder  Zerrung  zu  vermeiden.  Als  zweckmässigstes 
Verfahren  der  Ableitung  von  der  ausgeschnittenen,  nicht  mehr  blut- 
durchströmten Zunge  hat  sich  mir  schliesslich  das  folgende  bewährt. 
Der  Frosch  wird  schwach,  nur  eben  bis  zur  Bewegungslosigkeit, 
curarisirt;  hierauf  entfernt  man  vorsichtig  die  äussere  Haut  in  der 
ganzen  Ausdehnung  des  Unterkiefers,  um  jede  Einmischung  der 
elektromotorischen  Wirkungen  derselben  auszuschliessen,  exarticulirt 
jenen  und  trennt  ihn  durch  einen  queren  Schnitt  unterhalb  der 
Zungenspitze  ab ;  dabei  werden  freilich  Muskeln  verletzt,  deren  Stümpfe 
eventuell  Stromschleifen  in  den  Galvanometerkreis  senden  können ; 
doch  ist  ihr  Einfluss  gegenüber  der  Mächtigkeit  des  Zungenstromes 
sicher  zu  vernachlässigen,  wie  besondere  Controllversuche  an  dem- 
selben Präparat  nach  Entfernung  der  Zunge  lehren.  Die  Ableitung  er- 
folgt nun  in  der  Weise,  dass  der  Unterkiefer  mit  seiner  unteren  Fläche 
auf  einen  Block  aus  Kochsalzthon  von  entsprechender  Grösse  gelegt 
wird,  der  unter  Vermittlung  des  Mundbodens  die  Ableitung  von  der 
Zungenunterseite  ermöglicht,  wenn  die  eine  Pinselelektrode  ihn  be- 
rührt, während  die  andere  an  beliebigen  Punkten  der  Zungenober- 
fläche angelegt  werden  kann.  Es  ist  dabei  noch  zu  berücksichtigen, 
dass  auch  der  Mundboden  selbst,  auf  welchem  die  Zunge  aufliegt,  mit 
einer  reichlich  Becherzellen  enthaltenden  Schleimhaut  bekleidet  und 
daher  elektromotorisch  wirksam  ist.  Schneidet  man  aber  die  Zunge 
an  der  Wurzel  ab  und  leitet  wie  früher  von  dem  Thonblock  und  der 
vorher  von  der  Zunge  bedeckten  Schleimhautfläche  ab,  so  erhält  man 
in  der  Regel  nur  sehr  geringfügige  Ablenkungen  im  einen  oder  anderen 
Sinne,  so  dass  hieraus  keine  erhebliche  Störung  resultirt. 

Es  kann  somit  keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass,  wie  immer 
auch  die  Ableitung  von  der  Zunge  erfolgen  möge,  die  beobachteten 
Wirkungen  ihrem  Sinne  nach  durch  die  elektromotorische  Thätig- 
keit  des  Oberflächenepithels  im  weitesten  Wortsinne  (Drüsen- 
und  Papillenepithel)  bedingt  werden,  wenngleich  die  absolute  In- 
tensität derselben  durch  die  bei  der  Ableitung  nicht  wohl  zu  ver- 
meidende Einmischung  anderer  elektromotorisch  wirkender  Theile  in 
einem  nicht  immer  genau  zu  bestimmenden  Grade  beeinflusst  wird. 
Dies  ergiebt  sich  am  klarsten  aus  dem  Umstände,  dass  bei  jedem  in 
der  eben  beschriebenen  Weise  angestellten  Versuche  der  unter  Um- 
ständen äusserst  kräftige  einsteigende  Strom,  welcher  die  Scala  weit 
aus  dem  Gesichtsfelde  treibt,  nach  Zerstörung  des  Oberflächenepithels 
bis  auf  unregelmässige  Spuren  verschwindet,  obschon  dabei  weder 
das  Epithel  der  Zungenunterfläche  noch  das  des  Mundbodens  merklich 
beeinflusst  sein  konnte.  Andererseits  kann  man  sich  leicht  davon 
überzeugen,  dass  selbst  noch  kleine  Schleimhautstückchen, 
welche  durch  einen  flachen  Scheerenschnitt  von  der  Oberfläche  der 
Froschzunge  losgetrennt  und  nach  kurzer  Zeit  der  Ruhe  wieder  auf 
einer  Unterlage  von  Kochsalzthon  untersucht  werden,  noch  ebenso 
wie  die  ganze  Zunge  der  Sitz  eines  starken  einsteigen- 
den Stromes  sind.  Es  darf  hiernach  wohl  als  feststehend  be- 
trachtet werden,  dass  der  normale  „Ruhestrom"  der  Zunge  vor  Allem 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  397 

durch  die  elektromotorische  Wirkung  des  Oberflächenepithels  ein- 
schliesslich der  Drüsen  bedingt  wird. 

Was  nun  die  Stärke  des  „Ruhestromes"  unter  verschiedenen  Um- 
ständen anlangt,  so  lehrt  schon  eine  kurze  Beschäftigung  mit  dem  in 
Rede  stehenden  Objecte,  dass  die  elektromotorischen  Wirkungen  des- 
selben in  einem  ungleich  höheren  Maasse  von  äusseren  Einflüssen  und 
inneren  Veränderungen  abhängig  sind,  als  dies  etwa  für  den  Muskel- 
strom gilt.  Die  Individualität  der  Frösche,  der  Ernährungszustand, 
Temperaturverhältnisse,  Jahreszeit  und  andere  noch  zu  erwähnende 
Momente  beeinflussen  den  Schleimhautstrom  in  einem  so  hohen  Grade, 
dass  das  Bild  ein  ausserordentlich  Wechsel  volles  wird. 

Was  bei  Vergleichung  des  Muskelstromes  mit  jenem  der  Zungen- 
schleimhaut vor  Allem  auffällt,  ist  die  grosse  Inconstanz  des 
letzteren,  die  sich  bei  jeder  Art  der  Ableitung  äussert,  am 
stärksten  allerdings,  wenn  man  in  der  von  Hermann  vorge- 
schlagenen Weise  am  gänzlich  unversehrten,  schwach  curari- 
sirten  Frosch  von  der  Oberfläche  der  Zunge  einerseits  und  von 
irgend  einem  enthäuteten,  sonst  aber  gänzlich  unversehrten  elektrisch 
indiff'erenten  Körpertheil,  etwa  der  Muskulatur  des  Ober-  oder  Unter- 
schenkels, ableitet.  Ist  der  unter  diesen  Umständen  hervortretende 
einsteigende  „Ruhestrom"  nur  einigermaassen  kräftig,  so  bleibt  nach 
Compensation  desselben  das  Scalenbild  in  der  Regel  kaum  einen 
Augenblick  ruhig  stehen,  sondern  bewegt  sich  bald  im  Sinne  einer 
Zunahme,  bald  einer  Abnahme  des  bestehenden  Stromes.  Diese  Os- 
cillationen,  welche  bisweilen  nur  angedeutet  erscheinen,  können  sich 
in  anderen  Fällen  über  viele  Scalentheile  erstrecken,  und  es  kann 
sich  im  Laufe  der  Beobachtung  ein  ganz  neuer  Mittelwerth  des  Ruhe- 
stromes bilden.  Zuweilen  scheinen  die  gegensinnigen  Ablenkungen 
zeitweise  einen  ziemlich  regelmässigen  Rhythmus  inne  zu  halten,  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  lässt  sich  dies  jedoch  nicht  erkennen.  Mit 
Rücksicht  darauf,  dass  nachgewiesenermaassen  die  Zungendrüsen  vom 
Centralorgan  aus  innervirt  werden  können,  liegt  die  Vermuthung 
nahe,  dass  es  sich  im  vorliegenden  Falle  um  derartige  centrale 
Erregungsimpulse  handelt*,  indessen  treten  die  geschilderten  Oscil- 
lationen,  wenngleich  meist  schwächer  ausgeprägt,  auch  an  dem 
früher  beschriebenen  Unterkieferpräparate  hervor,  so  dass  jedenfalls 
in  der  Zunge  selbst  die  nächsten  Ursachen  dafür  gesucht  werden 
müssen. 

Leitet  man  den  Ruhestrom  der  Zunge  in  der  oben  erwähnten 
Weise  am  ganzen  unversehrten  Frosch  ab,  wobei  man  den  Unter- 
kiefer des  auf  dem  Rücken  liegenden  Thieres  mittels  eines  neben  der 
Zunge  durchgezogenen  Fadens  möglichst  weit  nach  hinten  zieht,  so 
findet  man  den  Strom  unmittelbar  nach  Anlegen  der 
Elektroden  fast  regelmässig  in  rascher  Zunahme  be- 
griffen, und  es  kann  geschehen,  dass  der  gleich  nach  dem  Oeffhen 
des  Rachens  äusserst  schwache  Strom  wenige  Minuten  später  die 
Scala  weit  aus  dem  Gesichtsfeld  treibt.  Auch  beim  Abrücken  und 
Wiederanlegen  der  die  Zungenoberfläche  berührenden  Elektrode  an 
derselben  oder  einer  anderen  Stelle  macht  sich  regelmässig  eine 
Schwächung  mit  darauffolgendem  Wiederansteigen  des  Stromes  be- 
merkbar. Die  Erklärung  dieser  Erscheinungen  kann  erst  im  Zu- 
sammenhang mit  anderen,  später  mitzutheilenden  Thatsachen  gegeben 
werden. 


398  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

Einer  eingehenderen  Erörterung  bedarf  der  sehr  auffallende  Ein- 
fluss,  welchen  Aenderungen  der  Temperatur  auf  die  elektro- 
motorischen Wirkungen  der  Froschzunge  ausüben.  Werden  curarisirte 
Frösche  längere  Zeit  (mehrere  Stunden)  bei  niederer  Temperatur 
aufbewahrt,  so  bietet  die  Zunge  bei  der  darauffolgenden,  mög- 
lichst rasch  vorgenommenen  Untersuchung  oft  einen  verkehrten, 
d.  i.  „aussteigenden"  Ruhestrom  dar,  dessen  Stärke  manchmal 
nicht  weit  hinter  der  des  sonstigen,  normal  einsteigenden  Stromes 
zurückbleibt.  In  der  Regel  nimmt  dann  bei  fortschreitender  Erwär- 
mung des  Präparates  der  verkehrte  Strom  ziemlich  rasch  ab,  es 
kommt  ein  kurzes  Stadium,  während  dessen  unter  den  gegebenen 
Ableitungsbedingungen  (Zungenoberfläche  und  blossgelegte  Muskulatur 
des  Unterschenkels)  keinerlei  Spannungsdifferenz  nachweisbar  ist,  wor- 
auf sich  allmählich  der  normale,  einsteigende  Strom  entwickelt. 
Die  stärksten  verkehrten  Wirkungen  lassen  sich  erzielen,  wenn 
schwach  curarisirte  Frösche  für  mehrere  Stunden  ganz  in  Schnee  ge- 
packt werden. 

Untersucht  man  dann  den  Zungenstrom  in  der  angegebenen 
Weise  am  unversehrten  Thier,  und  zwar  möglichst  rasch,  ehe  merk- 
liche Erwärmung  eingetreten  ist,  so  erhält  man  oft  ausserordentlich 
starke,  weit  über  die  Scala  gehende  Ablenkungen  im  Sinne  eines 
aussteigenden  Stromes.  Bleibt  ein  solcher  Kaltfrosch  im  warmen 
Zimmer  liegen,  so  entwickelt  sich,  wie  schon  erwähnt,  mehr  oder 
weniger  rasch  der  normale  einsteigende  Strom.  Diese  Erfahrungen 
gaben  Veranlassung,  auch  an  der  ausgeschnittenen  Zunge  den  Einfluss 
der  Abkühlung  und  Erwärmung  näher  zu  prüfen,  und  ich  bediente 
mich  hierbei  durchwegs  des  schon  beschriebenen  Unterkieferpräpa- 
rates. Da  sich  0,5 ''.o  NaCl-Lösung  als  ziemlich  indifferent  für  die 
elektromotorische  Wirksamkeit  der  Zunge  erwies,  indem  selbst 
stundenlanges  Liegen  in  derselben  keine  wesentliche  Beeinträchtigung 
jener  zur  Folge  hatte,  so  bot  sich  als  einfachstes  Mittel  der  Ab- 
kühlung resp.  Erwärmung  das  Einlegen  in  verschieden  temperirte 
Lösungen  von  gleichem  Salzgehalt  dar.  In  der  That  zeigt  sich  aus- 
nahmslos, dass  jedes  vorher  noch  so  stark  im  normalen 
Sinne  wirksame  Präparat  in  kürzester  Zeit  stromlos 
wird  und  hierauf  in  den  meisten  Fällen  einen  ver- 
kehrten (aussteigenden)  Strom  entwickelt,  wenn  es  in 
einem  Schälchen  mit  physiologischer  Kochsalzlösung 
auf  Schnee  gestellt  und  mit  einer  Glasglocke  bedeckt 
einige  Stunden  bei  niederer  Temperatur  (0  —  2*^  C.)  auf- 
bewahrt wird.  Dasselbe  Resultat  lässt  sich  übrigens  auch  dann 
erzielen,  wenn  das  auf  dem  Thonblock  liegende  Präparat  einfach  in 
einer  feuchten  Kammer  einige  Stunden  in  einem  kalten,  aber  frost- 
freien Raum  (bei  etwa  2 — 4 "  C.)  aufgestellt  wird.  In  allenFällen 
kann  man  dann  den  aussteigenden  Ruhestrom  fast 
momentan  umkehren,  wenn  man  das  Präparat  in 
physiologische  Kochsalzlösung  von  etwa  25  —  30  "^  C. 
taucht. 

Man  wird  bei  diesen  Versuchen  unwillkürlich  an  den  seiner  Zeit 
von  Matteucci  behaupteten  Einfluss  der  Abkühlung  auf  den  Muskel- 
strom erinnert.  Ohne  denselben  leugnen  zu  wollen,  muss  gleichwohl 
auf  den  enormen  gradweisen  Unterschied  hingewiesen  werden,  der 
sich    in    der    erwähnten    Richtung    in    beiden    Fällen    geltend    macht. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  399 

Der  „Ruhestrom"  des  Muskels  (d.  i,  der  Demarcationsstrom  im  Sinne 
Hermann 's)  lässt  sich  zwar  durch  intensive  Abkühlung  merklich 
schwächen,  niemals  aber  beseitigen,  geschweige  denn  umkehren. 

Es  wollte  mir  scheinen,  dass  Zungenpräparate,  welche  frisch 
untersucht  sehr  stark  im  normalen  Sinne  elektromotorisch  wirken, 
bei  Abkühlung  weniger  leicht  verkehrte  Ströme  geben,  als  solche, 
deren  Wirksamkeit  in  Folge  längeren  Liegens  bei  nicht  zu  hoher 
Temperatur  schon  erheblich  abgenommen  hat.  So  fand  ich  auch 
durchwegs  solche  Frösche  zu  allen  diesen  Versuchen  besser  geeignet, 
welche  während  des  Winters  längere  Zeit  im  warmen  Zimmer  ge- 
halten wurden.  Kaltfrösche  liefern  fast  stets  Präparate,  welche 
frisch  untersucht  sehr  starke  und  zugleich  verhältnissmässig  be- 
ständige Ströme  geben,  die  dem  Einfluss  der  Abkühlung  so  zu  sagen 
einen  grösseren  Widerstand  entgegenstellen,  als  gleichstarke  oder 
selbst  stärkere  Ruheströme  von  Warmfröschen.  Damit  hängt  es  viel- 
leicht auch  zusammen,  dass  Frühlingsfrösche  in  Schnee  gepackt  in 
der  Regel  einen  viel  stärkeren  aussteigenden  Zungenstrom  geben,  als 
Winterfrösche.  Die  letzteren  kann  man  aber  nach  meinen  Erfah- 
rungen jederzeit  leicht  in  eine  ähnlich  günstige  Disposition  versetzen, 
wenn  man  sie  vor  dem  Versuche  2 — 3  Tage  im  warmen  Zimmer  in 
der  Nähe  des  Ofens  hält.  Man  erhält  dann  bei  Ableitung  des  Zungen- 
stromes oft  ebenso  starke  Ablenkungen  in  demselben  Sinne,  wie  von 
Kaltfröschen,  doch  befindet  sich  derselbe  so  zu  sagen  in  einem  labilen 
Gleichgewichtszustand-,  er  macht  bei  Abkühlung  viel  rascher  dem 
Gegenstrome  Platz,  als  es  bei  frisch  untersuchten  Kaltfröschen  der 
Fall  ist,  wo  es  bisweilen  nicht  einmal  gelingt,  den  normalen  ein- 
steigenden Strom  durch  die  bisher  besprochenen  Methoden  der  Ab- 
kühlung selbst  nur  auf  Null  herabzudrücken. 

Dies  ist  jedoch  ausnahmslos  der  Fall,  wenn  man 
schmelzenden  Schnee  oder  Eis  direct  mit  der  Schleim- 
hautoberfläche in  Berührung  bringt,  und  es  ist  mir 
überhaupt  kein  Fall  vorgekommen,  wo  unter  diesen 
Bedingungen  nicht  eine  wirkliche  Umkehr  des  nor- 
malen Ruhestromes  eingetreten  wäre.  Im  Einzelnen  sind 
allerdings  die  betreffenden  Wirkungen  bei  verschiedenen  Präparaten 
von  sehr  wechselnder  Stärke,  wobei  sich  wieder  der  Einfluss  der 
schon  erwähnten  Momente  sehr  deutlich  geltend  macht.  Am  zweck- 
mässigsten  fand  ich  es,  kleine,  ebene  und  nicht  zu  dicke  Eisblättchen, 
wie  man  sie  durch  Gefrieren  dünner  Wasserschichten  leicht  gewinnt, 
zwischen  die  Zungenoberfläche  und  die  ableitende  Elektrode  mit  mög- 
lichster Vorsicht  einzuschalten.  Man  sieht  dann  fast  momentan  den 
Strom  auf  Null  sinken,  und  in  der  Regel  tritt  auch  in  wenigen 
Sekunden  schon  die  Umkehr  ein.  Der  neu  hervortretende  ausstei- 
gende Strom  kann  dann  unter  Umständen  so  bedeutend  werden,  dass 
die  Scala  weit  aus  dem  Gesichtsfeld  fliegt.  Genügt  das  einmalige 
Auflegen  von  Eis  nicht,  so  kommt  man  doch  sicher  durch  Wieder- 
holung des  Verfahrens  zum  Ziele;  nach  dem  Schmelzen  des  Eises 
nimmt  der  verkehrte  Strom  in  der  Regel  sehr  rasch  ab,  um  schliess- 
lich wieder  einsteigend  zu  werden.  Diese  Abnahme,  welche  Anfangs 
schneller  als  später  erfolgt,  findet  bisweilen  nicht  gleichmässig  stetig, 
sondern  mit  mehr  oder  weniger  beträchtlichen  Oscillationen  statt. 

Wenn  auch  die  früher  mitgetheilten  Thatsachen  entschieden  zu 
Gunsten  der  Annahme  sprechen,  dass  es  sich  hier  wie  dort  im  Wesent- 


400  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

liehen  um  eine  Folgewirkung  der  Abkühlung  handelt,  so  bleibt  doch 
der  naheliegende  Einwand  auszuschliessen,  es  möchte  etwa  durch  die 
Berührung  der  einen  Elektrode  mit  dem  schmelzenden  Eise  Anlass 
zur  Entstehung  eines  „Thermostromes"  gegeben  sein.  Diese  Ver- 
muthung  schien  um  so  begründeter,  als  Ströme  in  Folge  ungleich- 
artiger Erwärmung  der  ableitenden,  unpolarisirbaren  Elektroden  in  der 
That  bekannt  sind,  indem  nicht  nur  ungleiche  Temperatur  der  beiden 
die  Zinkstäbe  enthaltenden  Glasröhren  mächtige  thermoelektrische  Er- 
scheinungen verursacht,  sondern  es  kann,  wie  Wo rm-Müller  fand 
und  Grützner  bestätigte,  auch  ein  schwächerer  und  umgekehrt  ge- 
richteter „Thermostrom"  zwischen  dem  mit  physiologischer  NaCl-Lösung 
durchtränkten  Thonpfropf  und  der  Zinkvitriollösung  entstehen.  Der- 
selbe geht  vom  Zinkvitriol  zum  Thon  und  hatte  bei  35*^  Temperatur- 
differenz eine  elektromotorische  Kraft  von  0,002  Daniell.  Controlver- 
suche,  welche  ich  in  grosser  Zahl  mit  dem  Thonblock  allein,  sowie 
mit  aufgelegten  abgestorbenen,  elektromotorischen,  nicht  mehr  wirk- 
samen Zungenpräparaten  anstellte,  ergaben  nun  allerdings  schwache 
Ablenkungen  in  demselben  Sinne,  wie  bei  den  vorerwähnten  Ver- 
suchen, d.  h.  die  abgekühlte  Elektrode  wurde  so  zu  sagen  schwach 
positiv;  doch  kann  nicht  im  Entferntesten  davon  die  Rede  sein,  die 
so  überaus  starken  Wirkungen  normaler  Präparate  darauf  zurück- 
führen zu  wollen;  abgesehen  von  allen  anderen  schon  erwähnten 
Gründen,  sei  nur  noch  darauf  hingewiesen,  dass  auch  in  dem 
Falle  die  volle  Wirkung  des  aussteigenden  Stromes  zum  Vorschein 
kommt,  wenn  man  erst  einige  Zeit  nach  dem  Auflegen  des  Eises  und 
nach  Absaugen  des  Schmelzwassers  die  Pinselspitze  mit  der  Zunge  in 
Berührung  bringt;  man  sieht  dann  sofort  eine  starke  Ablenkung  in 
dem  erwarteten  Sinne  erfolgen,  die  eventuell  die  Scala  aus  dem  Ge- 
sichtsfeld treibt,  und  der  hier  sicher  keine  hinreichenden  Temperatur- 
differenzen entsprechen.  Ich  habe  übrigens  oft  genug  an  Unterkiefer- 
präparaten, welche  durch  Gefrieren  und  Wiederaufthauen  gänzlich 
stromlos  geworden  waren  und  einige  Zeit  in  zimmerwarmer  Kochsalz- 
lösung gelegen  hatten,  selbst  nach  wiederholtem  Auflegen  von  Schnee 
oder  Eis  kaum  Spuren  eines  aussteigenden  Stromes  gefunden. 

Ich  halte  es  daher  auf  Grund  der  mi tgetheilten  Be- 
obachtungen für  sicher  erwiesen,  dass  der  regelmässige 
einsteigende  Schleimhautstrom  der  Froschzunge  durch 
hinreichend  starke  Abkühlung  nicht  nur  sehr  rasch  auf 
Null  herabgedrückt,  sondern  auch  umgekehrt  werden 
kann,  wobei  der  verkehrte  Strom  unter  Umständen  die 
gleiche  Stärke  erreichen  kann,  wie  vordem  der  „nor- 
male". 

Da  bei  den  zuletzt  besprochenen  Versuchen  die  Oberfläche  der 
Zungenschleimhaut  von  dem  Schmelzwasser  des  Eises  benetzt  wird,  so 
war  daran  zu  denken,  ob  die  beobachteten  Versuchsresultate  nicht 
wenigstens  zum  Theil  darauf  zu  beziehen  sind.  Dass  dies  der  Haupt- 
sache nach  sicher  nicht  der  Fall  ist,  geht  freilich  aus  den  vorstehenden 
Mittheilungen  unmittelbar  hervor.  Doch  konnte  die  so  auffallend 
rasche  Umkehr  des  Stromes,  sowie  die  Kraft  desselben  wenigstens 
theilweise  auf  Wasserwirkung  beruhen.  Dies  führte  zur  Unter- 
suchung des  Einflusses,  welchen  der  wechselnde  Wasser- 
gehalt der  Zungenschleimhaut  auf  deren  elektromoto- 
rische  Wirksamkeit   während   der   „Ruhe"  besitzt.     Ueber 


Die  elektromotorisd  en  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  401 

denselben  Gegenstand  liegt  bereits  eine  Reihe  trefflicher  Beobachtungen 
von  Engelmann  (72)  an  der  Froschhaut  vor,  auf  welche  später 
noch  zurück  zu  kommen  sein  wird.  Es  beziehen  sich  dieselben 
auf  die  Wirkung  des  Wassers,  sowie  verschieden  concentrirter  Salz- 
lösungen auf  den  ebenfalls  einsteigenden  „Ruhestrom"  der  Haut.  Da, 
wie  sich  später  zeigen  wird,  in  jeder  Hinsicht  eine  nahezu  voll- 
kommene Uebereinstimmung  der  elektromotorischen  Wirkungen  der 
äusseren  Haut  und  der  Zunge  des  Frosches  besteht,  so  war  von  vorn- 
herein zu  vermuthen,  dass  dies  auch  in  Bezug  auf  die  Folgen  der 
Wasserzufuhr  und  Wasserentziehung  gelten  würde.  Bei  der  später 
noch  zu  erwähnenden  ausserordentlichen  Empfindlichkeit  der  Zungen- 
schleimhaut für  alle,  auch  die  geringfügigsten  mechanischen  Reize 
darf  die  Flüssigkeit,  deren  Einwirkung  man  prüfen  will,  nicht  einfach 
aufgeträufelt  oder  gar  mit  dem  Pinsel  aufgetragen  werden,  was  leicht 
zu  den  grössten  Irrthümern  Anlass  geben  könnte,  sondern  es  empfiehlt 
sich,  das  Präparat  nach  einander  in  Schälchen  zu  bringen,  welche 
mit  den  betreffenden  Lösungen  gefüllt  sind.  Nach  kürzerem  oder 
längerem  Verweilen  in  denselben  untersucht  man  den  Zungenstrom  in 
der  früher  geschilderten  Weise  bei  Ableitung  von  einer  Thonunter- 
lage  und  der  Oberfläche  der  Schleimhaut.  Während  die  gewöhnlich  be- 
nützte 0,6  "/o  NaCl-Lösung  sich  auch  für  die  Froschzunge  insofern  als 
indifferent  erweist,  als  die  Fähigkeit,  elektromotorisch  zu  wirken,  in 
derselben  bei  nicht  zu  hoher  Temperatur  viele  Stunden,  ja  Tage  lang 
erhalten  bleibt,  wird  die  Kraft  des  einsteigenden  Schleim- 
hautstromes stets  sehr  erheblich  gesteigert,  wenn  man, 
sobald  sich  nach  längerem  Liegen  des  Präparates  in  ge- 
Avöhnlicher  physiologischer  NaCl-Lösung  die  Ablenkung 
bei  wiederholter  Prüfung  als  nahezu  constant  erweist, 
eine  halbverdünnte  (also  etwa  0,2  —  0,3  *^/o)  Kochsalz- 
lösung einwirken  lässt,  und  noch  mehr  ist  dies  der  Fall,  wenn 
Brunnen-  oder  destillirtes  Wasser  einwirkt.  Es  genügt  schon,  unter 
Vermittlung  des  ableitenden  Pinsels  einen  Tropfen  aq.  destill,  auf  die 
Oberfläche  einer  vorher  in  physiologischer  NaCl-Lösung  aufbewahrten 
Zunge  fliessen  zu  lassen,  um  sofort  eine  starke  positive  Schwankung 
des  Schleimhautstromes  zu  erzielen,  obschon  dabei  der  Widerstand  im 
Kreise  zweifellos  erheblich  zunimmt.  Selbst  längeres  Verweilen  des 
Präparates  in  Brunnenwasser  schwächt  nicht  nur  nicht  den  normalen 
Strom,  sondern  vermag  dessen  Kraft  dauernd  auf  einer  grösseren  Höhe 
zu  erhalten  als  0,6  ^lo  Kochsalzlösung;  es  kann  daher  auch  nicht  die 
Rede  davon  sein,  die  oben  erwähnten  gegensinnigen  Wirkungen 
bei  Abkühlung  der  Schleimhaut  durch  aufgelegten  Schnee  oder  Eis 
auf  die  Einwirkung  des  Schmelzwassers  als  solchen  zu  beziehen. 
Umgekehrt  wie  Wasser  oder  sehr  stark  verdünnte  Salz- 
lösungen wirken  solche,  deren  Salzgehalt  voraussicht- 
lich zu  einer  mehr  oder  weniger  hochgradigen  Ent- 
wässerung der  damit  in  Berührung  kommenden  Gewebe 
führt.  Stets  beobachtet  man  unter  diesen  Umständen 
(bei  Anwendung  von  0,8  —  l,5%NaCl-Lösungen)  ein  ver- 
hältnissmässig  rasches  Sinken  der  Kraft  des  einsteigen- 
den Zungen  Stromes,  die  innerhalb  gewisser  Grenzen 
durch  Wasser  zu  fuhr  rasch  wieder  gehoben  werden  kann. 
Besonders    bemerkenswerth    scheint   mir    zu    sein,    dass    es    auch    in 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  26 


402  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

diesem  Falle,  wie  beienergischerAbkühlungder  Zunge, 
zu  einer  wirklichen  Umkehr  des  normalen  einsteigen- 
den Stromes  kommen  kann,  wobei  die  Stärke  des  Gegen- 
stromes allerdings  meist  hinter  der  durch  Kältewirkung 
erreichbaren  merklich  zurückbleibt.  Es  gelingt,  an  einem 
und  demselben  Präparate  durch  abwechselndes  Versenken  in  1  <^/o  und 
2  "/o  Kochsalzlösung  dem  Strom  der  Schleimhaut  mehrmals  hinter  ein- 
ander bald  aussteigende,  bald  einsteigende  Richtung  zu  geben.  In 
der  Regel  genügten  wenige  Minuten,  um  diese  Veränderungen  herbei- 
zuführen. Wie  Engelmann  auch  an  der  Froschhaut  fand,  ent- 
sprechen schon  sehr  geringen  Unterschieden  in  der  Concentration  der 
angewendeten  Salzlösung  oft  ausserordentlich  bedeutende  Aenderungen 
der  elektromotorischen  Kraft,  was  auf  eine  ungemein  grosse  Empfind- 
lichkeit der  betreffenden  wirksamen  Elemente  für  Veränderungen  des 
Wassergehaltes  schliessen  lässt. 

Bekanntlich  kann  man  auch  schon  während  des  Lebens  den  Ge- 
weben des  Froschkörpers  in  sehr  energischer  Weise  Wasser  entziehen, 
indem  man  stärkere  Lösungen  von  Kochsalz  oder  Glycerin  unter  die 
Haupt  spritzt.  Ein  halber  Cubikcentimeter  der  letzteren  Flüssigkeit, 
bei  einem  curarisirten  Frosch  in  den  Rückenlymphsack  injicirt,  genügt, 
um  binnen  kurzer  Zeit  (1 — 2  Stunden)  dem  wasserreichen  Gewebe  der 
Zunge  so  viel  Wasser  zu  entziehen,  dass  dieselbe  sehr  erhebhch  ge- 
schrumpft und  dunkler  gefärbt  erscheint,  als  unter  normalen  Verhält- 
nissen. In  diesem  Zustande  findet  man  den  einsteigenden  Schleira- 
hautstrom  stets   sehr  schwach   oder   sogar  fehlend. 

Die  zuletzt  erwähnten  Erscheinungen  leiten  unmittelbar  hinüber 
zu  einer  Besprechung  der  Wirkungsweise  andersartiger,  den  Chemis- 
mus der  lebenden  Zellen  beeinflussender  Substanzen.  Hier  sind  vor 
Allem  jene  beiden  Gase  zu  nennen,  die  bei  dem  Lebensprocess  aller 
Organismen  eine  so  überaus  wichtige  Rolle  spielen,  der  Sauerstoff 
und  die  Kohlensäure,  deren  Bedeutung  speciell  auch  für  gewisse 
elektromotorische  Wirkungen  pflanzlicher  und  thierischer  Theile  fest- 
gestellt ist.  Engelmann  zeigte,  dass  bei  Verdrängung  des  Sauer- 
stoffs durch  ein  indifferentes  Gas  (N  oder  H)  die  Kraft  des  Haut- 
stromes allmählich  sinkt,  um  bei  Wiederzutritt  atmosphärischer  Luft 
rascher  wieder  anzusteigen,  wobei  die  anfängliche  Höhe  nicht  nur  er- 
reicht, sondern  sogar  überschritten  werden  kann ;  Kohlensäure  bewirkt 
dagegen  ein  ausserordentlich  schnelles  Sinken  der  Kraft,  die  selbst 
dann  schon  vorübergehend  geschwächt  wird,  wenn  die  umgebende 
Atmosphäre  nur  wenige  Procente  des  Gases  enthält.  Für  Pflanzen- 
ströme ist  eine  analoge  Wirkung  des  O-Mangels  in  neuerer  Zeit  von 
Haacke  (Flora  1892,  Heft  IV)  nachgewiesen  worden.  Ich  bin  in 
der  Lage,  einen  gleichartigen  Einfluss  der  genannten  beiden  Gase  auch 
für  die  Froschzunge  constatiren  zu  können.  Das  Versuchsverfahren 
war  im  Wesentlichen  dem  von  Engel  mann  benützten  nachgebildet; 
das  Präparat  (Unterkiefer  und  Zunge  auf  einem  Block  von  Kochsalz- 
thon  liegend)  befand  sich  nebst  den  ableitenden  Elektroden  in  einer 
Gaskammer,  bestehend  aus  einer  vierfach  tubulirten  Glasflasche,  durch 
welche  die  betreffenden  Gase  hindurchgeleitet  werden  konnten.  Stets 
nahm  sowohl  bei  Verdrängung  des  O  wie  bei  Zufuhr  von  CO-g  die 
Kraft  des  einsteigenden  Zungenstromes  ab,  ersteren  Falls  später  und 
langsamer,    letzteren    Falls    dagegen    sehr    schnell.      Dieselbe    einfache 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  403 

Vorrichtung  kann  auch  dazu  dienen,  den  Einfluss  der  Anästhe- 
t  i  c  a  (Aether ,  Chloroform)  zu  prüfen ;  schon  kleine  Mengen  dieser 
Substanzen  in  Dampfform  bedingen  eine  erhebliche  Verminderung  der 
Kraft  des  einsteigenden  Stromes,  die,  wenn  die  Einwirkung  nicht  allzu 
lange  dauerte,  bei  Durchsangen  von  reiner  Luft  sich  wieder  hebt. 

Ganz    ähnliche    Verhältnisse    wie    die    Zunge     bieten     auch     die 
Rachen-  und  Cloakensch  leim  haut  des  Frosches. 

An  diesen  beiden  Objecten  hatte  schon  Engelmann  (77)  elektro- 
motorische Wirkungen  nachgewiesen.  Wieder  handelt  es  sich  in 
beiden  Fällen  um  einen  unter  normalen  Verhältnissen  „einsteigenden" 
Strom,  dessen  Kraft  oft  eine  sehr  beträchtliche  ist  und  hinter  der  des 
Zungenstromes  kaum  zurücksteht.  Gleichwohl  ist  der  histologische 
Bau  sehr  wesentlich  verschieden.  Sowohl  die  Rachen-  wie  die  Cloaken- 
schleimhaut  sind  im  gewöhnlichen  Wortsinne  als  „drüsenlos"  zu  be- 
zeichnen, da  in  beiden  Fällen  nur  ein  einschichtiges  Cylinderepithel 
vorhanden  ist,  welches  bei  dem  erstgenannten  Objecte  aus  Flimmer- 
zellen mit  zwischengelagerten  Becherzellen,  bei  dem  anderen  fast 
nur  aus  diesen  letzteren  besteht.  Mehrzellige  Drüsen  fehlen  in 
der  That  gänzlich.  Gerade  aus  diesem  Grunde  bieten  jedoch  die  ge- 
nannten Objecte  viel  übersichtlichere  und  einfachere  Ableitungsbedin- 
gungen dar,  als  die  Zungenschleimhaut,  so  dass  gewisse  Einwände, 
welche  hier  möglicher  Weise  gemacht  werden  könnten,  dort  von 
vornherein  wegfallen.  Da  der  Cloakenschleimhaut  Flimmerzellen 
vollkommen  fehlen,  ihre  elektromotorischen  Wirkungen  aber  dem- 
ungeachtet  in  jeder  Beziehung  mit  denen  der  flimmernden  Rachen- 
schleimhaut einerseits,  der  nur  spärlich  mit  Flimmerzellen  ausgestatteten 
Zungenschleimhaut  andererseits  übereinstimmen,  so  erscheint  es  kaum 
zweifelhaft,  dass  als  die  eigentlichen  elektromotorisch  wirk- 
samen Elemente  in  allen  drei  Fällen  die  schleimbilden- 
den Zellen  anzusehen  sind,  sei  es  nun,  dass  dieselben 
als  Bestandtheile  zusammengesetzter  Drüsen  oder  als 
„Becher Zellen"  auftreten.  Gleichwohl  bedurfte  diese  Ansicht 
einer  besonderen  Prüfung,  da  Engelmann  die  Flimmerzellen  an  sich 
für  elektromotorisch  wirkende  Elemente  hielt  und  den  Rachenstrom 
darauf  zurückzuführen  geneigt  war.  Auch  Hermann  weist  auf 
die  Möglichkeit  hin,  die  Flimmerbewegung  „unter  dem  Gesichtspunkt 
einer  in  den  äusseren  Zellschichten  stattfindenden  („irritativen") 
Alteration"  zu  betrachten.  Meine  eigenen  Beobachtungen  stimmen 
hierzu  jedoch  in  keiner  Weise.  Die  Methode  der  Untersuchung  ge- 
staltet sich  sowohl  bei  der  Rachenschleimhaut  wie  bei  der  Cloake 
äusserst  einfach.  Engelmann  präparirte  die  erstere  in  der  Regel 
von  ihrer  natürlichen  Unterlage  los  und  leitete  von  der  äusseren  und 
inneren  Oberfläche  der  über  ein  Korkrähmchen  gespannten  Membran 
ab.  Es  gelingt  dies  aber  selbst  bei  grösster  Sorgfalt  doch  nicht  ganz 
ohne  mechanische  Schädigung,  und  da,  wie  ich  mich  des  Oefteren 
überzeugt  habe,  die  Stärke  der  elektromotorischen  Wirkungen  der 
Schleimhaut  in  ausserordentlich  hohem  Grade  von  jeder  noch  so  ge- 
ringfügigen Dehnung  oder  Zerrung  beeinflusst  wird,  so  ist  es  vor- 
zuziehen, von  der  in  situ  befindlichen  Schleimhaut  abzuleiten.  Zu 
diesem  Zwecke  ist  es  nur  erforderlich,  die  äussere  Kopfhaut  bis  an 
den  Rand  des  Oberkiefers  zu  entfernen,  um  eine  etwaige  Einmischung 
ihrer     eigenen     elektromotorischen     Wirkungen     zu     verhüten,      und 


404  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

hierauf  den  ganzen  Oberkiefer  durch  einen  möglichst  tief  geführten 
Querschnitt  abzutrennen;  wird  derselbe  dann  mit  der  Schleimhaut- 
fläche nach  oben  in  ein  Uhrschälchen  mit  ein  wenig  0,5  °/o  Koch- 
salzlösung gelegt,  so  braucht  man  nur  in  diese  letztere  die  eine 
Pinselelektrode  zu  tauchen,  während  die  Spitze  der  anderen  beliebige 
Punkte  der  Schleimhautoberfläche  berührt,  um  in  möglichst  schonen- 
der Weise  die  Ableitung  zu  ermögHchen.  Unter  diesen  Umständen 
ist  der  einsteigende  Strom  viel  stärker,  als  an  der  abpräparirten 
Membran,  und  es  fragt  sich  nur,  ob  nicht  etwa  unter  den  erwähnten 
Bedingungen  elektromotorische  Wirkungen  anderer  Theile  (etwa  ver- 
letzter Muskeln  etc.)  mit  ins  Spiel  kommen.  Es  lässt  sich  dies  leicht 
ausschliessen,  wenn  man  dasselbe  Präparat  nach  Zerstörung  des  Ober- 
flächenepitheis  oder  nach  gänzlicher  Ablösung  der  flimmernden  Schleim- 
haut in  gleicher  Weise  wie  vorher  untersucht;  dabei  habe  ich  niemals 
irgend  erhebliche  Spannungsdifl'erenzen  Avahrgenommen ,  so  dass  die 
erwähnten  Bedenken  wohl  als  unbegründet  anzusehen  sind.  Die 
Cloakenschleimhaut  wurde  gewöhnlich  in  der  Weise  untersucht,  dass 
die  durch  einen  Längsschnitt  aufgeschlitzte  Cloake  möglichst  vor- 
sichtig und  ohne  die  Schleimhautfläche  selbst  zu  berühren  auf  einem 
Thonblock  ausgebreitet  wurde,  worauf  die  Ableitung  in  bekannter 
Weise  erfolgte. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grade  kann  man  im  einen  wie  im  anderen 
Falle  schon  durch  den  blossen  Anblick  der  Schleimhaut  erkennen,  ob 
sie  einen  starken  oder  schwachen  einsteigenden  Strom  liefern  wird. 
Erscheint  die  Rachenschleimhaut  (wie  meist  im  Winter) 
in  situ  röthlich  durchscheinend  und  feucht,  und  ist  die 
Cloake  mit  breiigem  oder  auch  dünnflüssigem  Inhalt 
erfüllt,  so  darfman  mit  ziemlicher  Sicherheit  auf  einen 
starken  Strom  rechnen;  ist  dagegen,  wie  mei  st  im  Sommer, 
bei  langegefangengehaltenenFröschen,  die  flimmernde 
Schleimhaut  weisslich  getrübt,  oder  finden  sich  in  der 
Cloake  nur  spärliche  feste  Bröckel,  wobei  die  Schleim- 
haut blass  und  trocken  erscheint,  so  ist  der  einsteigende 
Strom,  wenn  überhaupt  vorhanden,  in  der  Regel  sehr 
schwach.  Dies  weist,  wie  mir  scheint,  ohne  Weiteres  daraufhin, 
dass  in  beiden  Fällen  die  secretorische  Thätigkeit  zu  den 
elektromotorischen  Wirkungen  der  Schleimhaut  in  einer 
unmittelbaren  und  nahen  Beziehung  steht.  Dazu  kommt 
noch,  dass  sehr  häufig  die  Flimmerbewegung  ganz  normal 
gefunden  wird  —  soweit  sich  dies  durch  die  Fortbewegung  auf- 
gelegter kleiner  Blutgerinnsel  oder  ähnlicher  Körper  verräth  — 
während  der  einsteigende  Strom  fast  oder  gänzlich 
fehlt,  und  umgekehrt  habe  ich,  wiewohl  seltener,  auch  Fälle 
beobachtet,  wo  ungeachtet  einer  sehr  matten  Flimme- 
rung die  S  tromkraft  eine  ungeAvöhnlich  hohe  war.  Immer 
zeigte  sich  dann  die  Schleimhaut  mit  einer  ziemlich  dicken  Schicht 
schleimigen  Secretes  bedeckt.  Es  scheint,  dass  die  mit  dem  Abpräpariren 
und  Aufspannen  verbundenen  mechanischen  Schädigungen  die  Flimmer- 
bewegung der  Rachenschleimhaut  viel  weniger  ungünstig  beeinflussen, 
als  die  elektromotorischen  Wirkungen ;  wenigstens  ist  es  mir  bei  meinen 
Versuchen  auffallend  oft  begegnet,  dass  bei  derartigen  Präparaten  die 
Flimmerung  noch  stundenlaug  mit  äusserster  Lebhaftigkeit  fortdauerte, 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  405 

während  nur  minimale  Ablenkungen  das  Vorhandensein  eines  schwachen 
einsteigenden  Stromes  anzeigten.  Auch  die  Resultate  der  Pilocarpin- 
vergiftung  dürfen  wohl  zu  Gunsten  der  hier  vertretenen  An- 
schauung bezüglich  der  Bedeutung  des  einsteigenden  „Ruhestromes" 
der  Rachenschleimhaut  als  eines  „Secretionsstromes"  geltend  gemacht 
werden.  Wie  der  Strom  der  Zunge  in  einem  gewissen  Stadium  der 
Pilocarpinvergiftung  (zwei  Stunden  nach  Injection  von  1  ccm  einer 
2  °/o  Lösung  von  Pilocarp.  niuriat.)  gewöhnlich  äusserst  kräftig  ge- 
funden wird,  so  gilt  dasselbe  nach  meinen  Erfahrungen  auch  hinsicht- 
lich des  Rachen-  und  Cloakenstromes.  Die  Ablenkung  ist  dann  meist 
so  stark,  dass  die  Scala  aus  dem  Gesichtsfelde  verschwindet.  Da  den 
vorstehenden  Erfahrungen  zu  Folge  keinerlei  Proportionalität  zwischen 
der  Lebhaftigkeit  der  Flimmerbewegung  und  der  Intensität  der  elektro- 
motorischen Wirkung  der  Rachenschleimhaut  zu  bestehen  scheint,  und 
da  die  scheinbar  dafür  sprechenden  Beobachtungen  von  Engelmann 
sich  ganz  ungezwungen  in  anderer  Weise  deuten  lassen,  so  sehe  ich 
bis  auf  Weiteres  keinen  Grund,  den  einsteigenden  Strom  der  genannten 
Schleimhaut  auf  eine  andere  Ursache  zurückzuführen,  als  den  gleich- 
sinnigen Zungen-  und  Cloakenstrom,  es  sei  denn,  dass  in  der  Folge 
an  einer  nur  Flimmer zellen  tragenden  Membran  ähnliche  elektro- 
motorische Wirkungen  nachgewiesen  würden. 

Es  wurde  schon  erwähnt,  dass  die  Uebereinstimmung  in  Bezug  auf 
das  elektromotorische  Verhalten  der  beiden  in  Rede  stehenden  Objecte 
mit  der  Zungenschleimhaut  eine  fast  vollkommene  ist.  Dies  gilt  auch 
hinsichtlich  der  Inconstanz  des  Stromes,  sowie  der  Wirkungen  der 
Abkühlung  und  Reizung.  In  fast  allen  Fällen,  wo  die  Kraft  eine  ge- 
wisse Höhe  erreicht  hat,  beobachtet  man  Oscillationen  des  Magneten, 
welche  auf  das  Vorhandensein  gegensinniger  Kräfte  schliessen  lassen, 
deren  Resultirende  der  augenblicklichen  Ablenkung  entspricht.  Und 
wie  deren  Grösse  an  einer  und  derselben  Stelle  mit  der  Zeit  wechselt, 
so  ist  dieselbe  auch  an  verschiedenen  Stellen  der  Schleimhaut  zur 
selben  Zeit  verschieden.  Im  Allgemeinen  ist  unter  sonst  gleichen 
Umständen  der  einsteigende  Strom  der  Cloakenschleimhaut  bei  Weitem 
kräftiger  als  der  Rachenstrom,  was  von  vornherein  zu  erwarten  war, 
wenn  die  einzelligen  Drüsen  (Becherzellen)  dafür  verantwortlich  zu 
machen  sind. 

Dass  der  Letztere  durch  Abkühlung  geschwächt  wird ,  hat 
Engel  mann  bereits  hervorgehoben,  doch  war  es  ihm  entgangen, 
dass  unter  gleichen  Umständen  auch  eine  vollkommene 
Umkehr  möglich  ist.  In  der  That  ist  nichts  leichter,  als  sich 
davon  zu  überzeugen,  dass  durch  Einlegen  eines  Oberkieferpräparates 
in  0,5  ^/o,  auf  0  ^  abgekühlte  NaCl-Lösung  auch  der  stärkste  einsteigende 
Strom  in  kürzester  Zeit  (5—10  Minuten)  zum  Verschwinden  gebracht 
werden  kann.  Eintauchen  in  erwärmte  Kochsalzlösung  (von  etwa 
25  — SO*'  C)  ruft  den  normalen  Strom  fast  momentan  wieder  hervor. 
Um  an  demselben  Präparat  einen  „aussteigenden"  Strom  von  erheb- 
licher Stärke  zu  erzielen,  muss  man  in  der  Regel  schmelzendes  Eis 
oder  Schnee  anwenden;  auch  kommt  es  dann  sehr  wesentlich  mit  auf 
eine  gewisse  Disposition  der  Schleimhaut  an,  die  ihrerseits  wieder  von 
den  Bedingungen  abhängt,  unter  denen  der  Frosch  vorher  gelebt  hat. 
Wie  bei  der  Zunge,  so  erhält  man  auch  bei  der  Rachenschleimhaut 
die   besten    und    überzeugendsten  Resultate,    wenn    das  Präparat    von 


406  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

einem  „Warmfrosch"  stammt  und  der  unsprüngliche  einsteigende  Strom 
nicht  allzu  stark  ist.  Ich  habe  daher  die  zu  diesen  Versuchen 
bestimmten  (nicht  curarisirten)  Temporarien  in  der  Regel  2 — 3  Tage 
vorher  im  Avarmen  Zimmer  in  der  Nähe  des  Ofens  gehalten. 
Um  den  Einfluss  mechanischer  Reizung  der  Schleimhaut  durch 
Druck  oder  Reibung  möglichst  zu  beschränken,  empfiehlt  sich  die 
Anwendung  von  schmelzendem ,  lockerem  Schnee  am  meisten ,  von 
dem  ein  Klümpchen  auf  die  Schleimhaut  des  enthäuteten  Ober- 
kiefers gelegt  und  eventuell  mehrmals  erneuert  wird ,  nachdem 
vorher  der  „Ruhestrom"  geprüft  wurde;  das  Schmelzwasser  saugt 
man  vorsichtig  mit  einem  Pinsel  ab  und  legt  die  ableitende  Elek- 
trode nun  zum  Zwecke  der  Prüfung  derart  an,  dass  dieselbe  durch 
eine  nicht  zu  dicke  Schichte  schmelzenden  Schnees  von  der  darunter 
liegenden  Schleimhautoberfläche  getrennt  ist.  Unmittelbar  nach  der 
Ablesung  wird  der  Galvanometerkreis  durch  Entfernung  der  Schleim- 
hautelektrode wieder  geöffnet,  um  die  EntAvicklung  etwaiger  „Thermo- 
ströme"  möglichst  zu  vermeiden.  Ganz  in  gleicher  Weise  verfährt 
man  auch,  wenn  es  gilt,  die  Wirkung  der  Kälte  auf  den  Cloaken- 
strom  zu  untersuchen.  Im  einen  wie  im  anderen  Falle  macht  sich 
zunächst  ein  sehr  rasches  Sinken  der  ursprünglichen  Stromkraft  be- 
merkbar, worauf  sich  in  der  Regel  alsbald  der  Strom  umkehrt  und 
oft  eine  so  erhebliche  Stärke  erreicht,  dass  das  Ende  der  Scala  aus 
dem  Gesichtsfelde  verschwindet.  Nach  dem  völligen  Schmelzen  des 
Schnees  kehrt  in  Folge  der  zunehmenden  Erwärmung  die  ursprüng- 
liche Stromkraft  bald  wieder  zurück.  Man  kann  auf  diese  Weise 
an  demselben  Präparat  den  Versuch  mit  gleichem  Erfolge  mehrfach 
wiederholen. 

Es  kann  daher  hier  ebensowenig  wie  bei  der  Zunge  ein  Zweifel 
darüber  bestehen,  dass  die  Abkühlung  des  Oberflächen- 
epithels  an  sich  das  Hervortreten  einer  gegensinnigen 
elektromotorischen  Kraft  zur  Folge  hat. 

Ein  nicht  minder  günstiges  Object  für  das  Studium  der  elektro- 
motorischen Wirkungen  flächenhaft  ausgebreiteter  einzelliger  Schleim- 
drüsen bildet  die  Haut  des  Blutegels.  Man  kann  dieselbe  nach 
Entfernung  der  Eingeweide  mittelst  der  Scheere  leicht  von  allen 
anhängenden  Geweberesten  befreien,  so  dass  nur  der  Hautmuskel- 
schlauch zurückbleibt.  Stets  findet  man  dann  bei  Ableitung  von 
Aussen  und  Innen  einen  starken  einsteigenden  Strom ,  dessen  Ver- 
halten unter  verschiedenen  Umständen  dem  früher  geschilderten 
entspricht. 

Auch  die  seit  lange  bekannten,  gleichsinnigen  elektromotorischen 
Wirkungen  der  Haut  niederer  Wirbelthiere  (Amphibien  und  Fische) 
dürften  der  Hauptsache  nach  auf  die  gleichen  Ursachen  zu  beziehen 
sein,  wie  die  der  eben  besprochenen  Organe. 

Bei  Weitem  die  eingehendsten  Untersuchungen  liegen  über  die 
elektromotorischen  Wirkungen  der  äusseren  Haut  des 
Frosches  vor  und  wir  verdanken  hier  insbesondere  E  n  g  e  1  m  a  n  n  (72) 
eine  Reihe  treflflicher  Beobachtungen,  deren  Werth  durch  die,  wie 
man  zur  Zeit  wohl  sicher  behaupten  darf,  unrichtige  Deutung  in 
keiner  Weise  geschmälert  wird.  In  neuerer  Zeit  hat  dann  Hermann, 
geleitet  von  gewissen,  schon  oben  hervorgehobenen  theoretischen  Ge- 
sichtspunkten, auch  die  Haut  der  Fische  wieder  zum  Gegenstande 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  407 

einer  Untersuchung  gemacht,  deren  Resultate  für  seine  Auffassung 
und  Deutung  des  Froschhautstromes  bestimmend  wurden. 

Da  der  Bau  der  Haut  gewisser  Fische  gerade  in  dem ,  wie  ich 
glaube,  auch  für  die  elektromotorische  Wirksamkeit  derselben  wesent- 
lichsten Punkte  sich  unmittelbar  an  die  zuletzt  behandelten  Objecte 
anschliesst,  so  mögen  einige  Bemerkungen  hierüber  Platz  finden. 
Durch  die  Untersuchungen  von  F.  E.  Schnitze  (78)  ist  es  seit 
lange  bekannt,  dass  in  der  Oberhaut  zahlreicher  Fische  einzellige 
Schleimdrüsen  in  Form  von  Becherzellen  in  mehr  oder  weniger  grosser 
Menge  vorkommen  und  in  manchen  Fällen  das  Epithel  fast  aus- 
schliesslich zusammensetzen  (Cobitis).  Die  einzelnen  Elemente  er- 
reichen oft  geradezu  colossale  Dimensionen  und  liefern  ein  schleimiges 
Secret,  welches  die  Oberhaut  glatt  und  schlüpfrig  macht.  Wie  in 
allen  Fällen  ist  der  protoplasmatische,  kernführende  Theil  der  Zellen 
basal  gelegen,  d.  h.  der  Cutis  zugewendet,  während  der  obere  in 
Mucinmetamorphose  begriffene  Abschnitt  direct  auf  die  freie  Fläche 
der  Oberhaut  mündet.  An  der  secretorischen  Function  dieser  Zellen 
kann  zur  Zeit  nicht  im  Geringsten  gezweifelt  werden ,  da  man  den 
Absonderungsvorgang  selbst  direct  unter  dem  Mikroskope  beobachtet 
hat.  In  Bezug  auf  die  elektromotorische  Wirksamkeit  der  Fisch!  aut 
hat  Hermann  durchaus  zutrefi"ende  Angaben  gemacht.  Gegenüber 
den  Fröschen  sind  die  Fische  insofern  weniger  geeignete  Unter- 
suchungsobjecte ,  als  ihre  Oberhaut  nicht  wie  dort  durch  grosse 
Lymphräume  von  dem  Muskelkörper  getrennt,  sondern  vielmehr  fest 
mit  demselben  verwachsen  ist.  In  vielen,  ja  den  meisten  Fällen  bleibt 
daher  nichts  Anderes  übrig,  als  die  Spannungsdifferenz  zwischen  einer 
geätzten  und  dadurch  elektromotorisch  unwirksam  gemachten  und 
einer  normalen  Hautstelle  zu  prüfen,  wobei  sich  gewöhnlich  ein  ziemlich 
starker  Strom  in  dem  Sinne  ergiebt,  dass,  wie  unter  gleichen  Um- 
ständen auch  an  der  Froschhaut  und  den  früher  behandelten  Schleim- 
häuten, die  geätzte  Hautstelle  sich  „kräftig  positiv  gegen 
die  nicht  geätzte"  verhält. 

Mit  Hermann  muss  man  aus  dieser  Thatsache  schliessen, 
„dass  die  Fischhaut  oder  richtiger  jede  Oberflächenstelle  des  Fisches 
gerade  wie  die  Froschhaut  überall  Sitz  einer  von  Aussen  nach  Innen 
gerichteten  elektromotorischen  Kraft  ist,  welche  durch  Aetzung  sehr 
schnell  zerstört  wird".  Beim  Aal  ist  es  nicht  schwierig,  die  Haut 
selbst  in  toto  abzustreifen  oder  Stücke  davon  abzupräpariren.  Es  ist 
aber  durchaus  erforderlich,  dass  der  Fisch  möglichst  unversehrt  und 
frisch  zur  Untersuchung  kommt,  da  die  elektromotorische  Wirksam- 
keit sehr  leicht  schon  durch  geringfügige  Schädigungen  der  Haut- 
oberfläche eine  dauernde  Einbusse  erfährt.  Auch  E.  W.  R  e  i  d  und 
A.  Tolputt  (83)  haben  neuerdings  an  ermüdeten  Thieren  Umkehr 
des  Stromes  beobachtet. 

Dem  Sinne  nach  stimmt  unter  normalen  Verhältnissen  der  „Ruhe- 
strom" der  Froschhaut,  abgesehen  von  der  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
beträchtlicheren  Stärke,  durchaus  mit  dem  der  Fischhaut  überein,  ob- 
schon  der  histologische  Bau  beider  Objecte  sehr  wesentliche  Ver- 
schiedenheiten darbietet,  Schleimzellen  kommen  hier  nicht  wie  bei 
den  Fischen  als  Hauptbestandtheile  des  eigentlichen  Oberflächen- 
epithels, sondern  fast  ausschliesslich  als  solche  der  bekannten  viel- 
zelligen Hautdrüsen  vor;  das  erstere  besteht  dagegen  ganz  vorwiegend 


408  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Driisenzellen. 

aus  vieleckigen  Stachel-  und  RifFzellen,  von  denen  die  der  Cutis  auf- 
sitzenden eine  mehr  cylindrische  Form  besitzen,  während  sie  nach 
oben  hin  sich  immer  mehr  abflachen  und  schliesslich  zu  äusserst  von 
einer  einfachen  Lage  Plattenepithel  überdeckt  werden.  Nur  sehr  ver- 
einzelt finden  sich  im  Epithel  nahe  der  Oberfläche  kleine  flaschen- 
förmige  Becherzellen,  welche  jedoch  nach  F.  E.  Schnitze  nicht  auf 
derselben  münden. 

In  Bezug  auf  das  Verhalten  des  normalen  einsteigenden  „Ruhe- 
stromes" der  Froschhaut ,  der  wohl  zum  grössten  Theil  auf  die  in 
grosser  Zahl  vorhandenen  Hautdrüsen  zu  beziehen  sein  dürfte,  sind 
vor  Allem  die  ausgezeichneten  Beobachtungen  Engelmann' s  zu  er- 
wähnen, welche  ich  durchwegs  zu  bestätigen  in  der  Lage  war. 

Am  auffallendsten  macht  sich  wieder  die  Abhängigkeit  der  elektro- 
motorischen Kraft  des  Hautstromes  von  dem  Wassergehalt  des  Ge- 
webes geltend.  Begreiflicher  Weise  wird  der  Strom  um  so  schwächer  ge- 
funden, je  trockener  die  Epidermis  ist,  da  in  Folge  dessen  der  Leitungs- 
widerstand ausserordentlich  zunimmt.  Einfaches  Befeuchten  mit  Wasser 
oder  verdünnter  Kochsalzlösung  steigert  die  Kraft  in  jedem  solchen 
Falle  rasch  und  sehr  bedeutend.  Die  grössten  bleibenden  Kraftwerthe 
erhält  man  immer  mit  reinem  Wasser.  „Lässt  man,  wenn  nach  dem 
Abspülen  mit  Wasser  die  Kraft  eine  constante  Höhe  erreicht  hat,  einen 
Tropfen  Kochsalzlösung  von  0,2  ^lo  auffliessen,  so  nimmt  die  Kraft 
im  Laufe  einiger  Minuten  ab.  Bei  wiederholtem  Auftröpfeln  derselben 
Salzlösung  pflegt  sie  dann  noch  weiter  zu  sinken,  um  allmählich 
auf  beständiger  Höhe  anzukommen.  Wiederaufgiessen  von  Wasser 
erhöht  die  Kraft  schliesslich,  oft  bis  genau  zur  selben  Höhe  wie 
vor  dem  Aufbringen  der  Salzlösung"  (Engel mann).  Rascher  und 
energischer  wirken  noch  stärkere  Salzlösungen  (0,4—0,8  ^i'o).  Diese 
Erfahrungen  über  den  ausserordentlich  bedeutenden  Einfluss  selbst 
schon  sehr  geringer  Concentrationsänderungen  auf  die  Grösse  der 
Kraft  des  Hautstromes  lassen  sich  selbstredend  nicht  auf  Veränderungen 
des  Leitungswiderstandes  zurückführen,  sondern  beruhen  zweifellos 
auf  Schwankungen  der  elektromotorischen  Thätigkeit  der  wirksamen 
Zellen,  welche  mit  den  Veränderungen  des  Wassergehaltes  derselben 
Hand  in  Hand  gehen.  Mechanischen  Insulten  (Druck,  Zerrung)  gegen- 
über ist  die  Froschhaut  viel  weniger  empfindlich  als  etwa  die  Zunge. 
Immerhin  sah  Engelmann  (1.  c.)  die  Kraft  nach  starker  Zerrung 
in  wenigen  Augenblicken  von  0,1  Daniell  auf  0,006  Daniell  sinken. 
Durch  anhaltende  Kältewirkung  nimmt  der  einsteigende  normale 
„Ruhestrom"  stets  mehr  oder  weniger  ab,  ohne  sich  jedoch  umzu- 
kehren. Bei  einer  Temperatur  von  -|-  4°  C.  beobachtete  Engelmann 
noch  Kraftwerthe  von  0,08  Daniell.  Plötzlichen  positiven  Wärme- 
schwankungen, welche  bereits  von  einer  höheren  Temperatur  ausgehen, 
entsprechen  in  der  Regel  negative  Kraftschwankungen,  deren  Dauer 
und  Grösse  mit  zunehmender  Grösse,  Dauer  und  räumlicher  Aus- 
breitung der  Temperatursteigerung  wächst.  Von  chemischen  Agentien 
erwies  sich  vor  Allem  die  Kohlensäure  als  eine  Substanz ,_  bei 
deren  Einwirkung  die  Kraft  des  Hautstromes  „mit  ausserordentlicher 
Schnelligkeit"  sinkt.  Oft  sah  Engelmann  dieselbe  schon  im  Laufe 
der  ersten  halben  Minute  auf  ein  Sechstel  und  weniger  der  ursprüng- 
lichen Höhe  fallen.  Wird  das  giftig  wirkende  Gas  früh  genug  wieder 
entfernt  (Durchsaugen  von  Luft  oder  Wasserstoff"),  so  kann  die  Kraft 
wieder  zu  ihrer  ursprünglichen  Höhe    ansteigen.     Aehnlich,  nur  grad- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  409 

weis  verschieden  wirken  auch  Anaesthetica,  wie  Chloroform  und 
Aether,  welche  ebenfalls  schon  in  kleinster  Menge  starke  negative 
Schwankungen  hervorbringen. 

Auch  bei  Sauersto f f m a n g e  1  wird  der  Hautstrom  nach  längerer 
Zeit  schwächer  und  kann  nachl — 2  Stunden  bis  auf  Null  gesunken  sein. 
Bei  Wiederzutritt  der  Luft  steigt  die  Kraft  dann  rascher  an,  als  sie 
vorher  gesunken  war,  vorausgesetzt,  dass  die  Sauerstoffentziehung 
nicht  allzu  lange  andauerte. 

Die  grosse  Variabilität  der  Haut-  und  Schleimhautströme,  ihre 
ausserordentliche  Abhängigkeit  von  den  verschiedensten  äusseren  Ein- 
flüssen lässt  von  vornherein  auch  erwarten,  dass  der  Erfolg  künst- 
licher Reizung,  sei  es  direct,  sei  es  vom  Nerven  aus,  sich  je  nach 
Umständen  sehr  mannigfaltig  gestalten  dürfte.  Auch  hier  bietet 
wieder  die  Froschzunge  bei  Weitem  die  günstigsten  Bedingungen  für 
den  Versuch,  da  ihre  Drüsen  von  leicht  darstellbaren  Nerven  versorgt 
werden. 

Es  wurde  schon  erwähnt,  in  wie  hohem  Grade  die  Stärke  des 
normalen  einsteigenden  „Zungenstromes"  von  mechanischen  Ein- 
wirkungen selbst  der  leichtesten  Art,  welche  die  Oberfläche  der 
Schleimhaut  treffen,  abhängig  ist.  Fast  regelmässig  findet  man  den 
Strom  unmittelbar  nach  erfolgter  Berührung  mit  der  Spitze  der  ab- 
leitenden Elektrode  in  rascher  Zunahme  begriffen,  und  zwar  ebenso- 
wohl am  ausgeschnittenen,  wie  an  dem  noch  in  situ  befindlichen  Prä- 
parat. Dass  es  sich  hierbei  nur  um  die  Ausgleichung  einer  durch 
den  mechanischen  Reiz  der  Berührung  bedingten  negativen  Schwan- 
kung des  Ruhestromes  handelt,  geht  überzeugend  aus  dem  Umstände 
hervor,  dass  bei  geschlossenem  Galvanometerkreise  jede  kleinste 
Verschiebung  der  Pinselspitze  an  der  Zungenoberfläche 
oder  gar  ein  leichtes  Reiben  der  Ableitungsstelle  so- 
fort ein  rasches  Sinken  der  Kraft  zur  Folge  hat,  das  in 
der  Regel  um  so  beträchtlicher  ausfällt,  je  stärker  der 
voll  entwickelte  Ruhestrom  ist.  Immer  gleicht  sich  diese 
„negative  Schwankung"  sehr  rasch  wieder  aus,  um  beliebig  oft  hervor- 
zutreten, wenn  die  Reizung  wiederholt  Avird.  Versuche,  welche  eigens 
darauf  abzielen,  den  Grad  der  erforderlichen  Reizstärke  zu  bestimmen, 
lehren,  dass  hierzu  unter  sonst  günstigen  Umständen  in  der  That 
äusserst  geringfügige  Eingriffe  genügen.  Das  Hinstreifen  mit  der 
Spitze  eines  Haares  oder  Auffallenlassen  eines  Tröpfchens  physiologi- 
scher Kochsalzlösung  bewirken  fast  immer  schon  eine  deutliche 
Schwankung.  Bei  stärkerer,  sich  über  eine  grössere  Fläche  der 
Schleimhaut  erstreckender  Reizung  nimmt  dieselbe  natürlich  an  Intensität 
zu,  und  es  kann  unter  diesen  Umständen  bei  nicht  allzu  starkem 
Ruhestrom  leicht  zu  einer  Umkehr  desselben  kommen,  besonders  wenn 
dazu  von  vornherein,  etwa  durch  massige  Abkühlung,  eine  gewisse 
Tendenz  gegeben  ist.  Schwach  curarisirte  Temporarien  zeigen,  bei 
kühler  Temperatur  in  wenig  Wasser  aufbewahrt,  oft  einen  verkehrten 
(aussteigenden)  Ruhestrom  von  beträchtlicher  Stärke,  wenn  man,  un- 
mittelbar nachdem  der  Unterkiefer  mittels  eines  vorher  durch- 
gezogenen Fadens  zurückgezogen  wurde,  die  ableitenden  Elektroden 
einerseits  an  die  Zungenoberfläche,  andererseits  an  die  blossgelegten 
Schenkelmuskeln  anlegt.  Oft  ist  dieser  zum  Theil  sicher  auf  die  Ab- 
kühlung zurückzuführende,  aussteigende  Strom  fast  ebenso  stark  wie 
der    normale    einsteigende,,  nimmt    aber    stets    rasch    ab,    wenn    die 


410  Die  elektromotorischen  Wirkimg-en  von  Epithel-  und  Driisenzellen. 

Elektroden  ruhig  liegen  bleiben,  um  schliesslich  umgekehrt,  d.  h. 
normal  zu  werden.  Während  dieser  ganzen  Zeit  genügt  die  geringste 
Reibung  mit  der  die  Zunge  berührenden  Pinselspitze,  um  sofort  einen 
Rückschwung  des  Magneten  im  Sinne  einer  Verstärkung  des  aus- 
steigenden Stromes,  beziehungsweise  einer  Verminderung  des  ein- 
steigenden herbeizuführen,  worauf  immer  wieder  rascher  Rückgang 
erfolgt.  Es  ist  zweifellos,  dass  in  solchem  Falle  der  verkehrte  Strom 
unmittelbar  nach  dem  Oeffnen  des  Rachens  nur  th eilweise  durch  die 
vorhergehende  Abkühlung  bedingt  Avird,  grösstentheils  aber  auf  die 
nicht  zu  vermeidende  mechanische  Reizung  der  Schleimhaut  beim 
Ablösen  der  Zunge  vom  Gaumen,  dem  sie  in  der  Ruhelage  adhärirt, 
zurückzuführen  ist. 

Auch  der  normale  einsteigende  Strom  zeigt  sich  unter  gleichen 
Umständen  fast  immer,  offenbar  aus  gleichem  Grunde,  erheblich  ver- 
mindert, zuweilen  sogar  fast  gleich  Null.  Wenn  man  eine  und  die- 
selbe Stelle  der  Zungenschleimhaut,  die  zunächst  auf  leichtes  Reiben 
mit  der  Pinselspitze  sehr  stark  reagirt  (im  Sinne  einer  Abnahme  der 
Negativität) ,  wiederholt  in  gleicher  Weise  reizt,  so  fällt  die  negative 
Schwankung  bei  jeder  folgenden  Reizung  schwächer  aus,  und  schliess- 
lich tritt  gar  keine  Reaction  mehr  ein;  der  normale  Ruhestrom  bleibt 
ungeachtet  der  Reizung  in  seiner  Stärke  unverändert.  Bisweilen 
macht  es  den  Eindruck,  als  ob  die  Kraft  des  letzteren  in  Folge 
vorhergehender  localer  mechanischer  Reizung  merklich  zunehmen 
würde;  indessen  ist  zur  Feststellung  dieser  und  anderer  Fragen  das 
angewendete  Verfahren  wenig  geeignet,  und  es  erscheint  wünschens- 
werth,  einen  in  seiner  Intensität  und  Dauer  besser  abstufbaren  Reiz 
zu  verwenden.  Als  solcher  empfiehlt  sich  natürlich  am  meisten  der 
elektrische  Strom ,  und  zwar  in  Form  tetanisirender  Wechselströme 
eines  Inductionsapparates. 

Verbindet  man  die  secundäre  Spirale  mit  zwei  Elektroden 
aus  Platindraht  und  bringt  dieselben  bei  einer  Spannweite  von 
etwa  3 — 5  Millimetern  mit  der  feuchten  Oberfläche  eines  Blockes 
aus  Kochsalzthon,  wie  er  auch  zur  Untersuchung  der  Zungenströme 
benützt  wird,  in  Berührung,  während  die  eine  Pinselelektrode  die 
Seitenfläche,  die  andere  dagegen  die  Oberfläche  des  Blockes  zwischen 
beiden  Platindrähten  ableitend  berührt,  so  beobachtet  man  an  dem 
im  Kreise  befindlichen  Galvanometer  keine  Spur  von  Ablenkung, 
wenn  bei  spielendem  Wagner'schen  Hammer  der  Kreis  der  secundären 
Spirale  geschlossen  wird  und  die  Rollen  nicht  übereinandergeschoben 
sind;  aber  selbst  im  letzteren  Falle  treten  gewöhnlich  nur  ganz 
schwache  Wirkungen  auf  das  Galvanometer  hervor,  welche  die  später 
zu  schildernden  Reizerfolge  in  keiner  Weise  zu  beeinträchtigen  ver- 
mögen. Ehe  ich  dazu  schritt,  diese  letzteren  an  der  lebenden  Zunge 
zu  prüfen ,  habe  ich  mich  natürlich  durch  wiederholte  Versuche  auch 
vergewissert,  dass  das  vorerwähnte  Resultat  mit  dem  Thonblock  keine 
Aenderung  erfährt,  wenn  ein  elektromotorisch  unAvirksames ,  abge- 
storbenes Zungenpräparat  aufgelegt  wird. 

Stellt  man  derartige  Reizversuche  dagegen  an  nor- 
malen Zungen  Präparaten  an,  welche  in  der  früher  ge- 
schilderten Weise  hergerichtet  und  abgeleitet  werden, 
so  beobachtet  man  unter  Umständen  enorm  starke  Wir- 
kungen, und  zwar  fast  ausnahmslos  im  Sinne  einer 
negativen  Schwankung  des  einsteigenden  Ruhestromes. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  411 

Wieder  zeigt  sich  in  sehr  auffallendem  Grade  die  Abhängigkeit  der 
Grösse  des  Reizerfolges  von  der  Stärke  des  Ruhestromes ,  was  sieh 
ebenso  sehr  in  dem  Grade  der  Ablenkung  bei  einer  gegebenen  Reiz- 
intensität, wie  in  dem  Umstände  äussert,  dass  ein  um  so  geringerer 
Rollenabstand  erforderlieh  ist,  um  eine  Ablenkung  von  gewisser  Grösse 
zu  erzielen,  je  geringer  die  Kraft  des  Ruhestromes  ist.  Bei  sehr  be- 
trächtlichen Werthen  der  letzteren  habe  ich  nach  vorhergehender 
Compensation  oft  schon  bei  einem  Rollenabstand  von  160  (im  primären 
Kreise  befand  sich  ein  Daniell)  eine  negative  Schwankung  be- 
obachtet, welche  die  Scala  weit  aus  dem  Gesichtsfelde  warf.  Dabei 
war  die  Gestalt-  und  Lageveränderung  der  Zunge  in  Folge  directer 
Muskelreizung  noch  so  geringfügig,  dass  schon  hierdurch  der  Ver- 
dacht ausgeschlossen  erscheint,  die  erwähnten  Wirkungen  möchten 
etwa  durch  jene  bedingt  oder  wenigstens  mitbedingt  sein.  Immerhin 
lässt  sich  nicht  leugnen ,  dass  die  genannten ,  bei  stärkeren  Strömen 
unvermeidlichen  Nebenwirkungen  eine  recht  unerwünschte  Complica- 
tion  bilden,  und  ich  habe  mich  daher  noch  durch  besondere  Controll- 
versuche  davon  überzeugen  wollen,  bis  zu  welchem  Grade  die  am 
Galvanometer  zu  beobachtenden  Reizerfolge  hierdurch  beeinflusst 
werden.  Es  ist  nicht  schwer,  die  elektromotorische  Wirksamkeit  der 
Zungenschleimhaut  local  an  der  Ableitungsstelle  oder  auch  an  der 
ganzen  Oberfläche  zu  vernichten,  ohne  dass  dabei  zunächst  die  tiefer 
gelegenen  Muskeln  und  damit  die  Beweglichkeit  der  Zunge  be- 
einträchtigt werden.  Hat  man  sich  in  einem  gegebenen  Falle  von 
dem  Eintreten  der  negativen  Schwankung  bei  einem  bestimmten 
Rollenabstand  überzeugt  und  bringt  nun  ein  Kochsalzkörnchen  an  die 
Pinselspitze  der  Zunger. elektrode,  so  folgt  dem  unmittelbar  (zum  Theil 
in  Folge  chemischer  Reizung)  eine  sehr  rasche  und  starke  Abnahme 
der  Kraft  des  einsteigenden  Ruhestromes.  Dieselbe  Reizung  wie 
vorher  ist  nun  unwirksam,  obschon  sich  die  Zungenmusculatur 
nach  wie  vor  contrahirt.  Dasselbe  Resultat  lässt  sich  auch  bei  vor- 
sichtiger Behandlung  der  Schleimhaut  mit  gasförmigem  oder  gelöstem 
NH3  erzielen.  Kann  es  demnach  auch  wohl  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, dass  die  durch  Verschiebung  der  unter  der  ableitenden 
Elektrode  sich  contrahirenden  Zunge  bedingte  mechanische  Reizung 
mit  in  Betracht  kommt,  so  kann  doch  andererseits  als  ebenso  fest- 
stehend betrachtet  werden,  dass  der  Haupterfolg  in  diesem  Falle  der 
elektrischen  Erregung  der  Schleimhaut  zuzuschreiben  ist.  Als 
ein  Beweis  hierfür  darf  auch  das  Verhalten  kleiner  Fragmente  der- 
selben gelten,  welche  durch  flache  Scheerenschnitte  leicht  von  der  dar- 
unterliegenden Muskelschicht  abzutrennen  sind.  Dieselben  liefern, 
Avie  schon  erwähnt,  auf  Thon  untersucht,  nach  einer  kurzen  Zeit  der 
Ruhe  in  der  Regel  wieder  einen  kräftigen  einsteigenden  Strom,  der 
bei  tetanisirender  Reizung  ohne  wesentliche  Gestaltveränderung  des 
Stückes  eine  starke  negative  Schwankung  erfährt. 

Von  Interesse  ist  das  Verhalten  der  abgekühlten,  im  entgegen- 
gesetzten Sinne  elektromotorisch  wirkenden  Zungenschleimhaut;  es  er- 
folgt nämlich  auch  in  diesem  Falle  in  der  Regel  eine  negative 
Schwankung,  d.  i.  eine  Schwächung  der  Kraft  des  aussteigenden 
Stromes;  doch  ist  diese  Wirkung  immer  viel  geringer,  und  es  bedarf 
dazu  auch  viel  stärkerer  Ströme,  als  bei  normalem  einsteigenden 
„Ruhestrom".  Während  dieser  Befund  die  Regel  bei  Anwendung 
schwächerer  Wechselströme    bildet,    beobachtet    man    bei    geringerem 


412  I^ie  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

Rollenabstande  unter  sonst  gleichen  Umständen  sehr  oft  nach  einem 
negativen  grösseren  oder  kleineren  Vorschlag  eine  positive  Schwankung, 
d.  i.  eine  vorübergehende  Zunahme  des  im  Rückgange  befindlichen 
aussteigenden  Stromes. 

Was  nun  schliesslich  den  zeitlichen  Verlauf  der  Schwankung  be- 
trifft, so  ist  derselbe  bei  einsteigendem  Ruhestrom  sehr  charakteristisch. 
Ausnahmslos  lässt  sich  ohne  alle  feineren  Hülfsmittel  ein  Latenz- 
stadium  („Stadium  der  latenten  elektromotorischen  Wirkung",  Engel - 
mann)  constatiren,  dessen  Grösse  vor  Allem  von  der  Stärke  der 
Reizung  und  zwar  in  dem  Sinne  abhängt,  dass  es  mit  wachsender 
Stromstärke  abnimmt.  Die  Ablenkung  beginnt  dann  zunächst  lang- 
sam, um  weiterhin  rasch  ihren  grössten  Werth  zu  erreichen;  in  der 
Regel  beginnt  der  Rückschwung  des  Magneten  noch  während  der 
Forldauer  der  Reizung  und  verläuft,  wenn  der  secundäre  Kreis  ge- 
schlossen bleibt,  sehr  oft  zögernd  und  stockend,  ab  und  zu  unter- 
brochen durch  kurze  Rückbewegungen  im  Sinne  der  negativen 
Schwankung.  Wird  dagegen  die  Reizung  beendet,  sobald  das  Maxi- 
mum der  Ablenkung  erreicht  ist,  so  erfolgt  immer  ein  rascher  und 
gleichmässiger  Rückschwung  des  Magneten,  wobei  die  Stromkraft 
nicht  nur  ihre  anfängliche  Höhe  wieder  erreicht,  sondern  fast  regel- 
mässig in  erheblichem  Grade  übersteigt,  so  dass  man  wohl  berechtigt 
ist,  zu  sagen,  der  negativen  Schwankung  schliesse  sich  weiterhin  eine 
schwächere  positive  Nachschwankung  an,  die  sich  verhältnissmässig 
langsam  entwickelt  und  noch  langsamer  wieder  zurückbildet.  Schaltet 
man  zwischen  je  zwei  Reizungen  hinreichend  lange  Ruhepausen  ein, 
so  kann  man  die  Versuche  mit  immer  gleichem  Erfolge  oft  hinter 
einander  wiederholen ,  anderenfalls  dagegen  nimmt  die  Grösse  der 
negativen  Schwankung  ziemlich  rasch  ab,  indem  jedesmal  eine  nega- 
tive Nachwirkung  zurückbleibt,  so  dass  schliesslich  die  Stromkraft 
dauernd  vermindert  wird.  Sehr  wesentlich  ist  es  auch,  um  eine  allzu 
rasche  Ermüdung  des  Präparats  zu  vermeiden,  dass  die  einzelnen 
Reizungen  nicht  zu  lange  dauern;  anhaltendes  Tetanisiren  schwächt 
den  einsteigenden  Sti'om  bald  und  dauernd.  Es  Avurde  schon  erwähnt, 
dass  die  negative  Schwankung  des  einsteigenden  Ruhestromes  in 
ausserordentlich  hohem  Grade  von  der  Stärke  dieses  letzteren  abhängt 
und  mit  der  Kraft  desselben  sehr  rasch  abnimmt.  Es  lässt  sich  dies 
am  besten  an  Präparaten  untersuchen,  deren  normale  elektromotorische 
Wirksamkeit  vorher  in  verschiedenem  Grade  durch  Behandlung  mit 
wasserentziehenden  Salzlösungen  verändert  wurde. 

Es  zeigt  sich  dann  ausnahmslos,  dass  die  negative  Schwan- 
kung bei  directer  Reizung  der  Zungenschleimhaut  um 
so  geringer  ausfällt,  je  schwächer  der  einsteigende 
Strom  ist.  Bald  tritt  aber  auch  noch  eine  andere  Erscheinung 
hervor,  indem  sich  allmählich  ein  positiver  Vorschlag  und  eine  posi- 
tive Nachwirkung  entwickeln,  zwischen  welchen  die  negative  Schwan- 
kung so  zu  sagen  eingeschlossen  liegt.  Bisweilen  fehlt  die  letztere  ganz, 
und  es  erfolgt  selbst  bei  starker  Reizung  nur  eine  einsinnig-posi- 
tive Ablenkung  von  oft  sehr  erheblicher  Stärke.  Doch  ist  dies  nur 
bei  sehr  weit  vorgeschrittener  Wasserentziehung  der  Fall, 

Mit  Rücksicht  auf  die  eben  mitgetheilten  Thatsachen,  welche  sich 
ausschliesslich  auf  die  Erfolge  der  directen  Reizung  der  Zungen- 
schleimhaut beziehen,  darf  ich  mich  bei  Erörterung  der  folgenden,  die 
indirecte    Erregung    vom   Nerven    aus   betreffenden    Erscheinungen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen,  413 

um  so  kürzer  fassen,  da  dieselben,  wie  gleich  hier  bemerkt  sein  mag, 
in  allen  wesenthehen  Punkten  mit  jenen  übereinstimmen.  Hermann 
und  Luchsinger  (79),  welche  die  „Secretionsströme"  der  Frosch- 
zunge bei  Ableitung  von  zwei  symmetrischen  Öchleimhautpunkten  und 
Reizung  des  N.  glossopharyngeus  oder  hypoglossus  untersuchten, 
drücken  das  „völlig  regelmässige"  Resultat  ihrer  Versuche  folgender- 
maassen  aus:  „Die  Reizung  eines  Glossopharyngeus  bewirkt  in  der 
erregten  Schleimhaut  nach  einem  deutlichen  Latenzstadium  einen 
zuerst  einsteigenden  Strom,  der  aber  sofort  einem  aussteigenden  Platz 
macht;  dann  aber  stellt  sich,  gleichgültig,  ob  die  Reizung  schon  be- 
endet ist  oder  fortgesetzt  wird,  wieder  ein  mächtiger  einsteigender 
Strom  ein,  der  die  Reizung,  falls  sie  nicht  fortgesetzt  wird,  lange 
überdauert,  langsam  ein  Maximum  erreicht  und  dann  äusserst  langsam 
wieder  schwindet."  Wie  man  sieht,  stimmt  dies  Ergebniss  im  Allge- 
meinen mit  den  Resultaten  der  directen  Reizversuche  überein, 
wenn  man  von  dem  positiven  Vorschlag  und  der  nach  meinen  Er- 
fahrungen immer  viel  weniger  stark  ausgeprägten  positiven  Nach- 
wirkung der  negativen  zweiten  Phase  absieht,  die  ich  in  der  von 
Hermann  geschilderten  Weise  nur  an  Präparaten  beobachtete,  deren 
normale  elektromotorische  Wirksamkeit  schon  erheblich  abgeschwächt 
war.  Meine  eigenen  Versuche  beziehen  sich  durchwegs  auf  über- 
winterte Exemplare  von  R.  temporar ia  während  der  Monate  Januar 
und  Februar.  Ich  hielt  es  namentlich  auch  mit  Rücksicht  auf  die 
Vergleichbarkeit  der  schon  besprochenen  und  im  Folgenden  noch  zu 
erörternden  Versuchsreihen  für  zweckmässig,  an  der  Ableitung  von 
der  oberen  und  unteren  Fläche  der  Zunge  festzuhalten  und  den  unter 
diesen  Umständen  fast  ausnahmslos  vorhandenen  starken  einsteigenden 
Strom  zu  compensiren.  Meist  wurden  die  Frösche  kurz  vor  dem 
Versuche  ganz  schwach,  nur  eben  bis  zur  Bewegungslosigkeit, 
curarisirt,  da  es  mir  schien,  dass  durch  eine  länger  vorhergehende 
Vergiftung  die  Reizwirkungen  sehr  wesentlich  geschwächt  Averden, 
wenngleich  die  Circulation  in  ganz  normaler  Weise  erfolgte  und  das 
Herz  kräftig  schlug.  In  Uebereinstimmung  mit  Hermann  und 
Luchsinger  fand  ich  sowohl  den  N.  glossopharyngeus  wie  auch 
den  Hypoglossus  wirksam,  und  es  machte  sich  höchstens  ein  gradweiser 
Unterschied  zu  Gunsten  des  ersteren  bemerkbar.  Da  derselbe  ausser- 
dem rascher  und  bequemer  zu  präpariren  ist,  so  beziehen  sich  die 
folgenden  Angaben  fast  durchwegs  auf  ihn.  Ich  fand  bei  nor- 
malem, kräftig  entwickeltem  einsteigenden  Ruhestrom 
als  Erfolg  der  Reizung  des  Nerven  ausnahmslos  eine 
einsinnige  negative  Schwankung,  deren  Grösse  allerdings 
in  der  schon  mehrfach  erwähnten  Weise  von  der  Kraft  des  compen- 
sirten  Stromes  abhiingig  ist;  dieselbe  macht  sich  kurze  Zeit  (1 — 3 
Sekunden)  nach  Beginn  der  Reizung  bemerkbar  und  erreicht  oft  sehr 
beträchtliche  Grade.  Niemals  sah  ich  aber  einen  starken  normalen 
Strom  sich  in  Folge  der  Reizung  umkehren.  In  der  Regel  beginnt 
bei  länger  fortgesetzter  Reizung  des  Nerven  der  Rückschwung  des 
Magneten  noch  während  derselben,  und  wieder  zeigen  sich  dann  häufig 
Oscillationen ,  indem  der  Rückgang  durch  neuerliche  Anstösse  im 
Sinne  der  negativen  Schwankung  unterbrochen  wird.  Oeffnet  man 
den  Reizkreis  in  dem  Momente,  wo  der  Magnet  eben  umzukehren  im 
Begriffe  steht,  oder  auch  schon  etwas  früher,  so  erfolgt  die  Ent- 
wicklung des  ursprünglichen  Stromes  wesentlich  rascher  als  bei  Fort- 


414  Pie  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen, 

dauer  der  Keizung ;  auch  lässt  sich  leicht  und  regelmässig  constatiren, 
dass  die  Rückbildung  der  negativen  Schwankung  mit  zunehmender 
Geschwindigkeit  erfolgt  und  ebenso  ist  es  Regel,  dass  durch  die 
Reizung  der  ursprüngliche  Ruhestrom  verstärkt  wird,  wie  dies  auch 
Hermann  angiebt.  Niemals  aber  war  bei  meinen  Versuchen  diese 
positive  „Nachschwankung"  stärker  oder  auch  nur  annähernd  so  stark  wie 
die  vorhergehende  negative  Schwankung;  eine  diese  letztere  einleitende 
positive  Phase  habe  ich  unter  normalen  Verhältnissen  nur  wenige  Mal 
angedeutet  gesehen  und  kann  derselben  ebensowenig  wie  der  positiven 
Nachschwankung  jene  Bedeutung  zuerkennen,  die  ihr  nach  Hermann 
zukommen  würde;  meinen  Erfahrungen  zu  Folge  bildet  viel- 
mehr gerade  die  negative  Schwankung  des  einsteigen- 
den Ruhestromes  in  jedem  Falle  unzweifelhaft  den 
eigentlichen  und  charakteristischen  Reizerfolg,  wäh- 
rend die  positiven  Wirkungen  dagegen  stets  in  den 
Hintergrund  treten.  Damit  soll  nun  allerdings  keineswegs  ge- 
sagt sein,  dass  nicht  unter  anderen  Umständen  das  öegentheil  der 
Fall  sein  könnte.  Der  vorstehende  Satz  bezieht  sich  nur  auf  Zungen- 
präparate, welche  das  gewöhnliche  Verhalten,  d.  h.  einen  kräftigen 
einsteigenden  Schleimhautstrom,  zeigen.  Dann  ist  es  aber  auch  gleich- 
gültig, in  welcher  Weise  die  Ableitung  desselben  erfolgt.  Ich  habe 
entweder  am  ganzen,  unversehrten  Frosch  von  der  Musculatur  des 
Schenkels  und  der  Zungenoberfläche  abgeleitet  oder  bediente  mich 
des  schon  beschriebenen  Unterkieferpräparates,  das  leicht  im  Zusammen- 
hang mit  dem  Nervus  glossopharyngeus  hergestellt  werden  kann,  so 
dass  die  betreffenden  Versuche  mit  den  früheren  direct  vergleichbar 
sind.  Das  letzterwähnte  Verfahren  ermöglichte  es  nun  auch,  den  Er- 
folg der  Nervenreizung  an  solchen  Zungenpräparaten  zu  prüfen,  deren 
einsteigender  „Ruhestrom"  durch  Behandlung  mit  stärkeren  (0,8— 1,5  "/o) 
NaCl-Lösungen  geschwächt  oder  gar  umgekehrt  wurde.  Da  der  Nerv 
bei  nicht  zu  langer  Einwirkung  durch  Lösungen  von  der  erwähnten 
Concentration  kaum  wesentlich  geschädigt  wird,  so  dürften  die  dann 
zu  beobachtenden  Reizerfolge  (Erscheinungen)  der  Hauptsache  nach 
auf  die  zweifellos  vorhandenen  Veränderungen  der  gereizten  Drüsen- 
zellen zurückzuführen  sein.  In  solchen  Fällen  habe  ich 
wiederholt  Reizerfolge  beobachtet,  welche  den  von 
Hermann  und  Luch  sing  er  geschilderten  durchaus  ent- 
sprachen, indem  eine  stärkere  positive  Wirkung  durch 
eine  schwächere  negative  zeitweise  unterbrochen  wurde. 
Wie  man  sieht,  herrscht  hinsichtlich  der  elektro- 
motorischen Wirkungen,  welche  bei  directer  oder  in- 
directer  Reizung  der  Zungen  seh  leim  haut  hervortreten, 
fast  in  allen  Punkten  völlige  Ueber  ein  Stimmung,  und  es 
liegt  hierin  zugleich  ein  neuer  Beweis  dafür,  dass  es  sich  bei  der  an- 
gewendeten Methode  der  directen  Reizung  nur  um  Wirkungen  handelt, 
welche  von  der  Schleimhaut  als  solcher  ausgehen.  Eine  andere,  vor- 
läufig allerdings  nicht  mit  voller  Sicherheit  zu  lösende  Frage  ist  da- 
gegen die,  ob  nicht  wirklich  im  vorliegenden  Falle  die  directe  und 
indirecte  Erregung  insofern  als  identisch  anzusehen  sind,  als  auch  bei 
der  ersteren  nur  die  in  der  Schleimhaut  selbst  gelegenen  Nerven  gereizt 
werden.  Wir  müssten  ein  Gift  anwenden  können,  welches  ähnlich 
Avie  Curare  bei  den  quergestreiften  Muskeln  ohne  Schädigung  der 
Drüsenzellen    selbst    den   Nerveneinfluss   gänzlich    aufhebt.     Es   liegt 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  415 

nahe,  an  das  Atropin  zu  denken,  von  dem  es  ja  lange  bekannt  ist, 
dass  es  bei  den  verschiedensten  Drüsen  den  Erfolg  der  Reizung 
secretorischer  Nerven  gänzlich  und  dauernd  beseitigt;  auch  zeigten 
Hermann  und  Luchsinger  bereits,  dass  dies  in  der  That  auch 
in  Bezug  auf  die  galvanischen  Reizerfolge  an  der  Froschzunge  gilt; 
sowohl  nach  directem  Aufträufeln  auf  die  Zunge,  wie  nach  subcutaner 
Injection  bleibt  jede,  auch  die  stärkste  Nervenreizung  alsbald  unwirk- 
sam, obschon,  wie  ich  mich  wiederholt  überzeugt  habe,  die  direete 
Erregung  der  Schleimhaut  nach  wie  vor  eine  starke 
negative  Schwankung  des  vorhandenen  „Ruhestromes" 
zur  Folge  hat.  Nach  grossen  Dosen  und  längerer  Vergiftungszeit 
fand  ich  allerdings  mehrfach  nicht  nur  den  einsteigenden  Ruhestrom 
erheblich  geschwächt,  sondern  auch  den  Erfolg  der  directen  elektrischen 
Reizung  auffallend  gering.  Immerhin  wird  man  wohl  annehmen 
dürfen,  dass  Atropin  zunächst  hauptsächlich  die  D  r  ü  s  e  n  n  e  r  v  e  n 
lähmt,  ohne  die  Zellen  noch  wesentlich  zu  schädigen. 

Man  darf  es  als  festgestellt  betrachten,  dass  nicht  nur  die  Drüsen 
der  äusseren  Haut,  sondern  fast  sämmtliche  drüsige  Organe  durch 
Pilocarpin  in  ihrem  Thätigkeitszustand  ganz  wesentlich  beeinflusst 
werden ,  und  zwar  im  Sinne  einer  langandauernden,  energischen 
Reizung.  Da  ich  selbst  seiner  Zeit  die  Wirkung  der  Pilocarpinver- 
giftung  auf  das  morphologische  Verhalten  der  Zungendrüsen  des 
Frosches  zum  Gegenstand  einer  eingehenderen  Untersuchung  gemacht 
hatte  (80),  so  war  es  mir  von  um  so  grösserem  Interesse,  die  begleitenden 
galvanischen  Erscheinungen  kennen  zu  lernen.  In  mehrfach  wieder- 
holten Versuchen,  wobei  die  Frösche  (nicht  curarisirt)  1  ccm  einer 
2  "/u  Lösung  von  Pilocarp.  muriat.  unter  die  Rückenhaut  erhielten, 
fand  ich  bei  der  etwa  2  Stunden  später  vorgenommenen  Untersuchung 
ausnahmslos  den  einsteigenden  Schleimhautstrom  der  mit  einer  deut- 
lichen Secretschicht  bedeckten  Zunge  ungewöhnlich  kräftig  und  oft 
geradezu  colossal  entwickelt.  Dementsprechend  war  auch  die  negative 
Schwankung  bei  directer  Avie  indirecter  Reizung  ausserordentlich  stark, 
und  ich  Avüsste  kein  Mittel,  welches  geeigneter  wäre,  das  oben  als 
normal  geschilderte  Verhalten  der  Zunge  so  zu  sagen  in  noch  ver- 
stärktem Maasse  vor  Augen  zu  führen,  als  gerade  die  Pilocarpinver- 
giftung. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Wirkungsweise  derselben  war  von  vorn- 
herein zu  erwarten,  dass  auch  eine  längere  Zeit  hindurch  fortgesetzte 
Reizung  der  secretorischen  Nerven  einen  ähnlichen  Erfolg  haben  würde. 
Wie  bei  den  Speicheldrüsen,  so  gelingt  es  bekanntlich  auch  bei  den 
Schleimdrüsen  der  Froschzunge,  durch  Einschaltung  eines  Metronoms 
in  den  Kreis  der  secundären  Spirale  die  Reizung  der  entsprechenden 
Absonderungsnerven  über  Stunden  auszudehnen,  ohne  eine  allzu  rasche 
Ermüdung  der  Drüsen  befürchten  zu  müssen.  Dabei  treten  in  beiden 
Fällen  tiefgreifende  histologische  Veränderungen  hervor,  welche  mit 
dem  Absonderungsvorgange  in  engstem  Zusammenhang  stehen  (80). 

Beobachtet  man  während  einer  solchen  rhythmischen  Dauerreizung 
die  elektromotorischen  Erscheinungen  an  der  dann  am  besten  in  situ 
befindlichen  blutdurchströmten  Zunge,  so  zeigt  sich  ausnahmslos  nach 
einer  kürzeren  oder  längeren  Periode,  während  welcher  der  anfäng- 
liche Ruhestrom  in  Folge  des  Ueberwiegens  der  gegensinnigen  Strom- 
kraft (negative  Schwankung)  geschwächt  erscheint,  ein  allmähliches, 
meist    ungleichmässig    erfolgendes  Anwachsen    des    ursprünglichen  ein- 


416  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

steigenden  Stromes,  das  offenbar  der  positiven  Nachwirkung  bei  kurz- 
dauernder Reizung  entspricht  und  unter  Umständen  einen  bedeuten- 
den Grad  erreichen  kann.  Stets  bleibt  aber  auch  nach  lange 
fo rtgesetzter  Reizung  de  rSchleimhautstrora  einsteigend. 
Directer  elektrischer  oder  mechanischer  Reizung  sind  natürlich 
auch  die  Rachen-  und  Cloakenschleira haut  fähig,  und  es  zeigen 
sich  hier  im  Wesentlichen  dieselben  Erscheinungen  wie  bei  der  Zunge, 
nur  ist  die  Empfindlichkeit  im  Allgemeinen  eine  geringere.  Während, 
wie  oben  gezeigt  wurde,  jede  leiseste  Berührung  der  Zungenschleim- 
haut sofort  eine  nach  Aufhören  der  Reizung  sich  rasch  wieder 
ausgleichende  negative  Schwankung  des  normalen  einsteigenden 
Stromes  zur  Folge  hat,  ist  dies  bei  Weitem  nicht  in  dem  Maasse  bei 
der  Rachen-  oder  Cloakenschleimhaut  der  Fall-,  hier  bedarf  es  schon 
verhältnissmässig  stärkerer  Druck-  oder  Zugwirkungen,  um  eine  er- 
heblichere Schwächung  des  „Ruhestromes"  herbeizuführen,  die  sich  dann 
allerdings  in  derselben  Weise  äussert,  wie  an  der  Zunge.  Viel  bessere 
und  für  genauere  Untersuchungen  allein  brauchbare  Resultate  liefert 
locales  Tetanisiren  mit  Inductionsströmen.  Bezüglich  der  angewendeten 
Methode  kann  ich  durchaus  auf  das  oben  hierüber  schon  Mitgetheilte 
verweisen.  Handelt  es  sich  um  ein  Präparat  der  Rachenschleimhaut 
mit  sehr  starkem  einsteigenden  Strom,  und  reizt  man  bei  allmählich 
sich  verringerndem  Rollenabstand,  so  beobachtet  man  in  der  Regel 
schon  bei  schwachen  Strömen  (RA  =  180)  eine  ganz  deutliche  ein- 
sinnig-negative Schwankung  des  compensirten  „Ruhestromes",  deren 
Betrag  bei  weiterer  Annäherung  der  Rollen  rasch  zunimmt,  aber  selbst 
im  günstigsten  Falle  nicht  so  weit  geht,  dass,  wie  so  häufig  unter 
gleichen  Umständen  an  der  Zunge,  die  Scala  aus  dem  Gesichtsfelde 
verschwindet.  Durch  ein  leichtes  Zögern  bei  Beginn  der  Ablenkung 
verräth  sich  bisweilen  das  Vorhandensein  einer  gegensinnigen  Kraft, 
die,  wie  gleich  zu  erwähnen  sein  wird,  unter  anderen  Umständen 
ihrerseits  zu  einer  positiven  Schwankung  führt.  Wird  die  Reizung 
unterbrochen,  ehe  noch  das  Scalenbild  vollständig  zur  Ruhe  gekommen 
ist,  so  erfolgt  der  Rückschwung  des  Magneten  Anfangs  rasch,  später 
langsamer  bis  auf  Null,  bisweilen  sogar  darüber  hinaus  im  Sinne 
einer  Verstärkung  des  ursprünglichen  Stromes  (positive  Nachschwan- 
kung). Ganz  wesentlich  ändert  sich  das  Bild  der  Reizwirkungen, 
wenn  die  Kraft  des  einsteigenden  „Ruhestromes"  minder  bedeutend 
ist.  Wie  bei  der  Zunge,  nur  vielleicht  in  noch  höherem  Maasse,  hängt 
die  Stärke  der  negativen  Schwankung  von  der  anfänglichen  Intensität 
der  normalen  elektromotorischen  Wirkung  der  Schleimhaut  ab.  Sinkt 
dieselbe  unter  einen  gewissen  Grenz werth  herab,  so 
tritt  ganz  regelmässig  an  Stelle  der  einsinnig-negativen 
Schwankung  eine  doppelsinnige  und  bei  sehr  schwacher 
Reizung  eine  einsinnig-positive  Schwankung  auf.  Im 
Einzelnen  gestalten  sich  dann  die  Reizerfolge  sehr  verschiedenartig 
und  zum  Theil  recht  complicirt.  Im  Allgemeinen  lässt  sich  sagen, 
dass  erstlich  die  positive  Schwankung  um  so  mehr  über- 
wiegt, je  schwächer  von  vornherein  der  vorhandene  ein- 
steigende Schleimhautstrom  ist,  Avährend  andererseits 
die  negativen  Wirkungen  bei  zunehmender  Reizstärke 
mehr  und  mehr  in  den  Vordergrund  treten,  so  dass  bei  sehr 
angenäherten  Rollen  des  Induction sapparates  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
nur  oder   doch   sehr    vorwiegend  negative  Schwankung  erfolgt,    deren 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  417 

mehr  oder  weniger  verzögerter  Eintritt  dann  oft  noch  das  versteckte 
Vorhandensein  der  Gegenkraft  verräth;  in  gleichem  8inne  ist  sicher 
auch  das  rasche  Zurückschwingen  des  Magneten  nach  der  Ruhe- 
lage hin,  ja  über  dieselbe  hinaus  zu  deuten,  wie  man  es  besonders 
häufig  bei  geringerer  Reizintensität  zu  beobachten  Gelegenheit  hat;  die 
primäre,  zunächst  eintretende,  negative  Schwankung  übertrifft  dann 
immer  an  Grösse  die  darauf  folgende  positive,  welche  sich  deutlich 
durch  die  (bei  geschlossenem  Reizkreis  erfolgende)  rasche  Umkehr 
des  im  Sinne  der  negativen  Schwankung  abgelenkten  Magneten  ver- 
räth; von  da  ist  nur  noch  ein  Schritt  zu  jenem  Verhalten,  wo  sich 
das  Grössenverhältniss  der  beiden  gegensinnigen  Ablenkungen  um- 
kehrt und  die  negative  Schwankung  nur  noch  als  kurzer  Vorschlag 
zu  der  darauffolgenden  positiven  erscheint,  welche  unter  diesen  Um- 
ständen oft  recht  erhebliche  Grade  erreichen  kann,  wenn  die  durch 
sie  verursachten  Ablenkungen  auch  niemals  den  stärkeren  negativen 
gleichkommen.  Schliesslich  kann  (bei  der  geringsten  wirksamen  Reiz- 
intensität) jeder  direct  sichtbare  Ausdruck  der  negativen  Schwankung 
gänzlich  fehlen,  und  nur  ein  mehr  oder  weniger  ausgeprägtes  Zögern 
der  positiven  Ablenkung  deutet  ihr  Vorhandensein  noch  an.  An  ab- 
gekühlten Präparaten,  deren  einsteigender  Strom  gleich  Null  war,  habe 
ich  selbst  bei  übergescliobenen  Rollen  des  Inductionsapparates  nur 
rein  positive  Ablenkungen  (im  Sinne  der  ursprünglichen  Stromkraft) 
von  nicht  sehr  beträchtlicher  Stärke  erzielt.  In  einfachster  Weise 
lässt  sich  natürlich  der  Verdacht  beseitigen,  dass  die  geschilderten 
Reizerfolge  etwa  durch  Fehlerquellen  irgend  welcher  Art  bedingt 
seien;  man  braucht  nur,  wie  dies  auch  oben  schon  eingehend  er- 
örtert wurde,  die  Schleimhaut  elektromotorisch  unwirksam  zu  machen 
oder  gänzlich  zu  entfernen,  um  sich  sofort  zu  überzeugen,  dass  dann 
selbst  bei  Anwendung  der  stärksten  Ströme  alle  Reizwirkungen  gänz- 
lich fehlen. 

Ganz  ähnlich  wie  die  flimmernde  Rachenschleimhaut  verhält  sich 
bei  elektrischer  Reizung  auch  die  flimmerlose  Cloakenschleimhaut,  so- 
wie die  Haut  des  Blutegels.  Wie  dort,  ja  vielleicht  in  noch  höherem 
Grade,  macht  sich  der  Einfluss  der  anfänglichen  Kraft  des  einsteigen- 
den Stromes  auf  den  Reizerfolg  auch  hier  geltend.  Die  Reizschwelle 
liegt  in  der  Regel  noch  wesentlich  höher  als  bei  der  Rachenschleim- 
haut. Ehe  es  zu  einem  deutlich  ausgeprägten  Ausschlag  in  der 
einen  oder  andern  Richtung  kommt,  macht  sich  oft  ein  unruhiges 
Oscilliren  des  Magneten  bemerkbar,  welches  durchaus  den  Eindruck 
hervorbringt,  als  ob  zwei  gegensinnige  Wirkungen  mit  einander 
kämpften.  Schliesslich  überwiegt  bei  schwach'en  Strömen 
fast  regelmässig  die  Ablenkung  im  Sinne  einer  posi- 
tiven Schwankung,  während  bei  sehr  genäherten  oder 
garübergeschobenenRollen  ausnahmslos  das  Gegentheil 
der  Fall  ist.  Oft  macht  sich  dann  wohl  auch  ein  kurzer  positiver 
Vorschlag  bemerkbar,  dem  erst  die  sehr  viel  stärkere  negative  Schwan- 
kung folgt.  Nach  Beendigung  der  Reizung  gleicht  sich  die  letztere 
fast  immer  sehr  schnell  und  vollständig  aus.  In  mehreren  Fällen,  wo 
der  einsteigende  „Ruhestrom"  eine  ganz  ungewöhnliche  Intensität 
zeigte,  sah  ich,  von  den  schwächsten  überhaupt  wirksamen  Strömen 
angefangen  bis  hinauf  zu  den  stärksten,  immer  nur  rein  einsinnige 
negative  Schwankungen,  die  dann  Grade  erreichten,  wie  man  sie  sonst 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  27 


418  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

unter  gleichen  Umständen  nur  an  der  Zunge  zu  sehen  gewohnt  ist. 
So  h'eferte  mir  in  einem  Falle  die  über  ein  Korkrähmchen  ausge- 
spannte, von  beiden  Flächen  abgeleitete  Cloakenschleimhaut  einer  nicht 
curarisirten  R.  temporaria  einen  einsteigenden  Strom  von  solcher 
Stärke,  dass  die  Scala  weit  aus  dem  Gesichtsfelde  flog;  nach  Compen- 
sation  derselben  erfolgte  schon  bei  einem  Rollenabstand  von  180  eine 
ganz  deutliche  negative  Schwankung  von  mehreren  Scalentheilen,  und 
bei  Rollenabstand  100  verschwand  bei  der  Reizung  das  Ende  der 
Scala  aus  dem  Gesichtsfelde.  Im  Gegensatze  zu  der  Rachenschleim- 
haut bleibt  die  Ablenkung,  abgesehen  von  kleinen  Oscillationen,  ziem- 
lich constant,  solange  die  Reizung  dauert,  um  sich  nachher  rasch 
auszugleichen.  Ist  die  Cloakenschleimhaut,  wie  es  immer  der  Fall  zu 
sein  scheint,  wenn  kein  flüssiges  Secret  geliefert  wird,  stromlos  oder 
nur  sehr  schwach  einsteigend  wirksam,  so  erhält  man  selbst  bei 
stärkstem  Tetanisiren  mit  tibergeschobenen  Rollen  keine  deutliche 
negative  Schwankung,  sondern  entweder  keine  Wirkung  oder  meist 
schwache  Ablenkungen  im  Sinne  eines  einsteigenden  Stromes.  Es  be- 
Aveist  dies  zugleich,  dass  die  Reizerfolge  von  der  Schleimhaut  selbst 
abhängen  und  nicht  etwa  von  den  darunter  liegenden  Muskeln  her- 
rühren. 

Im  Wesentlichen  übereinstimmend  gestalten  sich  auch  die  Erfolge 
directer  oder  indirecter  Reizung  der  drüsenreichen  Amphibienhaut. 
Schon  Engelmann  (1.  c.  p.  136)  hatte  Versuche  angestellt,  bei 
welchen  Hautstücke  (von  R.  temporaria)  durch  einen  einzelnen 
Schliessungs-  oder  Oeffnungsschlag  eines  gewöhnlichen  Schlitten- 
apparates gereizt  wurden,  wobei  die  Inductionsströme  durch  die  ab- 
leitenden Elektroden  selbst  zugeführt  wurden.  Im  Momente  der 
Reizung  war  das  Galvanometer  ausgeschaltet  und  Avurde  auch  zuvor 
festgestellt,  dass  die  Inductionsströme  die  Elektroden  nicht  merkbar 
polarisirt  zurückliessen.  „Jede  Reizung  verräth  sich  sofort  durch  eine 
steile  Abnahme  der  Kraft.  Die  Abnahme  ist  nicht  nur  relativ, 
sondern  auch  absolut  um  so  grösser,  je  geringer  der  Rollenabstand, 
und  bei  gleicher  Entfernung  der  Spiralen  viel  stärker  für  den  Oeff- 
nungs-  als  für  den  Schliessungsschlag.  Nach  der  ersten,  zweiten  und 
dritten  Erregung  folgt  (in  einem  speciellen  Falle)  der  negativen  eine 
positive  Schwankung;  der  vierte  Reiz  aber  schwächt  die  Kraft 
dauernd  in  beträchtlichem  Grade,  und  der  letzte,  kräftigste  Oeffnungs- 
schlag drückt  die  Kraft  beinahe  auf  Null  herab  und  hinterlässt  sie 
dauernd  um  etwa  die  Hälfte  geschwächt.*'  Mit  diesen  Befunden 
stimmen  im  Wesentlichen  auch  meine  eigenen  Beobachtungen  überein, 
wenn  Hautstücke,  gleichgültig,  von  welchem  Körpertheil  stammend, 
auf  einem  Thonblock  ausgebreitet,  tetanisirend  gereizt  und 
während  der  Reizung  gleichzeitig  abgeleitet  wurden.  Handelte 
es  sich  dabei  um  Frösche  (Temporarien) ,  die  in  einem  kühlen,  frost- 
freien Räume  in  Gefässen  gehalten  wurden,  deren  Boden  mit  Wasser 
bedeckt  war,  so  war  die  elektromotorische  Wirksamkeit  im  Sinne 
eines  „einsteigenden"  Stromes  regelmässig  und  ausnahmslos  eine  sehr 
kräftige,  und  dem  entsprach,  wie  in  früheren  Fällen,  eine  schon  bei 
verhältnissmässig  geringen  Stromstärken  hervortretende  einsinnig- 
negative  Schwankung,  welche  nach  einer  Latenzzeit  von  1 — 2  Se- 
kunden begann  und  ziemlich  rasch  ihren  grössten  Werth  erreichte; 
als  Nachwirkung  der  Reizung  macht  sich  dann  in  der  Regel  eine 
mehr     oder    weniger    beträchtliche    Verstärkung     des    ursprünglichen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsehzellen.  419 

„Ruhestromes"  bemerkbar,  die  sich  nur  langsam  abgleicht  und  nie- 
mals auch  nur  annähernd  der  negativen  Schwankung  an  Stärke 
gleichkommt. 

Bei  directer  elektrischer  Reizung  der  bloss  Becherzellen  ent- 
haltenden Haut  der  Aalschnauze  zeigte  sich  nach  den  Beobach- 
tungen von  Reid  und  Tolputt  (83)  ein  ganz  analoges  Verhalten 
wie  bei  der  Cloakenschleimhaut  des  Frosches,  d.  h.  bei  schwacher 
Reizung  und  wenig  entwickeltem  Ruhestrom  eine  positive,  bei  starker 
eine  negative  Schwankung  des  bestehenden  einsteigenden  Stromes,  die 
stets  sehr  nachhaltig  war.  In  der  übrigen  Haut  des  Aales  kommen 
neben  den  in  der  Minderzahl  vorhandenen  Schleimzellen  noch  anders- 
artige secretorische  Elemente  (Keulenzellen)  vor,  welche  sich  in  Bezug 
auf  elektromotorische  Wirkungen  bei  der  Reizung  entgegengesetzt  zu 
verhalten  scheinen.  Nach  Reid  und  Tolputt  (1.  c.)  beobachtet 
man  hier  nämlich  bei  stark  entwickeltem  einsteigenden  Strom  und 
starker  Reizung  regelmässig  eine  Verstärkung  (positive  Schwankung) 
desselben,  und  umgekehrt  scheint  schwache  Reizung  und  geringe  In- 
tensität der  bestehenden  Stromkraft  das  Zustandekommen  einer  nega- 
tiven Schwankung  zu  begünstigen. 

Mit  den  Erfolgen  der  directen  Reizung  der  Froschhaut  stimmen 
nach  meinen  Erfahrungen  die  unter  sonst  gleichen  Umständen  ge- 
wonnenen Resultate  der  indirecten  Erregung  vom  Nerven  aus  fast 
vollkommen  überein,  R  o  e  b  e  r  (1.  c,  p.  3)  bediente  sich  einer 
Methode,  welche  es  ermöglicht,  in  einer  sehr  schonenden  Weise 
an  der  Haut  des  Unterschenkels  zu  experimentiren ,  und  es  dürfte 
diesem  Verfahren  der  Vorzug  vor  dem  von  Hermann  später  be- 
sonders empfohlenen  Rückenhautpräparat  einzuräumen  sein.  Es  er- 
möglicht unter  allen  Umständen  eine  viel  schonendere  Behandlung  der 
Haut  und  gestattet  ausserdem,  abgesehen  von  der  grösseren  Resistenz- 
fähigkeit des  Präparates,  viel  leichter,  die  Einwirkung  verschiedener 
Agentien  auf  den  Erfolg  der  Reizung  zu  prüfen.  Man  kann  sich  ent- 
weder des  ursprünglichen  Verfahrens  von  R  o  e  b  e  r  bedienen,  wobei  nach 
Herstellung  eines  gewöhnlichen  „stromprüfenden  Froschschenkels"  die 
Haut  desselben,  „welche  bis  über  das  Kniegelenk  hinauf  noch  den  ganzen 
Unterschenkel  bedeckt,  durch  einen  Zirkelschnitt  am  Fussgelenk  von 
den  unterliegenden  Theilen  getrennt,  durch  einen  Längsschnitt  an  der 
vorderen  Fläche  gespalten  und  vom  ganzen  Unterschenkel  bis  in  die  Nähe 
des  Kniegelenkes  abpräparirt  und  zurückgeschlagen  wird.  Nunmehr 
wird  der  Unterschenkel  unterhalb  des  Knies  quer  durchschnitten  und 
entfernt,  so  dass  man  nur  den  Nervus  ischiadicus,  in  Verbindung  mit  dem 
Kniegelenk  und  der  Haut  des  Unterschenkels,  zurückbehält".  Um  den 
Hautstrom  abzuleiten,  wird  der  freipräparirte  Lappen  auf  einem  Thon- 
block  vorsichtig  ausgebreitet,  worauf  die  eine  Elektrode  an  diesen 
letzteren,  die  andere  in  der  Mitte  der  Aussenfläche  der  Haut  angelegt 
wird.  Noch  bequemer  und  schonender  ist  die  von  Hermann  (75) 
vorgeschlagene  Modification ;  man  benützt  den  ganzen,  gerade  nur  bis 
zur  völligen  Bewegungslosigkeit  curarisirten  Frosch  und  kann  so  bei 
völlig  erhaltener  Circulation  nach  Freilegung  des  Beckenabschnittes 
beider  Ischiadici  (vom  Rücken  her)  entweder  von  symmetrischen 
Punkten  beider  behäuteten  Beine  oder,  was  mehr  zu  empfehlen  ist, 
von  einer  beliebigen  Stelle  der  Unterschenkelhaut  und  der  bloss- 
gelegten,  unversehrten  Muskeloberfläche  des  Oberschenkels  der- 
selben   Seite    ableiten.      Letzterenfalls    hat    man    es    mit    dem    vollen 

27* 


420  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsienzellen. 

Hautstrom  zu  thun,  welcher  daher  in  der  Regel  vorher  compensirt 
werden  muss. 

Bei  Roeber's  Versuchen  zeigte  sich  nun,  dass,  wenn  der 
einsteigende  Hautstrom  nur  irgend  beträchtlich  war, 
durch  die  Reizung  der  Nerven  stets  eine  mehr  oder  minder  grosse 
Abnahme  der  Kraft  bedingt  wurde,  und  „da  dies  in  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  eintrat",  so  steht  Roeber  nicht  an,  „diese  »nega- 
tive Schwankung«  des  Drüsenstromes  im  Allgemeinen 
als  die  Folge  der  Reizung  der  Drüsennerven  zu  be- 
zeichnen. Bei  ursprünglich  unbedeutender  Grösse  des 
Stromes  hingegen  wurde  bisweilen  statt  der  Abnahme 
eineZunahme,  statt  der  negativen  eine  positive  Schwan- 
kung beobachtet".  Auch  Engelmann  sah  an  demselben  Object 
fast  ausschliesslich  eine  Verminderung  des  Hautstromes  als  Folge 
der  Nervenreizung  hervortreten ,  mochte  dieselbe  elektrisch ,  chemisch 
oder  mechanisch  verursacht  sein.  Schon  bei  Einwirkung  eines 
einzelnen  kräftigen  Schliessungsinductionsschlages  auf  den  peripheren 
Ischiadicusstumpf  beobachtete  er  ein  vorübergehendes  Sinken  der 
Kraft  um  25  —  30  Procent ,  das  natürlich  bei  tetanisirender  Reizung 
noch  viel  erheblicher  ist.  Der  Verlauf  einer  so  zu  sagen  elementaren 
Schwankung  bei  Erregung  des  Nerven  durch  einen  einzelnen  Moment- 
i'eiz  gestaltet  sich  nach  Engelmann  derart,  dass  „nach  einem  Latenz- 
stadium,  das  bei  schwachem  Reize  bis  vier  Sekunden,  bei  starkem 
weniger  als  ^k  Sekunde  dauert,  die  Kraft  mit  Anfangs  zunehmender, 
später  abnehmender  Schnelligkeit  sinkt  und  bei  schwachem  Reize 
nach  wenigen  Sekunden,  bei  starkem  nach  10  —  20  Sekunden  ein 
Minimum  erreicht ;  sofort  nun  steigt  sie  wieder,  Anfangs  mit  wachsen- 
der, dann  mit  abnehmender  Geschwindigkeit,  und  kommt  nach  einiger 
Zeit  auf  der  anfänglichen  Höhe  wieder  an".  „Hierauf  bleibt  sie  nun 
aber  oft  nicht  stehen,  namentlich  nicht,  wenn  die  Haut  vor  der 
Reizung  längere  Zeit  geruht  hatte.  Sie  steigt  dann  vielmehr  im  Laufe 
der  nächsten  Minute  oder  Minuten  weiter,  um  so  höher,  je  stärker 
die  vorausgegangene  Erregung  war"  (positive  Nachschwankung),  um 
nachher  meist  wieder  langsam  abzusinken.  Bei  öfters  wiederholter 
Reizung  fehlt  die  positive  Nachschwankung,  und  es  tritt  jedesmal 
nur  negative  Schwankung  auf.  „Bei  anhaltend  tetanischer  Reizung 
des  Nerven  hält  die  Schwächung  der  Kraft  viel  länger  an:  sie  über- 
dauert die  Reizung.  Nachher  kann  dann,  falls  die  Reizung  sehr  stark 
war,  die  positive  Nachschwankung  fehlen,  auch  wenn  sie  sonst  nach 
kürzerer  Reizung  sicher  eingetreten  sein  würde.  Die  Kraft  bleibt 
dann  dauernd  herabgesetzt,  und  neue  Reizung  giebt  dann  auch  nur 
geringere  Verminderung  der  Kraft." 

Dem  gegenüber  fand  Hermann  (82)  sowohl  an  der  Haut  des 
Unterschenkels,  wie  insbesondere  an  der  Rückenhaut  des  Frosches  als 
Erfolg  der  Nervenreizung  entweder  eine  rein  positive  Schwan- 
kung, oder  es  ging  dieser  letzteren  ein  negativer  Vorschlag 
voraus,  „der  aber  meist  sehr  viel  schwächer  ist,  als  die  positive 
Schwankung  selbst",  welche  daher  immer  „die  eigentliche  Haupt- 
wirkung" darstellt.  Rein  negative  Schwankung  sah  Hermann  an 
der  Rückenhaut  überhaupt  nur  zweimal,  aber  auch  am  Unterschenkel 
„nur  in  einer  verschwindend  kleinen  Anzahl  von  Fällen"  (drei  unter 
80  Fröschen).  Der  Gang  der  Ablenkung  ist  (an  der  Rückenhaut  bei 
tetanisirender  Reizung)  nach  Hermann  folgender:  „Zuerst  bleibt  das 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  421 

Scalenbild  einige  Sekunden  (2 — 4)  vollkommen  in  Ruhe;  nach  dieser 
Latenz  entwickelt  sich  eine  ziemlich  schnelle  Ablenkung  (im  positiven 
Sinne),  bleibt  dann  meist  stehen,  und  nun  folgt  noch  ein  weiteres, 
langsames  Anwachsen  bis  zum  Maximum.  Wird  die  Reizung  fort- 
gesetzt, so  tritt  gewöhnlich  bald  Umkehr  und  langsamer  Rückgang 
ein;  wird  sie  auf  der  Höhe  der  Ablenkung  unterbrochen,  so  bleibt 
die  Scala  in  der  abgelenkten  Stellung  noch  eine  Zeit  lang  stehen  oder 
setzt  sogar  ihren  Gang  noch  eine  kleine  Strecke  fort  und  kehrt  dann 
langsamer,  als  sie  abgelenkt  wurde,  in  ihre  ursprüngliche  Stellung 
zurück."  Dieselbe  positive  Ablenkung  sah  Hermann  auch  nach 
ganz  kurz  dauernder  Reizung  erfolgen:  „Man  sieht  dann  nach  Be- 
endigung derselben  die  Scala  noch  eine  Weile  still  stehen  und  dann 
ihre  Ablenkung  in  positiver  Richtung  ausführen,  die  aber  in  diesem 
Falle  beträchtlich  kleiner  ist,  als  bei  anhaltender  Reizung.''  Man 
sieht,  es  handelt  sich  in  der  That  um  einen  totalen  Gegensatz  der 
Resultate  Hermann's  und  der  früheren,  der  durch  das  häufigere 
Vorkommen  eines  „negativen  Vorschlages"  an  der  Haut  des  Unter- 
schenkels nur  wenig  vermindert  wird.  Nun  haben  allerdings  auch 
R o e b e r  und  Engelmann  schon  rein  positive  Reizerfolge  an  dem 
letztgenannten  Präparate  beobachtet,  allein  nur  ganz  ausnahmsweise 
und  unter  Umständen,  wo  es  fraglich  schien,  ob  die  Erscheinung  „als 
eine  normale"  aufzufassen  ist.  Es  war  dies  nämlich  insbesondere 
dann  der  Fall,  wenn  die  Präparate  nach  langem  Unbedecktsein  im 
feuchten  Räume  „ausnehmend  schwache"  (einsteigende)  Ströme  zeigten 
und  sehr  bald  aufhörten,  reizbar  zu  sein.  Später  haben  dann  Bach 
und  0 eh  1er  unter  der  Leitung  Hermann's  gefunden  (81),  dass 
erstlich  die  negative  Schwankung  des  einsteigenden 
„Ruhestromes"  der  Haut  ganz  wesentlich  von  der  Stärke 
des  letzteren  abhängt,  eine  Thatsache,  auf  welche  oben  schon 
wiederholt  hingewiesen  wurde,  und  dass  andererseits  in  allen 
Fällen,  wo,  sei  es  durch  Erwärmung  über  eine  gewisse 
Grenze  hinaus  oder  durch  Bepinseln  der  Haut  mit 
starker  Kochsalzlösung,  der  „Ruhestrom"  erheblich  ge- 
schwächt wird,  die  negative  Schwankung  desselben 
bei  Nervenreizung  sich  rasch  vermindert  und  schliess- 
lich einem  „einsteigenden  Secretionss trom",  d.  i.  einer 
positiven  Schwankung,  Platz  macht.  Man  möchte  hiernach 
vermuthen,  dass  Hermann  es  bei  seinen  Versuchen  fast  durchwegs 
mit  Fröschen  zu  thun  hatte,  deren  Hautstrom  nur  sehr  wenig  ent- 
wickelt war.  Indessen  hat  Hermann  neuerdings  (82)  Beobachtungen 
mitgetheilt,  welche  zeigen,  dass  in  gewissen  Fällen  auch  bei  kräftig 
entwickeltem  einsteigendem  „Ruhestrom"  vorwiegend  oder  ausschliess- 
lich positive  Schwankung  bei  Reizung  der  Hautnerven  erfolgt. 
Dies  zeigte  sich  auch  an  der  Unterschenkelhaut  des  Laubfrosches, 
sowie  an  der  Haut  des  01m es  (Proteus  anguineus). 

Wenn  jede  Schwächung  des  normalen  einsteigenden  Hautstromes 
das  Zustandekommen  gleichsinniger  (positiver)  Reizwirkungen  be- 
günstigt, so  war  von  vornherein  die  Möglichkeit  gegeben,  dass  auch 
bei  gänzlich  fehlendem  „Ruhestrom"  ein  „aussteigender  Secretions- 
strom"  zu  Stande  kommt.  In  der  That  zeigten  Bach  und  Oehler, 
dass  nach  ganz  kurz  (6—8  Sekunden)  dauernder  Einwirkung  einer 
gesättigten  Sublimatlösung  die  Haut  fast  gar  nicht  elektromotorisch 
wirksam  war,    während    dem  ungeachtet  Nervenreizung  noch  ziemlich 


422  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

starke  Ausschläge,  und  zwar  immer  im  Sinne  eines  einsteigenden 
Stromes,  gab.  Ich  kann  Hermann  nicht  beipflichten,  wenn  er  in 
dieser  Thatsache  einen  zwingenden  Beweis  dafür  erblickt,  dass  im 
Wesentlichen  nur  die  Epithelschicht  der  ungereizten  Haut  der  Sitz 
ihrer  elektromotorischen  Wirksamkeit  ist,  während  nur  die  bei  Nerven- 
reizung hervortretenden  Erscheinungen  (die  „Secretionsströme")  wirk- 
lich eine  Leistung  der  Drüsen  darstellen.  Denn  abgesehen  davon, 
dass  schon  von  histologischen  Gesichtspunkten  aus  diese  Annahme 
wenig  Wahrscheinlichkeit  besitzt,  ist  es  auch  ganz  gut  denkbar,  dass 
ungeachtet  der  kurzen  Dauer  des  Sublimatbades  doch  Spuren  der 
Substanz  bis  zu  den  Drüsenzellen  vordrangen  und  deren  normale 
elektromotorische  Wirksamkeit  im  Sinne  eines  einsteigenden  Stromes 
fast  auf  Null  herabdrückten,  ohne  jene  vollständig  abzutödten.  Dass 
aber  unter  Umständen,  wo  durch  irgend  welche  Schädlichkeiten  der 
einsteigende  Strom  Schleim  secernirender  Zellen  mehr  oder  weniger 
geschwächt  erscheint,  bei  directer  oder  indirecter  Reizung  gleich- 
sinnige Wirkungen  auftreten  können,  geht  aus  dem  früher  Mit- 
getheilten  zur  Genüge  hervor. 

Da,  wie  Engelmann  gezeigt  hat,  der  Feuchtigkeitszustand  der 
Haut  in  Bezug  auf  die  Stärke  ihrer  normalen  elektromotorischen 
Wirksamkeit  den  bei  Weitem  wichtigsten  Einfluss  besitzt,  wie  dies 
übereinstimmend  auch  bei  echten  Schleimhäuten  der  Fall  ist,  so  war 
von  vornherein  zu  erwarten,  dass  es  möglich  sein  würde,  durch  Ver- 
änderung des  Wassergehaltes  auch  die  bei  Reizung  der  Haut  hervor- 
tretenden galvanischen  Wirkungen  derselben  ihrem  Sinne  nach  in  der 
schon  angedeuteten  Weise  zu  verändern.  Einen  Fingerzeig  in  dieser 
Richtung  lieferten  bereits  die  oben  mitgetheilten  Erfahrungen  an  der 
Zunge,  Rachen-  und  Cloakenschleimhaut. 

Bekanntlich  verlieren  Frösche,  wenn  sie  nur  einfach  trocken  ge- 
halten werden,  durch  die  Haut  allmählich  sehr  viel  Wasser,  doch 
dauert  es  lange,  ehe  sie  auf  diese  Weise  in  einem  für  die  beabsich- 
tigten Versuche  hinreichenden  Grade  entwässert  sind.  Viel  rascher 
kommt  man  zum  Ziele,  wenn  man  die  Wirkung  wasserentziehen- 
der Substanzen  zu  Hülfe  nimmt.  In  kürzester  Zeit  kann  man 
den  Geweben  des  Froches  sehr  viel  Wasser  einfach  dadurch  entziehen, 
dass  man  eine  stärkere  Kochsalzlösung  oder  Glycerin  in  genügender 
Menge  unter  die  Rückenhaut  injicirt.  Ich  combinirte  beide  erwähnten 
Methoden  in  folgender  Weise.  Die  Frösche  werden,  nachdem  sie 
vorher  gut  abgetrocknet  sind,  in  ein  grosses,  offenes,  nur  mit  Draht- 
gitter bedecktes  Glas  gesetzt,  dessen  Boden  und  Wände  mit  einem 
trockenen,  reinen  Tuch  ausgekleidet  sind.  Sie  bleiben  hier  im  warmen 
Zimmer  mindestens  24  Stunden.  Sodann  werden  sie  möglichst  schwach, 
doch  bis  zu  völliger  Bewegungslosigkeit,  curarisirt  und  nach  Eintritt 
der  Lähmung  1 — 2  ccm  einer  3^ — 5  "/o  Kochsalzlösung  oder  besser 
0,5  —  1  ccm  Glycerin  in  den  Dorsallymphsack  gespritzt.  Nach  zwei, 
höchstens  drei  Stunden  ist  dann  die  Entwässerung  in  der  Regel  ge- 
nügend weit  vorgeschritten,  um  die  Untersuchung  vornehmen  zu 
können.  Ich  will  hier  auf  alle  sonst  noch  an  derartig  behandelten  Fröschen 
hervortretenden  Erscheinungen  nicht  näher  eingehen,  da  dieselben  zur 
Genüge  bekannt  sind  und  mit  den  hier  zu  schildernden  Thatsachen 
in  keinem  unmittelbaren  Zusammenhang  stehen. 

Prüft  man  in  bekannter  Weise  die  elektromotorische  Wirksam- 
keit  der    Haut    derartig    „entwässerter"    Frösche,    sei    es  an  einzelnen 


Die   elektromotorischeu   VVirkungeu  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  423 

ausgeschnitteneu  Stücken,  sei  es  am  ganzen  unversehrten  Thier,  so 
fällt  vor  Allem  die  geringe  Stärke  des  „einsteigenden" 
Stromes  auf,  der  manchmal  fast  gänzlich  fehlt.  Es  liegt 
dies  sicher  nicht  allein  an  dem  grösseren  Widerstände  der  trockenen 
Haut,  denn  die  Kraft  hebt  sich  lange  nicht,  auch  wenn  die  abgeleitete 
Hautstelle  mit  Wasser  oder  dünner  Kochsalzlösung  reichlich  benetzt 
Avird.  Wird  nun  ein  ausgeschnittenes  Hautstück,  gleichviel  von  welchem 
Körpertheile  es  stammen  möge,  direct  gereizt,  oder  reizt  man  bei  Ab- 
leitung von  der  äusseren  Oberfläche  der  Haut  des  Unterschenkels 
und  der  blossgelegten  Muskeloberfläche  des  gleichseitigen  Oberschenkels 
den  vom  Becken  her  freigelegten  Ischiadicus ,  so  beobachtet  man 
unter  allen  Umständen  einen  einsteigenden  Strom,  also 
eine  positive  Schwankung  des  „Ruhestromes",  die  ent- 
weder allein  hervortritt  oder  von  einem  kurzen  nega- 
tiven Vorschlag  eingeleitet  wird.  Niemals  kommt  es 
unter  diesen  Umständen,  wie  sonst,  zu  einsinnig  nega- 
tiven Ausschlägen.  Hinsichtlich  der  Stärke  der  positven  Wir- 
kungen (immer  im  Sinne  des  einsteigenden  „Ruhestromes")  kommt  es 
vor  Allem  auf  das  richtige  Stadium  der  Entwässerung  an,  das  zu 
treffen  allerdings  mehr  Sache  des  Zufalls  ist.  In  günstigen  Fällen  kann 
dann  die  positive  Schwankung  ebenso  stark  werden,  wie  sonst  die 
stärkste  negative  Schwankung.  Ich  habe  wiederholt  Ablenkungen  be- 
obachtet, welche  bei  compensirtem  Ruhestrom  die  Scala  aus  dem  Ge- 
sichtsfelde trieben.  Ist  der  letztere  aber  noch  irgend  erheblich,  so 
fällt  die  positive  Schwankung  stets  geringer  aus,  und  der  negative 
Vorschlag  wird  dementsprechend  grösser.  Bisweilen  findet  man  den 
einsteigenden  Hautstrom  am  Unterschenkel,  unmittelbar  nach  der  Prä- 
paration der  N.  ischiadici  im  Becken ,  ungeachtet  der  vorgängigen 
Wasserentziehung,  auffallend  stark,  worauf  dann  im  Verlauf  des  Ver- 
suches gewöhnlich  eine  ziemlich  rasche  Abnahme  erfolgt.  Es  ist  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  es  sich  dabei  um  eine  (positive)  Nachwirkung 
der  durch  das  Abbinden  bedingten  Nervenreizung  handelt.  Man  lässt 
in  solchen  Fällen  am  besten  erst  abklingen  und  reizt  dann  erst  den 
Nerven  elektrisch.  Man  erhält  so  viel  stärkere  positive  Schwankungen 
als  sonst. 

Der  Gang  der  durch  diese  letzteren  bedingten  Ablenkungen  ist 
fast  immer  derart,  dass  nach  Ablauf  des  Latenzstadiums  und  eventuell 
des  negativen  Vorschlages  die  positive  Schwankung  rasch  einsetzt  und 
dann  allmählich  langsamer  wird,  als  ob  eine  Gegenwirkung  sich  geltend 
machte,  unter  Umständen  selbst  kurz  anhält  oder  sogar  im  Sinne  einer 
negativen  Schwankung  um  ein  Weniges  zurückgeht;  schliesslich  bricht 
aber  bei  Fortdauer  der  Reizung  die  positive  Wirkung  wieder  durch, 
und  die  Ablenkung  wird  noch  eine  beträchtlich  stärkere.  Ich  bin 
geneigt,  dieses  Zögern  im  Fortgang  der  positiven  SchAvankung  in  der 
That  auf  die  Gegenwirkung  einer  gleichzeitig  angeregten  negativen 
Schwankung  zu  beziehen,  so  dass  hier  wie  überhaupt  die  wirklich  be- 
obachtete Ablenkung  nur  die  resultii'ende  aus  zwei  gegensinnigen 
Componenten  darstellt.  Es  kommt  stets  nur  auf  das  Ueber wiegen 
der  einen  oder  anderen  Kraft  an. 

Auf  diesen  Umstand  dürfte  es  auch  zu  beziehen  sein,  dass  in  einem 
gewissen  Stadium  der  Entwässerung,  wie  es  am  sichersten  durch  ein- 
fache Austrocknung  des  Frosches  bei  längerem  Aufenthalt  im  ganz 
trockenen  Räume  ohne  Wasser  zu  erzielen  ist,  die  Reizung  des  Ischiadicus 


424  Die  elektromotorisclien  Wirkungea  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

bei  Ableitung-  der  Unterschenkelhaut^  die  dann  in  der  Regel  noch  einen 
starken  einsteigenden  Strom  giebt,  bei  der  ersten  Reizung  gewöhnlich 
noch  von  einer  deutlichen  und  ziemlich  starken  negativen  Schwan- 
kung gefolgt  ist,  an  die  sich  eine  schwächere  positive  anschliesst.  Bei 
Wiederholung  der  Reizungen  in  einem  späteren  Stadium  beobachtet 
man  dann  manchmal  gar  keine  ausgeprägte  Wirkung ;  nur  ein  geringes 
Schwanken  des  Magneten  nach  der  einen  oder  anderen  Seite  oder  ein 
Oscilliren  um  die  Ruhelage  deutet  auf  einen  Kampf  antagonistischer 
Kräfte  hin,  die  sich  hier  nahezu  die  Waage  halten.  Unter  diesen  Um- 
ständen kann  es  auch  vorkommen,  dass  als  Folgewirkung  der  tetani- 
sirenden  Reizung  eine  complicirte  Schwankung  resultirt,  die  aus  vier 
Phasen  besteht,  einer  anfänglichen  negativen  Ablenkung,  die  sehr  bald 
durch  eine  wesentlich  stärkere  positive  Phase  unterbrochen  wird,  der 
schliesslich  wieder  ein  Rückgang  im  Sinne  einer  negativen  Schwan- 
kung sich  anschliesst,  worauf  endlich  der  Magnet  nochmals  umkehrt 
und  langsam  im  Sinne  einer  positiven  Schwankung  vorwärts  geht. 
Dieser  ganze  complicirte  Vorgang  spielt  sich  dann  während  der  Fort- 
dauer der  Reizung  ab.  Es  gelingt  am  sichersten  die  Aufeinanderfolge 
aller  einzelnen  Phasen,  um  die  es  sich  in  solchen  Fällen  handelt,  zu 
beobachten,  wenn  man  einen  Frosch  in  jenem  Stadium  der  Ent- 
wässerung, wo  die  Unterschenkelhaut  noch  stark  einsteigend  wirkt 
und  jede  Reizung  von  einer  deutlichen  negativen  Schwankung  be- 
gleitet ist,  der  eine  schwächere  positive  folgt,  verbluten  und  mit  prä- 
parirten  Nerven  im  Zimmer  liegen  lässt,  während  von  Zeit  zu  Zeit 
der  Erfolg  der  Reizung  geprüft  wird;  man  sieht  dann  allmählich  den 
einsteigenden  Hautstrom  abnehmen,  wobei  die  negativen  Reizerfolge 
immer  geringer,  die  positiven  dagegen  immer  stärker  werden,  und 
schliesslich  (nach  einem  rasch  vorübergehenden  Stadium  gänzlicher 
Wirkungslosigkeit)  dominirend  hervortreten. 

Stets  macht  sich,  wie  schon  Hermann  hervorhob,  bei  den  posi- 
tiven Schwankungen  im  Gegensatz  zu  den  negativen  eine  oft  ziemlich 
anhaltende  Nachwirkung  geltend,  indem  die  Ablenkung  noch  einige 
Zeit  nach  Beendigung  der  Nervenreizung  zunimmt;  auch  erfolgt  das 
Abklingen  immer  viel  langsamer    als    das    der  negativen  Schwankung. 

Ein  interessantes  Verhalten  boten  Frösche  (Temporarien)  dar, 
welche  während  der  zweiten  Hälfte  des  Februar  frisch  eingefangen 
worden  waren.  Beliebige  Hautstellen  wirkten  zunächst  immer  stark 
und  im  normalen  Sinne  elektromotorisch,  so  dass  der  Ausschlag  oft 
über  die  Scala  hinausging;  Reizung  des  N.  ischiadicus  bewirkte  dem- 
entsprechend an  der  Unterschenkelhaut  eine  starke  und  einsinnig 
negative  Schwankung;  dieselbe  glich  sich  aber  nur  sehr  langsam  und 
unvollständig  wieder  aus,  so  dass  eine  starke  und  dauernde  Schwächung 
des  ursprünglichen  Stromes  resultirte,  der  dann  in  Folge  einer  aber- 
maligen kui-zen  Reizung  fast  gänzlich  schwand.  Bei  einem  dritten 
Versuch  erfolgte  nun  eine  positive,  von  einem  kurzen  negativen  Vor- 
schlag eingeleitete  Ablenkung.  Bei  einem  anderen  Frosch  derselben 
Gruppe  bewirkte  gleich  die  erste  Reizung  eine  so  starke  Schwächung 
des  ursprünglichen  einsteigenden  Hautstromes,  dass  schon  beim  zweiten 
Versuch  statt  der  negativen  eine  positive  Schwankung  hervortrat.  Es 
ist  dies  abermals  ein  Beweis  dafür,  wie  sehr  der  Charakter  der 
Schwankung  von  der  Stärke  des  „Ruhestromes"  mitbedingt  Avird.  Zu- 
gleich lehren  diese  Erfahrungen  aber  auch,  dass  die  von  Engelmann 
versuchte  Erklärung  der  positiven  Reizwirkungen,    wonach  es  sich 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  425 

darum  handelt,  dass  der  positive  Zuwachs,  den  in  Folge  der  Befeuch- 
tung der  Hautoberfläche  mit  dem  während  der  Nervenreizung  ent- 
leerten Drüsensecret  die  freien  Spannungen  an  der  Aussenfläche  der 
Epidermis  erhalten,  den  negativen,  von  der  Abnahme  der  Drüsenkräfte 
herrührenden,  übercorapensirt ,  nicht  zutrifft.  Dies  hat  zur  Voraus- 
setzung, dass  die  oberflächlichen  Zellenlagen  in  Folge  von  Wasserverlust 
eine  relativ  isolirende  Schicht  bilden,  „an  deren  Aussenfläche  nur  ein 
sehr  kleiner  Theil  der  durch  die  Drüsenkräfte  gesetzten  elektrischen 
Spannungen  zu  Tage  tritt".  Darum  konnte  es  sich  aber  weder  in  den 
vorerwähnten  Fällen,  noch  auch  bei  meinen  Versuchen  mit  entwässerten 
Fröschen  handeln.  Denn  ersteren  Falls  hatte  überhaupt  keine  Wasser- 
entziehung stattgefunden,  und  der  starke  anfängliche  Hautstrom  weist 
ausserdem  darauf  hin,  dass  die  Drüsen  von  vornherein  bei  dem  Zu- 
standekommen desselben  betheiligt  waren.  Letzteren  Falls  aber  konnte 
ich  selbst  bei  Lupenvergrösserung  keine  Spur  von  Absonderung  wäh- 
rend der  Reizung  an  der  Oberfläche  der  trockenen  Haut  entdecken, 
was  unter  normalen  Verhältnissen  so  leicht  ist.  Auch  bleibt  das 
Resultat  ungeändert,  wenn  die  Hautoberfläche  mit  Wasser  oder  Q,b^lo 
Kochsalzlösung  befeuchtet  Avird,  Hermann  hat  übrigens  später  den- 
selben Vorgang  der  Secretauspressung  gerade  umgekehrt  zur  Er- 
klärung der  negativen  Schwankung  des  einsteigenden  „Ruhestromes" 
der  Haut  (und  Zunge)  des  Frosches  herangezogen ,  indem  er  von  der 
Voraussetzung  ausging,  dass  die  Hautdrüsen  für  gewöhnlich  „nahezu 
als  nach  aussen  abgeschlossen,  also  ohne  galvanische  Wirkung  nach 
aussen"  gelten  können.  Wird  nun  während  der  Reizung  plötzlich 
durch  Auspressen  des  flüssigen  Inhaltes  eine  „vorher  nicht  vorhandene" 
Ableitung  des  einsteigenden  Stromes  des  Drüsenepithels  geschaffen, 
so  kommt  es  unter  der  weiteren  Voraussetzung  einer  gleichsinnigen 
elektromotorischen  Wirksamkeit  des  übrigen  Hautepithels  für  den 
Charakter  des  Reizerfolges  nur  darauf  an,  „in  welchem  Verhältniss 
die  Kraft  des  Drüsenepithels  zu  der  des  Hautepithels  steht".  Ist  die 
erstere  grösser  als  die  letztere,  so  entsteht  ein  positiver  Zuwachs 
des  Ruhestromes,  ein  „einsteigender  Secretionsstrom".  „Ist  aber  die 
Kraft  des  Drüsenepithels  kleiner  als  die  des  Hautepithels,  wie  wir  es 
für  den  Ruhezustand  der  Drüsen  vermuthen  dürfen,  so  wird  der  blosse 
mechanische  Vorgang  der  Secretauspressung  eine  Verminderung  des 
Ruhestromes  machen,  welcher  aber  sogleich  die  Vermehrung  folgt,  so- 
bald die  Nervenreizung  die  Zellen  zur  secretorischen  Thätigkeit  ge- 
bracht hat."  Die  Gründe,  welche  gegen  diese  Erklärung  sprechen, 
muss  ich  ungeachtet  der  von  Hermann  neuerdings  geltend  gemachten 
Einwände  (82)  aufrecht  erhalten  und  bin  nach  wie  vor  der  Meinung, 
dass  die  Ableitungsbedingungungen  ähnliche  wie  bei  der  Frosch- 
zunge sind. 

Eine  besondere  Berücksichtigung  verdienen  die  elektromoto- 
rischen Wirkungen  d  e  r  M  a g  e  n  s  c  h  1  e  i  m  h  a  u  t  ebensowohl  vom 
rein  theoretischen  Standpunkte  aus,  wie  mit  Rücksicht  auf  die  viel- 
umstrittene Frage  nach  der  Existenz  besonderer,  die  Drüsen  ver- 
sorgender, secretorischer  Nerven.  Es  wurde  früher  bereits  erwähnt, 
dass,  wie  zuerst  Rosenthal  (73)  fand,  die  Magenschleimhaut  des 
Frosches  in  derselben  gesetzmässigen  Weise  elektromotorisch  wirksam 
ist,  wie  die  äussere  Haut  der  Fische  und  nackten  Amphibien,  indem 
bei  Ableitung  von  der  freien  Innenfläche  und  der  Muscularis  meist 
ein  kräftiger   einsteigender  Strom   hervortritt,    dessen  Beziehungen  zu 


426  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

den  Schlauchclrüsen  R  o  s  e  n  t  h  a  1  kaum  zweifelhaft  schienen.  Dem- 
ungeachtet  wird  man  im  Hinblick  auf  die  bisher  mitgetheilten  Er- 
fahrungen noch  eine  andere  Möglichkeit  in  Betracht  ziehen  müssen, 
da  ja  das  gesammte  Oberflächenepithel  aus  Elementen  besteht,  welche 
unzweifelhaft  als  einzellige  Schleimdrüsen  in  demselben  Sinne,  wie  die 
Becherzellen  der  Rachen-  oder  Cloakenschleimhaut  oder  wie  die  Drüsen- 
zellen der  Zunge  des  Frosches  zu  betrachten  sind.  Da  diese  nun 
zweifellos  elektromotorisch  wirksam  sind ,  so  darf  man  fast  mit  Be- 
stimmtheit behaupten,  dass,  falls  überhaupt  die  eigentlichen  Magen- 
drüsen elektromotorisch  wirken,  der  beobachtete  einsteigende  Schleim- 
hautstrom sich  aus  mindestens  zwei  Componenten  zusammensetzt. 

Um  diese  Frage  womöglich  zu  entscheiden,  stellte  F.  Bohlen  (84) 
auf  meine  Veranlassung  eine  Reihe  von  Versuchen  (zunächst  am 
Frosch)  an,  deren  Ziel  es  war,  eventuell  einen  Einfluss  der  ver- 
dauenden Thätigkeit  des  Magens  auf  dessen  elektromotorische  Wir- 
kungen nachzuweisen.  Hängen  diese  letzteren  wirklich  von  den  Lab- 
drüsen ab,  so  durfte  man  erwarten,  eine  wesentliche  Aenderung  im 
nüchternen  Zustande  und  während  der  Verdauung  zu  finden.  Dies 
war  nun  allerdings  der  Fall,  aber  nicht  in  dem  erwarteten  Sinne 
einer  Verstärkung  des  „Ruhestromes"  bei  gefütterten  Thieren,  sondern 
im  Gegentheil  emer  erheblichen  Verminderung  der  Kraft.  Nur  in 
dem  Falle,  wenn  unverdauliche,  die  Schleimhaut  mechanisch 
reizende  Stoflfe,  wie  Steinchen,  Holz  u.  s.  w.,  in  den  Magen  ge- 
bracht wurden,  liess  sich  neben  einer  stark  vermehrten  Schleimab- 
sonderung eine  oft  sehr  beträchtliche  Zunahme  des  normalen,  ein- 
steigenden Stromes  nachweisen.  In  besonders  auffallendem  Grade 
zeigte  sich  dies  nach  Verabreichung  von  Bismuthum  subnitricum, 
dessen  scharfkantige  Kryställchen  als  intensiver  mechanischer  Reiz 
zu  wirken  scheinen  und  in  geradezu  specilischer  Weise  die  Schleim- 
bildung befördern.  Ist  das  unlösliche  Salz  bis  in  die  Cloake  vor- 
gedrungen, so  bewirkt  es  auch  hier  starke  Schleimabsonderung  und 
dementsprechend  Zunahme  des  einsteigenden  Stromes,  der  dann  wie 
beim  Magen  die  Scala  meist  weit  aus  dem  Gesichtsfelde  treibt.  Im 
Uebrigen  zeigt  sich  die  elektromotorische  Kraft  der  Magenschleim- 
haut in  ähnlicher  Weise  von  verschiedenen  Umständen  abhängig,  wie 
die  der  früher  besprochenen,  nur  Schleim  absondernden  Objecte. 
Dies  gilt  hinsichtlich  der  Temperatur,  der  Wasserentziehung  und 
Quellung,  der  Anaesthetica  u.  A.  Directe  elektrische  Reizung  mit 
den  rasch  wechselnden  Inductionsschlägen  eines  Schlittenapparates  be- 
wirkt erst  bei  geringem  Rollenabstand  eine  negative  Schwankung,  der 
meist  ein  positiver  Vorschlag  vorausgeht.  Die  Stärke  des  ursprüng- 
lich vorhandenen  Stromes  ist  dabei  von  wesentlicher  Bedeutung,  in- 
dem die  der  negativen  Schwankung  entsprechende  Ablenkung  so  zu 
sagen  im  directen  Verhältniss  zur  elektromotorischen  Kraft  des  Prä- 
parates steht. 

Auch  bei  Warmblütern  (Kaninchen,  Meerschweinchen,  Ratten) 
konnte  Bohlen  das  Vorhandensein  eines  starken  einsteigenden  „Ruhe- 
stromes" constatiren.  Nach  Eröffnung  der  Bauchhöhle  wurde  durch 
ein  Loch  in  der  Magenwand  eine  unpolarisirbare,  mit  einem  Thon- 
pfropf  verschlossene  Röhrenelektrode  eingeführt,  während  die  andere 
der  Aussenfläche  des  Magens  anlag.  Da  dieser  bei  Kaninchen  und 
Meerschweinchen  fast  immer  reichlich  mit  Futtermassen  gefüllt  ist,  so 
erfolgt  die  Ableitung  von  der  Schleimhaut  in  diesem  Falle  unter  Ver- 


Die  elektromotoriscben  Wirkungeu  von  Epithel-  uud  Drüseuzelleu.  427 

mittlung  des  Inhaltes,  so  dass  gewisse  Einwände  naheliegend  er- 
scheinen. Zunächst  ist  daran  zu  denken,  ob  nicht  durch  die  Er- 
wärmung der  immer  ziemlich  tief  in  das  Innere  des  Magens  vorge- 
schobenen einen  Elektrode  Anlass  zur  Entstehung  von  Thermoströmen 
gegeben  wird,  während  andererseits  durch  den  Mageninhalt  selbst 
Spannungsdifferenzen  verursacht  werden  könnten,  die  das  Resultat  der 
Beobachtung   in    unberechenbarer  Weise    zu    trüben  im  kStande  wären. 

Was  zunächst  die  erste  Frage  angeht,  so  überzeugt  man  sich 
leicht,  dass  die  durch  den  Temperaturunterschied  eventuell  ent- 
stehenden Ströme  nicht  in  Betracht  kommen  gegenüber  den  oft  ge- 
waltigen Wirkungen  des  physiologischen  Schleimhautstromes.  Die 
zweite  Frage  erledigt  sich  durch  die  Beobachtung,  dass  fast  un- 
mittelbar nach  dem  Tode  des  Thieres  ein  Absinken  der 
elektromotorischen  Kraft  eintritt,  das  bald  zu  einer 
Umkehr  des  Stromes  führt,  dann  aber  auch  dadurch,  dass  der 
Strom  in  gleicher  Weise  und  in  derselben  Intensität  hervortritt,  wenn 
man  entweder  den  Magen  ausräumt  und  ausspült  und  direct  von  der 
Oberfläche  der  Schleimhaut  ableitet,  oder  wenn  der  Magen  an  sich 
schon  leer  ist,  was  man  bei  Ratten  leicht  durch  einige  Hungertage 
erreicht. 

Wie  beim  Frosch,  schwankt  auch  beim  Warmblüter  die  Intensität 
des  Ruhestromes  individuell  innerhalb  weiter-  Grenzen.  Bisweilen,  ja 
in  der  Regel  ist  derselbe  so  stark,  dass  die  Scala  weit  aus  dem  Ge- 
sichtsfeld getrieben  wird;  in  andern  Fällen  wieder  beobachtet  man 
nur  Ablenkungen  von  wenigen  Scalentheilen.  Fast  immer  treten 
auch  hier  Oscillationen  auf,  deren  Grösse  sehr  wechselt. 

In  sehr  auffallender  Weise  beeinflusst  beim  Säugethier  eine  tiefe 
Narkose  die  Stärke  des  Stromes  der  Magenschleimhaut.  Mit  einiger 
Vorsicht  gelingt  es  bei  Anwendung  von  Chloroform  oder  Aether,  den- 
selben so  weit  zu  schwächen,  dass  die  Ablenkung  kaum  10  Scalen- 
theile  beträgt.  Es  ist  dann  immer  eine  längere  Zeit  erforderlich,  um 
den  Strom  wieder  auf  seine  frühere  Höhe  zu  bringen.  Ob  es  sich 
dabei  um  eine  directe  oder  indirect  vermittelte  Wirkung  handelt,  soll 
hier  zunächst  nicht  weiter  erörtert  werden. 

Wie  beim  Frosch,  wird  auch  beim  Warmblüter  durch  Einbringen 
von  Wismuth  (2 — 5  gr  in  Emulsion)  die  elektromotorische  Kraft  der 
Magenschleimhaut  immer  in  einer  ganz  auffälligen  Weise  gesteigert, 
womit  wieder  eine  leicht  zu  constatirende  Vermehrung  der  Schleim- 
absonderung Hand  in  Hand  geht. 

Ein  sehr  auffallendes  Ergebniss  liefert  die  k  ü  n  s  1 1  i  c  h  e  R  e  i  z  u  n  g 
des  N.  vag  US.  Während"  beim  Frosch  der  Erfolg  nur  in  einer 
schwachen  positiven  Schwankung  des  einsteigenden  Stromes  besteht, 
die  ebensowohl  am  ausgeschnittenen,  wie  an  dem  in  situ  befindlichen 
Magen  hervortritt,  entwickelt  sich  beim  Säugethier  nach 
einer  rasch  vorübergehenden  Zunahme  der  einstei- 
genden Stromkraft  regelmässig  eine  negative  Schwan- 
kung, die  so  stark  werden  kann,  dass  der  Strom  nicht 
nur  bis  auf  Null  sinkt,  sondern  sich  bisweilen  sogar 
umkehrt,  wobei  der  nunmehr  aussteigend  gewordene 
Strom  unter  Umständen  die  Stärke  des  ursprünglichen 
einsteigenden  erreichen  kann.  Es  lässt  sich  in  sehr  einfacher 
Weise  zeigen,  dass  es  sich  hier  nicht,  wie  man  zunächst  glauben 
könnte,  um  eine  Wirkung  secretorischer  Nerven  handelt,  sondern  nur 


428  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

um  eine  Folgeerscheinung  der  durch  die  Verlangsamung  resp.  den 
Stillstand  des  Herzens  bedingten  Circulationsstörung,  in  erster  Linie 
also  wohl  der  starken  Blutsdruck  Senkung.  Es  ergiebt  sich  dies 
nicht  nur  aus  der  zeitlichen  Coincidenz  der  letzteren  und  der  nega- 
tiven Schwankung,  sondern  insbesondere  aus  dem  Umstände,  dass 
alle  Momente,  welche  allgemein  oder  local  den  Blutdruck  herabsetzen, 
auch  den  einsteigenden  Magenstrom  zu  vermindern  geeignet  sind. 
Dies  gilt  in  erster  Linie  von  jeder  stärkeren  Blutentziehung  und 
natürlich  in  noch  höherem  Grade  dann,  wenn  durch  Abklemmung  der 
Aorta  zeitweise  eine  völlige  Anaemisirung  des  Magens  herbeigeführt 
wird.  Fast  unmittelbar  mit  der  beginnenden  Anaemie  sinkt  der  Strom, 
ganz  ähnlich  wie  bei  Vagusreizung,  rasch  ab,  um  sich  sofort  wieder 
zu  erheben,  wenn  der  Blutstrom  freigegeben  wird.  Es  macht  hier, 
wie  im  ersteren  Falle,  keinen  Unterschied ,  ob  die  Vagi  am  Halse 
vorher  durchschnitten  wurden  oder  nicht.  Durch  langsames,  rhyth- 
misches Comprimiren  und  Wiederfreigeben  der  Aorta,  die  man  am 
besten  am  curarisirten,  künstlich  ventilirten  Thier  durch  Resection 
einiger  Rippen  zugänglich  macht,  lassen  sich  auf  diese  Weise  analoge 
rhythmische  Schwankungen  des  Magenstromes  erzeugen.  Jede  länger 
dauernde  Anaemie  der  Schleimhaut  verzögert  sehr  erheblich  das  An- 
steigen des  Stromes,  bis  schliesslich  eine  Erholung  überhaupt  nicht 
mehr  möglich  ist.  Auch  im  Verlaufe  einer  Dyspnoe  erfolgt  nach  vor- 
übergehender Steigerung  der  normalen  elektromotorischen  Wirkung 
immer  eine  sehr  ausgeprägte  negative  Schwankung.  Bei  gleichzeitiger 
Verzeichnung  des  Blutdruckes  am  Kymographion  nach  doppelseitiger 
Vagusdurchschneidung  zeigt  sich  bald,  dass  durchaus  keine  unmittel- 
bare Coincidenz  zwischen  den  Veränderungen  des  arteriellen  Mittel- 
druckes in  der  Carotis  und  den  Stromschwankungen  besteht,  indem 
die  negative  Phase  in  der  Regel  schon  bei  Beginn  der  dyspnoischen 
Drucksteigerung  entwickelt  ist  und  auch  noch  andauert,  wenn  der 
Blutdruck  bei  Wiedereinsetzen  der  künstlichen  Athmung  schon  die 
normale  Höhe  erreicht  hat.  Die  positive  Schwankung  fällt  dagegen 
in  die  Zeit  zwischen  dem  Beginn  der  Dyspnoe  und  dem  ersten  An- 
steigen des  Druckes.  Es  ist  leicht  ersichtlich,  dass  dieses  Verhalten 
nicht  ohne  Weiteres  in  dem  Sinne  gedeutet  werden  kann,  dass  etwa 
die  fortschreitende  Venosität  des  Blutes  die  Abnahme  der  Stromkraft 
verursacht  habe,  denn  wenn  in  Folge  von  Dyspnoe  das  vasomotorische 
Centrum  gereizt  wird,  und  dabei  der  Aortendruck  ansteigt,  so  geht 
das  natürlich  Hand  in  Hand  mit  einem  Sinken  des  Druckes  in  den 
kleinen  Arterien  und  Capillaren  vieler  peripherer  Organe  und  speciell 
auch  des  Magens,  dessen  Gefässe  sich  wie  die  der  Eingeweide  über- 
haupt verengen.  Aehnliche  Erwägungen  lassen  sich  auch  hinsichtlich 
eines  andern  Versuches  geltend  machen,  bei  welchem  an  Kaninchen 
durch  Abklemmung  der  vier  zum  Kopfe  aufsteigenden  Arterien  nach 
dem  von  Sigm.  Mayer  (85)  angegebenen  Verfahren  eine  Anaemie 
des  Gehirns  und  in  Folge  dessen  eine  ausserordentlich  starke  Steige- 
rung des  Aortendruckes  herbeigeführt  wird.  Ganz  wie  im  Verlaufe 
einer  dyspnoischen  Reizung  des  vasomotorischen  Centrums  erleidet 
der  Magenstrom  auch  in  diesem  Falle  nach  einer  kurzen  positiven 
Vorschwankung  eine  sehr  bedeutende  Abnahme  und  erscheint  in 
der  Regel  schon  verkehrt  (aussteigend)  zur  Zeit,  wo 
der  Blutdruck  seine  grösste  Höhe  erreicht  hat.  Wird, 
bevor  noch  eine  dauernde  Schädigung  des  Centrums    eingetreten  war, 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  429 

die  Klemme  gelöst,  so  erreicht  der  Blutdruck  rasch  wieder  seinen 
normalen  Stand,  der  Strom  dagegen  braucht  längere  Zeit,  um  seine 
ursprüngliche  Stärke  wieder  zu  erlangen.  Lässt  man  dagegen  die 
Anaemie  so  lange  dauern,  bis  in  Folge  der  Lähmung  des  Centrums 
der  Blutdruck  „paralytischen"  Stand  erreicht  hat,  so  stellt  sich  zwar 
auch  jetzt  die  einsteigende  Richtung  des  Schleimhautstromes  allmählich 
wieder  her,  doch  erreicht  derselbe  nicht  annähernd  mehr  seine  ur- 
sprüngliche Stärke  und  bewirkt  meist  nur  eine  Ablenkung  von 
wenigen  Scalentheilen. 

Mit  Rücksicht  auf  das  Ergebniss  des  letzterwähnten  Versuches, 
bei  welchem  am  künstlich  ventilirten,  schwach  mit  Curare  vergifteten 
Thier  eine  venöse  Beschaffenheit  des  dem  Magen  zuströmenden  Blutes 
gänzlich  ausgeschlossen  erscheint,  gewinnt  die  Ansicht  an  Wahr- 
scheinlichkeit, dass  auch  bei  der  Dyspnoe  die  locale  Drucksenkung 
in  Folge  verminderter  arterieller  Blutzufuhr  die  eigentliche  Ursache 
der  negativen  Stromesschwankung  ist.  Man  durfte  dann  erwarten, 
eine  entgegengesetzte  Wirkung,  d.  h.  Zunahme  des  einsteigenden 
Stromes  zu  erzielen,  wenn  der  Druck  im  Gefässsystem  irgend  höhere 
Werthe  erreicht.  Ein  Weg  hierzu  schien  in  der  Transfusion 
grösserer  Flüssigkeitsmengen  gegeben  zu  sein.  Durch  die 
Untersuchungen  von  C  o  h  n  h  e  i  m  und  L  i  ch  t  h  e  i  m  (86)  ist  es  allerdings 
bekannt, 'dass  selbst  dann,  wenn  enorme  Qantitäten  von  0,6  *'/o  Koch- 
salzlösung in  die  Vena  jugularis  von  Kaninchen  oder  Hunden  ein- 
fliessen,  der  Blutdruck  stets  nur  unerheblich  ansteigt  und  nur  gerade 
hohe  Normalwerthe  erreicht.  „Von  einem  Ansteigen,  das  in  be- 
stimmter Beziehung  zu  den  infundirten  Flüssigkeitsmengen  gestanden 
hätte,  war  keine  Rede.  Erhebliche  Drucksteigerungen  im  Verlaufe 
eines  Versuches  fanden  sich  nur  dann,  wenn  der  Anfangsdruck  ausser- 
gewöhnliche  (niedere)  Werthe  gezeigt  hatte;  dann  hatte  die  Flüssig- 
keitsinfusion ein  rasches  Ansteigen  des  Blutdruckes  bis  zu  der  mittleren 
Druckhöhe  zur  Folge."  Dagegen  lässt  sich  bei  allen  derartigen  Ver- 
suchen eine  hochgradige  Beschleunigung  des  Blutstromes 
leicht  schon  durch  mikroskopische  Untersuchung  nachweisen.  Dazu 
kommt  noch  der  ausserordentlich  gesteigerte  Wassergehalt  des 
Blutes,  wodurch  tiefgreifende  Ernährungsstörungen  in  den  Geweben 
bedingt  werden,  die  sich  unter  Anderem  durch  das  Auftreten  reich- 
licher Transsudate  in  verschiedenen  Organen  und  insbesondere  auch 
im  Magen-Darm-Tractus  verrathen.  Aus  dem  Ersteren  entleert  sich, 
wie  schon  Cohnheim  und  Lichtheim  fanden,  nach  jeder  reich- 
licheren Infusion  von  Kochsalzlösung  eine  grosse  Flüssigkeitsmenge, 
während  die  Schleimhaut  manchmal  bis  auf  eine  Dicke  von  2  cm 
anschwillt  und  der  Darm  prall  mit  Transsudat  gefüllt  erscheint. 

Fast  regelmässig  zeigt  sich  nun  bei  Kaninchen  schon 
kurze  Zeit  nach  Beginn  der  Kochsalzinfusion  eine 
starke  Zunahme  des  einsteigenden  Magenstromes,  der 
im  weiteren  Verlaufe  des  Versuches  immer  mehr  wächst 
und  oft  ganz  ungewöhnliche  Grade  erreicht,  so  dass  nach 
vorheriger  Compensation  der  Spiegel  der  Bussole  wieder  weit  aus  dem 
Gesichtsfelde  getrieben  wird.  Sehr  bemerkenswerth  ist  die  Thatsache, 
dass  in  diesen  Fällen  ein  starker  einsteigender  Strom  noch  längere 
Zeit  nach  dem  Tode  des  Thieres  beobachtet  werden  kann,  was 
unter  normalen  Verhältnissen  niemals  der  Fall  ist. 

Auf  die  Deutung  dieser  sowie  der  anderen,    im  Vorstehenden  be- 


430  r*ie  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

sprochenen  Erfahrungen  kann  erst  später  im  Zusammenhang  näher 
eingegangen  werden.  Hier  sei  nur  hervorgehoben,  dass  die  weit- 
gehende Ueberein Stimmung,  welche  hinsichtlich  der  elektromotorischen 
Eigenschaften  der  Magenschleimhaut  des  Frosches  mit  dem  ent- 
sprechenden Verhalten  der  Zunge,  sowie  der  Rachen-  und  Cloaken- 
schleimhaut  besteht,  vor  Allem  aber  der  Umstand,  dass  alle  die 
Schleimbildung  fördernden  Momente  zu  einer  oft  ganz  ausserordent- 
lich bedeutenden  Steigerung  der  einsteigenden  Stromkraft  führen,  ganz 
entschieden  darauf  hinweisen,  dass  die  elektromotorischen  Wirkungen, 
wenn  auch  nicht  allein,  so  doch  in  erster  Linie  von  den  Schleim 
secernirenden  Elementen  des  Magens,  d.  h.  vom  Oberflächenepithel,  ab- 
hängen. Ob  und  inwieweit  auch  die  eigentlichen  Verdauungsdrüsen 
dabei  betheiligt  sind,  wird  sich  vielleicht  durch  eine  genauere  Unter- 
suchung der  den  Verdauungsvorgang  beim  Warmblüter  begleitenden 
Veränderungen  der  elektromotorischen  Wirkungen  entscheiden  lassen. 
Jedenfalls  liegt  aber  zur  Zeit  nicht  der  geringste  Grund  vor,  im  Sinne 
der  bisherigen  Auffassung  die  „Labdrüsen"  des  Magens  für  den  Strom 
der  Schleimhaut  allein  verantwortlich  zu  machen ;  es  ist  dies  um  so 
weniger  der  Fall,  als  sich  ganz  regelmässig  ein  sehr  bedeutender 
quantitativer  Unterschied  der  elektromotorischen  Wirksamkeit  des 
Magens  und  Darmes  herausstellt,  der  nicht  recht  verständlich  sein 
M-^ürde,  wenn,  wie  man  doch  wohl  voraussetzen  müsste.  die  zahlreich 
vorhandenen  Drüsen  der  Darmschleimhaut  ebenso  elektromotorisch 
wirksame  Gebilde  wären,  wie  man  dies  von  den  Magendrüsen  an- 
genommen hat.  Dagegen  wird  die  Differenz  leicht  verständlich,  wenn 
man  die  geringe  Zahl  schleimproducirender  Becherzellen  im  einen,  die 
continuirliche  Obei-flächenlage  solcher  Elemente  im  anderen  Falle  be- 
rücksichtigt. 

Die  mitgetheilten  Erfahrungen  lassen,  wie  ich  glaube,  kaum  be- 
zweifeln, dass  die  hier  besprochenen  elektromotorischen  Erscheinungen 
an  gewissen  Schleimhäuten  und  der  äusseren  Haut  nackter  Amphibien 
und  Fische  auf  die  daselbst  in  grösserer  oder  geringeer  Menge  vor- 
handenen einzelligen  und  mehrzelligen  Schleimdrüsen ,  also  in  letzter 
Instanz  auf  die  einzelne  Zelle  zu  beziehen  sind. 

Vom  Standpunkte  der  früher  entwickelten  theoretischen  Auf- 
fassung der  elektromotorischen  Wirkungen  lebender  Zellen  ist  nun 
ohne  Weiteres  klar,  dass,  wenn  es  sich  nur  allein  um  die  Erklärung 
des  „einsteigenden  Ruhestromes"  handeln  würde,  diese  leicht  und  be- 
friedigend gegeben  werden  könnte.  Jede  Becher-  oder  eigentliche 
Schleimdrüsenzelle  lässt  schon  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung 
in  der  Regel  deutlich  zwei  von  einander  wesentlich  verschiedene  Ab- 
schnitte erkennen,  einen  basalen,  kernführenden,  protoplasmatischen 
Theil  und  einen  in  der  Regel  durch  körnige  Einlagerungen  getrübten, 
nach  Behandlung  mit  Reagenzien  dagegen  hyalinen,  gequollenen 
Vordertheil,  dessen  Inhalt  unzweifelhaft  in  Mucinmetamorphose  be- 
griffen ist.  Man  darf  daher  sicher  annehmen,  dass  das  „chemische 
Geschehen"  in  beiden  Theilen  einer  und  derselben  Zelle  ein  nicht 
nur  quantitativ,  sondern  auch  qualitativ  verschiedenes  sein  wird,  wor- 
aus sich,  wie  dies  auch  schon  Hermann  ausführte,  sofort  die  dem 
„  einsteigenden "  Strom  zu  Grunde  liegende  Spannungsdifferenz 
zwischen  der  Basis  und  der  freien  Zellfläche  erklärt,  wenn  man  die 
Mucinmetamorphose  als  einen  chemischen  Process  gelten  lässt,  welcher 
mit  der  Entwicklung  negativer  Spannung  Hand   in  Hand   geht.     Dies 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  431 

gilt  natürlich  ebensowohl  für  einfach  flächenhaft  ausgebreitete  Zell- 
aggregate (Rachen-  und  Cloakenschleimhaut,  äussere  Haut  vieler 
Fische),  wie  auch  in  solchen  Fällen,  wo  es  zu  mehr  oder  weniger 
complicirt  gestalteten  Einstülpungen  (Drüsenbildung)  gekommen  ist; 
denn  es  ist  klar,  dass^  sotern  diese  Drüsen  nach  aussen  münden,  eine 
Componente  ihres  Stromes  mit  zur  Ableitung  kommen  muss,  welche 
natürlich  „einsteigend"  sein  wird,  wie  der  Strom  der  oberflächlich  ge- 
legenen Schleimzellen  selbst.  Die  in  der  Regel  erheblich  grössere 
Kraft  der  drüsenreichen  Sehleimhäute  (Zunge)  und  der  Froschhaut 
gegenüber  der  nur  mit  Becherzellen  ausgestatteten  Fischhaut,  sowie 
der  Rachen-  und  CJoakenschleimhaut  kann  wohl  nur  auf  den  oben- 
erwähnten Umstand  bezogen  werden ;  denn  es  liegt  durchaus  kein 
Grund  vor,  den  spärlich  vorhandenen  Becherzellen,  noch  weniger 
aber  den  Riffzellen  der  Froschepidermis  eine  so  wesentliche  elektro- 
motorische Wirkung  zuzumuthen.  Wenn,  wie  Hermann  hervorhebt, 
die  Form  der  Froschhautdrüsen  wenig  geeignet  erscheint,  galvanisch 
nach  aussen  zu  wirken,  so  möchte  demgegenüber  doch  zu  bemerken 
sein,  dass  die  capillare  Flüssigkeitsschichte,  welche  die  Oberfläche  der 
Haut  unter  normalen  Verhältnissen  fortdauernd  überzieht  und  wohl 
zum  grössten  Theil  als  Drüsensecret  aufzufassen  ist,  in  unmittelbarem 
Zusammenhang  mit  dem  flüssigen  Inhalt  der  Drüsen  stehen  und  so 
eine  Ableitung  vermitteln  dürfte.  Bei  der  Zunge  ist  das  wenigstens 
sicher  der  Fall.  Dass  auch  die  anderen  Gründe,  insbesondere  die 
Versuche  von  Bach  und  Oehler  an  der  geätzten  Haut,  welche 
Hermann  gegen  eine  Betheiligung  der  Drüsen  am  „Ruhestrom"  der 
Froschhaut  geltend  machte,  keineswegs  als  stichhaltig  anzusehen  sind, 
wurde  schon  früher  hervorgehoben.  Immerhin  soll  keineswegs  ge- 
läugnet  werden ,  dass  auch  das  Oberflächenepithel  eine  Componente 
des  „Ruhestromes"  liefert,  umsomehr  als  neuerdings  elektromotorische 
Wirkungen  in  völlig  drüsenloser  Haut  thatsächlich  nachgewiesen 
wurden  (88). 

Wollte  man  mit  Rücksicht  auf  die  von  Hermann  entwickelten 
Anschauungen  über  die  Ursache  der  einsteigenden  Haut-  und  Schleim- 
hautströme von  vornherein  den  Erfolg  bezeichnen,  welcher  bei  directer 
oder  indirecter  Reizung  mit  Wahrscheinlichkeit  zu  erwarten  sein  dürfte, 
so  würde  man  wohl  sicher  zunächst  eine  positive  Schwankung,  d.i. 
eine  Verstärkung  des  „Ruhestromes"  vermuthen  und  dieselbe  aus  dem 
durch  die  Reizung  verstärkten  oder  überhaupt  erst  eintretenden  Alte- 
rationsprocess  der  Drüsenepithelien  erklären.  Aus  den  vorstehenden 
Mittheilungen  geht  aber  hervor,  dass  gerade  im  Gegentheil  eine 
negative  Schwankung  um  so  ausschliesslicher  als  unmittelbare 
Folgewirkung  der  Reizung  hervortritt,  je  grösser  die  Kraft  des  ein- 
steigenden Ruhestromes  ist. 

Dass  aber  auch  dieser  letztere  selbst  durchaus  nicht  in  so  ein- 
facher Weise  erklärt  werden  kann,  wie  oben  angedeutet  wurde,  er- 
giebt  sich  ganz  überzeugend  aus  dem  früher  geschilderten  Verhalten 
bei  energischer  Abkühlung.  Es  ist  hier  ganz  besonders  zu  betonen, 
dass  in  dieser  Beziehung  die  complicirteren,  drüsenreichen  Objecte 
(Zunge)  mit  ganz  einfach  gebauten  (Rachen-  und  Cloakenschleimhaut) 
übereinstimmen,  so  dass  nicht  davon  die  Rede  sein  kann,  die  dem 
Sinne  nach  gerade  entgegengesetzten  elektromotorischen  Wirkungen 
A^or  und  nach  der  Abkühlung  etwa  auf  anatomisch  verschiedene  Ele- 
mente zu  beziehen.     Es  bleibt  somit  keine  andere  Annahme  übrig  als 


432  I^ie  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzelleu. 

die,  dass  eine  und  dieselbe  Epithelzelle,  und  zwar  in  fast 
gleichem  Grade,  bald  in  dem  einen  und  bald  in  dem  an- 
deren Sinne  elektromotorisch  zu  wirken  vermag.  In 
dieser,  wie  in  mancher  anderen  Hinsicht  unterscheiden  sich  die  in 
Rede  stehenden  Zellströme  sehr  wesentlich  von  den  an  Muskeln  und 
Nerven  zu  beobachtenden  elektrischen  Erscheinungen.  Hier  lässt  sich 
auch  durch  stärkste  Abkühlung  höchstens  eine  Schwächung,  nie  aber 
eine  Umkehr  des  Demarcationsstromes  bewirken.  Es  zeigt  dies  so 
recht,  wie  wenig  das  Galvanometer  im  Stande  ist,  uns  über  die  Qua- 
lität der  chemischen  Processe,  welche  in  beiden  Fällen  gleichsinnige 
SpannungsdifFerenzen  verursachen,  Aufschluss  zu  verschaffen.  „Nur 
über  Veränderungen  und  Verschiedenheiten  des  chemischen  Ge- 
schehens in  verschiedenen  Theilen  eines  lebendigen  Continuums,  so- 
wie über  quantitative  und  zeitliche  Verhältnisse  dieses  Geschehens" 
vermag  es  uns,  wie  Hering  treffend  bemerkt,  etwas  auszusagen. 

Mancherlei  Erscheinungen,  insbesondere  der  so  häufig  zu  beob- 
achtende Wechsel  der  Richtung  der  Ablenkungen,  welcher  sich  spontan 
ohne  jede  nachweisbare  Veranlassung,  bisweilen  sogar  in  rhythmischer 
Weise,  vollzieht,  scheinen  darauf  hinzuweisen,  dass  jede  Zelle  als 
Sitz  von  zwei  verschiedenen  chemischen  Processen  an- 
zusehen ist,  die,  gleichzeitig  vorhanden,  zur  Ent- 
stehung gegensinnigerSpannungen  führen.  Die  jeweils 
zu  beobachtende  Ablenkung  würde  dem  gemäss  immer 
nur  die  Resultirende  aus  zwei  antagonistischen  Kräften 
sein. 

Um  die  rasche  Abnahme  und  schliessliche  Umkehr  des  normalen 
einsteigenden  Stromes  der  Haut  und  Schleimhäute  in  Folge  von  Ab- 
kühlung zu  erklären,  muss  man  annehmen,  dass  einer  der  beiden 
stromerzeugenden  Processe  und  zwar  der  jenige,  welcher 
mit  der  Entwicklung  negativer  Spannung  verknüpft  ist, 
früher  und  in  höherem  Maasse  durch  die  Kälte  ge- 
schädigt wird,  als  der  andere,  so  dass  durch  das  Ueberwiegen 
des  letzteren  ein  aussteigender  Strom  bedingt  wird,  der  alsbald  wieder 
einem  einsteigenden  weicht,  sobald  durch  Wärmezufuhr  die  normalen 
Verhältnisse  wieder  hergestellt  werden.  Auch  anderen  Einwirkungen 
gegenüber  scheint  sich  der  „negative  Process"  viel  weniger  resistent 
zu  verhalten,  als  der  „positive".  So  gelingt  es,  wie  gezeigt  wurde, 
auch  durch  vorsichtige  Wasserentziehung,  den  einsteigenden  Strom 
umzukehren ;  dagegen  scheint  Sauerstoffmangel,  sowie  Behandlung  mit 
CO2  oder  anaesthetisch  wirkenden  Substanzen  (Alkohol,  Aether, 
Chloroform)  beide  stromerzeugenden  Processe  in  gleicher  Weise  zu 
schädigen  und  endlich  zu  vernichten.  Auch  in  dieser  Beziehung  muss 
auf  das  ganz  abweichende  Verhalten  der  Muskel-  und  Nervenströme 
hingewiesen  werden,  welche  unter  den  zuletzt  erwähnten  Bedingungen 
erst  verhältnissmässig  spät  eine  Verminderung  erfahren. 

Ueber  die  Natur  der  angenommenen  chemischen  Vorgänge  in  den 
secretorischen  Zellen  etwas  Näheres  auszusagen,  ist  zur  Zeit  nicht 
wohl  möglich,  obschon  es  ja  nahe  liegt,  an  die  Absonderung  des 
Wassers  einerseits  und  der  organischen,  specifischen  Secretbestand- 
theile  andererseits  zu  denken.  Zu  Gunsten  dieser  Ansicht  Hesse  sich 
vielleicht  auch  noch  geltend  machen,  dass  der  einsteigende  Cloaken- 
strom  immer  dann  am  stärksten  gefunden  wird,  wenn  die  Schleimhaut 
mit  reichlichem,  dünnflüssigem  Secret  bedeckt  ist,  und  dass  überhaupt 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  433 

die  negative  Spannung  der  Oberfläche  im  Allgemeinen  mit  steigendem 
Wassergehalte  zunimmt,  bei  Wasserentziehung  dagegen  sich  rasch 
vermindert. 

In  ganz  unerwarteter  Weise  wird  diese  Anschauung  auch  durch 
die  bereits  besprochenen  Versuche  am  Säugethiermagen  gestützt. 

In  diesem  Sinne  wenigstens  dürfte  wohl  der  so  ausserordentlich 
auffallende  Einfluss  von  Blutdruckänderungen  auf  die  Grösse  der 
elektromotorischen  Kraft  der  Magenschleimhaut  zu  deuten  sein.  Dass 
die  Wasserabsonderung  drüsiger  Organe,  abgesehen  von  anderen 
Momenten,  auch  wesentlich  mit  vom  jeweiligen  Drucke  abhängt,  kann 
nicht  bezweifelt  werden,  und  so  könnte  es  höchstens  überraschen, 
dass  beim  Frosch  weder  Vagusreizung,  noch  auch  das  gänzliche  Auf- 
hören der  Circulation  eine  ähnliche  Wirkung  auf  die  elektromotori- 
schen Eigenschaften  des  Magens  ausübt,  wie  es  erfahrungsgemäss  beim 
Säugethier  der  Fall  ist,  wo  schon  ein  verhältnissmässig  geringfügiges 
Absinken  des  Druckes  in  den  Magengefässen  zu  einer  sehr  aus- 
geprägten negativen  Schwankung  des  einsteigenden  Stromes  führt. 
Indessen  wird  dies  begreiflich,  wenn  man  die  ungleich  grössere  Wider- 
standsfähigkeit der  Froschgewebe  gegen  alle  wie  immer  gearteten 
Schädlichkeiten  berücksichtigt.  Werden  daher  in  Folge  einer  Ver- 
minderung des  Druckes  in  den  Gefässen  der  Magenschleimhaut  die 
Bedingungen  für  die  Wasserabsonderung  ungünstiger,  so  muss  eine 
negative  Schwankung  erfolgen,  wenn,  wie  man  anzunehmen  berechtigt 
ist,  die  jeweils  vorhandene  Spannungsdifferenz  als  Resultirende  von 
zwei  antagonistischen,  elektromotorischen  Vorgängen  aufgefasst  werden 
kann,  deren  einer  überwiegt,  sobald  überhaupt  ein  Strom  vorhanden 
ist.  Darauf  scheint  unter  Anderem  auch  der  Umstand  hinzuweisen, 
dass  unter  normalen  Verhältnissen  nach  dem  Tode  des  Thieres,  wie 
immer  auch  derselbe  erfolgen  mag,  ein  rasches  Absinken  und  darauf- 
folgende Umkehr  des  Stromes  die  Regel  ist.  Es  scheint  hiernach  die 
Abnahme  des  Blutdruckes  beim  Warmblüter  ähnlich  zu  wirken,  wie 
starke  Abkühlung  auf  die  Schleimdrüsen  des  Kaltblüters,  indem,  wenn 
dieser  Ausdruck  gestattet  ist,  der  negative  Process  in  beiden  Fällen 
rascher  abnimmt,  als  der  entgegengesetzte  positive. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  erklären  sich  nun  nicht  nur  leicht 
die  übereinstimmenden  Wirkungen  der  Vagusreizung,  stärkerer  Blut- 
entziehungen, sowie  aller  eine  Druckverminderung  bedingenden  Gifte 
(Amylnitrit,  Pilocarpin,  Chloral,  Curare  u.  s.  w.),  sondern  auch  der 
spätere  Erfolg  dyspnoischer  oder  anaemischer  Reizung  des  vasomotori- 
schen Hirncentrums. 

Eine  Aveitere  Bestätigung  der  hier  vertretenen  Anschauungen  be- 
züglich der  eigentlichen  Ursache  des  normalen  einsteigenden  Magen- 
stromes ist  ferner  durch  das  Resultat  der  Kochsalzinfusionen  gegeben. 
Hier  lässt  sich  die  unter  Umständen  enorm  verstärkte  Wasserabsonde- 
rung von  Seite  der  Magenschleimhaut  direct  beobachten,  und  wenn 
dementsprechend  ungeachtet  der  hochgradigen  Verdünnung  des  Blutes 
und  der  dadurch  veranlassten  schlechteren  Ernährung  der  Gewebe 
die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Schleimhaut  im  Sinne  des 
normalen  einsteigenden  Stromes  in  so  gewaltigem  Grade  zunehmen, 
wie  dies  wiederholt  in  solchen  Fällen  beobachtet  wird,  so  wird  man 
sich  füglich  nicht  wohl  eine  andere  Vorstellung  bilden  können,  als  die, 
dass  die  beobachtete  Spannungsdiflferenz  und  die  verstärkte  Wasser- 
absonderung in  einer  ursächlichen  Beziehung  zu  einander  stehen. 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  28 


434  I^iß  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

Ganz  analoge  Anschauungen  wurden  schon  früher  von  W.  M. 
Bayliss  und  J.  R.  Bradford  bezüglich  der  Abhängigkeit  der 
elektromotorischen  Wirkungen  der  Speicheldrüsen  von  der  Beschaffen- 
heit des  Secretes  geäussert  (87). 

Der  bereits  von  Hermann  und  Luchsinger  (79)  versuchte 
Nachweis  von  Secretionsströmen  an  den  genannten  Drüsen  scheint 
Bayliss  und  Bradford  gelungen  zu  sein.  Sie  fanden  während  der 
Ruhe  die  Oberfläche  der  blossgelegten  Submaxillardrüse  des  Hundes 
in  der  Regel  negativ  gegen  den  Hilus.  Die  elektromotorische  Kraft 
dieses  „Ruhestromes",  welcher  nicht  etwa  der  verletzten  Umgebung 
(Muskeln) ,  sondern  hauptsächlich  der  Drüse  selbst  zuzuschreiben  ist, 
wechselt  innerhalb  weiter  Grenzen  bei  verschiedenen  Individuen,  wie 
auch  bei  einem  und  demselben  Thier  zu  verschiedenen  Zeiten.  Es 
scheint,  dass  wechselnde  Zustände  der  Drüse  dabei  die  wesentlichste 
Rolle  spielen.  Dafür  spricht  der  Umstand,  dass  nicht  nur  eine  vorher- 
gehende Reizung  der  Drüsennerven,  sondern  auch  Atropinvergiftung 
zu  dauernden  Veränderungen  des  Ruhestromes  führt.  Die  Richtung 
des  letzteren  ist  bei  der  Submaxillaris  der  Katze  viel  wechselnder, 
und  zwar  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  entgegengesetzt,  wie  beim  Hunde 
(Oberfläche  positiv  zum  Hilus).  Bei  der  weitgehenden  morphologi- 
schen Uebereinstimmung  der  gleichnamigen  Speicheldrüsen  des  Hundes 
und  der  Katze  ist  diese  Thatsache  um  so  auffallender,  als  der  „Ruhe- 
strom" der  zu  den  „serösen"  Drüsen  gehörigen  Parotis  des  Hundes 
hinsichtlich  seiner  Richtung  mit  dem  der  Submaxillaris  desselben 
Thieres  meist  übereinstimmt. 

Es  wird  hierdurch  wahrscheinlich,  dass  für  die  zu  beobachtenden 
Spannungsdifferenzen  functionelle  Verschiedenheiten  der  Drüsen  von 
maassgebender  Bedeutung  sind.  In  gleichem  Sinne  spricht  auch  das 
Verhalten  der  „Actionsströme"  bei  Reizung  der  secretorischen  Nerven. 

Nach  Compensation  des  Ruhestromes  bewirkt  Reizung  der  Chorda- 
fasern beim  Hunde  stets  ein  Negativwerden  der  äusseren  Oberfläche 
der  Submaxillardrüse.  Sehr  oft  ist  der  Verlauf  dieser  Schwankung 
durch  eine  gegensinnige,  zweite  Phase  unterbrochen,  die  sich  bisweilen 
nur  durch  eine  Verzögerung  oder  einen  vorübergehenden  Stillstand 
der  Ablenkung  verräth  und  manchmal  durch  die  erste,  wesentlich 
stärkere  Hauptphase  ganz  verdeckt  wird.  Die  Ablenkung  beginnt 
nach  einem  kurzen  Latenzstadium ,  ehe  noch  Secret  im  Gange  er- 
scheint, und  bildet  bei  schwacher  Reizung  überhaupt  den  einzigen 
Erfolg. 

Auch  Reizung  des  Halssympathicus  hat  beim  Hunde  stets  elektro- 
motorische Wirkungen  der  Unterkieferdrüse  zur  Folge,  die  aber  gegen- 
über den  eben  besprochenen  durch  geringere  Stärke,  grössere  Latenz- 
periode  und  der  Hauptphase  bei  Chordareizung  entgegengesetztes 
Zeichen  der  einsinnigen  Schwankung  (Oberfläche  positiv  zum  Hilus) 
ausgezeichnet  sind. 

An  der  gleichnamigen  Drüse  der  Katze  tritt  bei  Chordareizung 
umgekehrt  wie  beim  Hunde  die  zweite  Phase  (Oberfläche  positiv  zum 
Hilus)  in  der  Regel  stärker  hervor.  Es  bestehen  nun  nach  Bayliss 
und  Bradford  unverkennbar  nahe  Beziehitngen  zwischen  der  Stärke 
der  beiden  Phasen  und  der  Beschaffenheit  des  von  der  Drüse  ge- 
lieferten Secretes,  indem  sich  regelmässig  zeigt,  dass  die  erste  Phase 
bei  reichlichem  wässerigen  Secret,  die  zweite  dagegen  bei  spärlicher, 
dabei  aber  sehr  mucinreicher  Absonderung  überwiegt,  beziehungsweise 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  435 

allein  hervortritt.  Die  beobachteten  Unterschiede  im  elektrischen  Ver- 
halten der  Submaxillardrüse  des  Hundes  und  der  Katze  würden  sich 
daher  durch  die  in  der  That  vorhandenen  Verschiedenheiten  des  in 
beiden  Fällen  bei  Chordareizung  gelieferten  Secretes  erklären  lassen, 
das  beim  Hunde  stets  wässeriger  ist,  als  bei  der  Katze. 

Während  beim  Hunde  die  Sympathicusreizung  nur  sehr  geringe 
Mengen  eines  äusserst  zähen  Secretes  liefert,  ist  der  Sympathicus- 
speichel  der  Katze  reichlich  und  dünnflüssig.  Dem  entsprechend  sind 
die  elektrischen  Veränderungen  ersterenfalls  gering  und  im  Sinne 
der  zweiten  Phase,  letzterenfalls  dagegen  viel  bedeutender  und  meist 
sogar  die  Wirkung  der  Chordareizung  übertreffend.  Eine  wesentliche 
Mitbetheiligung  der  gleichzeitigen  vasomotorischen  Wirkungen  an  den 
beobachteten  galvanischen  Erscheinungen  halten  Bayliss  und  Brad- 
ford  durch  die  Atropinvergiftung  für  ausgeschlossen,  welche  die 
Gefässveränderungen  nicht  beeinträchtigt,  während  die  secretorischen 
und  elektrischen  Wirkungen  dadurch  meist  rasch  vernichtet  oder  doch 
wesentlich  beeinflusst  werden. 

Erwähnenswerth  ist  ferner  auch  noch  folgende  Beobachtung  der 
genannten  englischen  Forscher  an  der  Submaxillaris  und  Parotis  des 
Hundes.  In  der  Regel  bewirkt  Reizung  des  Sympathicus  keine  merk- 
liche Absonderung  der  letztgenannten  Drüse  und  liefert  auch  nur 
wenige  Tropfen  eines  zähen  Submaxillarspeichels.  Unter  gewissen 
Umständen  jedoch,  besonders  nach  oft  wiederholter  Reizung  der 
cerebralen  Drüsennerven,  tritt  eine  reichlichere  Secretion  ein  und  dem- 
entsprechend ändern  sich  auch  sofort  die  elektromotorischen  Wir- 
kungen. Während  in  der  Regel  die  Oberfläche  beider  Drüsen  durch 
Sympathicusreizung  positiv  zum  Hilus  wird,  tritt  in  den  erwähnten 
Ausnahmefällen  eine  gegensinnige  Schwankung  hervor,  welche  bei  der 
Reizung  der  cerebralen  Drüsennerven  allein  auftritt  oder  dort  als 
erste  Phase  bedeutend  überwiegt.  Bradford  ist  daher  geneigt,  die 
ersterwähnte  elektrische  Veränderung  (zweite  Phase)  mit  der  Bildung 
der  organischen  Bestandtheile  des  Speichels  in  ursächlichen  Zusammen- 
hang zu  bringen,  während  die  gegensinnige,  meist  stärkere  Schwankung 
durch  die  Vorgänge  der  Wasserabsonderung  bedingt  wäre. 

Sollten  die  hier  vertretenen  Anschauungen  sich  als  richtig  er- 
weisen, so  würden  natürlich  sowohl  ein-  wie  aussteigende  „Ströme" 
der  Drüsen  als  „Secretionsströme",  d.  h.  als  galvanischer  Ausdruck 
einer  fortdauernden  chemischen  Thätigkeit  absondernder  Zellen,  an- 
zusehen sein,  und  wir  hätten  es  bei  der  Reizung  nicht  mit  dem 
Hervortreten  einer  neuen,  aus  anderer  Quelle  oder  anderen  Elementen 
stammenden  elektromotorischen  Kraft  zu  thun,  sondern  lediglich  mit 
Veränderungen  der  galvanischen  Wirkungen  derselben 
Elemente,  welche  a  u  c  h  w  ä  h  r  e  n  d  d  e  r  „  R  u  h  e  "  a  1  s  U  r  s  a  c  h  e 
der  bestehenden  S  pannungsdifferenz  zu  betrachten 
sind. 

Eine  Erklärung  der  thatsächlich  zu  beobachtenden  Reizerfolge 
bietet  nun  mit  Rücksicht  auf  die  vorstehenden  Auseinandersetzungen 
selbst  in  solchen  Fällen  keine  erheblichen  Schwierigkeiten,  wo  es  sich 
um  complicirte  doppel-  oder  selbst  mehrsinnige  Schwankungen  handelt. 
Nehmen  wir  zunächst  den  einfachsten  Fall,  dass,  wie  etwa  an  der 
Froschzunge,  von  vornherein  ein  sehr  starker  einsteigender  Strom  be- 
steht, so  würde  offenbar  eine  Verstärkung,  d.  i.  eine  positive 
Schwankung  desselben  nur  unter  der  Voraussetzung  zu  erwarten  sein, 

28* 


436  Die  elektromotorisclien  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

dass  bei  der  directen  oder  indirecten  Heizung  der  „negative  Process" 
in  höherem  Maasse  gesteigert  würde,  als  der  „positive",  was  im  ge- 
gebenen Falle,  wo  jener  überhaupt  schon  so  stark  überwiegt,  nicht 
gerade  wahrscheinlich  ist;  vielmehr  erscheint  es  durchaus  verständlich, 
wenn  derjenige  Vorgang,  welcher  von  vornherein  viel  schwächer  ent- 
wickelt ist,  durch  die  Reizung  mehr  gefördert  wird,  als  der  andere. 
Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  wird  es  daher  auch  begreiflich,  dass 
eine  „negative  Schwankung"  um  so  ausschliesslicher  und  in  um 
so  höherem  Grade  als  Reizerfolg  hervortritt,  je  stärker  der  ursprüng- 
liche einsteigende  Strom  ist.  Wenn  sich  dann  oft  noch  eine  positive 
Nach  Schwankung  bemerkbar  macht,  so  ist  auch  diese  Erscheinung 
leicht  erklärlich,  sobald  man  berücksichtigt,  dass  erfahrungsgemäss  die 
positiven,  auf  einer  Verstärkung  des  „negativen  Processes"  beruhenden 
Wirkungen  immer  viel  träger  wieder  abklingen,  als  die  gegensinnigen 
Reizerfolge,  so  dass  zur  Zeit,  wo  diese  ihren  normalen  Werth  bereits 
wieder  erreicht  haben,  jene  vermöge  ihrer  grösseren  Beständigkeit 
einen  positiven  Zuwachs  des  ursprünglichen  Stromes  bedingen. 

Die  Bedingungen  für  das  Hervortreten  einer  positiven  Schwankung 
während  der  Reizung,  wobei  dieselbe  entweder  für  sich  allein  oder 
als  Vorschlag  zu  einer  darauffolgenden  negativen  Schwankung  auftritt, 
werden  sich  dem  Gesagten  zu  Folge  im  Allgemeinen  um  so  günstiger 
gestalten,  je  schwächer  die  gleichsinnige,  einsteigende  Stromkraft  von 
vornherein  entwickelt  ist,  je  weniger  daher  der  „negative  Process" 
überwiegt.  Denn  um  so  eher  wird  offenbar  Aussicht  vorhanden  sein, 
diesen  letzteren  durch  die  Reizung  so  weit  zu  verstärken,  dass  er 
seinerseits  ins  Uebergewicht  kommt.  Dabei  spielt  übrigens  (bei 
tetanisirender  Reizung)  die  Stromstärke  insofern  eine  Avesentliche 
Rolle,  als,  wie  es  scheint,  der  zur  Entwicklung  negativer  Spannung 
an  der  Oberfläche  führende  Process  unter  sonst  gleichen  Umständen 
leichter  angeregt  wird,  als  der  gegensinnige  Vorgang,  so  dass,  wie 
insbesondere  an  der  Rachen-  und  Cloakenschleimhaut,  bei  schwächerer 
Reizung  positive,  bei  stärkerer  doppelsinnige  oder  rein  negative 
Wirkungen  beobachtet  werden.  Im  Einzelnen  kann  sich  natürlich 
ein  doppelsinniger  Reizerfolg  in  Bezug  auf  die  Aufeinanderfolge  der 
beiden  Phasen  sehr  wechselnd  gestalten.  Während  an  der  Cloake  bei 
nicht  zu  stark  entwickeltem  einsteigenden  Schleimhautstrom  eine  positive 
Schwankung  der  stärkeren  negativen  in  der  Regel  als  Vorschlag  vor- 
angeht, wird  dagegen  unter  gleichen  Umständen  bei  der  Rachen- 
schleimhaut die  negative  Schwankug  sehr  oft  von  einer  positiven 
unterbrochen.  Es  ist  klar,  dass  auch  bei  völliger  Gleichheit  der 
beiden  angenommenen  stromerzeugenden  Processe,  wobei  dann  nach 
aussen  ableitbare  Ströme  gänzlich  fehlen,  die  Möglichkeit  des  Zu- 
standekommens eines  „Secretionsstromes"  vorliegt,  vorausgesetzt,  dass 
der  eine  oder  andere  Vorgang  bei  der  Reizung  ins  Uebergewicht 
kommt.  Da  dies  mit  Rücksicht  aijf  das  oben  erwähnte  Verhalten  für 
den  „negativen  Process"  eher  zu  erwarten  ist  als  für  den  positiven, 
so  erscheint  es  begreiflich,  dass  dann  bei  nicht  allzu  starker  Reizung 
in  der  Regel  positive  Ablenkungen,  im  Sinne  eines  einsteigenden 
Stromes,  beobachtet  werden.  Häufig  fehlt  aber  auch  jeder  galvanische 
Reizerfolg,  woraus  natürlich  keineswegs  auch  auf  das  Fehlen 
secretorischer,  durch  die  Reizung  angeregter  Processe  geschlossen 
werden  darf,  indem  nur  ein  bestimmtes  physikalisches  Symptom  der- 
selben im  gleichen  Falle  nicht   zum  Ausdruck    kommt.     Dass    endlich 


Die  elekti-omotori sehen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen.  437 

bei  Vorhandensein  eines  „verkehrten",  aussteigenden  Stromes  als  Er- 
folg der  Reizung  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  Ab- 
lenkungen des  Magneten  im  Sinne  eines  einsteigenden  Stromes,  das 
ist :  negative  Schwankung  des  bestehenden  Stromes,  beobachtet  werden, 
erscheint  nach  dem  Gesagten  fast  selbstverständlich,  Avenigstens  gilt 
dies  fast  ausnahmslos  bei  schwächerer  Reizung,  während  starke  Reize 
auch  unter  diesen  Umständen  noch  eine  positive  Schwankung  bedingen 
können. 

Viel  weniger  genau  als  die  elektromotorischen  Wirkungen  der 
ein-  und  mehrzelligen  Schleimdrüsen  sind  jene  der  Hautdrüsen 
(Schweissdrüsen)  der  Säugethiere  und  des  Menschen  gekannt.  Seit 
Du  Bois-Reymond  seinen  berühmten,  zunächst  auf  Actionsströme 
des  Muskels  bezogenen  Versuch  am  Menschen  anstellte,  wobei  von 
beiden  Händen  oder  Füssen  symmetrisch  abgeleitet  und  dann  durch 
willkürliche  Anstrengung  des  einen  Armes  oder  Beines  eine  Ablenkung 
der  Magnetnadel  des  Multiplicators  bewirkt  wurde,  lag  die  Vermuthung 
nahe,  dass  es  sich  dabei  um  die  Entwicklung  einer  einsteigenden 
Stromkraft  der  Haut  in  Folge  der  Reizung  handeln  möchte.  Durch 
die  Untersuchungen  von  L.  Hermann  darf  es  als  bewiesen  gelten, 
dass  musculäre  Actionsströme  dabei  sicher  keine  Rolle  spielen,  und 
könnte  noch  ein  Zweifel  in  dieser  Hinsicht  bestehen,  so  würde  er 
durch  die  Versuche  von  Hermann  und  Luchsinger  über 
Secretionsströme  der  Haut  bei  der  Katze  endgültig  widerlegt.  Wie 
früher  schon  hervorgehoben  wurde,  kommt  es  bei  dem  Du  Bois-Rey- 
mond 'sehen  Versuche  keineswegs  auf  das  Vorhandensein  des 
Secretes,  sondern  vielmehr  auf  den  See retionsvor gang  selbst 
an,  wobei  nicht  einmal  Schweiss  sichtbar  hervorzuquellen  braucht. 

Ganz  ebenso  verhält  es  sich  nun  auch  mit  den  Pfotenballen  der 
Katze,  welche  reichlich  Schweissdrüsen  enthalten.  Bei  symmetrischer 
Ableitung  von  den  beiden  Plantarballen  zeigt  sich  in  der  Regel  kein 
irgend  erheblicher  Strom,  der  jedoch  alsbald  entsteht,  wenn  auf  der 
einen  Seite  der  N.  ischiadicus  durchschnitten  Avird.  Derselbe  ist  im 
Thier  stets  von  der  normalen  zur  gelähmten  Seite  gerichtet  (ein- 
steigend). Nach  Durchschneidung  des  zweiten  Ischiadicus  verschwindet 
die  Spannungsdifferenz  fast  gänzlich,  tritt  aber  sofort  wieder  hervor, 
wenn  nach  vorgängiger  Curarisirung  der  eine  oder  andere  Nerv  künst- 
lich gereizt  wird.  Dass  es  sich  hier  wirklich  um  einen  Secretionsstrom 
handelt,  lässt  sich  leicht  durch  Vergiftung  mit  Atropin  erweisen,  wobei 
zunächst  die  Latenzzeit  der  galvanischen  Wirkung  erheblich  zunimmt, 
während  die  Intensität  des  Stromes  immer  geringer  und  bald  Null  wird. 
Auch  bei  Ableitung  von  der  unversehrten  Oberfläche  blossgelegter 
Muskeln  und  der  unverletzten  Epidermis  tritt  der  einsteigende  „Ruhe- 
strom" hervor,  dessen  Kraft  durch  Abtragung  der  Epithelschicht  sinkt. 
„Pilocarpininjection  in  eine  Pfote  bewirkt  bei  symmetrischer  Ableitung 
von  beiden  Pfoten  —  stets  einen  kräftigen  Strom  von  der  Injections- 
seite  zur  andern,  verstärkt  also  den  einsteigenden  Hautstrom".  Auch 
Reizung  eines  centralen  Ischiadicusendes  bewirkt  reflektorisch  einen 
Strom  von  der  ungereizten  zur  gereizten  Seite,  deren  Drüsen  durch 
die  Nervendurchschneidung  vom  Centralorgan  abgetrennt  sind.  Ebenso 
wirkt  centrale  Reizung  des  Cruralis  (Hermann).  Offenbar  bildet 
der  Versuch  mit  symmetrischer  Ableitung  von  einer  gelähmten  und 
einer  nicht  gelähmten  Pfote  einer  in  Folge  der  Fesselung  durch  cen- 
trale Erregung  oder  im  Wärmekasten  befindlichen,  schwitzenden  Katze 


438  Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

SO  ZU  sagen  ein  Gegenstück  zu  dem  Du  Bois-Reymond'  sehen  Ver- 
such am  Menschen,  dessen  Deutung  ersterenfalls  nicht  dem  geringsten 
Zweifel  unterliegen  kann,  indem  Curare  trotz  aufgehobener  Muskel- 
contraction  den  Strom  bestehen  lässt,  während  Atropin  ungeachtet  der 
Fortdauer  der  letzteren  die  Spannungsdifferenz  beseitigt. 

Auch  an  der  Haut  der  Oberlippe  und  Nase  vom  Rind,  sowie  an 
der  Nase  von  Schaaf  und  Ziege  lässt  sich  immer  eine  sehr  deutliche 
und  nachweislich  unter  Nerveneinfluss  stehende  Secretion  beobachten, 
als  deren  Sitz  wahrscheinlich  die  daselbst  vorhandenen,  grossen,  traubigen 
Drüsen  zu  betrachten  sind.  Reizung  des  Vago-Sympathicus  bewirkt 
stets  das  Auftreten,  beziehungsweise  Steigerung  der  Secretion.  Ebenso 
verhält  es  sich  auch  mit  der  haarlosen  Rüsselscheibe  des  Schweines, 
an  welcher  bei  Reizung  des  peripheren  (Kopf-)Endes  des  durch- 
schnittenen Sympathicus  an  der  betreffenden  Seite  grosse  Secrettropfen 
aus  den  Mündungen  der  hier  vorhandenen  Rüsseldrüssen  hervor- 
quellen. Bei  symmetrischer  Ableitung  von  zwei  Punkten  der  Ober- 
fläche zeigt  sich  dann  ein  starker  einsteigender  Secretionsstrom, 
dessen  Kraft  bis  zu  0,07  Dan.  ansteigen  kann.  Wesentlich  schwächer 
sind  die  Spannungsdifferenzen  an  der  Nase  der  Ziegen  und  noch  ge- 
ringer bei  Hunden  oder  Katzen,  Avas  mit  der  verhältnissmässig  spär- 
lichen Secretion  im  letzteren  Falle  zusammenhängt. 


LITERATUR. 

,    ^      „   .     .„  ,     /  Untersuchungen  über  thierische  Elektricität.     I  und  II. 

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(  Gesammelte  Abhandlungen.     1  und  11. 

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8.  Kühne,  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1859  und  1860. 

4.  E.  Hering,  Beiträge   zur   allgem.   Nerven-  und  Muskelphysiologie.     I.    (Sitzungs- 

berichte der  Wiener  Academie.     LXXIX.     III.  Abth.     1879.) 

5.  Kühne,  Untersuchungen  aus  dem  physiolog.  Institute  der  Universität  Heidelberg. 

III.  Bd.     Heft  1/2. 

6.  Biedermann,  Beiträge  zur  allgem.  Nerven-  und  Muskelphysiologie.  VHI.  (Sitzungs- 

berichte der  Wiener  Academie.     LXXXV.     III.  Abth.     1872.) 

7.  Engelmann,  Pflügers  Arch.     26.  Bd.     p.  97  ff. 

o    ^      ^    •     -r,  ^     i  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1867.     p.  417. 

8.  Du  Bois-Reymond,  {^  ,x     .n      ji  tt  ooo 

( tresammelte  Abhandlungen.     11.     p.  ZoZ. 

9.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.    4.  Bd.     p.  163. 

10. ,  Untersuch,  zur  Physiol.  der  Muskeln  und  Nerven.     1868.     III.     p.  6. 

11.  Du  Bois-Reymond,  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1863  und  1867. 
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12.  Engelmann,  {  „...  .     ,       ^k    v>a  iia      1077 

(Pflugers  Arch.     15.  Bd.     p.  116.     1877. 

13.  Bernstein,    Untersuchungen    aus    dem    physiol.    Institut    der    Universität    Halle. 

I.  Heft.     1888. 

14.  E.  Hering,  „Lotos".     N.  F.     IX.  Bd.     p,  60  ff. 

15.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     15.  Bd.     1877.     p.  191. 

16.  W.  Biedermann,    Beiträge    zur    allgem.    Nerven-    und    Muskelphysiologie.     V. 

(Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     LXXXI.     UI.  Abth.     1880.) 

17.  P.  S.  Lioeke,  Pflügers  Arch.     54.  Bd.     p.  501. 

18.  W.  Biedermann,   Beiträge  zur  allgem.  Nei-ven-  und  Muskelphysiologie.     XVIII. 

(Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     XCH.     III.  Abth.     1885.) 


n.     VI. 

1856. 

p.  528. 

3.  Reihe.     XV 

p.  27. 

Derde 

reeks. 

t.  I.     p. 

1878. 
II. 

Die  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzelleu.  439 

19.  W.  Biedermann,    Beiträge    zur  allgem.  Nerven-   und  Muskelphysiologie.     XXII. 

(Sitzungsberichte  der  Wiener  Acaderaie.     XCVII.     III.  Abth.     1888.) 

20.  Bernstein,  Untersuchungen  über  den  Erregungsvorgang  im  Nerven-  und  Muskel- 

systeme.    1871. 

21.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     Bd.  49.     p.  539. 

„„    fHelmholtz,  Monatsber.  der  Berliner  Academie.     1854.     p.  329. 
\  Du  Bols-Reymond,  Gesammelte  Abhandlungen.     II.     p.  496. 

23.  A.  V.  Bezold,  Monatsber.  der  Berliner  Academie.     1861.  p.  1023  und  1862.  p.  199. 

24.  Burdon-Sand  er  son,  Physiolog.  Centralblatt.     IV.     1890.     p.   186. 

25.  Engelmann,  lieber  die  Quelle  der  Muskelkraft.     1893. 

26.  Lee,  Du  Bois  Arch.     1887.     p.  210. 

27.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     XVI.     p.  194. 

28.  Sigm.  Mayer,  Eeicherts  Arch.     1868.     p.  655. 

29.  Holmgren,  Reicherts  Arch.     1871.     p.  237. 

30.  Mathias,  Pflügers  Arch.     53.  Bd. 

31.  Kölliker  und  H.  Müller,  Würzburger  Verhandlungen. 

32.  Meissner  und  Cohn,  Zeitschr.  für  rat.  Med.     1862. 

33.  Donders,  Onderzoek.  physiol.  Labor.  Utrecht.     1872.     Derde  reeks.     t.  I.     p.  246 

bis  255. 
.34.  Engelmann,  Pflügers  Arch.     XVII.     1878.     p.  68flf, 

35.  Marehand,  Pflügers  Arch.     XVI.     1877  und  XVII. 

36.  Burdon-Sanderson  und  Page,  Journ.  of  Physiol. 

37.  Marey,  Compt.  rend.     83.     1876.     p.  975. 

38.  Burdon-Sanderson  und  Page,  Journ.  of  Physiol.     IV.     1884. 
(  Waller,  Journ.  of  Physiol.     VIII.     1887.     p.  231. 

\  Waller  und  Reid,  Philosoph.  Transact.     178.     B.     p.  235. 

IProceed.  of  the  Royal  Society.     Vol.  50. 
Internat.   Monatsschr.    für    Anat.    und   Physiol.     IX.     7. 
1892.     p.  256. 

41.  Aug.  Waller,  Philosoph.  Transact.    Vol.  180.     1889.     B.     p.  169. 

42.  Martius,  Du  Bois  Arch.     1883.     p.  587. 

.        (  Du  Bois  Arch.     1883.     p.  584. 
4d.  Loven,    ^  ^^^^^    Centralblatt.     1881.     No.   7. 

44.  Delsaux,  Traveaux  du  Labor,  de  L.  Fredericq.     Tom.  IV.     1892. 

45.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     XIV.     p.  504. 

46.  Bernstein  und  Sehoenlein,  Sitzungsber.  der  naturforsch.  Ges.  zu  Halle.     1881. 

47.  Bernstein,  Untersuchungen  aus  dem  physiol.  Laboratorium  der  Universität  Halle. 

Heft  IL     p.   189. 

48.  Wedenski,  Du  Bois  Arch.     1883.     p.  316. 

49.  Pano  und  Payod,  Arch.  Italiennes  de  Biol.     IX.     p.  12. 

50.  Kühne,    Unters,    aus  dem  physiolog.  Labor,  der  Univers.  Heidelberg.     III.     p.  7 

und  88.     Anmerkung. 

51.  Biedermann,    Beiträge    zur    allgem.    Nerven-    und    Muskelphysiologie.     XVIII. 

(Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     XCII.     III.  Abth.     1885.) 

52.  V.  UexküU,  Zeitschr.  für  Biologie.     28.     N.  F.     X. 

53.  Sehoenlein,  Du  Bois  Arch.     1883.     p.  347. 

54.  Morat  und  Toussaint,  Arch.  de  Physiol.  normale  et  pathol.     1877.     p.  156. 

55.  J.  J.  Priedrieh,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     LXXII.    III.  Abth. 

56.  Bernstein  und  Sehoenlein,  Du  Bois  Arch.     1883.     p.  315. 

57.  Kühne,  Zeitschr.  für  Biologie.     Bd.  XXIV  und  XXVL 

58.  W.  Biedermann,    Beiträge  zur  allgem.  Nerven-  und  Muskelphysiologie.     XXIII. 

(Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     XCVII.     1888.     III.  Abth.) 

59.  Langendorff,  Du  Bois  Arch.     1891.     p.  480. 

60.  Gaskell,    Beiträge   zur   Physiologie.     C.  Ludwig   zu    seinem    70.  Geburtstage    ge- 

widmet von  seinen  Schülern.     1877.     p.  114. 


440  Diß  elektromotorischen  Wirkungen  von  Epithel-  und  Drüsenzellen. 

61.  M.  liöwit,  Pflügers  Arch.     29.  Bd.     1882.     p.  503. 

62.  Wedenski,  Centralhlatt  für  med.  Wiss.     1884.     p.  1. 

63.  Taljantzeff,  Du  Bois  Arch.     1886.     Suppl.     p.  31. 

64.  Gaskell,  Joura.  of  Physiol.     VUI.     p.  412. 

65.  W.  Biedermann,  Beiträge  zur  allgem.  Nerven-  und  Muskelphysiologie.     XX.  und 

XXI.  Mittheilung.     (Sitzungsberichte    der   Wiener   Academie.     XCV.     III.  Abth. 
1887  und  XCVIII.     1888.) 

66.  Fano,    Di   alcuni   rapporti   fra   le   proprieta  contrattili  e   le  ellettriche  degli  atri 

cardiaci.     Mantova  1887. 

67.  B.   Du  Bois-Reymond,  Ueber  secundär-elektromotor.  Erscheinungen  an  Muskeln, 

Nerven  und  elektr.  Organen.     (Sitzungsber.  der  Berliner  Academie.     XVI.    1888 
und  vom  19.  Dec.  1889  und  vom  12.  Juni  1890.) 

{Beiträge  zur  allgem.  Nerven-  und  Muskelphysiologie.     XII  und  XIII. 
(Sitzungsberichte   der  Wiener   Acad.     LXXXVIII.     IH.  Abth. 
1883.     p.  415  und  446.) 
Pflügers  Arch.     Bd.  58.     p.  133. 

69.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     Bd.  33.     1884.     p.  103  0". 

70.  W.  Biedermann,   Beiträge   zur  allgem.  Nerven-  und  Muskelphysiologie.     XVIII. 

(Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     XCII.     III.  Abth.     1885.     p.  142.) 

71.  —  — ,   Beiträge   zur   allgem.   Nerven-   und    Muskelphysiologie.     XVII.     (Sitzungs- 

berichte der  Wiener  Academie.     XCI.     III.  Abth.    '1885.     p.  29  fi".) 

72.  Engelmann,  Pflügers  Arch.     VI.     p.  146. 

.,.     I  Eeicherts  Arch.     1865. 

73.  Kosenthal,  <  p^,.tg^ijj.jttg  ^^^  pj^yg^j,      ^g^Q     p   545^ 

74.  Roeber,  Reicherts  Arch.     1869.     p.  633. 

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76.  W.  Biedermann,  Pflügers  Arch.     54.     (Ueber  Zellströme.) 

77.  Engelmann,  Centralhlatt  für  med.  Wiss.     1868.     No.  30. 

78.  P.  E,  Schnitze,  Arch.  für  raikr.  Anat.     III.     1867. 

79.  Hermann  und  Luchsinger,  Pflügers  Arch.     XVIII.     p.  460. 

80.  "W.  Biedermann,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     LXXXVI.     III.  Abth. 

1882  und  XCIV.     III.  Abth.     1886. 

81.  Bach  und  Oehler,  Pflügers  Arch.     XXII.     p.  33. 

82.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     17.  und  58.  Bd. 

83.  E.  W.  Reid  und  A.  G.  Tolputt,  Journ.  of  Physiol.     XVI.     p.  203. 

84.  F.  Bohlen,  Pflügers  Arch.     57.  Bd.  und  Centralbl.  für  Physiol.     1894.     25.  Ausg. 

85.  Sigm.  Mayer,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Academie.     LXXEII.     HI.  Abth.    1876. 

86.  Cohnheim  und  Lichtheim,  Virchows  Arch.     69.  Bd. 

IW.  M.  Bayliss   und   J.  R.  Bradford,    Internat.   Monatsschrift  für  Anat.   und 
Physiol.     IV.     3.  4. 
J.  R.  Bradford,  Journ.  of  Physiol.     VIII.     2.     p.  86. 
88.  W.  Reid,  Journ.  of  Physiol.     XVI.     1894.     p.  360. 


F.  Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 


Dass  es  gelingt,  unter  Umständen  von  gewissen  Pflanzentheilen 
elektrische  Ströme  abzuleiten,  ist  eine  schon  lange  bekannte  Thatsache, 
und  schon  B  e  q  u  e  r  e  1 ,  Wa  r  t  m  a  n  n  und  B  u  ff  verdanken  wir  hierüber 
beachtenswerthe  Angaben.  Der  Letztere  (1)  glaubte,  aus  seinen  Ver- 
suchen, die  mit  verhältnissmässig  unvollkommenen  Hülfsmitteln  ange- 
stellt waren,  den  Satz  ableiten  zu  dürfen,  „dass  die  Wurzeln  und  alle 
inneren,  mit  Luft  erfüllten  Theile  der  Pflanzen  sich  in  einem  dauernd 
negativ  elektrischen  Zustand  belinden,  während  die  feuchten  oder  be- 
feuchteten Aussenflächen  der  frischen  Zweige,  Blätter,  Blumen  und 
Früchte  dauernd  positiv  elektrisch  sind".  Zur  Erklärung  Avird  darauf 
hingewiesen,  dass  durch  die  Epidermis  der  Pflanze  eine  scharfe  Grenze 
zwischen  dem  äusseren  befeuchtenden  Wasser  und  den  Salze,  Säuren 
und  dergleichen  enthaltenden  Pflanzensäften  gegeben  sei,  an  welcher 
eine  Elektrizitätserregung  stattflndet,  so  dass  in  einem  ableitenden 
Bogen  ein  Strom  in  der  thatsächlich  zu  beobachtenden  Richtung  fliesst. 
An  querdurchschnittenen  Blättern  von  Vallisneria  spiralis  fand 
auch  Jürgen sen  (2)  die  unversehrte  Oberfläche  positiv  zum  Quer- 
schnitt, wie  er  meint,  in  Folge  der  chemischen  Verschiedenheit  des 
blossliegenden  Zellsaftes  und  der  Blattoberfläche.  Dieselbe  That- 
sache der  Negativität  von  Verletzungsstellen  (künstlichen  Quer-  oder 
Längsschnitten)  constatirte  in  der  Folge  L.  Hermann  (3)  an  leben- 
digen Stengeln  der  verschiedensten  Pflanzen.  Stets  verhielt  sich  der 
Querschnitt  oder  künstliche  Längsschnitt  deutlich  negativ  gegen  die 
unversehrte  Oberfläche.  Die  Litensität  dieser  Ströme  zeigt  sich  „im 
Allgemeinen,  dem  Feuchtigkeitsgehalt  der  Pflanze  und  der  dadurch 
bedingten  Leitungsfähigkeit  entsprechend,  sehr  verschieden;  von  Ab- 
lenkungen von  20  sc.  bis  zum  Verschwinden  der  ganzen  Scala  aus  dem 
Gesichtsfelde.  Die  stärksten  Ströme  pflegen  die  Pilzstiele  zu  zeigen". 
Die  elektromotorische  Kraft  schwankt  zwischen  O.Ol  und  0.08  Dan.  und 
ist  daher  von  etwa  gleicher  Ordnung  mit  der  des  Muskelstromes, 
obschon  die  Ablenkungen  oft  wegen  des  grossen  Widerstandes  nur 
gering  sind.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  nimmt  der  Längsquerschnitt- 
strom  durchschnittener  Pflanzenstengel  sehr  rasch  an  Stärke  ab  und  kann 
sich  eventuell  umkehren,  was  Hermann,  der  diese  Ströme  nach 
Analogie  des  Muskel-  und  Nervenstromes  durch  den  unmittelbaren 
Contact   chemisch   veränderten    (absterbenden)    und  normalen  Plasmas 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  29 


442  I^ie  elektromotorischen  Wirkung-eu  pflanzlicher  Zellen. 

der  vei- letzten  Zellen  erklärt,  darauf  zurückführt,  dass  diese  letzteren 
für  sich  allein  absterben  (wie  nach  Engelmann  auch  glatte  Muskel- 
zellen). „Gingen  die  eröffneten  oder  sonstigen  verletzten  protoplas- 
matischen Röhren  continuirlich  durch  die  ganze  Länge  des  Gebildes, 
wie  die  Muskel-  und  Nervenfasern  durch  den  Muskel  und  Nerven, 
so  würde  das  Absterben  immer  weiter  fortkriechen,  und  es  müsste  sich 
der  Querschnitt  fortdauernd  negativ  gegen  die  Oberfläche  der  Pflanze 
verhalten.  In  Wahrheit  sind  aber  meist  die  Protoplasmabehälter  kurze, 
wenn  auch  in  die  Länge  gestreckte  Zellen,  und  so  erklärt  es  sich, 
dass  die  Negativität  eines  Querschnittes  vergänglich  ist,  ein  w^eiter 
hinein   angelegter  Querschnitt   aber   neue  Wirksamkeit  zeigt."     (1.  c.) 

Von  wesentlich  grösserem  Interesse  sind  die  elektrischen  Wirkungen, 
welche  unter  Umständen  an  gewissen  Pflanzentheilen  in  völlig  un- 
versehrtem Zustande  hervortreten.  Hier  rauss  vor  Allem  Burdon- 
Sander  so  n  genannt  werden,  dessen  ausgezeichnete  Untersuchungen 
über  das  reizbare  Blatt  von  D  i  o  n  a  e  a  m  u  s  c  i  p  u  1  a  weitaus  das  Beste 
sind,  was  bisher  auf  diesem  Gebiete  geleistet  worden  ist.  Wir  werden 
uns  im  Folgenden  noch  ausführlich  mit  den  betreftenden  Beobachtungen 
zu  beschäftigen  haben,  hier  mag  es  vorläufig  genügen,  darauf  hinzu- 
weisen, dass  auch  an  dem  gänzlich  unversehrten  Blatt  insbesondere 
zwischen  Ober-  und  Unterseite  Spannungsdifi'erenzen  auftreten,  welche 
ausserdem  bei  den  Reizbewegungen  ganz  gesetzmässige  Veränderungen 
erleiden. 

A.  J.  Kunkel  (4),  welcher  unter  der  Leitung  von  Sachs 
arbeitete,  glaubte,  sich  an  den  grünen  Laubblättern  der  verschiedensten 
Pflanzen  davon  überzeugt  zu  haben ,  dass  sich  bei  Ableitung  mittels 
unpolarisierbarer  Elektroden  unter  sonst  gleichen  Bedingungen  die 
Blatt  nerven  positiv  gegen  die  grüne  Blattfläche  ver- 
halten. „Der  starke  Mittelnerv  ist  schwach  positiv  wirksam  gegen  die 
dünneren  Seitennerven :  an  letzteren  sind  die  Vereinigungspunkte  zweier 
Nerven  stark  positiv  wirksame  Stellen."  Das  Zeichen  dieser  Spannungs- 
differenzen würde  aber  nach  Kunkel  ganz  wesentlich  von  dem 
jeweiligen  Imbibitionszustand  der  Ableitungsstellen  abhängen,  indem 
sich  jede,  etwa  d  urch  Aufbringen  eines  Tropfens  längere 
Zeit  benetzt  gewesene  Stelle  (anfänglich)  stets  positiv 
gegen  die  nur  kürzereZeit  benetzte  verhält,  was  schon  bei 
ungleichzeitigem  Anlegen  der  ableitenden  Elektroden  hervortritt.  Schienen 
schon  diese  Erfahrungen  für  die  grosse  Bedeutung  der  Wasserver- 
theilung  resp.  Wasserverschiebung  in  den  pflanzlichen  Theilen  bezüglich 
des  Zustandekommens  elektromotorischer  Wirkungen  zu  sprechen ,  so 
war  dies  in  noch  höherem  Grade  der  Fall  bei  Kunkel s  Versuchen 
über  den  Einfluss  von  Verletzungen  und  Biegungen  auf  die  Entwicklung 
von  Spannungsdifferenzen.  Bei  Ableitung  von  2  an  sich  stromlosen 
Punkten  eines  grünen  Stengels  entsteht  jedesmal  eine  Spannungs- 
differenz, w^enn  in  der  Nähe  der  einen  Elektrode  eine  Verletzung 
(Schnitt,  Quetschung)  angebracht  wird,  und  zAvar  verhält  sich  die 
betreffende  Elektrode  negativ  zur  anderen.  Dieselbe  Erscheinung  tritt 
beim  Abbiegen  des  Stengels  ein,  wenn  dieses  plötzlich  mit  einem  Ruck 
geschieht.  Gleichmässig  langsames  Biegen  beeinflusst  das  Galvanometer 
dagegen  in  keiner  Weise.  Durch  umgeschlungeue  Fäden  war  jede 
Verschiebung  der  Elektroden  an  dem  Stengel  verhindert. 

Die  theoretische  Verwerthung  dieser  später  auch  von  0.  Haake 
(5)   bestätigten  Erfahrungen,    welche,    wie   seinerzeit   die  von  Grün- 


Die  elektromotorischen  Wirkung'en  pflanzlicher  Zellen.  443 

hagen  aufgestellte  Theorie  der  thierisch  elektrischen  Erscheinungen, 
von  den  sogenannten  Diaphragmaströmen  ausgeht,  hat  sich  in  der  Folge 
als  ebensowenig  stichhaltig  erwiesen  wie  diese.  Es  zeigt  sich  eben  auch 
hier  wieder  sehr  klar,  dass  es  zur  Erklärung  einer  physiologischen 
Erscheinung  nicht  genügt,  ein  einzelnes  rein  physikalisches  Merkmal 
für  sich  in  den  Vordergrund  zu  stellen ,  sondern  dass  man  vor  Allem 
im  Auge  zu  behalten  hat,  dass  es  sich  um  Leb  enserscheinungen 
handelt,  deren  eigentliches  Miesen  durch  ein  complicirtes  Zusammen- 
wirken physikalischer  und  chemischer  Kräfte  bedingt  wird. 

Kunkel  glaubte,  ein  allgemein  anwendbares  und  in  allen  Fällen 
geltendes  Erklärungsprincip  der  an  pflanzlichen  Theilen  unter  Um- 
ständen zu  beobachtenden  elektrischen  Erscheinungen  in  dem  Auftreten 
von  „Wa sserver Schiebungen"  gefunden  zu  haben.  Was  zunächst 
seinen  Grundversuch  mit  grünen  Blättern  anlangt,  so  wird  als  Ursache 
der  beobachteten  Spannungsdifferenzen  der  verschiedene  Widerstand 
der  abgeleiteten  Gewebepartien  gegen  das  von  den  feuchten  Elektroden 
her  eindringende  Wasser  bezeichnet,  wodurch  es  eben  zu  den  erforder- 
lichen „Wasserverschiebungen"  kommen  soll.  In  der  That  ist  die 
verschiedene  Benetzbarkeit  der  Rippen  und  des  Mesophylls  eine  an 
vielen  Blättern  leicht  zu  constatirende  Thatsache.  Aber  man  kann 
dieselbe,  wie  Haake  bemerkt,  sofort  aufheben,  wenn  man  das  Blatt 
feucht  abwischt  oder  gar  mit  einer  bleibenden  Wasserschicht  überzieht, . 
ohne  dass  sich  dann  etwas  im  elektrischen  Verhalten 
änderte.  Noch  viel  beweisender  ist  das  gleichartige  Verhalten  an- 
dauernd untergetauchter  Blätter  (Vallisneria,  Nitella),  „von  denen 
man,  selbst  wenn  sie  unter  Wasser  liegen  (bei  V2 — 1  mm  Dicke  der 
Wasserschichte),  regelmässige  Ströme  ableiten  kann".  Ferner  ist  nach 
Haake  auch  zu  beachten,  „dass  das  normale,  elektrische  Verhalten 
nur  am  lebenden  Blatte  sich  zeigt.  Ein  durch  momentanes  Ein- 
tauchen in  siedendes  Wasser  getödtetes  Blatt  zeigt,  wenn  es  etwa 
1 — 2  Tage  im  feuchten  Räume  aufbewahrt  wird,  keinen  Ausschlag, 
ebensowenig  wie  ein  freiwillig  abgestorbenes,  und  doch  sind  die  Be- 
dingungen für  quantitativ  verschiedene  Wasserbewegung  immer  noch 
vorhanden". 

Auch  gegen  die  Beweiskraft  des  „Tropfenversuches"  wendet 
Haake  ein,  dass  derselbe  auch  dann  gelingt,  wenn  er  an  einem 
Blatte  angestellt  wird,  dessen  Gewebe  durch  längeres  Einlegen  in 
Wasser  völlig  imbibirt  sind,  „sodass  gar  kein  Anlass  zur  Wasserauf- 
nahme von  den  Elektroden  her  vorliegt". 

Als  die  für  seine  Ansicht  beweisendste  Thatsache  bezeichnet 
Kunkel  den  Umstand,  dass  nur  bei  raschem,  nicht  bei r langsamem 
Abbiegen  eines  grünen  Stengels  elektromotorische  Wirkungen  hervor- 
treten. Ohne  indessen  leugnen  zu  wollen,  dass  bei  rein  mechanisch 
bedingten  raschen  und  genügend  ausgiebigen  Wasserverschiebungen  in 
todten  oder  lebenden  Pflanzentheilen  elektrische  Erscheinungen  auftreten 
können,  muss  doch  entschieden  dagegen  Verwahrung  eingelegt  werden, 
dass  solche  unter  allen  Umständen  bloss  auf  Wasserbewegung 
beruhen.  Die  später  mitzutheilenden  Versuche  an  reizbaren  Blättern 
beweisen  dies  zur  Genüge.  Vor  Allem  handelt  es  sich  um  die  Er- 
klärung der  in  manchen  Fällen  hervortretenden  dauernden  und 
oft  sehr  beträchtlichen  Spannungsdifferenzen  an  gewissen  Pflanzen- 
organen, deren  Deutung  von  dem  erwähnten  Standpunkte  aus  auch 
Kunkel  unüberwindliche  Schwierigkeiten  bereitet.    Denn  man  wird  es 

29* 


444 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 


wohl  kaum  als  eine  ausreichende  oder  auch  nur  wahrscheinliche  Er- 
klärung gelten  lassen  wollen,  wenn  der  starke  „Ruhestrom",  welchen 
Kunkel  an  dem  Mimosenblatte  bei  Ableitung  einerseits  vom  oberen 
Umfang  des  an  der  Basis  des  gemeinsamen  (primären)  Blattstieles  ge- 
legenen reizbaren  Wulstes  und  andererseits  von  einem  der  beiden 
starken  Stacheln  neben  der  Insertionsstelle  des  Blattes  erhielt  (bis  zu 
0,1  Dan.)  darauf  zurückgeführt  wird,  dass  man  an  Gebilden,  „die  be- 
sonders zu  dem  Zwecke  gebaut  sind,  ihren  Wasserbestand  rasch  zu 
variiren,  schnell  grosse  Mengen  aufzunehmen  und  wieder  abzugeben, 
schon  in  der  Ruhestellung  bei  Benetzung  gewisser  Theile  ausgiebige 
Diffusionsströrae  einleitet".  Freilich  fanden  aber  gerade  die  für  die 
theoretische  Auffassung  wichtigsten,  ja  schliesslich  allein  maass- 
gebenden  elektromotorischen  Wirkungen  reizbarer  Pflanzentheile 
von  Seite  K  unk  eis  nur  wenig  Beachtung,  und  sind  seine  diesbezüg- 
lichen Angaben  durch  die  späteren  Arbeiten  Burdon- Sandersons 
Aveit  überholt. 

Aber  auch  die  von  Kunkel  an  den  verschiedensten  grünen 
Blättern  beobachteten,  an  sich  geringfügigeren  SpannungsdifFerenzen 
müssen    nach   den  Untersuchungen    von  Haake   als    vitale,    physio- 


Fio;.  137. 


logische  Vorgänge  aufgefasst  Averden.  Es  ergab. sich  vor  Allem  eine 
überaus  deutliche  Abhängigkeit  der  in  Rede  stehenden 
elektromotorischen  Wi  r  ku  n  g  e  n  v o  n  d  e  r  A  t  h m  u  n  g.  Werden 
geeignete  Blätter  oder  Stengel  in  ein  tubulirtes  Glasrohr  eingeschlossen, 
in  welches  einerseits  die  Elektroden  hereinragen  und  das  andererseits 
die  Durchleitung  von  Gasen  gestattet  (Fig.  137),  so  zeigte  sich  stets 
eine  rasche  Verminderung  der  ursprünglich  vorhandenen  Spannungs- 
differenz zwischen  der  Mittelrippe  (dicht  bei  deren  Uebergang  in  den 
Stiel)  und  dem  Mesophyll  etwa  in  der  Mitte  des  Blattes ,  wenn  der 
Sauerstoff  völlig  durch  feuchten  Wasserstoff  verdrängt  wurde.  Bei 
neuerlicher  Zuleitung  von  Luft  erreicht  der  Strom  bald  wieder  an- 
nähernd seine  frühere  Stärke.  Ebenso  verhielten  sich  Keimpflänzchen 
von  Bis  um  sativum  bei  Ableitung  vom  Wurzelhals  und  Stengel,  an 
welchen  vorher  schon  Hermann  (3)  einen  völlig  regelmässigen  und 
kräftigen  Strom  gefunden  hatte,  indem  sich  das  Würzelchen  negativ 
gegen  den  Körper  (die  Cotyledonen)  verhält.  (Die  Kraft  geht  oft  bis 
über  ^lio  Dan.)  Johannes  Müller-Hettlingen  (3),  welcher  auf 
Veranlassung  JHermanns  diese  Erscheinung  näher  untersuchte,  for- 
mulirte  folgendes  Gesetz:  „Denkt  man  sich  die  eine  der  ab- 
leitenden Elektroden  beständig  an  den  Cotyledonen  an- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  445 

gelegt,  Wcälirend  man  mit  der  anderen  successive  von 
den  übrigen  Stellen  des  Keimlings  hypercotyl  oder 
hypo  CO  tyl  ableitet,  so  tritt  immer  eine  elektromotorische 
Kraft  aufj  die  sich  herleitet  von  der  Elektro positivität 
der  Samenschalen  resp.  Cotyledonen  gegenüber  der 
Elektro negativität  aller  übrigen  T heile  des  pflanzlichen 
Keimlings,  und  zwar  ist  diese  Kraft  um  so  geringer,  je 
näher  den  Co  tyledonen  die  wandernde  Elektro  de  hyper- 
oder  hypocotyl  angelegt  wird."  Die  beistehende  Fig.  138  giebt 
eine  schematische  Uebersicht  dieses  Verhaltens. 

Unter  Umständen  beobachtete  Haake  bei  Unterbrechung  der 
Athmung  nicht  nur  Abnahme,  sondern  Umkehr  oder  auch  Zunahme 
des  ursprünglichen  Stromes.  „Auch  Pflanzentheile,  die  von  Natur  aus 
eine  bedeutende  Athmungsdifferenz  zeigen,  geben  aussergewöhnlich 
starke  Ströme,  so  vor  Allem  die  Sexualorgane  der  BUlthe ,  z.  B.  bei 
Ableitung  vom  Pistill  oder  einer  Anthere  und  dem  Blüthenstengel." 
In  solchen  Fällen  beobachtete  Haake  am  Capillarelektrometer  Aus- 
schläge von  50 — 80  sc,  während  an  grünen  Blättern  der  Erfolg  sich 
im  Ganzen  um  15 — 20  sc.  herum  bewegte. 

Relativ  sehr  beträchtliche  Spannungsdifferenzen  treten  auch  dann 
auf,  wenn  die  Athmungsthätigkeit  eines  Pflanzentheils  nur  im  Bereich 
der  einen  ableitenden  Elektrode  durch  Abschluss  der  Sauerstoffzufuhr 
gehemmt  wird,  wie  dies  Haake  dadurch  erzielte,  dass  er  Keimpflänzchen 
von  P  i  s  u  m  oder  F  a  b  a  in  ein  zweitheiliges  Rohr  einschloss  und  nur  in 
der  einen  Hälfte  die  Luft  durch  Wasserstoff  verdrängte  (vergl.  Fig.  137). 
In  einem  gegebenen  Falle  stieg  an  einem  14  Tage  alten  Pisum- Keim- 
ling bei  Ableitung  vom  Wurzelhals  und  der  Stengelspitze  der  anfäng- 
liche Ausschlag  von  +  5  sc.  nach  Verdrängung  des  Sauerstoffs  an  der 
Wurzel  und  unteren  Stengelparthie  auf  -f-  57  sc,  um  bei  erneutem 
Luftzutritt  wieder  auf  -\-  14  sc  zu  sinken.  Aehnlich  wirkt  bei  un- 
gehindertem Luftzutritt  jede  etwa  durch  Abkühlung  oder  Temperatur- 
steigerung zu  erzielende  locale  Aenderung  der  Athmungsintensität  eines 
Pflanzentheiles  im  Bereich  der  einen  oder  anderen  Elektrode. 

Auch  der  Assimilationsprocess  scheint  nach  Haakes  Versuchen 
die  Grösse  der  an  grünen  Blättern  .zu  beobachtenden  Spannungs- 
diff^renzen  mitzubedingen ,  indem  sich  bei  Sistirung  der  Kohlensäure- 
zersetzung durch  Verdunkelung  regelmässig  eine  Verminderung  des 
anfänglichen  Stromes  geltend  machte.  „Stellt  man  die  normalen  Be- 
dingungen wieder  her  (durch  Belichtung),  so  tritt  dem  Sinne  nach 
die  frühere  Spannung  wieder  ein;  aber  an  Grösse  fast  niemals,  sie 
bleibt  entweder  kleiner  oder  wird  grösser."  Chlorophyllfreie  Blätter 
(Blumenblätter)  zeigen  bei  Abschluss  des  Lichtes  keinerlei  Veränderungen 
in  ihrem  elektrischen  Verhalten.  Als  wesentlichstes  und  wichtigstes 
Ergebniss  der  mitgetheilten  Untersuchungen  dürfte  wohl  die  Thatsache 
zu  iDezeichnen  sein,  dass  zwischen  Zellen  oder  richtiger  Zell- 
territorien  eines  Pflanzenorganes  oder  einer  ganzen 
Pflanze,  welche  sich,  ganz  allgemein  ausgedrückt,  hin- 
sichtlich ihres  Chemismus  verschieden  verhalten,  elek- 
trische Spannung sdiff er enzen  auftreten. 

Ein  wesentlich  erhöhtes  Interesse  gewinnen  die  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle,  wenigstens  im  Vergleich  mit  den  entsprechenden  Wirkungen 
thierischer  Theile,  recht  geringfügigen  elektromotorischen  Erscheinungen 
durch  die  viel  auffälligeren  Phänomene  an  reiz- 


446 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 


baren  Pflanzen,  deren  Untersuchung  mit  der  schönen  Entdeckung- 
Burdon- Sanders  ons  beginnt,  dass  die  Reizbewegungen  des 
Blattes  von  Dionaea  muscipula  von  höchst  charakteristischen 
Veränderungen  der  ursprünglich  zwischen  Ober-  und  Unterseite  vor- 
handenen Spannungsdifferenzen  begleitet  sind  (6). 

Ehe  jedoch  hierauf  näher  eingegangen  werden  kann,  erscheint  es 
erforderlich.  Einiges  über  Bau  und  Struktur  der  betreffenden  Pflanzen- 

theile,  sowie  über  die 


\ 


u^< 


Art  und  Ursache  der 
Reizbewegungen  vor- 
auszuschicken. 

Von  dem  Gesammt- 
habitus  der  Dionaea 
muscipula  mag  bei- 
stehende Fig.  139  eine 
Anschauung  geben, 
welche  zugleich  zeigt, 
in  welcher  Weise  H. 
M  u  n  k ,  dem  wir  eine 
ausführliche  Arbeit 
über  die  elektromoto- 
rischen Wirkungen 
und  die  Reizbewegun- 
gen dieser  Pflanze  ver- 
danken (7),  die  zur 
Untersuchung  benütz- 
ten Exemplare  setzen 
Hess,  um  von  den 
Blättern  in  bequemer 
Weise  ableiten  zu 
können. 

Das  Blatt,  dessen 
Länge  im  ausgewach- 
senen Zustande  zwi- 
schen 2  und  12  Ctm. 
schwankt,  zerfällt  sei- 
nen äusseren  Umrissen 
nach  in  3  Abschnitte : 
den  geflügelten  Blatt- 
stiel, den  ungeflügelten  Theil  desselben  und  die  Blattspreite.  Die 
letztere  besteht  aus  zwei  scharf  getrennten  Hälften,  die  sich  wie  die 
Flügel  des  Blattstieles  an  die  stark  nach  unten  vorgewölbte  Mittel- 
rippe anschliessen.  Am  Rande  verlängert  sich  die  Blattspreite  in 
ziemlich  regelmässigen  Zwischenräumen  in  borstenartige  Fortsätze, 
welche  beim  Zuklappen  des  Blattes  alternirend  in  einander  greifen. 
Auf  der  Oberfläche  jeder  Blatthälfte  stehen  drei  kleine  Haare,  von 
denen  eines  nahe  der  Mittelrippe,  die  beiden  andern  etwas  mehr  nach 
aussen  stehen  und  hauptsächlich  der  Sitz  der  Reizbarkeit  sind. 
Ausserdem  ist  die  innere  Oberfläche  des  Blattes  mit  zahlreichen 
scheibenförmigen  Drüschen  ausgestattet.  „Während  die  Flügel  des 
Blattstiels  aus  einem  weichen,  schnell  welkenden  Gewebe  bestehen, 
zeigen  die  Blattflügel  eine  knorpelartig  spröde,  saftige,  resistente 
Beschaffenheit."     Von  dem  das  Centrum  der  Mittelrippe  durchziehenden 


Fig.  139. 


Die  elektromotorisclien  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 


447 


Fibrovasalstrang  laufen  in  ziemlieh  gleichen 
aus ,  welche  in  der  Nähe  des  Blattrandes  ei 
bilden  (Fig.  140).  Das  Parenchym 
der  Blattflügel  besteht  durchweg 
aus  länglichen  oder  langgestreckten 
Zellen,  deren  Längsaxen  parallel 
den  Hauptsträngen  der  Seitennerven 
und  senkrecht  zur  Mittelrippe  ver- 
laufen (Fig.  141),  und  deren  Quer- 
schnitt (am  Längsschnitt  des  Blattes) 
kreisförmig  erscheint.  Zwischen  den 
einzelnen  Zellen  bestehen  grosse 
Intercellularlücken. 

Un!er  der  Epidermis  der  Blatt- 
oberfläche, deren  länglich  6eckige 
Zellen  reichlich  Stärke  enthalten, 
liegt  eine  Schicht  etwas  kürzerer, 
dünnwandiger  Zellen,  auf  Avelche  un- 
gefähr 2 — 3  Lagen  grosserer,  langer, 
cylindrischer  Zellen  folgen,  welche 
fast  gar  keinen  geformten  Inhalt 
zeigen  (Fig.  141).  „Die  innerste 
Schicht  dieser  Zellen  stösst  an  die 
langen,  schmalen  Zellen,  welche 
die  Fibrovasalstränge  in  den  Blatt- 
flügeln begleiten.  Unterhalb  des 
Gefässbündels  liegen  2 — 3  Reihen 
Zellen  von  derselben  Beschaff'enheit 
wie  die  eben  beschriebenen,  dann 
3 — 4  Schichten  bedeutend  schma- 
lerer, kleinerer,    chlorophyllreicher 


Abständen  Seitennerven 
1  zierliches  Bogensystem 


Seitenansicht  eines  Blattes  von 
,      die     Nervatur     darstellend. 
(Nach  F.  Kurtz.) 


Fig.  141. 

Querschnitt    durch     die 

Lamina   eines  Dionaea- 

hlattes      parallel       den 

Seitennerven. 

(Nach  F.  Kurtz.) 


m^ 


Zellen,  und  auf  diese  folgt   schliesslich   die  Epidermis   der  Blattunter- 
seite" (F.  Kurtz). 

An  der  Stelle,    wo  ein  sensibles  Haar  entspringt,  durchbricht  das 
Blattparenchym  die  Epidermis  der  Blattinnenfläche.     Die  der  Epidermis 


448  Diß  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 

zunächst  liegenden  Parenchymzellen  sind  hier  kleiner  und  bilden 
einen,  aus  4 — 5  Etagen  von  polygonalen  Zellen  bestehenden,  im  Quer- 
schnitt kreisrunden  Cylinder,  der  sich  über  die  Blattoberfläche  erhebt 
und  ungefähr  ^/lo  der  Gesammtlänge  des  Haares  beträgt.  Auf  dem 
Cylinder  erhebt  sich  das  eigentliche,  schlank  kegelförmige  Haar,  welches 
kein  Gefässbündel  enthält  und  aus  langen,  schmalen  Zellen  besteht. 
(F.  Kurtz  8.) 

Legt  man  unpolarisirbare  Elektroden  an  die  entgegengesetzten 
Enden  eines  frischen  unversehrten  D  i  o  n  a  e  a  -  Blattes  an,  so  lässt  sich, 
wie  zuerst  Burd  on- Sander  son  fand,  mittels  eines  eingeschalteten 
Galvanometers  ganz  regelmässig  ein  Strom  constatiren,  Avelcher  im 
Blatte  selbst  vom  Stielende  (nach  H.  Munk  dem  vorderen  Ende) 
zu  dem  vom  Stiel  abgewendeten  (hinteren)  Ende  fliesst  (Sand  er - 
sons  „normaler  Blattstrom").  Bei  Ableitung  von  symmetrisch  ge- 
legenen Punkten  der  äusseren  (unteren)  Fläche  der  Blattflügel  fand 
Munk  entweder  keinen  Strom  oder  nur  ganz  schwache,  regellose 
Wirkungen.  Denkt  man  sich  in  der  Fläche  eines  Blattflügels  Linien 
senkrecht  auf  die  Mittelrippe  gezogen  („Querlinien"  Munk),  so 
verhält  sich  jeder  Punkt  einer  solchen  negativ  gegen  den  zugehörigen 
Punkt  der  Mittelrippe  und  zwar  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  um  so 
stärker,  je  näher  der  betreö'ende  Punkt  der  Querlinie  dem  Blattrande 
liegt.  An  der  mittelsten  Querlinie  ist  der  negativste  Punkt  nur  wenig 
von  der  Mitte  der  Linie  entfernt.  Je  mehr  aber  eine  Querlinie  dem 
vorderen  oder  hinteren  Blattrande  nahekommt,  nähert  sich  der  negativste 
Punkt  dem  äusseren  Blattrand.  Die  Verbindungslinie  der  negativsten 
Punkte  aller  Q,uerlinien,  welche  der  Mittelrippe  nahezu  parallel  ver- 
läuft, bezeichnet  Munk  als  Haup  tlän  gslini  e  des  Blattflügels;  ihr 
steht  als  positivster  Punkt  des  Blattes  das  vordere  Ende  des  hintersten 
Drittels  der  Mittelrippe  gegenüber.  Die  Vertheilung  und  Grösse  der 
Spannungen  an  der  oberen  (inneren)  Blattfläche  entspricht  nach  Munk 
durchaus  der  an  der  äusseren  (unteren),  so  dass  bei  Ableitung  von  2 
gleich  gelegenen  Punkten  beider  Flächen  im  Allgemeinen 
kein  Strom  r  e  s  u  1 1  i  r  t ,  was  aber ,  wie  B  u  r  d  o  n  -  S  a  n  d  e  r  s  o  n 
später  fand,  keineswegs  der  Fall  ist.  Die  beschriebenen  elektromoto- 
rischen Wirkungen  des  Dionaea-Blattes  sind  an  das  Leben  desselben 
geknüpft  und  nehmen  beim  Absterben  bis  auf  Null  ab.  Die  absolute 
Grösse  der  in  Betracht  kommenden  elektromotorischen  Kräfte  ist  ziem- 
lich beträchtlich.  „Den  Spannungsunterschied  zwischen  einem  Punkte 
in  der  Gegend  der  Haupt-Längslinie  und  einem  Punkte  in  der  hinteren 
(vom  Stiel  abgewendeten)  Hälfte  der  Mittelrippe  =  0.04 — 0.05  Dan. 
zu  finden,  ist  nichts  Ungewöhnliches." 

Bei  dem  Versuch  einer  Erklärung  aller  dieser  elektromotorischen 
Wirkungen  am  „ruhenden"  Blatte  gelangt  Munk  zur  Aufstellung  einer 
„Molekulartheorie",  in  welcher  die  Parenchymzellen  selbst  als  cylin- 
drische  Molekeln  fungiren  und  derart  elektromotorisch  wirken,  „dass 
die  positive  Elektrizität  von  der  Mitte  der  Zelle  nach  jedem  der 
beiden  Pole  hingetrieben  wird,  die  letzteren  also  positiv  sind  gegen 
die  Mitte". 

Bekanntlich  theilt  Dionaea  mit  einigen  wenigen  anderen  Pflanzen 
die  auffallende  Fähigkeit,  unter  gewissen  Umständen  unmittelbar  sicht- 
bare Bewegungen  ausführen  zu  können,  welche  im  gegebenen  Falle 
in  einem  raschen  Zusammenklappen  der  beiden  Blattflügel  bestehen, 
wodurch  angeflogene  Insekten  eventuell  gefangen  werden.     Diese  Art 


Die  elektromotorischeu  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  449 

von  Bewegung  (Reizbewegung)  lässt  sich  durch  ihre  Schnelligkeit  und 
Energie  leicht  von  den  langsamen  „Resorplionsbewegungen"  unter- 
scheiden, welche,  häufig  an  die  ersteren  sich  anschliessend,  nur  dann 
rein  hervortreten,  w^enn  resorbirbare  Substanzen  (Fleisch,  Eiweiss  etc.) 
sorgsam  und  ohne  Berührung  der  empfindlichen  Haare  auf  die  innere 
Blattfläche  gebracht  Averden.  Während  die  Schliessung  des  gereizten 
Dionaea -Blattes  sehr  rasch  (längstens  in  einer  Minute)  erfolgt, 
kann  die  Wiederöffnung  sich  über  viele  Stunden  (24 — 36)  erstrecken. 
Ist  es  aber  eine  resorbirbare  Substanz,  welche  die  Schliessung  ver- 
anlasst hat,  so  beginnt  die  Öffnung  eventuell  erst  nach  mehreren  Tagen. 

Reizempfindlich  erweist  sich  die  ganze  Innen(Ober-)fläche  des 
Blattes,  doch  sind  es,  wie  erwähnt,  vor  Allem  die  6  Haare,  welche  zu 
je  drei  auf  jedem  Blattflügel  stehen,  deren  Reizbarkeit  so  auffallend 
hervortritt,  dass  man  sie  eine  Zeit  lang  für  allein  empfindlich  hielt. 
Abschneiden  des  Blattstieles  oder  Durchschneiden  des  Zwischengliedes 
zwischen  Blatt  und  Stiel  wirkt  nicht  als  Reiz,  so  lauge  der  Schnitt  nicht 
die  untere  Grenze  der  Blattmittelrippe  erreicht,  wo  unter  der  Epidermis 
der  Oberseite  die  Vertikalreihen  der  reizbaren  Parenchymzellen  auf- 
treten. Auch  Abschneiden  der  Randborsten  bleibt  wirkungslos.  Da- 
gegen bringt  jeder  Schnitt  durch  die  Dicke  des  Blattes  an  beliebiger 
Stelle  das  Blatt  zur  Schliessung. 

Während  leichter  Druck  auf  die  obere  Blattfläche  wirkungslos 
bleibt,  führt  stärkeres  Drücken  zur  Auslösung  einer  Reizbewegung, 
ebenso  Ritzen  mit  einer  spitzen  Nadel.  Die  Unterfläche  des  Blattes 
erweist  sich  allen  diesen  Eindrücken  gegenüber  ganz  unempfindlich. 
Es  ergiebt  sich  hieraus,  dass  nur  die  obere  Schicht  des  Blatt- 
flügel- und  Mittelrippenparenchyms  reizbar  und  reiz- 
leitend  ist,  womit  auch  der  Umstand  in  Uebereinstimmung  steht, 
dass  die  an  sich  nicht  reizbaren  Haare  auf  je  einem,  die  Epidermis 
durchbrechenden  Zapfen  reizbarer  Parenchymzellen  sitzen  und  gewisser- 
maassen  als  Hebel  (wie  etwa  die  Tasthaare  IdcI  Thieren)  auf  jenen  wirken. 
Man  kann  mit  scharfer  Scheere  jedes  Haar  von  der  Spitze  nach  der 
Basis  abtragen,  ohne  eine  Reizbewegung  hervorzurufen,  bis  man  in 
die  Nähe  des  knopfförmigen  Zapfens  von  Blattflügelparenchym  kommt, 
dessen  Berührung  das  Blatt  sofort  zum  Schliessen  bringt. 

Neben  mechanischen  Einwirkungen  ist  auch  Wa  s  s  e  r  e  n  t z  i  e  h  u  n  g 
als  Reiz  für  das  reizbare  Parenchym  an  der  Haarbasis  anzusehen. 
Brachte  Darwin  (9)  Blätter  von  Dionaea  in  concentrirte  Zucker- 
lösung oder  auch  nur  ein  Tröpfchen  derselben  an  ein  reizbares  Haar, 
so  schlössen  sich  die  Blätter  rasch.  Munk  beobachtete  denselben 
Erfolg  mit  Alkohol  und  concentrirter  Kochsalzlösung,  sowie  auch  dann, 
wenn  die  Pflanzen  plötzlich  rascher  Verdunstung  in  trockener  Luft 
ausgesetzt  werden. 

Bei  den  Bewegungen  des  Dionaea-  Blattes  handelt  es  sich,  wie 
überhaupt  bei  allen  Pflanzenbewegungen,  um  Vorgänge,  welche  sich  in 
keiner  Weise  mit  Contractionserscheinungen  von  Muskeln  oder  über- 
haupt wirklich  contractilen  Gebilden  vergleichen  lassen.  Vielmehr  hat 
man  es  mit  sehr  eigenartigen  Beispielen  von  Zellencoordination  zu  thun, 
wobei  ganz  andere  mechanische  Principien  zur  Geltung  gelangen  wie 
dort.  Am  anschaulichsten  lässt  sich  das  eigentliche  Wesen  pflanzlicher 
Bewegungsvorgänge  an  dem  altberühmten  Beispiel  der  Mimosa 
pudica  erläutern.  Jeder  Blattstiel  der  „Sinnpflanze'"  trägt  4,  mit  je 
2  Reihen  Blättchen  besetzte  secundäre  Blattstiele.     Am  Tage  sind  die 


450  Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 

Hauptblattstiele  gehoben  und  die  seeundären  ausgebreitet  wie  die  ge- 
spreizten Finger  einer  Hand.  Die  einzelnen  Blättehen  sind  flach  aus- 
einandergelegt, so  dass  sie  mit  ihren  Flächen  eine  Ebene  bilden.  Des 
Nachts  aber  sinken  die  Blätter  nach  abwärts,  die  Blattstiele  2.  Ordnung 
legen  sich  an  einander,  und  die  Blättchen  richten  sich  auf,  so  dass 
die  zugekehrten  Oberseiten  derselben  sich  berühren.  Dieselbe  Lage- 
veränderung aller  Blätter  kann  man  auch  am  Tage  jederzeit  sofort 
herbeiführen,  wenn  man  entweder  die  ganze  Pflanze  stark  erschüttert 
oder  in  eine  Atmosphäre  bringt,  welche  Chloroform  oder  Aetherdämpfe 
enthält.  Aber  auch  ganz  local  oder  doch  nur  in  beschränkter 
Ausbreitung  lassen  sich  dieselben  Wirkungen  durch  mechanische 
Reizung  (Berührung,  Stechen,  Schneiden)  einzelner  Theilblättchen  und 
vor  Allem  der  Stelle  erzielen,  wo  der  Hauptblattstiel  sich  an  den 
Stamm  ansetzt.  Hier  befindet  sich  eine  wulstförmige  Verdickung, 
welche  in  ähnlicher  Weise  auch  an  der  Basis  der  seeundären  und  tertiären 
Blattstiele  entwickelt  ist.  In  jedem  Falle  wird  eine  Reizbewegung 
nur  ausgelöst  bei  Berührung  der  Unterseite  eines  solchen  Gelenk- 
wulstes, Avährend  die  Oberseite  fast  ganz  unempflndlich  erscheint.  Bei 
anatomischer  Untersuchung  eines  solchen  Wulstes  findet  man  ihn 
durchzogen  von  einem  Gefässbündel  und  zwischen  demselben  und  der 
grünen  Rinde  eine  Lage  sehr  succulenter  Zellen,  die  auf  der  oberen 
(unempfindlichen)  Seite  des  Gelenkwulstes  ziemlich  dickwandig,  an  der 
Unterseite  dagegen  relativ  dünnwandig  sind.  Wenn  man  einen  solchen 
Wulst  quer  durchschneidet,  so  zieht  sich,  wie  schon  Brücke  (10)  be- 
merkt, auf  beiden  Seiten  ein  Trichter  ein,  der  dadurch  zu  Staude  kommt, 
dass  von  Hause  aus  in  der  lebenden  Pflanze  eine  Spannung  zwischen 
den  succulenten  Zellen  des  Gelenkwulstes  und  dem  Gefässbündel  be- 
steht, „so  dass  also,  wenn  man  durchschneidet,  der  zellige  Theil  sich 
in  der  Richtung  der  Längsaxe  auszudehnen  sucht,  während  das  centrale 
Gefässbündel  sich  nicht  über  seine  frühere  Länge  verlängern  kann. 
Es  ist,  als  ob  man  durch  ein  durchbohrtes  Kautschukstück  einen 
unausdehnsamen  Draht  hindurchgezogen  und  nun  mittels  einer  Schrauben- 
mutter an  dem  Ende  des  Kautschukstückes  dasselbe  zusammengepresst 
hätte"  (Brücke).  Wenn  also  ein  Blattstiel  seine  Lage  ändert,  so 
kann  dies  geschehen,  indem  die  Spannung  in  der  oberen  Wulsthälfte 
stärker  wird  oder  umgekehrt  in  der  unteren  abnimmt. 

Es  lässt  sich  leicht  zeigen,  dass  bei  der  Reizung  stets  das  Letztere 
der  Fall  ist.  Vergleicht  man  die  Farbe  der  reizbaren  Unterseite  eines 
Blattwulstes  vor  und  nach  der  Reizung,  so  zeigt  sich  ein  sehr  auf- 
fallender Unterschied.  Ersterenfalls  erscheint  sie  hellgrün,  dann  dunkel- 
grün. Es  kann  keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass  dieser  Wechsel 
lediglich  durch  den  Austritt  von  Flüssigkeit  aus  den  Zellen  in  die 
vorher  mit  Luft  erfüllten,  grossen  Intcrcellularräume  bedingt  wird,  und 
man  sieht  leicht,  wie  hierdurch  nothwendig  eine  Entspannung  und  Er- 
schlaffung der  betreffenden  Gewebsschichten  zu  Stande  kommen  muss. 
Die  Thatsache,  dass  auch  bei  möglichst  localisirter  Reizung  der  Unter- 
seite des  Bewegungsorganes  (Wulstes)  von  Mimosa  Wasser  aus  allen 
dort  gelegenen  Zellen  des  Parenchyms  austritt ,  beweist  an  sich  die 
Fortleitung  gcAvisser,  in  den  direct  gereizten  Zellen  ausgelöster  Ver- 
änderungen des  Plasmas,  die  eben  den  Wasseraustritt  zur  Folge  haben, 
auf  alle  andern  Zellen  der  Unterseite  des  Wulstes.  Li  der  That  sah 
Pfeffer  von  dem  gereizten  Punkte  aus  die  dunklere  Färbung  sich 
„blitzschnell"  ausbreiten.    Wir  müssen  also  schon  innerhalb  eines  und 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  451 

desselben  Wulstes  eine  Reizleitung  von  Zelle  zu  Zelle  annehmen. 
Bei  Weitem  auffiülender  ist  aber  noch  die  Thatsache  der  Reizfort- 
pflanzung auf  weite  Strecken  hin,  ja  über  alle  Theile  einer  Pflanze. 
Das  Aeussere  dieser  Erscheinung  ist  zu  bekannt,  um  hier  näher  darauf 
einzugehen,  dagegen  müssen  die  sich  dabei  abspielenden  inneren 
Vorgänge  in  Kürze  besprochen  werden.  Ich  halte  mich  dabei  im 
Wesentlichen  an  die  Darstellung,  welche  Haberland t  (11)  in  seiner 
Abhandlung  über  das  reizleitende  Gewebesystem  der  Sinnpflanze 
gegeben  hat. 

Schon  Du t röchet  (12)  suchte  zu  entscheiden,  in  welchen  Theilen 
der  Pflanze  überhaupt  die  Reizleitung  erfolge.  Dass  die  Rinde  dabei 
unbetheiligt  ist,  ergab  sich  aus  dem  Umstände,  dass  Abschälen  eines 
Ringes  derselben  die  Reizfortpflanzung  in  einem  Astchen  nicht  behinderte. 
Ebensowenig  ist  dies  der  Fall  nach  Entfernung  des  Markes.  Es  zeigte 
sich  ausnahmslos  nur  der  Holzkörper,  oder  richtiger  das  Fibro- 
vasalsystem  (Gefäss-  und  Basttheil),  betheiligt. 

Dutrochet  selbst  deutete  schon  an,  dass  die  Reizfortpflanzung 
auf  Bewegung  der  in  den  leitenden  Elementen  enthaltenen  Flüssigkeit 
beruhe.  In  der  Folge  wurde  diese  Anschauung  dann  wesentlich  ge- 
stützt durch  Versuche  von  Meyen  (13),  Sachs  (14)  und  Pfeffer 
(15).  Dem  Ersteren  war  schon  aufgefallen,  dass  beim  Einschneiden 
eines  Stengels  der  Mimosa  aus  der  Wunde  sehr  rasch  ein  Flüssig- 
keitstropfen hervorquillt,  worauf  dann  sofort  die  Reizbewegung  der 
Blätter  erfolgt.  Dieser  Flüssigkeitstropfen,  welcher  bei  Verwundung 
von  Blatt  oder  Stamm,  der  Mimosa  ganz  plötzlich  zum  Vorschein 
kommt,  hat  bei  fast  allen  Erklärungsversuchen  der  Reizleitung  eine 
grosse  Rolle  gespielt  und  zur  Aufstellung  einer  „physikalischen"  Theorie 
derselben  geführt.  Sachs  (1.  c.  p.  482)  erblickt  in  dem  raschen  Hervor- 
schiessen eines  Wassertropfens  aus  dem  angeschnittenen  Holzkörper  einen 
Beweis  dafür,  dass  bei  einer  sehr  reizbaren  M i m o s e  das  Wasser  im 
Holzkörper  unter  einem  hohen  Drucke  steht,  während  anderseits  auch 
die  reizbaren  Parenchymzellen  der  unteren  Hälfte  des  Gelenkpolsters 
im  höchsten  Grade  turgescent  sind.  „Das  Wasser  wird  also  einerseits 
durch  die  endosmotische  Ueberfüllung  der  Zellen  des  Schwellkörpers 
ein  Streben  haben,  durch  die  Wände  derselben  hinauszufiltriren,  ander- 
seits wird  der  Druck,  unter  Avelchem  das  Wasser  im  Holzkörper  steht, 
dahin  wirken,  das  Wasser  von  aussen  her  in  die  Zellwände  des  Schwell- 
körpers hineinzutreiben".  In  der  ungereizten  Pflanze  halten  beide 
Druckkräfte  einander  das  Gleichgewicht.  Durch  einen  Schnitt  in  den 
Stamm  wird  dieser  Gleichgewichtszvistand  gestört,  das  Wasser  bewegt 
sich  im  Holze  gegen  die  Wunde  zu,  der  Druck  in  demselben  ver- 
mindert sich,  und  nun  flltrirt  aus  dem  stark  turgescirenden,  reizbaren 
Parenchym  des  Gelenkwulstes  das  Wasser  in  die  Zellwände  hinein; 
hier  folgt  es  der  Richtung,  in  welcher  die  Spannung  abnimmt  und 
fliesst  dem  Holzbündel  des  axilen  Stranges  zu.  Mit  der  Turgorab- 
nahme  des  unteren  Gelenkwulstes  tritt  dann  die  Reizbewegung  ein. 

Nach  dieser  Anschauung  hätten  wir  es  mit  wirklich  reizbaren 
Zellen  nur  im  Parenchym  der  Unterseite  der  Gelenk wülste  zu  thun, 
deren  Plasma  durch  irgendwelchen  Reiz  durchlässig  für  Wasser  wird, 
welches  nun  durch  die  Zellhaut  in  die  Intercellularräume  flltrirt.  D  i  e 
Beziehung  zwischen  entfernten  Gelenk  Wülsten  würde 
aber  nur  eine  rein  physikalische  sein,  vermittelt  durch 
eine  gespannte,  continuir  liehe  Wa  ssermasseimHolztheil 


452  Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 

der  Pflanze.  Demgegenüber  wäre  nun  aber  noch  eine  andere 
Möglichkeit  zu  erwägen ,  die  vielleicht  von  vorneherein  sogar  an- 
sprechender scheinen  möchte.  Es  könnten  in  den  Gefäss- 
bündeln  auch  reizbare  Zellen  vorhanden  sein,  welche 
die  Fortpflanzung  des  Eeizes  von  Gelenk  zu  Gelenk 
vermitteln.  Diese  Annahme  erhielt  eine  wesentliche  Stütze  durch 
die  Entdeckungen  Tangls,  Russow's  und  Gardiner' s  (Arb.  d. 
bot.  Inst,  zu  Würzburg.  III.  Bd.  1884),  betreffs  der  Verbindung 
der  Plasmakörper  benachbarter  Zellen  durch  zarte  Plasmafäden. 
Solche  Verbindungen  wurden  in  der  That  auch  zwischen  den  Zellen 
des  reizbaren  Parenchyms  der  Gelenkwülste  gefunden,  und  was  lag 
näher,  als  ähnliche  Leitungsbrücken  auch  zwischen  ihnen  und  den 
Zellen  der  reizleitenden  Gefässbündel  anzunehmen.  Ein  einfaches 
Mittel,  um  diese  Frage  zu  entscheiden,  schien  in  der  Anwendung 
localer  Narcose  (mit  Aether  oder  Chloroform)  zu  liegen.  Seit 
Cl.  Bernard  weiss  man,  dass  die  Reizbarkeit  der  Mimose  vorüber- 
gehend aufgehoben  werden  kann  durch  Aetherisiren.  Wenn  dies  für 
das  reizbare  Parenchym  der  Gelenkpolster  gilt,  so  Hegt  es  nahe,  an- 
zunehmen, dass  die  etwa  vorhandenen  reizbaren  Zellen  in  den  Gefäss- 
bündeln  das  gleiche  Verhalten  zeigen.  Die  Reizfortpflanzung  müsste 
durch  locale  Narcose  sistirt  werden.  Die  Versuche,  welche  Pfeffer 
(15)  in  dieser  Richtung  anstellte,  schienen  jedoch  ein  gegentheiliges 
Resultat  zu  ergeben.  Wurde  nämlich  das  mittlere  Stück 
eines  secundären  Blattstieles  chlor oformirt  oder  äthe- 
risirt,  so  pflanzte  sich  dennoch  ein  Wundreiz  regel- 
mässig, ein  S  1 0  s  s  r  e  i  z  wenigstens  bisweilen  über  die 
narkotisirte  Strecke  fort.  Hiernach  hält  es  Pfeffer  für  be- 
wiesen, „dass  Wasserbewegung  die  alleinige  Ursache  der  Fortpflanzung 
des  Reizes  ist.  Diese  Wasserbewegung  findet  in  den  Gefässbündeln 
statt.  Wird  die  Reizung  durch  Einschneiden  in  ein  Gefässbündel  be- 
werkstelligt, wobei  aus  der  Wunde  Flüssigkeit  hervorquillt,  so  beruht 
die  Störung  des  Gleichgewichtes  in  der  Wasservertheilung  des  Gefäss- 
bündels  auf  Wasser entziehung.  Wenn  dagegen  ein  einfacher 
Stossreiz  einwirkt,  so  tritt  aus  dem  gereizten  Parenchym  des  Gelenkes 
ein  gewisses,  wenn  auch  geringes  Flüssigkeitsquantum  in  das  Gefäss- 
bündel über,  so  dass  in  diesem  Falle  die  Wasserbewegung  durch  eine 
Zufuhr  von  Wasser  bewirkt  wird  (Pfeffer  1.  c.  p.  315).  In  jedem 
Falle  führt  also  Pfeffer  auch  die  Uebertragung  des  Reizes  von  dem 
Gefässbündel  auf  das  reizbare  Parenchym  des  Gelenkpolsters,  sowie 
umgekehrt  auf  Wasserbewegung  zurück.  Die  Störung  des  Gleich- 
gewichtes pflanzt  sich  im  ersteren  Falle  bis  auf  die  innersten,  an  das 
Bündel  unmittelbar  angrenzenden  Zelllagen  des  reizbaren  Parenchyms 
fort,  wo  sie  „wie  ein  mechanischer  Reiz"  wirkt  und  die  Bewegung 
auslöst. 

Eine  weitere  Stütze  für  diese  Anschauungen  scheint  in  den  Be- 
obachtungen von  Haberlandt  gegeben  zu  sein,  welcher  rindet,  dass 
bei  Mimosa  der  Reiz  sich  auch  über  abgestorbene  Blattstiel- 
strecken fortpflanzt,  wenn  dieselben  durch  Abbrühen  getödtet  wurden. 
War  dies  wirklich  völlig  der  Fall,  so  wäre  damit  in  der  That  ein 
zwingender  Beweis  gegeben,  dass  bei  Mimosa  die  Reizleitung 
nicht  durch  ein  System  z  u  s  a  m  m  e  n  h  ä  n  g  e  n  d  er ,  reizbarer 
r  e  s  ]3.  r  e  i  z  1  e  i  t  e  n  d  e  r  P  r  o  t  o  p  1  a  s  t  e  n  d  e  s  G  e  f  ä  s  s  b  ü  n  d  e  1  s  ver- 
mittelt   Av  i  r  d ,    sondern    auf  eine  r    d  u  r  c  h    die    Verletz  u  n  g 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  453 

bewirkten  S  törung  des  hydrostatischen  Gleichgewichtes 
beruht,  welche  sich  auch  über  die  getödtete  Blattstiel- 
zone fortpflanzt.  In  diesem  Sinne  würde  also  eine  Saftbewegung 
die  Reizleitung  vermitteln. 

Haberlandt  verlegt  dieselbe  in  bestimmte  schlauchförmige  Zellen, 
welche  im  Leptomtheil  der  Gefässbündel  (Weichbast)  liegen;  ihr  Bau 
ist  insofern  bemerkenswerth,  als  jede  ihrer  Querwände  einen  einzigen 
sehr  grossen  Tüpfel  besitzt,  dessen  Schliesshaut  porös  und  von  Plasma- 
fäden der  benachbarten  Zellkörper  durchzogen  ist.  Obschon  nun  diese 
„reizleitenden"  Zellen  dem  das  centrale  Gefässbündel  des  Gelenk- 
polsters umgebenden  Collenchymring  dicht  angrenzen,  dessen  Zellen 
wieder  mit  den  Elementen  des  reizleitenden  Parenchyms  durch  Piasraa- 
brücken zusammenhängen,  so  besteht  doch  nach  Haberlandt  keine 
derartige  directe  Verbindung  zwischen  jenen  und  dem  Collenchym, 
Man  hätte  es  demgemäss  mit  2  Systemen  von  Zellen  zu  thun,  die 
einander  functionell  coordinirt  sind ,  aber  doch  in  keiner  directen 
leitenden,  d.  h.  plasmatischen,  Verbindung  stehen. 

Nach  Haberlandt  würde  man  sich  vorzustellen  haben,  dass 
in  den  intacten  reizleitenden  Zellenzügen  des  Leptoms  ein  sehr 
hoher  hydrostatischer  Druck  des  Zellsaftes  besteht,  durch  welchen 
die  Längswände  der  reizleitenden  Zellen  elastisch  gedehnt  werden; 
die  dadurch  bedingte  Wandspannung  repräsentirt  nun  die  unmittelbare 
Kraftquelle,  welche  bei  einer  Verletzung  des  reizleitenden  Systemes 
die  nach  dem  Orte  des  plötzlich  verminderten  Druckes  gerichtete 
Saftbewegung  hervorruft.  Es  ist  klar,  dass  dieselbe  nur  unter  der 
Voraussetzung  einer  Filtration  des  Zellsaftes  d  u  r  c  h  d  i  e  intacten 
Querwände  der  aneinanderstossenden  Zellen  möglich  ist.  Man  muss 
dann  aber  noch  die  weitere,  ziemlich  unwahrscheinliche  Annahme 
machen,  dass  die  Hautschicht  des  Plasmabeleges  der  Tüpfel  unter 
allen  Umständen  und  dauernd  einen  hohen  Grad  von  Permeabilität 
besitzt;  denn  nur  so  wäre  es  einigermassen  verständlich,  dass  sich  die 
reizleitenden  Zellenzüge  wie  ein  System  communicirender,  fusionirter 
Hohlräume  verhalten. 

Die  nächste  sich  hier  anschliessende  Frage  betrifft  die  Art,  wie 
unter  den  gemachten  Voraussetzungen  die  Wasserbewegung  in  den 
besprochenen  Zellschläuchen  als  Reiz  auf  das  reizbare  Parenchym  des 
Gelenkpolsters  wirkt. 

Nach  Haberlandt  wird  die  Reizübertragung  nur  durch  die  mit 
der  Druckschwankung  verbundene  Volum-  und  Gestaltveränderung 
des  reizleitenden  Gewebes  resp.  des  reizbaren  Parenchyms  bewirkt. 
„Wenn  nach  einer  Verletzung  des  Blattstiels  oder  Stengels  in  Folge 
des  Ausgleichs  der  Druckdifferenzen  in  den  an  den  Collenchymring 
eines  Gelenkes  grenzenden  Reizleitungszellen  der  Turgor  plötzlich 
sinkt,  so  üben  die  sich  contrahirenden  Zell  wände  der  ihren  Durch- 
messer verkleinernden  Reizleitungszellen  auf  das  benachbarte  Collen- 
chym einen  kräftigen  Zug  aus;  wegen  der  Geschmeidigkeit  dieses 
letzteren  pflanzt  sich  diese  Zerrung  durch  den  aus  2 — 3  Zelllagen 
bestehenden  Ring  leicht  bis  auf  die  innerste  Schicht  des  reizbaren 
Parenchyms  fort.  Ist  hier  die  mechanische  Intensität  der  einem  ein- 
zelnen Stosse  gleichkommenden  Zerrung  gross  genug,  so  wird  die 
Reizbewegung  ausgelöst,  und  die  unter  Wasseraustritt  sich  contra- 
hirenden Zellen  bewirken  durch  die  von  ihnen  ausgehende  Zerrung 
die  Reizung  aller  übrigen  reizbaren  Zellen  des  Gelenkes."     (Haber- 


454  Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 

lanclt  1.  c.  p.  53.)  Noch  viel  schwieriger  ist  es,  den  Mechanismus 
der  Reizübertragung  von  dem  erschlaffenden  Parenchym  des  sich 
krümmenden  Gelenkpolsters  auf  die  Reizleitungszellen  und  wiederum 
von  diesen  auf  das  reizbare  Parenchym  eines  benachbarten  Gelenkes 
nach  einem  einfachen  Stoss reize  oder  bei  chemischer  oder 
thermischer  Reizung  zu  erklären.  In  diesem  Falle  könnten  nur  die 
mit  der  Erschlaffung  der  reizbaren  Gelenkhälfte,  sowie  der  sich  an- 
schliessenden Krümmung  des  Gelenkes  verbundenen  Pressungen 
möglicherweise  eine  zur  Vermittlung  der  Reizfortpflanzung  ausreichende 
Störung  des  hydrostatischen  Gleichgewichtes  im  reizleitenden  System 
bewirken.  Wenn  allerdings  Haberlandt  von  einer  dabei  statt- 
findenden Bewegung  des  Zellsaftes  spricht,  „genau  so,  wie  sich  in  einer 
Kautschukröhre,  in  welcher  sich  Wasser  unter  einem  bestimmten 
hydrostatischen  Drucke  befindet,  eine  locale  Drucksteigerung  in  Form 
einer  Berg-  oder  Spannungswelle  von  einem  Röhrenende  zum  andern 
fortpflanzt",  so  scheinen  mir  die  anatomischen  Verhältnisse  der  „reiz- 
leitenden" Zellen  für  eine  solche  Vorstellung  nicht  eben  sehr  zu 
sprechen.  Unter  allen  Umständen  dürfte  eine  abermalige  Untersuchung 
der  Reizleitung  bei  M  i  m  o  s  a  durchaus  erforderlich  sein ,  ehe  ein  ab- 
schliessendes Urtheil  gefällt  werden  kann  und  würden  sich  vielleicht 
gerade  die  galvanischen  Folgewirkungen  der  Reizung  als  ein  zweck- 
entsprechendes Hülfsmittel  der  Untersuchung  verwerthen  lassen. 

Wie  dem  immer  sein  mag,  sicher  beruht  in  andern  Fällen  die 
Reizleitung  auf  Plasmaerregung  unter  einander  zusammen- 
hängender Zellen  und  dürfte  dies  unter  Anderem  wohl  auch  für 
D  i  o  n  a  e  a  gelten. 

Wie  bei  Mimosa  werden  auch  hier  die  sichtbaren  Reizbe- 
wegungen durch  Wasserverschiebung  bewirkt  und  ist  die  normale 
Stellung  des  ungereizten  Blattes  das  Resultat  des  Gleichgewichtes 
zwischen  2  Kräften:  einer,  die  sich  bestrebt,  das  Blatt  zu  schliessen, 
und  einer  andern,  die  dasselbe  zu  öffnen  strebt.  Die  Zellen  der  Ober- 
seite des  ruhenden  (offenen)  Blattes  sind  stark  turgescent,  ähnlich  jenen 
der  Unterseite  der  Gelenkwülste  von  M  i  m  o  s  a.  Denkt  man  sich,  wie 
Munk  bemerkt,  den  Gelenk wulst  des  primären  Blattstieles  der  Mimosa 
flächenhaft  ausgebreitet  und  mit  dessen  eigenthümlicher  Nervatur  an 
Stelle  seines  Holzkörpers  ausgestattet,  so  erhält  man  in  physiologischer 
Hinsicht  einen  Dionaea-Blattflügel,  nur  mit  der  reizbaren  Seite 
nach  unten  gekehrt,  und  man  gewinnt  im  Wesentlichen  das  ganze 
Blatt,  wenn  man  sich  zwei  derartig  veränderte  Gelenkwülste  unter 
rechtem  Winkel  so  mit  einander  verbunden  denkt,  dass  das  reizbare 
Parenchym  der  Wülste  ununterbrochen  über  das  Verbindungsstück 
hinwegzieht. 

Es  übt  daher  die  obere  Zellenlage  einen  Druck  auf  die  untere 
aus,  so  dass  sich  das  GleichgCAvicht  in  folgender  Weise  bestimmt:  auf 
der  unteren  Seite  das  Streben  des  zusammengepressten  Gewebes 
sich  auszudehnen,  länger  zu  Averden,  und  auf  der  oberen  starke 
Turgescenz,  welcher  jedoch  die  Elastizität  der  Zellhäute  entgegenwirkt, 
die  sich  bestreben,  sich  zusammenzuziehen.  Wenn  nun  in  Folge  der 
Reizung  Wasser  aus  den  Zellen  der  Oberseite  austritt,  so  wird  das 
Gleichgewicht  gestört  (Ba talin  16)  und  ein  neuer  Zustand  herbei- 
geführt, der  durch  eine  wesentliche  Erschlaffung  und  Verkürzung  der 
oberen  Schichten  charakterisirt  ist,  die  allerdings  auch  am  geschlossenen 
Blatte  nie  bis  zu  völliger  Gleichgewichtslage  geht,    da  dies  durch  die 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  455 

Berührung  der  sich  begegnenden  Blattflügel  gehindert  wird.  Es  ergiebt 
sich  dies  sehr  klar  aus  dem  Umstände,  dass  nach  Abschneiden  eines 
Flügels  nahe  der  Mittelrippe,  der  andere  bei  seiner  Reizbewegung 
beträchtlich  über  die  Stellung  hinausschlägt,  welche  er  am  unversehrten 
geschlossenen  Blatte  zeigt.  Mit  der  Verkürzung  der  oberen  Schichten 
bei  der  Schliessung  geht  eine  entsprechende  Verlängerung  der  unteren 
Hand  in  Hand,  so  dass  jeder  Blattflügel  aus  der  nach  unten  concaven 
Form  in  die  nach  oben  concave  übergeht.  Bei  der  Oeff"nung  des  Blattes 
verhält  sich  natürlich  alles  umgekehrt,  wie  bei  der  Schliessung.  Das 
vorher  erschlaffte  und  verkleinerte  obere  Parenchym  dehnt  sich  jetzt 
unter  Wachsen  des  Turgors  seiner  Zellen  aus  und  gewinnt  dadurch 
seine  Spannung  wieder.  Nach  Messungen  von  Darwin  bedingt  die 
Verkürzung  der  oberen  Schichten  an  einem  Blattflügel  von  10  mm 
Breite  nur  eine  Verschmälerung  um  ca.  0,6  mm.  Besonders  deutlich 
lässt  sich  dies  zeigen,  wenn  man  nach  Abtragung  einer  Blatthälfte  an 
der  Ober-  und  Unterfläche  der  anderen  2  Punkte  markirt  und  dann 
eine  Reizbewegung  auslöst;  der  Abstand  jener  Marken  ändert  sich 
hierbei  in  entgegengesetztem  Sinne. 

Mit  den  geschilderten  Reizbewegungen  des  Dionaeablattes  (sowie 
auch  der  Blätter  vonMimosa)  verknüpfen  sich  nun  sehr  bemerkens- 
werthe  elektromotorische  Wirkungen,  die,  wie  schon  erwähnt,  zuerst 
von  Burdon- Sander  so  n  als  „negative  Schwankung"  be- 
schrieben worden  sind.  Als  Resultat  seiner  ersten  Beobachtungen 
theilte  Burdon-Sanderson  Folgendes  mit: 

a)  „Wenn  das  Blatt  so  auf  die  Elektroden  aufgelegt  wird,  dass 
der  normale  Strom  bei  Ableitung  von  den  beiden  Blattenden  durch 
eine  Ablenkung  der  Nadel  nach  links  angezeigt  wird  und  man  gestattet 
einer  Fliege,  in  dasselbe  zu  kriechen,  so  schwingt  die  Nadel  in  dem 
Momente,  wo  die  Fliege  das  Innere  erreicht  und  so  die  sensitiven 
Haare  der  oberen  Fläche  berührt,  nach  rechts,  während  gleichzeitig 
das  Blatt  sich  über  der*  Fliege  schliesst. 

b)  Nachdem  die  Fliege  gefangen  ist,  schwingt  die  Nadel  jedesmal, 
Avenn  jene  sich  bewegt,  nach  rechts. 

c)  Dieselbe  Reihe  von  Erscheinungen  tritt  ein,  wenn  die  sensitiven 
Haare  mit  einem  feinen  Pinsel  berührt  werden,  oder  wenn  2  Platin- 
elektroden von  oben  her  in  das  Blatt  eingestochen  und  demselben  die 
Ströme  eines  Schlitteninductoriums  zugeführt  werden.  Die  Erscheinungen 
variiren,  je  nachdem  das  Blatt  an  verschiedeneu  Stellen  seiner  oberen 
Fläche  gereizt  wird.  Am  wirksamsten  erweist  sich  Reizung  der  mitt- 
leren Partie,  worauf  negative  Schwankung  nach  einem  Intervall  von 
^U  —  ^12  See.  folgt. 

Bei  Ableitung  von  den  beiden  Enden  der  Mittelrippe  an  der 
Unterseite  des  Blattes  ohne  oder  auch  mit  Compensation  des  be- 
stehenden, von  der  Basis  zur  Spitze  gerichteten  Stromes  beobachtete 
Munk  als  Folge  der  Reizung  eines  der  empfindlichen  Haare  stets 
eine  Doppelschwankung,  und  zwar  eine  positive  Seh  wan- 
kung mit  negativem  Vorschlag,  und  es  ist  dies  selbst  dann 
der  Fall,  wenn  jede  sichtbare  Reizbewegung  des  Blattes  gänzlich 
ausbleibt.  Bisweilen  sah  Munk  dem  negativen  Vorschlag  noch  einen 
positiven  vorausgehen,  so  dass  eine  complicirte  dreitheilige  Schwan- 
kungscurve  resultirt,  doch  war  dies  blos  bei  wirklicher  Bewegung 
des  gereizten  Blattes  der  Fall.  Besteht  von  vorne  herein  keine  Span- 
nungsdiff"erenz    beider    Ableitungspunkte,    so    tritt    nichtsdestoweniger 


456  Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 

eine  Doppelschwankung  bei  der  Reizung  hervor,  indem  der  Spiegel 
zuucächst  sehr  rasch  im  Sinne  eines  aufsteigenden  Stromes  ausschlägt, 
Avoran  sich  eine  Avesentlich  schwächere,  entgegengesetzte  Ablenkung 
anschliesst.  Bei  Ableitung  von  2  in  derselben  „Querlinie"  nach  Innen 
von  der  „Haupt-Längslinie"  gelegenen  Punkten  der  unteren  ßlattfläche 
tritt  als  Keizerfolg  eine  rein  positive  Schwankung  ein,  oder  es  geht 
ihr  höchstens  ein  spurweiser  negativer  Vorschlag  voraus.  Alle  diese 
elektrischen  Vorgänge  fallen  zum  grossen  Theil  in  die  Zeit  des  mecha- 
nischen, immer  leicht  wahrnehmbaren  Latenzstadiums ,  d.  h.  in  die 
Periode,  welche  sich  zwischen  dem  Reizmoment  und  dem  Beginn  der 
eventuellen  Blattbewegung  einschiebt.  Vom  Standpunkte  seiner  theo- 
retischen Anschauungen  über  den  Aufbau  des  Dionaeablattes  aus 
elektromotorisch  wirksamen  Elementen  (den  „peripolaren"  Zellen)  liegen 
zur  Erklärung  der  2  aufeinanderfolgenden,  entgegengesetzten  Phasen 
jeder  einzelnen  Reizschwankung  offenbar  3  Möglichkeiten  vor,  deren 
Erörterung  mit  der  Darstellung  der  beobachteten  Thatsachen  in  der 
M  u  n  k  '  s  c  h  e  n  Abhandlung  so  innig  verwebt  ist,  dass  es ,  wie  schon 
Bur  don- Sander  son  hervorhebt,  in  der  That  sehr  schwer  ist,  Be- 
obachtung und  Theorie  zu  trennen. 

Die  Doppelschwankung  könnte  in  ähnlicher  Weise  zu  Stande 
kommen,  Avie  etwa  die  phasischen  Actionsströme  bei  Muskeln  und  Nerven, 
d.  h.  dadurch,  dass  die  elektromotorischen  Elemente  an  beiden  Ableitungs- 
stellen nicht  gleichzeitig  dieselbe  durch  die  Reizung  bewirkte  Ver- 
änderung (etwa  eine  negative  Kraftschwankung)  erleiden,  oder  es  könnten 
alle  Elemente  gleichzeitig  und  in  gleichem  Sinne,  in  beiden  Phasen  aber 
entgegengesetzte  Veränderungen  erfahren,  oder  endlich,  und  dies  ist 
die  Annahme,  zu  Avelcher  Munk  durch  Ausschliessung  der  beiden 
anderen  gelangt,  es  könnten  2  verschiedene  Arten  elektromotorischer 
Elemente  vorhanden  sein,  Avelche  durch  die  Reizung  in  entgegenge- 
setztem Sinne  verändert  werden,  wobei  die  Veränderung  in  den  einen 
ihren  Höhepunkt  später  erreicht,  als  in  den  anderen.  „In  Folge  der 
Reizung  erfahren  nach  M  u  n  k  die  Zellen  der  oberen  Hälfte  der  Blatt- 
flügelparenchyme  und  des  oberen  Mittelrippenparenchyms  eine  negative, 
die  Zellen  der  unteren  Hälfte  der  BlattflUgelparenchyme  und  des 
unteren  Mittelrippenparenchyms  eine  positive  Schwankung;  d.  h,  die 
Negativität  der  Mitte  der  Zellen  gegen  ihre  Pole  nimmt  in  Folge  der 
Reizung  bei  den  ersteren  Zellen  ab,  bei  den  letzteren  Zellen  zu.  Mit 
grosser  Geschwindigkeit  müssen  diese  Veränderungen  sich  von 
dem  Orte  der  Reizung  aus  durch  die  ganze  Zellenmasse  fortpflanzen 
in  einer  Zeit,  die  nur  klein  ist  gegen  die  Dauer  des  Vorganges  in  der 
einzelnen  Zelle,  da  anderenfalls  Unterschiede  in  den  elektrischen  Er- 
scheinungen je  nach  dem  Orte  der  Reizung  sich  hätten  kundgeben 
müssen."  Munk  glaubt  daher,  ohne  Avesentlichen  Fehler  den  elek- 
trischen Vorgang  in  allen  zusammengehörigen  Zellen  als  gleichzeitig 
annehmen  zu  können ,  was ,  soferne  die  Leitung  eine  plasmatische  ist, 
bei  der  zweifellos  geringen  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erregung 
im  pflanzlichen  Plasma  an  sich  höchst  unwahrscheinlich  ist.  Aber 
auch  die  Grundanschauung  Munks  von  der  peripolaren  Beschafi"en- 
heit  der  Zellen  des  Blattparenchyms  bedarf  zur  Zeit  Avohl  nicht  erst 
einer  Widerlegung,  da  sie  der  Du  Bois'schen  Molekulartheorie  nach- 
gebildet, dieselbe  auf  sichtbare  Elemente  überträgt,  deren  Bau  und 
Beschaffenheit  jede  derartige  Vorstellung  Avohl  von  vorneherein  aus- 
schliesst.     Es    ist  eine  durchaus  Avillkürhche  Annahme,    die  Mitte  der 


Die  elektromotorischen  "Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  457 

in  Betracht  kommenden  Zellen  für  dauernd  negativ  gegen  die  beiden 
Enden  zu  halten,  die  geradezu  unmöglich  wird,  wenn  etwa  das  Plasma 
Strömungen  zeigt. 

Die  neueren  Untersuchungen  von  B  u  r  d  o  n  -  S  a  n  d  e  r  s  0  n  (17) 
haben  die  betreffenden  Erscheinungen  dem  Verständniss  wesentlich 
näher  gebracht. 

Um  die  Reizbewegungen  des  Blattes  von  vorneherein  auszu- 
schliessen,  wurden  die  beiden  Flügel  durch  erhärtenden  Gyps,  welcher 
an  beiden  Enden  der  Mittelrippe  aufgetragen  wurde,  sowie  durch  ein 
Stückchen  trockenen  Holzes  lixirt,  welches  zwischen  beiden  Rändern 
der  Blattflügel  mit  Gyps  an  die  Randstacheln  befestigt  wurde  (Fig.  142). 
Ausserdem  wurde  für  Erhaltung  der  günstigsten  Temperatur  (32— 
35  "^  C.)  gesorgt   und   die  Pflanze  in  einer  feuchten  Kammer  gehalten. 

In  Bezug  auf  die  elektromotorischen  Wirkungen  während  der 
Ruhe  stellte  sich  nun  im  Gegensatz  zu  den  früheren  Angaben  von 
Munk  vor  Allem  die  wichtige  Thatsache  heraus,  dass  in  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Fälle  die  beiden  entgegengesetzten 
Flächen  jedes  Blatt flüg eis,    die  äussere   und    die  innere 


Fig.  142. 

(resp.  obere  und  untere),  sich  zu  einander  elektrisch 
different  verhalten,  so  dass  bei  Ableitung  von  entgegen- 
gesetzten Punkten  der  Ober-  und  ünterfläche  ein  Strom  angezeigt 
wird ,  entweder  in  dem  Sinne ,  dass  die  letztere  sich  zur  ersteren 
positiv  verhält  (was  Burdon-Sanderson  ursprünglich  für  normal 
hielt)  oder  umgekehrt.  Der  Grad  der  Positivität  und  damit  die  Grösse 
der  Spannungsdifferenz  und  des  Blattstromes  im  ersteren  Falle  hängt, 
wie  sich  bald  zeigte,  ganz  wesentlich  von  dem  physiologischen  Zustande 
des  Blattes  ab,  und  zwar  vor  Allem  von  vorhergehenden  Reizungen. 
Lässt  man  nach  Compensation  des  Ruhestromes  mechanische  oder 
andersartige  Reizungen  hintereinander  in  ziemlich  rascher  Folge  auf 
ein  Blatt  wirken,  dessen  Unterfläche  bereits  positiv  ist,  so  findet  man 
ausnahmslos  eine  erhebliche  Zunahme  der  Positivität  der  betreffenden 
Blattfläche.  Nur  ganz  allmählich  tritt  dann  während  der  folgenden 
Ruhezeit  eine  Abnahme  des  Stromes  ein,  die  bei  gleicher  Ableitungs- 
weise bis  zu  völliger  Stromlosigkeit  führt  und  schliesslich  tritt,  Avie 
schon  bemerkt,  ein  entgegengesetzter  Strom  hervor,  entsprechend 
Negativität  der  unteren  (äusseren)  und  Positivität  der 
oberen  (inneren)  Blatt  fläche,  ein  Zustand,  den  man  nach 
Burdon-Sandersons  späteren  Mittheilungen  als  den  eigentlich 
normalen  des  längere  Zeit  nicht  gereizten  Blattes  anzusehen  hat.  An 
einem  solchen  ist  also  der  Blattstrom  mit  Rücksicht  auf  die  innere 
Oberfläche  aussteigend.  Reizt  man  in  einem  solchen  Falle,  so  sieht 
man,  wie  zu  erwarten  war,  die  umgekehrten  Veränderungen  erfolgen, 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  30 


458 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 


wie  bei  von  vorneherein  einsteigendem  Blattstrom :  die  positive  Ober- 
seite wird  plötzlich  negativ  gegen  die  Unterfläche,  so  dass  der  Blatt- 
strom wieder  einsteigend  wird.  Es  lässt  sich  also  sagen,  dass  die 
untere  Blatt  fläche  um  so  weniger  positiv  resp.  um  so 
mehr  negativ  erscheint,  je  längere  Zeit  seit  der  letzten 
Reizung  verflossen  ist.  Der  Ruhestrom  erscheint  daher 
durchaus  abhängig  von  vorhergehenden  Reizungen  des 
Blattes  und  ist  bei  einsteigender  Richtung  in  gewissem 
Sinne  als  Nachwirkung  derselben  aufzufassen. 

Es  ist  klar,  dass  unter  diesen  Umständen  das  Studium  der  Reiz- 
erfolge dem  der  Ruhewirkungen  eigentlich  vorausgehen  muss.  Leitet 
man  von  der  Ober-  und  Unterfläche  eines 
Blattflügels  ab,  indem  die  eine  unpolarisir- 
bare  Elektrode  zwischen  den  3  sensitiven 
Haaren,  die  andere  gerade  gegenüber  auf 
der  unteren  (äusseren)  Fläche  angelegt 
wird,  und  reizt  man  den  anderen  Blattflügel 
mechanisch  oder  elektrisch,  wie  dies  in  bei- 
stehender Figur  143  angedeutet  ist,  so  tritt 
jedesmal  eine  doppelsinnige  Schwankung 
auf,  welche  mittels  des  Capillarelektrometers 


Fig.  144.  Photographische  Darstellung  der  Schwankungen  des  einsteigenden  Blattstromes 
bei  elektrischer  Reizung  des  einen  Flügels.  Die  Unterbrechungen  der  schwarzen  Linie 
entsprechen  Oetifnungen  des  primären  Kreises  des  Inductionsapparates.  Zeitintervall  je 
zweier  Reizungen  etwa  5  See.  Geschwindigkeit  der  Platte  im  Mittel  1  cm  in  2  See. 
(Nach  B  u  r  d  o  n  -  S  a  n  d  e  r  s  0  n.) 


leicht  photographisch  dargestellt  werden  kann  (Fig.  144).  Geht  man 
von  dem  Falle  eines  durch  vorhergehende  Reizung  „modificirten" 
Blattes  aus,  wo  die  untere  Blattfläche  sich  bereits  positiv  zur  oberen 
verhält,  so  sieht  man  zunächst  kurze  Zeit  nach  der  Reizung  den  Strom 
sich  umkehren ,  indem  die  untere  Fläche  rasch  negativ  wird ;  nach 
ungefähr  einer  halben  Secunde  erreicht  diese  erste  Phase  ihr  Maximum 
und  es  beginnt  die  zweite,  etwas  längere  und  gegensinnige  Phase, 
welche  aber  weniger  Kraft  hat  und  in  etwa  V'z  Secunden  nach  der 
Reizung  ihren  grössten  Werth  erreicht.  Sie  nimmt,  Avie  die  photo- 
graphische Curve  unmittelbar  erkennen  lässt,  nur  ganz  allmählich  ab 
und  verliert  sich  in  die  schon  erwähnte  Nachwirkung,  welche  durch 
gesteigerte  Positivität  der  unteren  Blattfläche  charakterisirt  ist,  und  es 
bedingt,  dass  nur  bei  der  ersten  Reizung  die  zweite  Phase  deutlich 
ausgeprägt   erscheint,    während    die    unmittelbar   darauffolgenden    nur 


Die  elektromotorischeu  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  459 

einfache,  monophasische  Schwankungen  bedingen.  Es  ist  dann  wieder 
längere  Ruhe  erforderlich ,  während  deren  die  Positivität  der  Unter- 
fläche langsam  abnimmt,  ehe  wieder  die  zweite  Phase  deutlich  hervor- 
treten kann.  Je  stärker  daher  die  Positivität  der  Unterfläche  von 
vorneherein  entwickelt  ist,  desto  weniger  wird  sie  durch  Reizung  des 
Blattes  noch  gesteigert  werden  können,  desto  deutlicher  wird  dagegen 
die  primäre,  gegensinnige  Schwankung  sich  bemerkbar  machen  müssen. 
Auch  an  einem  nicht  „modificirten"  Blatte  mit  aussteigendem 
(nach  Burdon  -  Sandersons  Bezeichnung  „absteigendem") 
Blattstrom  ist  die  der  Reizung  folgende  Schwankung  bei  Ableitung 
von  gegenüberliegenden  Punkten  der  entgegengesetzten  Blattflächen 
doppelsinnig.  Der  ersten  im  Blatt  einsteigenden  (im  ableitenden 
Bogen  aufsteigenden)  Phase,  welche  etwa  eine  Secunde  dauert,  und 
wobei  die  obere  vorher  positive  Blattfläche  plötzlich  negativ  wird,  geht 
oft  noch  eine  momentane  Aenderung  in  entgegengesetzter  Richtung 
voraus,    wie  auch  in  Fig.  145  zu  bemerken  ist.     Auch  hier  tritt   der 


Fig.  145.   Photographische  Darstellung  der  Schwankungen  des  aussteigenden  Blattstromes 

bei  Reizung  des  einen  Flügels  und  Ableitung  vom  andern  (wie  bei  Fig.  143).     10  Striche 

der  Zeitmarkirung  entsprechen  1  See.     (Nach  Burdon-Sanderson.) 

gegensinnige  (aus-  resp.  absteigende)  „Nachefi*ect"  (die  zweite  Phase)  in 
Folge  des  sehr  langsamen  Abklingens  nur  bei  der  ersten  Reizung 
deutlich  hervor  und  bleibt  bei  der  unmittelbar  folgenden  aus. 

Es  ergiebt  sich  aus  diesen  Beobachtungen  vor  Allem  die  wichtige 
Thatsache,  dass  das  Dionaeablatt  unabhängig  von  der  Richtung  des 
„Ruhestromes"  sowohl  im  nicht  „modificirten"  wie  im  modificirten 
Zustande  reizbar  erscheint,  nur  kehrt  sich  pari  passu  mit  der 
Umkehr  des  „Ruhestromes"  auch  die  Richtung  des  galva- 
nischen Reizerfolges  um. 

Man  sieht  leicht,  dass  die  durch  wiederholte  Reizungen  zu  er- 
zielende „Modification"  des  Blattstromes  lediglich  als  Nach- 
wirkung der  nur  sehr  langsam  abklingenden  zweiten 
Phase  der  Reizschwankung  aufzufassen  ist. 

Zu  genaueren  Zeitbestimmungen,  sowie  zur  Messung  der  elektro- 
motorischen Kraft  der  Schwankung  bediente  sich  Burdon-Sander- 
son eines  als  Rheotom  eingerichteten  Pendelmyographions,  durch  dessen 
Schwingung  der  Reihe  nach  3  Contacte  geöffnet  wurden,  wie  dies 
Fig.  146  zeigt.  Durch  Kj  wird  der  reizende  Oeffnungsinductionsschlag 
ausgelöst  (0.1"  nach  Beginn  der  Schwingung);  die  Oeffnung  von  Kg 
beseitigt  eine  Nebenschliessung  zum  Galvanometer  und  Kg  endlich 
öffnet  den  Boussolkreis  definitiv.  Der  Abstand  zwischen  Ki  und  Kg 
sowie  zwischen  Kg  und  K3  ist  variabel  zu  machen.  Auf  die  Resultate 
derartiger  Versuche   wird   später  noch  zurückzukommen  sein;  hier  sei 

30  * 


460 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 


nur  bemerkt,  dass  Burdon-Sanderson  mit  Hülfe  des  Compensations- 
verfahrens  die  elektromotorische  Kraft  der  1.  Phase  zu  etwa  0.08  Dan. 
bestimmte,  während  die  der  2.  0.82  Dan.  nicht  überstieg. 

Benützt  man  zur  Reizung  der  einen  oder  andern  Blatthälfte  Oeflfnungs- 
inductionsschläge,  wobei  die  Elektroden  gewöhnlich  so,  wie  es  Fig.  143 
andeutet,  an  entgegengesetzten  Punkten  der  beiden  Blattflächen,  etwa 
deren  Mitte  entsprechend,  angelegt  werden,  so  müssen  die  Rollen  des 
Schlittenapparates  einander  ziemlich  weit  genähert  werden  (gew.  auf 
etwa  10  cm),  um  eine  Wirkung  zu  erzielen.  Dabei  ist  die  Richtung 
des  inducirten  Stromes  keineswegs  gleichgiltig,  indem  eine  solche  viel 
früher  erfolgt,   wenn  der  Strom  von  der  oberen  nach  der  unteren  Fläche 

fliesst,  als  im  umgekehrten 
Falle.  Dasselbe  gilt  übrigens 
auch  bei  Anwendung  von 
Kettenströmen.  Wird  ein 
solcher  von  massiger,  zu 
wirksamer  Reizung  eben 
genügender  Stärke  in  der 
Richtung  von  der  Ober-  zur 
Unterseite  (einsteigend)  quer 
durch  eine  Blatthälfte  ge- 
schickt, so  erfolgt  bei  Ab- 
leitung von  der  anderen,  in 
der  Regel  nur  bei  der 
Schliessung  eine  Reiz- 
schwankung des  Blatt- 
stromes. Stärkere  Ströme 
(1  Dan.  bis  2  Grove)  wirken 
dagegen  auch  bei  der  Oeff- 
nung  erregend  und  führen  bei  langer  Schliessungszeit  (30")  als  sicht- 
bares Zeichen  der  Dauererregung  noch  während  der  Schliessung 
zur  Auslösung  einer  ganzen  Reihe  von  Schwankungen  des  Blattstromes, 
welche  sich  in  unregelmässigen  Intervallen  folgen. 

In  sehr  ausgezeichneter  Weise  lässt  sich  am  D  i  o  n  a  e  a  b  1  a  1 1  e 
auch  die  Thatsache  der  Reizsummation  nachweisen,  wenn  man 
Reize  (Oeffnungsinductionsschläge)  von  so  geringer  Intensität  benützt, 
dass  ein  einzelner  für  sich  nicht  genügt,  um  einen  Erfolg  zu  bewirken 
und  das  Intervall  zwischen  je  2  Reizen  kleiner  als  0.4"  macht.  Bei 
0.5"  wird  der  Erfolg  schon  unsicher.  Dies  gilt  übrigens  ebensoAvohl 
für  den  mechanischen  wie  für  den  galvanischen  Reizerfolg. 

Der  „modificirte"  Zustand  des  Blattes,  wobei,  wie  schon  erwähnt, 
die  Unterfläche  sich  positiv  zur  oberen  verhält,  tritt  nicht  nur  in  Folge 
öfters  wiederholter  mechanischer  oder  elektrischer  Reizungen,  sondern 
auch  als  Nachwirkung  andauernder  Durchströmung  mit  dem  Ketten- 
strom hervor.  Wird  ein  solcher  mittels  unpolarisirbarer  Elektroden 
durch  einen  Blattflügel  senkrecht  zu  dessen  Fläche  hindurchgeleitet 
und  dienen  jene  wie  unter  Umständen  auch  bei  Polarisationsversuchen 
an  Muskeln  gleichzeitig  als  ableitende  Bussolelektroden,  so  beobachtet 
man,  wenn  in  geeigneter  Weise  der  Bussolkreis  sofort  nach  Oeffnung 
des  Reizkreises  geschlossen  wird,  stets  einen  einsteigenden,  im  Blatte 
von  oben  nach  unten  gerichteten  Nachstrom,  welche  Richtung  auch 
immer   der   polarisirende  Strom    haben    mag.     Allerdings    erweist   sich 


Fig.  146. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  461 

aber  ein  dem  Nachstrom  gleichgerichteter  Reizstrom  unter  sonst 
gleichen  Umständen  viel  wirksamer. 

Burdon-Sanderson  bediente  sich  bei  diesen  Versuchen  eines 
eigens  zu  dem  Zweck  construirten  Rheotoms,  das  nur  3  Umdrehungen 
in  der  Minute  machte  und  daher  den  polarisirenden  Strom  in  20  See. 
einmal  für  ^lo — ^/lo  See.  schloss;  nach  einer  Uebertragungszeit  von 
^lo"  wurde  dann  der  Bussolkreis  für  die  Dauer  von  ^/lo"  geschlossen 
und  der  eventuelle  Ausschlag  beobachtet, 

„Wenn  der  (polarisirende)  Strom  relativ  schwach  ist,  so  nimmt 
die  Nachwirkung  allmählich  ab  und  verschwindet  in  wenigen  Secunden, 
wenn  jedoch  etwas  stärkere  Ströme  angewendet  werden,  so  verschwindet 
die  Nachwirkung  nur  theilweise  und  hinterlässt  eine  permanente 
Aenderung  (Modification)  im  elektromotorischen  Verhalten  des  Blattes." 

Bei  mehrfach  in  regelmässigen  Intervallen  von  etwa  20"  wieder- 
holter Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  entwickelt  sich  der  modifi- 
cirte  Zustand  sehr  rasch  und  erreicht  sehr  erhebliche  Grade.  „Bei 
einem  Blatte  war  z.  B.  vor  der  Durchströmung  die  untere  Fläche  der 
oberen  gegenüber  negativ  (Spannungsunterschied  =  140  Compensator- 
grade);  es  reducirten  4  Durchströmungen  den  Spannungsunterschied 
auf  Null,  hiernach  wurde  die  untere  Fläche  der  oberen  gegenüber 
positiv  und  jede  Durchströmung  vergrösserte  die  Wirkung,  bis  sie 
320  Compensatorgrade  erreichte."  Aehnlich  wie  an  Muskeln  secundär 
elektromotorische  Erscheinungen  als  galvanischer  Ausdruck  polarer 
Stromeswirkungen  ganz  unabhängig  von  sichtbaren  Erregungserschei- 
nungen auftreten ,  so  sah  auch  Burdon-Sanderson  schon  so 
schwache  Ströme  „modiiicirend"  wirken,  dass  auf  deren  Schliessung 
keine  Spur  von  Erregungsreaction  erfolgte.  Auch  bleibt  dann  die 
„Modification"  local  und  wird  nicht  fortgeleitet,  so  dass  ein  Blattflügel 
oder  gar  nur  ein  Theil  eines  solchen  verändert  sein  kann,  ohne  dass 
auch  die  Umgebung  daran  Theil  nähme.  Auch  in  dieser  Beziehung 
darf  an  das  Verhalten  der  polaren  Nachströme  an  Muskeln  erinnert 
werden. 

Es  wird  so  auch  verständlich,  dass  je  nach  der  Lage  der  abge- 
leiteten Punkte  auf  den  entgegengesetzten  Flächen  eines  nur  theilweise 
„modificirten"  Blattes  die  durch  eine  fortgeleitete  Erregung  ausgelösten 
Reizschwankungen  sich  gerade  entgegengesetzt  verhalten  können,  in- 
dem jene  in  dem  modiflcirten  Gebiete  eine  Doppelschwankung  mit 
anderen  Zeichen  auslöst,  wie  in  dem  nicht  modiflcirten  (normalen). 

Wie  oben  erwähnt  wurde,  hatte  H.  Munk  seinerzeit  die  Be- 
hauptung aufgestellt,  dass  die  Lage  des  Reizortes  am  D  i  o  n  a  e  a  blatte 
ohne  jede  Bedeutung  für  den  Charakter  der  dadurch  ausgelösten  elek- 
trischen Schwankung  sei  und  aus  diesem  Umstände  gefolgert,  dass  sich 
die  Fortpflanzung  der  dem  Reizeftekt  (der  Bewegung)  zu  Grunde 
liegenden  Veränderungen  so  rasch  vollziehe,  dass  dieselben  so  zu  sagen 
gleichzeitig  an  allen  Punkten  beginnen.  Die  Untersuchungen  von 
Burdon-Sanderson  haben  gezeigt,  dass  diese  Vorstellung,  Avelche, 
wenn  es  sich  bei  den  Reizbewegungen  der  Pflanzen  überhaupt  um 
Etwas  handelt,  was  der  Erregung  plasmatischer  Theile  entspricht, 
von  vornherein  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich  ist,  in  der 
That  nicht  als  zutrefl^end  erweist.  Ofl"enbar  dürfte  unter  der  Voraus- 
setzung der  Richtigkeit  der  Ansicht  von  M  u  n  k  bei  symmetrischer 
Ableitung  von  der  Ober-  oder  Unterseite  beider  Blattflügel  ein 
galvanischer  Reizerfolg  überhaupt  nicht  hervortreten,    auch  wenn  nur 


462 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 


einseitig  gereizt  wird  (Fig.  147).  Das  Auftreten  einer  Schwankung  unter 
diesen  Umständen  würde  sich  nur  dann  erwarten  lassen,  wenn  entweder 
die  Intensität  oder  das  zeitliche  Auftreten  der  Erregung  beider  Flügel 
Verschiedenheiten  darbieten  würde,  etwa  in  gleicher  Weise,  wie  zwischen 
2  Muskelpunkten  nur  dann  eine  elektrische  Spannungsdiflferenz  ent- 
stehen kann,  wenn  entweder  der  physiologische  Zustand  beider  ab- 
geleiteter Punkte  verschieden  ist  oder  wenn  derselbe  Zustand  sich 
an  beiden  Stellen  ungleichzeitig  entwickelt. 

In  der  That  lehrt  nun  die  Erfahrung,  dass  bei  der  genannten  Art 
der  Ableitung  ausnahmslos  galvanische  Reizwirkungen  beobachtet 
werden,  wie  dies  ein  Blick  auf  die  beistehenden  Curvenbeispiele, 
Fig.  148  a.  h,  ohne  Weiteres  zeigt.  Es  handelt  sich  hier  um  ein  Blatt, 
welches  in  der  Fig.  147  dargestellten  Weise  von  der  Unterseite  symme- 
trisch abgeleitet  und  durch  Oeffnungsschläge  gereizt  wurde.  An  Stelle 
der  Bussole  befand  sich  ein  Capillarelektrometer ,  dessen  Ausschläge 
photographisch  fixirt  wurden.  Stets  wird 
~  der  direkt  gereizte   Flügel   zuerst 

negativ,  dann  positiv  gegen  den 
anderen,  so  dass  eine  diphasische  Schwan- 
kung entsteht  von  ähnlichem  Charakter,  Avie 
etwa  bei  Ableitung  von  zAvei  Punkten  der  an 
sich  stromlosen  Oberfläche  des  Herzventrikels. 
Die  gleiche  Thatsache  lässt  sich  natürlich 
auch  mittels  des  Galvanometers  unter  An- 
^'^'  ^^'^"  Wendung  des  Rheotomverfahrens  nachweisen. 


Fig.  148. 

Um  zu  einer  befriedigenden  Deutung  dieses  „phasischen  Actions- 
stromes"  zu  gelangen,  erscheint  es  natürlich  vor  Allem  wichtig,  die 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erregung  (des  Reizeffectes?)  im 
Blattparenchym  zu  bestimmen. 

Um  dieses  Ziel  zu  erreichen,  bediente  sich  Burdon-Sanderson 
des  Pendelrheotoms,  mittels  dessen  es  leicht  gelingt,  die  Zeit  zwischen 
dem  Moment  der  Reizung  und  dem  ersten  Beginn  der  darauffolgenden 
elektrischen  Schwankung  des  Blattstromes  genau  festzustellen.  Der 
letztere  wurde  wieder  wie  früher  von  der  Mitte  der  gegenüberliegenden 
Flächen  eines  Blattflügels  abgeleitet.  Bei  einer  ersten  Versuchsreihe 
wurden  nun  die  Reizelektroden  beiderseits  von  der  einen  ableitenden 
Elektrode  an  der  Blattoberfläche  angelegt,  so  dass  eine  sie  verbindende 
gerade  Linie  durch  die  Ableitungsstelle  führte.  Dabei  ergab  sich,  dass  die 
erste  merkliche  Spur  der  1.  Phase  der  Reizschwankung  im  Mittel  0,041" 
nach  dem  Moment  der  Reizung  hervortritt.    Braucht  nun  die  Erregung 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  463 

Zeit  zu  ihrer  Fortpflanzung,  so  ist  klar,  class  bei  unveränderter  Lage 
der  ableitenden  Elektroden  das  „Latenzstadium"  merklich  grösser  aus- 
fallen muss,  wenn  die  Reizung  an  dem  andern  nicht  abgeleiteten  Blattflügel 
erfolgt.  In  der  That  zeigte  sich  dies  bei  den  Versuchen  B  u  r  d  o  n  -  Sander- 
sons,  indem  dann  das  Intervall  zwischen  Reizung  und  Beginn  der 
Schwankung  im  Mittel  auf  0,073"  stieg.  Hieraus  ergiebt  sich,  wenn  man  den 
Abstand  der  beiden  nacheinander  gereizten  Stellen  zu  6  mm  rechnet,  eine 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erregung  von  etwa 
200  mm  in  der  Secunde  (bei  einer  Temperatur  von  30—32*^  C.  in  wasser- 
dampfgesättigter  Luft).  Man  hätte  vielleicht  eine  noch  aufi'allendere 
Verschiedenheit  der  Latenzstadien  in  beiden  Fällen  erwarten  können 
unter  der  Voraussetzung,  dass  wie  auch  beim  Muskel  an  der  Reiz- 
stelle selbst  eine  wirkliche  Latenzzeit  des  galvanischen  Reiz- 
erfolges fehlt.  Indessen  dürften  der  einwandfreien  Ausführung  eines 
solchen  Versuches,  bei  welchem  Reiz-  und  Ableitungsstelle  völlig  zu- 
sammenfallen ,  kaum  überwindliche  Schwierigkeiten  entgegenstehen, 
unter  denen  nicht  die  geringste  jene  sein  wird,  wirklich  den  allerersten 
Anfang  der  Schwankung  zeitlich  mit  hinreichender  Genauigkeit  zu 
bestimmen. 

Gegen  die  Annahme  von  B  u  r  d  o  n  -  S  a  n  d  e  r  s  o  n ,  dass  die  elek- 
trische Schwankung  mit  dem  ersten  Anfang  des  Erregungsprocesses 
zeitlich  nicht  zusammenfällt,  möchten  Avohl  dieselben  Gründe  geltend 
zu  machen  sein,  welche  schon  bei  Erörterung  der  Beziehungen  zwischen 
Reiz-  und  Contractionswelle  des  Muskels  hervorgehoben  wurden.  Ist 
die  galvanische  Veränderung  wirklich  der  Ausdruck  der  durch  den 
Reiz  gesetzten  chemischen,  so  muss  sie  auch  gleichzeitig  mit  dieser, 
d.  h.  im  Momente  der  Einwirkung  des  Reizes,  beginnen. 

Auf  Grund  aller  mitgetheilten  Erfahrungen  kann  es  keinem 
Zweifel  unterworfen  sein,  dass  die  primäre  Phase  der  Reizschwankung 
als  eine  Begleiterscheinung  und  unmittelbare  Folge  der  Erregung 
des  Protoplasmas  der  reizbaren  Blattparenchymzellen  anzusehen  ist, 
als  eine  Erscheinung  durchaus  vergleichbar  den  galvanischen  Folge- 
wirkungen der  Erregung  irritabler  t  h  i  e  r  i  s  c  h  e  r  Gebilde ,  der 
negativen  Schwankung  der  Muskel,  Nerven  oder  Drüsenströme;  man 
darf  daher  erwarten,  dass  auch  die  zeitlichen  Beziehungen  zwischen 
den  galvanischen  und  mechanischen  Reizerfolgen  beim  Dionaeablatt 
ähnliche  sein  werden,  wie  beim  Muskel,  wobei  allerdings  die  princi- 
pielle  Verschiedenheit  der  Bewegungs  Ursache  in  beiden  Fällen  wohl 
zu  berücksichtigen  bleibt.  Zunächst  ergiebt  sich  aus  dem  Vorstehenden 
unmittelbar,  dass  die  Reiz  seh  wankungen  des  „Ruhe  Stromes" 
von  grob  wahrnehmbaren  Bewegungen  der  Blatt flügel 
gänzlich  unabhängig  sind  und  sich  sowohl  am  lixirten  offenen 
wie  am  gänzlich  geschlossenen  Blatte  nachweisen  lassen.  Dabei  bleibt 
freilich,  wie  Burdon-San  derson  richtig  bemerkt,  zu  erwägen,  „ob 
die  interstitielle  Bewegung  der  (bei  der  Reizung  aus  den  Zellen  aus- 
tretenden) Flüssigkeit,  welche  in  allen  reizbaren  Pflanzenorganen  die 
bewirkende  Ursache  der  Formänderung  ist,  nicht  beginnen  kann,  ohne 
sich  durch  irgend  eine  Veränderung  in  der  Curvatur  des  Flügels  zu 
zeigen,  wie  fein  die  Beobachtungsmittel  auch  sein  mögen".  Es  würde 
dies  unter  der  Voraussetzung  anzunehmen  sein,  dass  jede  Reizung, 
welche  überhaupt  eine  elektrische  Veränderung  veranlasst,  auch  immer 
schon  einen  merklichen  Wasseraustritt  aus  den  gereizten  Zellen  ver- 
ursacht.    Dass    ferner   zwischen   dem   Moment   der   Reizung   und   der 


464  Diß  elektromotorischeu  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 

darauffolgenden  Schliessung  des  Dionaeablattes  eine  merkliche  Zeit 
verfliesst,  lässt  sich  in  der  Regel  leicht  durch  die  unmittelbare  Be- 
obachtung constatiren,  da  bei  nicht  zu  hoher  Temperatur  das  mechanische 
Latenzstadium  so  zu  sagen  makroskopisch  ist  und  beispielsweise  bei 
20  ^^  C.  ungefähr  1"  beträgt.  Unter  allen  Umständen  geht  die 
elektrische  Schwankung  der  Reizbeweg  ung  lange  vor- 
aus. Zur  genaueren  Untersuchung  bediente  sich  Burdo n- Sande r- 
son  zweier  verschiedener  Methoden.  Im  einen  Falle  „wird  ein  leichter 
Strohhebel  an  zwei  der  Randstacheln  eines  Blattflügels  gekittet,  während 
der  gegenüberliegende  Flügel  an  einem  Träger  befestigt  wird.  Der  so 
befestigte  Flügel  wird  mechanisch  auf  eine  solche  Weise  gereizt,  dass 
die  Zeit  des  reizenden  Stosses  auf  eine  sich  horizontal  bewegende, 
berusste  Glasfläche  unterhalb  der  von  dem  Strohhebel  markirten  Curve 
aufgezeichnet  wird". 

Bei  der  zweiten  Methode  wird  das  Blatt  auf  dieselbe  Weise  befestigt  — 
aber  ein  kleiner  Spiegel  an  die  untere  Fläche  des  beweglichen  Flügels 
gekittet,  mittels  dessen  das  Bild  eines  horizontalen  Spaltes  auf  eine 
verticale  Scala  geworfen  wird,  welche  so  angeordnet  ist,  dass  die  Hebel- 
bewegung des  Flügels  genau  gemessen  werden  kann. 

Es  stellte  sich  heraus,  dass  bei  einer  Temperatur  von  15 — 20"  C. 
die  einer  einmaligen,  hinreichend  kräftigen  Reizung  folgende  Schliess- 
bewegung  des  Blattflügels  etwa  5—6"  dauert  und  derart  verläuft,  dass 
sie  anfangs  rasch  und  dann  mit  abnehmender  Geschwindigkeit  erfolgt. 

Bei  wiederholten,  an  sich  sehr  schwachen  mechanischen  Reizen 
(zarte  Berührung  eines  der  sensitiven  Haare),  von  denen  jeder  einzelne 
nicht  zu  völliger  Schliessung  des  Blattes  führt,  beobachtete  Burdon- 
Sanderson  eine  Erscheinung,  welche  in  gewisser  Hinsicht  an  die 
„Treppe"  bei  directer  Muskelreizung  erinnert,  indem  der  mechanische 
Effekt  der  Bewegung  bei  jeder  folgenden  Reizung  grösser  war  als  bei 
der  vorhergehenden.  Man  Avird  dieses  Verhalten  mit  Burdon- 
Sanderson  aber  wohl  nur  dem  Umstände  zuschreiben  müssen,  dass 
der  durch  den  Turgor  der  Zellen  der  Blattoberseite  bedingte  Wider- 
stand für  die  Schliessbewegung  mit  jeder  neuen  Reizung  sich  ver- 
mindert. „Der  Betrag  jeder  durch  Reizung  veranlassten  Verminderung 
des  Widerstandes  wächst  mit  jeder  Wiederholung  der  Reizung,  bis  am 
Ende  das  Blatt  zusammenklappt." 

Man  darf  mit  Bestimmtheit  annehmen,  dass  galvanische  Reiz- 
wirkungen ganz  ähnlicher  Art,  wie  beim  Dionaeablatte,  auch  an  den 
Gelenkpolstern  der  nicht  minder  reizbaren  Mimosenblätter  nach- 
weisbar sein  werden.  Leider  Hegen  aber  bisher  nur  wenige  Be- 
obachtungen vor.  Kunkel,  welcher,  wie  schon  erwähnt,  bei  der  von 
ihm  benützten  Ableitungsmethode  einen  auffallend  starken  „Ruhestrom'" 
am  Wulste  des  primären  Blattstieles  fand,  indem  sich  der  Stachel 
positiv  zum  oberen  Umfang  des  Gelenkpolsters  verhält,  beobachtete 
mittels  des  Capillarelektrometers  eine  aus  mehreren  alternirend  ge- 
richteten Oscillationen  bestehende  Schwankung  dieses  Stromes  in  dem 
Momente,  wo  durch  Berühren  der  reizbarsten  Stelle  des  unteren  Um- 
fanges  des  Blattstielwulstes  die  Bewegung  des  Blattstieles  nach  unten 
beginnt. 

Zuerst  kommt  ein  rasch  verlaufender  kleiner  Vorschlag,  dem  un- 
mittelbar ein  meist  viel  bedeutenderer,  entgegengesetzt  gerichteter 
Ausschlag  folgt.  Von  der  äussersten  Grenze  dieses  letzteren  kehrt  die 
Quecksilbersäule    langsam   wieder   zurück   und    erreicht  entweder  ihre 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  465 

Ruhestellung  oder  zeigt  noch  mehrere  kleinere  und  immer  länger  ge- 
zogene Oscillationen. 

Die  Schwierigkeiten  einer  Deutung  dieser  komplicirten  Reiz- 
schwankungen auf  Grund  seiner  Theorie  hat  Kunkel  sehr  wohl  ein- 
gesehen und  erklärt  sich  „nicht  entfernt  im  Stande",  dieselben  „auf 
einzelne  Phasen  prävalirender  Wasserverschiebung  zurückzuführen". 
Den  ersten  raschen  negativen  Vorschlag  möchte  er  auf  „Alterationen" 
des  Protoplasma  beziehen,  welche  die  durch  das  Anlegen  der  feuchten 
Elektroden  verursachten  und  dem  Ruhestrom  zu  Grunde  liegenden 
Diffusionsvorgänge  stören.  Der  grosse  positive  Ausschlag  ist  ihm  da- 
gegen „der  Ausdruck  der  grossartigen  Wasserverschiebungen,  die  die 
Bewegung  des  ganzen  Blattes  zur  Folge  haben;  der  (negative)  Rück- 
schlag entspricht  der  Restitution  des  Organes  zum  früheren  Zustand. 
Dabei  ist  aber  zu  berücksichtigen,  dass,  wie  auch  schon  Kunkel 
bemerkte,  bei  Mimosa  gerade  wie  bei  Dionaea  elektrische 
Schwankungen  auch  dann  noch  beobachtet  Averden,  wenn  nach  wieder- 
holten Reizungen  keine  merklichen  Bewegungen  des  Blattes  mehr  er- 
folgen und  daher  wohl  auch  von  irgend  erheblichen  Wasserver- 
schiebungen kaum  die  Rede  sein  kann. 

Versucht  man  es,  sich  auf  Grund  der  mitgetheilten  Erfahrungen 
am  Dionaeablatte  eine  Vorstellung  zu  bilden,  hinsichtlich  der  etwa 
möglichen  Ursachen  der  Spannungsdifferenzen  im  „ruhenden"  Zustande 
und  bei  künstlicher  Reizung,  so  ist  vor  Allem  klar,  dass  dieselben 
Principien,  welche  wir  früher  für  das  Auftreten  von  „Zellströmen"  als 
maassgebend  angenommen  haben,  in  gleicher  Weise  für  die  pflanzliche 
wie  für  die  thierische  Zelle  gelten  müssen.  Es  fragt  sich  nur,  ob  wir 
berechtigt  sind,  in  dem  hier  vorliegenden  Falle,  wie  bei  den  ein-  und 
mehrzelligen  thierischen  Drüsen,  die  einzelne  Zelle  für  sich  als 
elektromotorisch  wirksam  zu  betrachten  oder  ihr  diese  Eigenschaft  nur 
im  Zusammenhange  mit  andern,  ungleichartigen  Elementen  zuzuer- 
kennen, ob  es  sich  mit  anderen  Worten  um  elektromotorisch  wirkende 
Zellen  oder  Zell compl exe  handelt.  Munk  hat  bekanntlich  eine 
Theorie  zu  entwickeln  versucht,  welcher  die  erstere  Vorstellung  zu 
Grunde  lag.  Freilich  in  wesentlich  anderem  Sinne,  wie  etwa  die 
einzelne  Schleimzelle  als  elektromotorisch  wirksam  zu  betrachten  ist. 
Er  dachte  sich,  wie  schon  erwähnt,  dass  die  Pole  jeder  Zelle  gegen 
die  Mitte  sich  positiv  verhalten  und  dass  infolge  einer  Reizung  der 
Spannungsunterschied  zwischen  den  Polen  und  der  negativen  Aequator- 
zone  entweder  abnimmt  (und  dies  sollte  in  den  oberen  Parenchym- 
schichten  der  Fall  sein)  oder  zunimmt  (in  den  Zellen  der  Unterseite). 
Da  in  dem  Bau  der  betreffenden  Zellen  nicht  der  geringste  Anlass  für 
eine  derartige,  völlig  willkürliche  Hypothese  gegeben  ist,  und  die 
Theorie  ausserdem  nicht  im  Stande  ist,  die  von  Burdon -Sander  son 
entdeckten  regelmässigen  Spannungsdifferenzen  zwischen  Ober-  und 
Unterseite  zu  erklären,  so  bliebe  höchstens  noch  die  kaum  minder  will- 
kürliche Annahme  einer  stetigen  (chemischen)  Verschiedenheit  und 
dadurch  bedingten  elektrischen  Differenz  zwischen  der  oberen  und 
unteren  Hälfte  jeder  Parenchymzelle  der  Blattoberseite  übrig,  etwa 
vergleichbar  der  Spannungsdifferenz  zwischen  dem  freien  Ende  und 
der  Basis  von  Schleimzellen.  Man  sieht  leicht,  dass  auch  für  eine  der- 
artige Vorstellung  der  Bau  und  die  Anordnung  der  einzelnen  Zellen 
in  keiner  Weise  spricht.  Vielmehr  wird  man  es  mit  Bu rdon -Sande r- 
s  0  n  wohl  zweifellos  für  das  Wahrscheinlichste  halten  müssen,  dass  die 


466  Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen. 

Oberfläche  einer  einzelnen  Zelle  für  sich  betrachtet  in  jedem  Zustand 
isoelektrisch  ist.  Es  bedarf  ferner  kaum  der  besonderen  Erwähnung, 
dass  auch  aus  der  blossen  Berührung  zweier  von  Cellulosehüllen  um- 
schlossener und  daher  völlig  von  einander  getrennter  Plasmakörper 
ein  Strom  auch  dann  nicht  resultiren  würde,  wenn  der  eine  in  allen 
seinen  Th eil en  gleichmässig  im  Verhältniss  zum  andern  verändert  wäre. 
Es  würde  dies  ebensowenig  der  Fall  sein,  wie  ein  Muskelstrom  entsteht, 
wenn  etwa  eine  in  allen  Punkten  gleichstark  erregte  Muskelfaser  mit 
einer  andern  im  Ruhezustand  befindlichen  in  Berührung  gebracht  würde. 
Sind  aber  die  Plasmakörper  benachbarter  Zellen  durch  Fortsätze  irgend- 
wie mit  einander  direct  verbunden  und  so  im  physiologischen  Sinne  ein 
Ganzes  bildend,  besteht  mit  anderen  Worten  Continuität  der  Substanz, 
so  wird  stets  ein  ableitbarer  Strom  vorhanden  sein  müssen,  wenn  inner- 
halb der  Plasmamasse  des  Zellaggregates  Verschiedenheiten  des  Chemis- 
mus entstehen. 

Durch  zahlreiche  Untersuchungen  der  letzten  Jahre  darf  es  nun 
in  der  That  als  festgestellt  gelten,  dass  in  sehr  vielen  Fällen  und 
vielleicht  sogar  ganz  allgemein  die  Plasmakörper  der  Pflanzenzellen 
durch  ihre  Cellulosehüllen  hindurch  mittels  zarter  Fortsätze  miteinander 
in  unmittelbarem  Zusammenhang  stehen,  wie  dies  ja  auch  bei  vielen, 
thierischen  Geweben  der  Fall  ist.  Darf  man  dies  auch  für  die  Zellen 
des  D  i  0  n  a  e  a  blattes  annehmen  (für  die  Zellen  der  reizbaren  Gelenk- 
wülste beiMimosa  haben  Gardin  er  und  Haberland  t  ein  solches 
Verhalten  direkt  nachgewiesen)  und  besteht  demgemäss  Continuilät 
zwischen  dem  reizbaren  Plasma  der  oberen  und  dem  nicht  reizbaren 
der  unteren  Parenchymzellen,  so  würden  sich  alle  bisher  geschilderten 
elektrischen  Erscheinungen  auf  Spannungsdifferenzen  zurück- 
führen lassen  zwischen  den  sich  nicht  nur  berührenden, 
sondern  in  direkter  plasmatischer  Verbindung  stehen- 
den, in  verschiedenen  und  wechselnden  physiologischen 
Zuständen  befindlichen  oberen  und  unteren  Zellen. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  wäre  es  gewiss  nicht  ohne  Inter- 
esse auch  noch  in  anderen  Fällen  das  elektromotorische  Verhalten 
pflanzlicher  Organe  zu  prüfen,  wenn  sich  chemische  Difl'erenzen  zwischen 
verschiedenen  Zellschichten  von  vorne  herein  vermuthen  lassen,  wie 
z.  B.  in  zahlreichen  Fällen,  wo  es  sich  um  dauernde  Unterschiede  im 
Turgor  handelt  (springende  Früchte,  Bewegungsorgane  der  Bohne  etc.). 

Auch  drüsige  Pflanzen theile  dürften  geeignete  Objecto  bilden, 
wenigstens  fand  ich  bei  mehreren  Drosera- Arten  bei  Ableitung  vom 
Stengel  einerseits  und  der  mit  kleinen  Drüsen  dicht  besetzten  Blatt- 
oberfläche anderseits  sehr  beträchtliche  Spannungsdifferenzen. 

Ueber  das  eigentliche  Wesen  der  physiologischen  Zustands- 
änderungen,  welche  am  reizbaren  Dionaeablatt  oder  am  Stengelwulst 
von  Mimosa  den  galvanischen  Reizwirkungen  zu  Grunde  liegen, 
dürfte  es  zur  Zeit  ebensowenig  möglich  sein,  sich  mit  Bestimmtheit  zu 
äussern,  wie  etwa  bezüglich  der  elektromotorischen  Wirkungen  thierischer 
Schleimzellen.  Doch  lassen  sich  die  weitgehenden  Analogien  der  Er- 
scheinungen in  beiden  Fällen  kaum  verkennen,  wie  auch  Prof.  Burdo  n- 
Sanderson  hervorhebt,  der  die  grosse  Liebenswürdigkeit  hatte,  mich 
noch  besonders  auf  diesen  Punkt  hinzuweisen.  Wie  an  der  Frosch- 
zunge haben  wir  es  auch  beim  Dionaeablatt  mit  einem  „Ruhe- 
strom" zu  thun,  dessen  Zeichen  je  nach  Umständen  wechseln  kann  und 
dessen  innige  Beziehungen  zu  den  galvanischen  Reizerfolgen  stets  und 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  pflanzlicher  Zellen.  467 

unverkennbar  hervortreten.  In  beiden  Fällen  besteht  ferner  der  Reiz- 
erfolg in  einer  häufig  doppelsinnigen  Schwankung,  deren  Zeichen  durch- 
aus von  dem  jeweiligen  Zustand  des  Organes  abhängt.  Burdon- 
Sanderson  hält  es  demgemäss  auch  nicht  für  unwahrscheinlich,  dass 
wie  bei  der  thierischen  Schleimhaut,  so  auch  am  Dionaeablatt  der  je- 
weils nach  aussen  ableitbare  Strom  die  Resultirende  aus  zwei  anta- 
gonistischen ,  sich  im  Plasma  der  Zellen  abspielenden ,  chemischen 
Processen  ist,  die,  stets  gleichzeitig  vorhanden,  zur  Entwicklung  gegen- 
sinniger Spannungen  führen  und  deren  einer  die  Plasmahaut  für  Wasser 
permeabel  macht. 


LITERATUR. 

1.  H.  BuflF,  Annalen  d.  Chemie  u.  Pharmacie.     89.     1854.     p.  76  £f. 

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f  li.  Hermann,  Pflügers  Arch.  4.  Bd.  p.  155  und  27.  Bd.  1882.  p.  288.  Anmerkung, 
l  J.  Müller-Hettlingen,  Pflügers  Arch.     31.     1881.     p.  193. 

4.  J.   Kunkel,  Pflügers   Arch.     25.   Bd.     p.  342  und  Arbeiten   des   botan.  Inst,  zu 

Würzburg.     II.     p.  1. 

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b)  Proceedings  of  the  Royal  Society.     Vol.  XXI.     Nr.   147. 
1873.     p.  495. 

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8.  F.  Kurtz,  Arch.  f.  Anat.  u.  Physiol.     1876.     p.  1  ft\ 

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10.  E.  Brücke,  Vorlesungen  über  Physiologie. 

11.  Haberlandt,  Das  reizleitende  Gewebesystem  der  Sinnpflanze.     Leipzig  1890. 

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,„    _       ,        „       ,  ,  Philos.  Transact.     1888.         Vol.  179. 

17.  Burdon-Sanderson,  {     .,        ^,    .    „ ,     -.^      -.oo^/oo  .^o-. 
Biolog.  Centralbl.     II.     1882/83.     p.  481. 

Biolog.  Centralbl.     IX.     1889/90.     p.  1. 


G.   Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 


I.   Bau  und  Structur  der  NerTenfasern. 

Nicht  minder  innig  wie  beim  Muskel  hängen  auch  beim  Nerven 
die  Function  und  die  wesentlichsten  physiologischen  Eigenschaften  mit 
der  feineren  Sti-uctur  der  einzelnen  Elemente  zusammen ,  so  dass  es 
hier  wie  dort  geboten  erscheint ,  das  Wichtigste  hierüber  voraus- 
zuschicken. Ich  werde  mich  hierbei  bloss  auf  die  leitenden  Theile, 
die  Nervenfasern,  beschränken,  da  alle  unsere  bisherigen  Erfahrungen 
über  elektrische  Erregung  und  elektromotorische  Wirkungen  sich  fast 
ausschUesslich  auf  diese  beziehen.  Das  Nervensystem  ist  allein  den 
Thieren  eigenthümlich ,  und  zwar  auch  hier  nur  den  entwickelteren 
Metazoen.  Den  Pflanzen,  einzelligen  Thieren  und  niedersten  Metazoen 
fehlen  Nerven  vollkommen  und  wenn  in  einzelnen  Fällen  (wie  bei  den 
Reizbewegungen  mancher  Pflanzen)  Wirkungen  beobachtet  werden, 
welche  an  durch  Nerven  vermittelte  thierische  Lebenserscheinungen 
erinnern,  so  lässt  sich  jederzeit  leicht  zeigen,  dass  die  Aehnlichkeit 
doch  nur  eine  mehr  äusserliche  ist. 

Im  thierischen  Organismus  wird  bekanntlich  der  Wechselverkehr 
zwischen  entfernten  Organen  oder  Organbezirken  im  Allgemeinen  auf 
zweierlei  Weise  vermittelt :  erstlich  durch  die  Bewegung  der  Ernährungs- 
flüssigkeit und  dann  durch  das  Nervensystem.  Man  kann  sagen,  dass 
die  erstere  den  trägeren  Verkehr  besorgt;  Stoffe,  welche  in  dem  einen 
Organ  bereitet  oder  aufgenommen  worden  sind,  werden  weitergeführt, 
um  entweder  nutzbringend  verwerthet  oder  andernfalls  ausgeschieden 
zu  werden.  Diesem  trägen  Verkehr  steht  der  äusserst  rasche  zwischen 
den  entferntesten  Theilen  durch  die  Nerven  gegenüber.  Man  hat  oft 
und  in  ganz  entsprechender  Weise  die  Thätigkeit  des  Nervensystems 
mit  der  Wirkung  eines  Telegraphennetzes  verglichen,  und  wenn  man 
sich  dabei  nur  gegenwärtig  hält,  dass  das,  was  in  den  Nerven  fort- 
gepflanzt wird,  sicher  nicht  Elektrizität  ist,  so  bietet  der  Vergleich 
immerhin  ein  anschauliches  Bild.  Gerade  in  Bezug  auf  den  letzt- 
erwähnten Punkt   hatte   man    sich  jedoch    schon   vor  der  Entdeckung 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  469 

der  Grundphänomene  der  Elektrophysiologie  sehr  übertriebenen  Vor- 
stellungen zugewendet  und  stets  gehoflftj  das  Wesentliche  der  Nerven- 
thätigkeit  in  elektrischen  Phänomenen  zu  finden.  Wie  beim  Muskel 
haben  sich  diese  Hoffnungen  auch  beim  Nerven  nicht  oder  wenigstens 
nicht  in  dem  ursprünglich  erwarteten  Sinne  erfüllt,  und  wenn  auch 
noch  neuerdings  der  misslungene  Versuch  gemacht  wurde,  die  alte 
Lehre  von  der  Identität  des  Nervenprincipes  mit  strömender  Elektrizität 
wieder  zu  beleben  (A  Ib recht  1),  so  kann  doch  ernstlich  nicht  davon 
die  Rede  sein.  Vielmehr  müssen  wie  beim  Muskel  auch  die  elektro- 
motorischen Wirkungen  der  Nerven  als  Begleiterscheinungen  chemischer 
Processe  aufgefasst  werden  und  wie  dort  ist  ihre  eigentliche  Bedeutung 
noch  nicht  genügend  klargestellt.  Stets  setzt  sich  das  Nervensystem 
zusammen  aus  zelligen  Elementen  (Ganglien  oder  Nervenzellen)  und 
Fasern,  welche  als  Fortsätze  der  ersteren  aufzufassen  sind,  so  dass  je 
eine  Zelle  mit  der  zugehörigen  Faser  zusammen  eine  anatomische  und 
physiologische  Einheit  bildet.  („Neuron"  Waldeyer,  „Neuroden- 
dron",  Nervenbäumchen  Kölliker.)  Bei  ihrem  ersten  Auftreten  sowohl 
in  phylogenetischer  wie  ontogenetischer  Entwicklung  stellen  die  Nerven- 
fasern blasse,  mehr  oder  weniger  lange  faserige  Gebilde  dar,  die  stets 
aus  besonderen  Zellkörpern  (Ganglienzellen)  entspringend,  entweder 
verzweigt  oder  unverzweigt  zu  peripheren  Endorganen  hintreten 
oder  auch  verschiedene  Ganglienzellen  untereinander  in  Beziehung 
setzen.  Während  bei  den  niedersten  Thierformen  dieser  Zustand  ein 
dauernder  ist,  tritt  derselbe  bei  höheren  Thieren  nur  vorübergehend 
während  der  Entwicklung  auf,  indem  sich  später,  wenigstens  strecken- 
weise, verschiedene  Hüllen  den  ursprünglich  nackten  Fasern  hinzu- 
gesellen, wodurch  sich  der  Bau  der  einzelnen  Nervenfasern  unter  Um- 
ständen äusserst  complicirt  gestaltet.  Nach  der  sehr  wechselnden  Be- 
schaffenheit dieser  Hüllen  oder  Scheiden  pflegt  man  verschiedene  Gruppen 
von  Nervenfasern  zu  unterscheiden,  von  denen  hier  zunächst  als  be- 
sonders charakteristisch  die  m  a  r  k  h  a  1 1  i  g  e  n  und  m  a  r  k  1  o  s  e  n  Fasern 
genannt  seien.  Die  ersteren  setzen  fast  ausschliesslich  das  Nerven- 
system der  Wirbelthiere  zusammen,  während  die  letzteren  vorwiegend 
Wirbellosen,  sowie  den  niedersten  Wirbelthieren  zukommen. 

Es  ergiebt  sich  hieraus  unmittelbar  die  wichtige  Folgerung,  dass 
der  functionell  allein  wesentliche  Bestandtheil  einer 
Nervenfaser  die  Substanz  des  Zellfortsatzes  ist,  den  man 
mit  Bezug  auf  die  so  häufige  Umhüllung  mit  wohl  hauptsächlich  dem 
Schutze  dienenden  Scheiden  als  „Axencylinder"  zu  bezeichnen 
pflegt.  Wir  werden  daher  im  Folgenden  unter  „Nervenfaser"  stets 
nur  einen  einzelnen,  als  Ausläufer  einer  centralen  oder  peripheren 
Ganglienzelle  oder  als  Zweig  eines  solchen  zu  erweisenden  Axen- 
cylinder verstehen,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  ein  solcher  für  sich 
allein  nackt  oder  in  einer  Scheide  eingeschlossen  verläuft,  oder  ob  eine 
und  dieselbe  Scheide  mehrere  oder  viele  Axencylinder  umschliesst. 
Dieses  letztere  Verhalten  findet  man  besonders  häufig  bei  verschiedenen 
wirbellosen  Thieren.  So  enthalten  beispielsweise  die  Rüsselnerven 
mancher  Nemertinen  innerhalb  einer  ziemlich  dicken, bindegewebigen, 
kernführenden  Scheide  ein  ganzes  Bündel  feinster  Axencylinder,  deren 
jeder  aus  einer  Nervenzelle  entspringt  (2).  Bei  flüchtiger  Untersuchung 
von  Präparaten,  welche  intra  vitam  mit  Methylenblau  gefärbt  wurden, 
könnte  man  ein  derartiges  Faserbündel  ganz  wohl  für  eine  einzelne 


470 


Die  Nerven  und  ihre  pliysiologische  Function. 


Nervenfaser  mit  einem  Axencylinder  und  dicker  Scheide  ansehen; 
doch  lehrt  die  genauere  Untersuchung  stets  die  Zusammensetzung  des 
centralen  Stranges  aus  feinsten,  intensiv  gefärbten  Fäserchen  erkennen, 
über  deren  Natur  und  Bedeutung  ihr  Zusammenhang  mit  je  einer 
Nervenzelle  keinen  Zweifel  lässt  (Fig.  149).  Als  Nervenfasern  sind 
daher  in  diesem  Falle  nur  jene  feinen,  librillenähnlichen  Fäserchen  zu 
bezeichnen,  welche  von  dem  Centralbündel  des  ganzen  Nervenstämmchens 
abzweigend  zu  peripheren  Endorganen  hinziehen.  Während  in  dem 
angeführten  Beispiel  die  Caliberverhältnisse  der  einzelnen  zu  einem 
Bündel  vereinigten  Axencylinder  ziemlich  gleichartige  sind,  herrscht 
in  dieser  Beziehung  in  andern  Fällen  oft  eine  ausserordentliche  Ver- 
schiedenheit. So  sieht  man  namentlich  bei  Insekten  und  Crustaceen 
innerhalb  einer  und  derselben  Scheide  oft  sehr  breite  bandförmige  und 
äusserst  schmale  fibrillenähnliche  Axencylinder  nebeneinander  verlaufen 

und  zwar  nicht  nur  in  grösseren 
Nervenstämmchen,  sondern  auch  in 
den  feineren  und  feinsten  End- 
zweigen, deren  Caliber  ganz  wohl 
berechtigen  würde,  sie  an  sich 
als  Nervenfasern  zu  bezeichnen. 
Allein  gerade  an  den  so  ausser- 
ordentlich reich  verzAveigten  Muskel- 
nerven der  Arthropoden,  wie  sie 
beispielsweise  beim  Krebs  seit  lange 
bekannt  sind,  lässt  sich  mit  Leichtig- 
keit zeigen,  dass,  abgesehen  von 
der  Zahl  der  innerhalb  einer  binde- 
gewebigen Scheide  verlaufenden 
Axencylinder,  ein  -wesentlicher 
Unterschied  im  Aufbau  der  gröberen 
wie  der  feinsten  Nervenverzwei- 
gungen nicht  besteht.  So  wenig 
daher  die  ersteren  als  Nervenfasern 
bezeichnet  werden  können,  sondern 
nur  als  Bündel  von  solchen  aufzu- 
fassen sind,  so  wenig  gilt  dies  auch 
für  die  letzteren.  Wir  sehen  uns  daher  auch  hier  veranlasst,  ungeachtet 
des  Umstandes,  dass  oft  noch  in  den  allerfeinsten  Nervenverzweigungen, 
ja  in  den  Endverästelungen  selbst,  mehrere  Axencylinder  von  gemein- 
samer Scheide  umschlossen  erscheinen ,  doch  nur  jedem  der  letzteren 
für  sich  den  morphologischen  Werth  einer  Nervenfaser  zuzuerkennen. 
Es  geht  hieraus  unmittelbar  hervor,  dass  die  oft  äusserst  mächtig  ent- 
wickelte, bindegewebige  Hülle  der  feinsten  Nervenzweige  der  Wirbel- 
losen nicht  etwa  als  Analogon  der  „S  c  h  w  a  n  n  '  s  c  h  e  n  Scheide"  wird 
bezeichnet  werden  können,  sondern  vielmehr  dem  Bindegewebe  (Endo- 
Perineurium  der  Autoren)  zu  vergleichen  ist,  welches  bei  Wirbel- 
thieren  die  noch  mit  besonderen  Scheiden  umhüllten  Axencylinder 
zu  Primitivfaserbündeln  oder  Nervenstämmchen  vereinigt.  Als  Schwann'- 
sche  Scheide  ist  dagegen  nur  jene  homogene,  zarte,  kernführende  Hülle 
zu  bezeichnen,  welche  bei  Wirbelthieren  und  bisweilen  avich  bei  Wirbel- 
losen periphere  markhaltige  und  marklose  Axencylinder  streckenweise 
umkleidet. 


Fig.  149.     Abschnitt  eines  Rüsselnerven 

von    Amphiporus    marmoratus    mit 

paarigen  Zellen.  (Methylenblau-Präparat 

nach  O.  Bürger.) 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  471 

Bei  den  Muskelnerven  des  Krebses  zeigt  die  Nervenscheide  sowohl 
grösserer  Stämmchen  wie  an  den  Stellen,  wo  Axencyliuder  einzeln 
verlaufen ,  schon  im  frischen  Zustande ,  besonders  aber  nach  Gold- 
behandlung einen  überaus  deutlich  geschichteten  Bau,  und  es  erinnert 
stellenweise  das  Bild  der  sehr  mächtig  entwickelten,  reichlich  mit 
Kernen  durchsetzten  Bindegewebshülle  an  die  Kapsel  der  Pacinischen 
Körperchen  (Fig.  150).  Eine  ähnliche  concentrische  Schichtung  zeigt 
die  Nervenscheide  auch  bei  manchen  Orthopteren  (Heuschrecken). 
In  andern  Fällen  (bei  vielen  Insekten)  dagegen  erscheint  die  Substanz, 
innerhalb  deren  die  Axencylinder  eingebettet  sind,  feingranulirt,  plasma- 
ähnlich (3). 

Das  geschilderte  Verhältniss  zwischen  den  Nervenfasern  (Axen- 
cylindern)  wirbelloser  Thiere  und  ihrer  Umhüllung  lässt  sich  nur  dann 
in  aller  Schärfe  feststellen,  wenn  die  ersteren  in  geeigneter  Weise  ge- 
färbt hervortreten.  Die  seit  Cohnheim  zu  diesem  Zwecke  so  vielfach 
benützte  Goldmethode  wird  insbesondere  bei  wirbellosen  Thieren  durch 
die  von  Ehrlich  eingeführte  vitale  Methylenblaufärbung  bei  Weitem 
übertreffen.  Soweit  ich  mich  habe  überzeugen  können,  besitzen  die 
feineren    und    feinsten    Axencylinder   der   Nerven    wirbelloser    Thiere 


'-r:;:^.::: 


Fig.  150.     Isolirtes  Muskelnervenstämmchen  aus  dem  Oeffnungsmuskel  der  Krebsscheere 
(Gold-Ameisensäure-Präi)arat). 


innerhalb  der  gemeinsamen  Nervenscheide  keine  besondere,  jedem 
einzeln  für  sich  zugehörige  Umhüllung,  es  sei  denn,  dass  man  als  solche 
bei  den  Muskelnerven  des  Krebses  die  in  der  nächsten  Nähe  jedes 
Axencylinders  in  einem  Stämmchen  sich  dichter  zusammendrängenden 
Bindegewebsschichten  bezeichnen  wollte.  Im  Allgemeinen  handelt  es 
sich  daher  bei  den  Wirbellosen  um  nackte  Axencylinder  innerhalb  einer 
gemeinsamen  bindegewebigen  Umhüllung  oder  Grundmasse,  die  auch 
in  dem  Falle  mit  den  speci fischen  Scheiden  der  Nervenfasern 
höherer  Thiere  vom  histologischen  Standpunkte  aus  nicht  verwechselt 
werden  darf,  wenn  sie  einen  einzeln  verlaufenden  Axencylinder  um- 
kleidet. Bei  Wirbelthieren  kommen  ähnliche,  derbere  bindegewebige 
Hüllen  einzelner  Axencylinder  nur  ganz  ausnahmsweise  vor. 

So  zeigen  die  Nervenfasern  des  elektrischen  Organes  von  Torpedo 
ziemlich  dicke  Scheiden  und  in  extremster  Weise  entwickelt  findet  sich 
eine  geschichtete,  aus  vielen  in  einander  geschachtelten  concentrischen 
Blättern  gebildete  Hülle  bei  jeder  der  beiden  zu  dem  elektrischen  Organ 
des  Zitterwelses  (Malopterurus)  hinziehenden  Riesennervenfasern, 
welche  die  Dicke  einer  Stricknadel  erreichen  und  doch  nur  je  eine 
markhaltige  Primitivfaser  enthalten. 


472 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 


niF 


f 


Als  „speciiisclie"  Nervenfaserscheiden  sind  nur  die  Schwann'sche 
sowie  die  Markscheide  anzusehen.  Wie  schon  erwähnt,  kommt  eine 
ächte  Schwann'sche  Scheide  den  Nervenfasern  der  Wirbellosen  nur 
ausnahmsweise  zu  und  wie  es  scheint,  nur  in  solchen  Fällen,  wo  es 
sich  um  relativ  breite  Axencylinder  handelt.  So  finden  sich  fast  in 
allen  nicht  zu  feinen  Nervenstämmchen  des  Krebses  neben  zahlreichen 
sehr  dünnen  Axencylindern,  welche  niemals  eine  besondere  Scheide 
erkennen  lassen,  andere  von  viel  grösserem  Durchmesser,  die  bei  Be- 
handlung mit  Methylenblau  meist  einen 
blasseren  Farbenton  annehmen  und  im 
Sinne  von  Remak  einen  deutlich 
„röhrenförmigen"  Bau  besitzen,  indem 
sie  aus  einer  sehr  zarten,  scheinbar 
structurlosen,  kernfithrenden  Hülle  und 
einem  Inhalt  (dem  eigentlichen  Axen- 
cylinder) bestehen,  auf  dessen  feinere 
Structur  wir  noch  zurückkommen. 

Mit  den  geschilderten  Bauverhält- 
nissen der  Nerven  wirbelloser  Thiere 
besitzen  in  mancher  Beziehung  jene 
feinen  Nervenstämmchen  Aehnlichkeit, 
welche  zunächst  im  sympathischen  System 
der  Wirbelthiere  vorkommen  und  inner- 
halb einer  starken,  bindegewebigen 
Nervenscheide  (Epineuralscheide)  ein 
Bündel  von  marklosen  Nervenfasern 
(Axencylindern)  enthalten  (graue Remak'- 
sche  Fasern)  (Fig.  151).  Isolirt  stellt  sich 
jede  derselben  als  ein  durchsichtiges, 
meist  etwas  plattes  und  im  frischen  Zu- 
stande homogenes  oder  zart  längsstrei- 
figes Band  dar,  an  dem  man  von 
Strecke  zu  Strecke  länglich  ovale  Kerne 
bemerkt.  Von  M.  Schnitze  seinerzeit 
als  Axencylinder  mit  SchAvann'scher 
Scheide  gedeutet,  wurden  die  Remak'- 
schen  Fasern  in  der  Folge  sehr  ver- 
schieden aufgefasst;  nachdem  anfangs 
ihre  nervöse  Natur  überhaupt  an- 
gezweifelt worden  war,  schlössen  sich  später  die  Meisten  der  An- 
sicht M.  Schnitze 's  an.  Schon  Remak  Avar  es  aufgefallen,  dass 
die,  wie  er  meint,  nackten,  „an  der  Oberfläche  fast  immer  längsge- 
streiften" Fasern  ausserordentlich  leicht  in  „zarteste  Fäden"  zerfallen, 
und  in  der  That  ist  nichts  leichter,  als  sich  hiervon  an  geeigneten 
Präparaten,  wie  z.  B.  den  Milznerven  von  Wiederkäuern,  zu  überzeugen. 
Kölliker  und  mit  ihm  Schief  fer  d  ecker  (4)  fassen  dagegen  jede 
Remak'sche  Faser  als  ein  „Bündel  von  feinen  Axencylindern  auf,  um- 
geben von  einer  mehr  oder  weniger  vollständigen  Schwann'schen  Scheide". 
Für  eine  richtige  Beurtheilung  können  aber  auch  in  diesem  Falle 
wieder  nur  lediglich  die  Ursprungsverhältnisse  der  betreffenden  Fasern 
maassgebend  sein.  Wenn  sich  nachweisen  lässt,  dass  eine  „Remak'sche 
Faser"  als  solche,  nicht  aber  die  einzelnen  „Elementartibrillen"  als 


Fig.  151.  Stück  aus  dem  Grenz- 
strang des  Nervus  sympathicus  des 
Menschen  fixirt  mit  Osmiumsäure. 
In  einem  Bündel  Remak'scher 
Fasern  liegen  zwei  markhaltige 
Fasern  {mF).  Aussen  Epineural- 
scheide. 
(Nach  Schief  fer  deck  er.) 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Fiinction.  473 

selbständige  Zellfortsätze  entspringen,  so  kann  meines  Erachtens  nicht 
daran  gezweifelt  werden,  dass  die  ersteren  als  einzelne  Axencylinder 
(Nervenfasern),  nicht  aber  als  Bündel  von  solchen  aufgefasst  werden 
müssen.  Es  ist  nun  in  der  That  seit  lange  bekannt,  dass  von  den  mit 
einer  vollständigen  Schwann'schen  Scheide  umhüllten  sympathischen 
Ganglienzellen  breite  Ausläufer  entspringen,  welche,  umgeben  von  einem 
Fortsatz  der  Zellscheide  durchaus  den  Charakter  der  Remak'schen 
Fasern  zeigen.  Dazu  kommt  noch,  dass  diese  letzteren  im  weiteren 
Verlaufe,  ungeachtet  der  zuerst  von  R  a  n  v  i  e  r  erkannten  Unvollständig- 
keit  der  zelligen  Scheide,  sich  jederzeit  als  besondere  Structurelemente 
geltend  machen,  die  sich  ähnlich  den  markhaltigen  Nervenfasern  leicht 
voneinander  isoliren  lassen,  während  die  Elementarfib rillen  („Remak'- 
sche  Fibrillen"  KöUikers)  viel  fester  aneinander  haften  und  nur 
streckenweise  isolirt  werden  können.  Das  Vorhandensein  derselben 
lässt  sich  aber  immer  leicht  sowohl  an  Zupfpräparaten,  wie  auch  be- 
sonders an  Querschnitten  grösserer,  Remak'sche  Fasern  enthaltender 
Nervenstämmchen  (Milznerven  vom  Rind)  nachweisen. 

Einen  ähnlichen  Bau,  wie  die  Remak'schen  Fasern,  besitzen  auch 
die  Elemente  des  Nervus  o  1  f  a  c  t  o  r  i  u  s.  Wie  man  durch  die  Unter- 
suchungen von  M.  Schnitze  weiss,  besteht  die  periphere  Aus- 
breitung desselben  bei  allen  Wirbelthieren  aus  marklosen  Elementen, 
welche  beispielsweise  beim  Hecht  scharf  abgegrenzt  und  von  einer 
ziemlich  dicken  structurlosen  Scheide  umgeben  sind,  welche  M.  Schnitze 
als  Schwann'sche  Scheide  auffasste.  Im  Querschnitt  erscheinen  die 
einzelnen,  etwa  10 — 40  f,i  dicken  „Fasern"  rundlich  oder  durch  gegen- 
seitige Abplattung  polygonal.  Der  Inhalt  der  Scheide  zeigt  schon  im 
frischen  Zustande  eine  wenngleich  etwas  verwaschene  Längsstreifung. 
Nach  längerer  Maceration  in  0,04  ^/o  Chromsäure  oder  0,4—0,6  ^lo 
Lösung  von  chromsaurem  Kali  konnte  nun  Schnitze  aus  dem  Inhalt 
der  „Nervenfasern"  zweierlei  Bestandtheile  isoliren:  zahllose  äusserst 
feine  Fibrillen  und  eine  feinkörnige  Masse,  „von  der  es  schwer  zu 
sagen  ist,  ob  sie  den  Fäserchen  selbst  angehört  oder  zwischen  denselben 
liegt".  Damit  war  der  Bau  der  Olfactoriusfasern  im  Wesentlichen 
gekennzeichnet,  zugleich  aber  schien  hier  zum  erstenmal  eine  fibrilläre 
Structur  der  Nervenfasern  erwiesen  zu  sein,  wodurch  bekanntlich  der 
Ausgangspunkt  für  weitere  Untersuchungen  M.  Schultzens  ge- 
geben war,  in  denen  er  die  Lehre  von  der  hbrillären  Structur  für 
alle  Nervenfasern  durchführte  und  begründete.  Indem  er  auch  den 
Axencylinder  markhaltiger  Nerven  als  ein  Bündel  feinster  Fibrillen 
mit  körniger,  interlibrillärer  Substanz  betrachtete,  setzte  er  denselben 
dem  Inhalt  der  im  Olfactorius  gefundenen  faserigen  Elemente  gleich 
und  delinirte  diese  demnach  als  „Achsency linder  mit  Schwann'scher 
Scheide". 

Gegen  diese  Auffassung  M.  S  c  h  u  1 1  z  e  '  s  machte  bereits  B  a  b  u  c  h  i  n 
Einwände  geltend,  indem  er  betont,  dass  die  von  Schnitze  aus  dem 
Olfactorius  isolirten,  umscheideten  „Nervenfasern"  keineswegs  mit 
Remak'schen  Fasern  so  ohne  Weiteres  verglichen  werden  dürfen. 
Wenn  dieser  Vergleich  bei  manchen  Thieren  zutreffend  zu  sein  scheint, 
so  lässt  sich  doch  in  anderen  Fällen  zeigen,  dass  die  angebliche 
Schwann'sche  Scheide  vom  morphologischen  Standpunkte  aus  vielmehr 
dem  Neurilem  von  Nervenstämmchen  entspricht.  An  feinen  Quer- 
schnitten   durch    den  Olfactorius    (vom  Hecht)    lässt   sich   zeigen,   dass 

Biedermann,  Elektrophj-siologie.  31 


474  I^iß  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

von  der  äusseren  Scheide  der  grösseren  Nervenfasern  im  Sinne  von 
M,  Schnitze  secimdäre  Scheidewände  ausgehen,  welche  die  Faser 
in  zwei  oder  mehr  Abtheilungen  zerlegen.  Bei  höheren  Wirbelthieren 
scheint  dagegen  eine  derartige  Abgrenzung  einzelner  „Fasern"  durch 
besondere  Scheiden  überhaupt  nicht  vorzukommen.  Wenigstens  ist  es 
Boveri  weder  durch  Isolation  noch  an  Querschnitten  gelungen,  kern- 
haltige Membranen  nachzuweisen.  „Am  Querschnitt  lässt  sich  dann 
zwar  eine  Zerlegung  in  grössere  und  kleinere  unregelmässige  Gruppen 
leicht  erkennen;  diese  aber  sind  nicht  durch  scharfe  Doppellinien  von 
einander  geschieden,  wie  dies  bei  Membranen ,  Avelche  den  einzelnen 
Abtheilungen  angehörten,  der  Fall  sein  müsste,  sondern  nur  durch  ein- 
fache, oft  undeutliche  und  punktirt  erscheinende  Züge,  die  nicht  einmal 
den  Secundärscheiden  der  Hechtfasern  gleichgestellt  werden  können." 
Boveri  hält  daher  wohl  mit  Recht  diese  Scheidewände  für  „flächen- 
haft  ausgebreitetes  Bindegewebe,  wie  es  sich  in  gleicher  Anordnung 
(auch)  zwischen  den  Fasern  der  weissen  Substanz  des  Rückenmarkes 
findet".  Hiermit  steht  auch  das  Verhalten  der  Kerne  in  Ueberein- 
stimmung.  „An  den  „Fasern"  der  über  den  Fischen  stehenden  Wirbel- 
thiere  erkennt  man  sehr  leicht,  dass  nicht  nur  zwischen  ihnen,  sondern 
auch  in  ihrem  Inneren  Kerne  liegen." 

Die  durch  die  erwähnten  Scheidewände  abgegrenzten  Räume  sieht 
man  am  Querschnitt  von  einem  grau  gefärbten  Reticulum  (der  inter- 
fibrillären  Substanz  M,  Schul tze's)  erfüllt,  in  dessen  Maschenräumen 
wieder  bei  geeigneter  Tinction  die  punktförmigen  Querschnitte  feinster 
Fäserchen  erscheinen,  ganz  ähnlich  wie  auch  an  Querschnitten  Remak'- 
scher  Fasern.  Während  wir  aber  mit  Rücksicht  auf  ihre  Ursprungs- 
verhältnisse jede  der  letzteren  als  einen  Axencylinder  bezeichnen 
müssen,  sehen  wir  uns  aus  gleichem  Grunde  beim  Olfactorius  ge- 
zwungen, jede  der  feinen  Elementarfasern  oder  Fibrillen,  welche  den 
Inhalt  der  gemeinsamen  Scheide  bilden,  als  eine  Nervenfaser  oder  einen 
Axencylinder  für  sich  zu  bezeichnen.  Die  eigenthümlichen  Beziehungen 
der  Olfactoriusfasern  zu  gewissen  kugeligen  Gebilden  des  Bulbus 
olfactorius  sind  seit  lange  bekannt,  doch  ist  es  erst  in  neuester  Zeit 
gelungen,  mit  Hülfe  der  ausserordentlich  vervollkommneten  Nerven- 
färbungsmethoden  die  erwähnten  Beziehungen  näher  aufzuklären. 

Man  weiss  jetzt,  dass  von  dem  spindelförmigen  Körper  jeder 
„Riechzelle"  zwei  Fortsätze  ausgehen,  ein  kurzer  nach  der  Schleimhaut- 
oberfläche gerichteter,  der  sich  zwischen  die  andern  Epithelzellen  ein- 
fügt, und  ein  sehr  langer,  feiner,  fadenartiger  Fortsatz,  welcher  als 
Olfactoriusfaser  nach  dem  Bulbus  hinzieht,  um  dort  in  je  einem 
„Glomerulus"  zu  enden.  Eine  ganze  Anzahl  derartiger  feinster  Nerven- 
fasern sammelt  sich  nun  zu  gröberen  Bündeln  (den  erwähnten  Olfactorius- 
bündeln),  welche  nach  kürzerem  oder  längerem  Verlauf  durch  die 
Löcher  der  Lamina  cribrosa  aus  der  Riechschleimhaut  zum  Bulbus 
olfactorius  hinübertreten  und  der  Schichte  der  Glomeruli  zustreben. 
Während  des  ganzen  Verlaufes  von  der  Riechzelle  bis  zum  Glomerulus 
behalten  die  einzelnen  ungetheilten,  oft  varicösen  Fasern  gleiche  Breite. 
Kurz  vor  dem  Eintritt  in  den  Glomerulus  beginnt  die  Verzweigung 
der  Fasern;  sie  theilen  sich  wiederholt  dichotomisch  und  durchsetzen 
in  etwas  gewundenem  Verlauf  den  Glomerulus,  um  schliesslich  frei  zu 
enden  (5).  Oft  sieht  man,  wie  R  a  m  o  n  y  C  a  j  a  1 ,  V  a  n  G  e  h  u  c  h  t  e  n  und 
Martin,  sowie  K  ö  1 1  i  k  e  r  beschrieben  haben,  „nicht  nur  eine  Faser 
in  je   einen  Glomerulus    eintreten,  sondern  2,  3  oder  mehrere,  welche 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 


475 


U« 


sich  alle  in  derselben  Weise  verhalten,  indem  sie  sich  im  Glomerulus 
reichlich    dichotomisch    verzweigen    und    dabei    sich   miteinander  ver- 
flechten,   ohne    etwaige    Continuitätsverbindungen    einzu- 
gehen."     In    diesen    Endverzweigungen    der  Olfactoriusfasern  in  den 
Glomerulus  liegen  also  die  centralen  Endigungen  dieser  Fasern  vor, 
die  man  füglich,  trotz  ihrer  Feinheit,  nicht  anders  auffassen  kann,  wie 
als    selbständige   Nervenfasern    (Axencylinder).     Jede   Olfactoriusfaser, 
oder  richtiger  Fibrille,    entspricht  daher  dem  centripetal   verlaufenden 
Fortsatz  einer  im  Epithel  der  Riechschleimhaut  ge- 
legenen „Riechzelle".    Mit  den  Verzweigungen  dieser  ^ 
Fasern    im    Glomerulus  verflechten    sich    ohne  di-                 ftllimmr 
recten  Zusammenhang    andere    aus  der  Thei-               [llfiili    l 
lung  von  Ganglienzellfortsätzen  (Ausläufer  der  söge-              /'/        / 
nannten  „Mitralzellen")  hervorgehende  Nervenfasern.       ^     //         / 

Haben  wir  es  bei  den  Elementen  des  Olfac- 
torius  mit  äusserst  feinen,  den  „Fibrillen"  der  Re- 
mak'schen  Fasern  im  Bau  und  Aussehen  gleichenden, 
aber  selbständigen  marklosen  Nervenfasern  zu  thun, 
so  repräsentiren  dieselben  gewissennaassen  die  nie- 
drigste, wenigst  entwickelte  Form  des  Nerven- 
gewebes. Höher  stehen  schon  die  Remak'schen 
Fasern,  indem  sie  Bündel  von  Fibrillen  darstellen, 
die  eine  allerdings  nur  unvollkommene  Schwann'- 
sche  Scheide  besitzen;  die  höchst  entwickelten 
marklosen  Nervenfasern  treten  uns  endlich  in  den 
von  einer  vollständigen  Schwann'schen  Scheide  um- 
hüllten Axencylindern  entgegen,  wie  sie  in  besonders 
typischer  Form  die  peripheren  Nerven  der  nieder- 
sten und  in  einem  gewissen  Entwicklungsstadium 
auch  der  höheren  Wirbelthiere  zusammensetzen. 
(Petrorayzonten,  Amphioxus,  Cyklo- 
stomen). 

Der  Axencylinder,  auf  dessen  feineren  Bau 
wir  später  zurückkommen,  erscheint  hier  unmittel- 
bar und  allseitig  von  der  zur  vollkommenen  Röhre 
geschlossenen,  glashellen  und  ihre  Zusammensetzung 
aus  Zellen  nur  durch  das  Vorhandensein  länglicher 
Kerne  an  ihrer  Innenseite  verrathenden  Schwann'- 
schen Scheide  umgeben,  deren  Oberfläche  oft  noch 
eine  zarte,  aus  fibrillärem  Bindegewebe  bestehende 
Schichte  („Henle'sche  Scheide")  umkleidet, 
die  man  als  Theil  des  eine  Anzahl  von  Fasern  zu 
einem  Nervenstämmchen  zusammenschliessenden 
Bindegewebes  (Neurilems)  betrachten  kann  (Fig.  152). 

Alle  Nerven,  welche  aus  Elementen  der  bisher  besprochenen  Art 
zusammengesetzt  sind,  zeichnen  sich  schon  makroskopisch  ganz  wesent- 
lich vor  denen  aus,  welche  entweder  ausschliesslich  oder  doch  in 
grösserer  Menge  markhaltige  Fasern  enthalten,  deren  sehr  complicirter 
Bau  im  Folgenden  noch  zu  erörtern  ist.  Marklose  Nerven  erscheinen 
in  Folge  der  Durchsichtigkeit  der  einzelnen  Fasern  und  ihrer  Um- 
hüllung immer  durchscheinend,  graulich  gefärbt,  und  zeigen  oft, 
namentlich  bei  Wirbellosen,  eine  fast  gelatinöse  Beschaffenheit.  Da- 
gegen   sind    die    markhaltigen    Nerven    viel    derber   und   widerstands- 

31* 


Fig.  152.  Nervenfaser 
aus  dem  N.  trigemi- 
nus  von  Petromy- 

zon    fluviatilis 
nach  Behandlung  mit 
Müller'scher  Flüssig- 
keit. (Nach  Schief- 
ferdecker.) 


476 


Die  Xerveii  und  ihre  physiologische  Function. 


fähiger  und  zeichneu  sich  auch  sofort  durch  ihre  elfenbeinweisse  Farbe 
und  Undurchsichtigkeit  aus,  was  die  Folge  der  optischen  Eigenschaften 
der  Markscheide  ist,  deren  feinere  Structur  die  Histologen  seit 
lange  beschäftigt. 

Untersucht   man   markhaltige   Nervenfasern    im   lebenden  Gewebe 
oder   unmittelbar    nach   dem    Isoliren    in    einer  möglichst   indifferenten 
Flüssigkeit,    so    erscheinen   dieselben   als    stark  lichtbrechende,  durch- 
sichtige,   vollkommen  homogene    und  von  einem  einfachen  Contur  be- 
grenzte Fäden,  an  welchen  man  von  Stelle  zu  Stelle  in  sehr  wechseln- 
den   Abständen    Einschnürungen    wahrnimmt,    die 
nach  ihrem  Entdecker  als  R  a  n  v  i  e  r '  sehe  Schnür- 
ringe     („Etranglements      annulaires")      bezeichnet 
werden  (Fig.  151  und  153).    Die  Länge  der  Segmente 
zwischen  je  zwei  Einschnürungen    ist   bei    niederen 
Wirbelthieren    (Fische,    Amphibien)    viel    beträcht- 
licher,   als    bei    höheren,    so    dass   ersterenfalls   auf 
die   gleiche  Strecke    viel    weniger  Schnürringe  ent- 
fallen, was  vielleicht   mit    dem   verschiedenen  Stoff- 
bedarf zusammenhängt,  wenn,  wie  Ran  vi  er  glaubt, 
die    Einschnürungen     als    Eintrittsstellen    der     Er- 
uährungsflüssigkeit     zu    betrachten    sind.      Hierfür 
liesse  sich  vielleicht  auch  geltend  machen,  dass  die 
elektrischen  Nerven  von  Torpedo,  sowie  embryo- 
nale Nerven  stets  kürzere    und    daher   zahlreichere 
Segmente  haben,  als  völlig  entwickelte  Fasern.    Be- 
merkenswerth    ist    ferner,    dass    Ranvier'sche    Ein- 
schnürungen sich  an  allen  Theilungsstellen  peripherer, 
markhaltiger  Nervenfasern  finden,   dagegen  an  den 
centralen    Elementen   überhaupt    nicht   ganz    sicher 
festgestellt  sind.     Nebst  den  Schnürringen  fallen  an 
frisch  untersuchten,  peripheren,  markhaltigen  Nerven- 
fasern   auch    noch    die    der    Schwann 'sehen  Scheide 
zugehörigen  länglichen  Kerne  auf,  welche  der  Faser 
seitlich  anliegen  und  gewissermaassen  in  die  Mark- 
scheide hineingedrückt    erscheinen.     Der  Umstand, 
dass  (bei  höheren  Wirbelthieren)  etwa  in  der  Mitte 
zwischen  je  2  Ranvier'schen  Einschnürungen  je  ein 
Kern    liegt,   hat    im    Verein   mit   anderen    noch    zu 
erwähnenden    Thatsachen    zu    der  Ansicht    geführt, 
dass  jede  Nervenfaser  aus  der  Verschmelzung  meh- 
rerer Zellen  hervorgegangen  ist,    eine  Anschauung, 
welche  auf  Grund  entwicklungsgeschichtlicher  For- 
schungen nicht  aufrecht  erhalten  werden  kann.     Bei  niederen  Wii'bel- 
thieren  (Fischen)  liegen  mehrere  (nach  Key  und  R e  tz i u s  5 — 18)  Kerne 
in  jedem  Fasersegmente.     Bezüglich  ihres  feineren  Baues  stimmen  die 
Schwann'schen  Kerne   mit   anderen    Zellkernen    in    allen   wesentlichen 
Punkten  überein.    Während  die  Schwann 'sehe  Scheide  eine  der  Faser 
allseitig  auf  das  engste  sich  anschmiegende,    vollkommen  geschlossene 
Röhre  darstellt,  welche  auch  an  den  Stellen  der  Ranvier'schen  Einschnü- 
rungen, wo,  wie  wir  sehen  werden,  die  Markscheide  Unterbrechungen 
erleidet,  den  Achsencylinder  umhüllt,    zeigt  diese  auch  abgesehen  von 
den  Ranvier'schen  Schnürringen  eine  segmentale  Gliederung.   Nach  dem 
Tode  sieht  man  jederseits  zwischen  je  2  Ranvier'schen  Einschnürungen 


Fig.  158.  Nervenzelle 
mit  sich  theilendem 
Fortsatz  aus  einem 
Spinalganglion  des 
Kaninchens.  (Nach 
S  c  h  i  e  f  f  e  r  d  e  ek  e  r.) 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  477 

den  doppelten  Contour  der  Markscheide  durch  schräge  Querlinien  unter- 
brochen,  wodurch  trichterartig  ineinandersteckende,  kürzere  oder  längere 
Marksegmente  entstehen,  deren  Beziehungen  zu  einander  insbesondere 
durch  Schief f er decker  näher  untersucht  wurden.  Nach  ihrem 
Entdecker  Laut  er  mann  bezeichnet  man  die  erwähnten  secundären 
Unterbrechungen  der  Continuität  der  Markscheide  als  Lantermann  '- 
sehe  Einkerbungen  (Fig.  157).  BeiBehandlung  frischer markhaltiger 
Nervenfasern  mit  Silbernitrat  entstehen  an  den  Schnürringen  eigenthüm- 
liche  schwarze  Kreuze,  indem  hier  die  Silberlösung  am  raschesten  ein- 
dringt und  nicht  nur  die  von  Schiefferdecker  als  „Zwischenscheibe" 
bezeichnete  Substanz  im  Grunde  des  Schnürringes  färbt,  sondern  auch 
noch  eine  Strecke  weit  längs  des  Axencylinders  vordringt,  indem  sie 
sich  zwischen  diesem  und  der  Markscheide  nach  beiden  Seiten  hin  (in 
dem  „periaxialen  Spaltraum")  verbreitet  (Fig.  159).  Die  Längsbalken 
der  Kreuze  sind  oft  nicht  continuirlich ,  sondern  erscheinen  als  eine 
mehr  oder  weniger  lange  Reihe  von  Querbändern,  den  sogenannten 
Frommann'schen  Silbe rlinien,  deren  Entstehung  noch  nicht 
hinreichend  aufgeklärt  ist. 

Im  Verlaufe  des  Absterbens  machen  sich  weiterhin  sehr  auffallende 
Erscheinungen  geltend.  Es  wurde  schon  früher  bemerkt,  dass  an 
möglichst  lebensfrischen  Nervenfasern  die  Markscheide  homogen  und 
glatt  erscheint;  dies  Bild  ändert  sich  später  ganz  wesentlich.  Selbst 
unter  den  günstigsten  Bedingungen,  in  möglichst  indifferenten  Flüssig- 
keiten bedingt  es  die  ausserordentliche  Zersetzlichkeit  der  Substanz 
der  Markscheide,  dass  sich  sehr  rasch  Veränderungen  derselben  zeigen, 
die  gewöhnlich  als  Gesinnungserscheinungen  oder  als  Bildung  von 
„Myelinformen"  beschrieben  werden.  Dieselben  sind  hauptsächlich 
charakterisirt  durch  eine  Art  von  Faltung  und  Runzelung  der  Mark- 
scheide, wodurch  die  ui'sprünglich  geradlinige  seitliche  Begrenzung 
der  Fasern  vielfach  wellig  wird,  während  an  der  Oberfläche  mannig- 
fach gestaltete,  unregelmässige  Höcker,  klumpige  Streifen  und  Netze 
hervortreten,  durch  welche  die  Einkerbungen  bald  völlig  verdeckt 
werden,  während  die  Schnürringe  noch  immer  sichtbar  bleiben.  Es 
hängen  diese  Veränderungen  aufs  innigste  mit  der  chemischen  Con- 
stitution der  Markscheide  zusammen,  unter  deren  Bestandtheilen  be- 
sonders Lecithin  und  Cholesterin  zu  nennen  sind.  Der  Gehalt  an  dem 
ersteren  bedingt  es  hauptsächlich,  dass  das  Nervenmark  sich  bei  Be- 
handlung mit  Ueberosmiumsäure  mehr  oder  weniger  intensiv  schwärzt, 
so  dass  selbst  sehr  dünne  Markscheiden  durch  diese  Reaction  sich  noch 
ziemlich  sicher  erkennen  lassen.  Durch  Wasser,  verdünnte  Säuren 
und  Salzlösungen  wird  eine  Quellung  des  Nervenmarkes  bedingt,  die 
sich  am  raschesten  und  intensivsten  an  den  der  Schwann'schen  Scheide 
ermangelnden  centralen  Nervenfasern  geltend  macht.  Hier  wie  auch 
an  peripheren  markhaltigen  Fasern  kommt  es  dann  oft  zu  einer  sehr 
charakteristischen  Aufblätterung  der  Markscheide,  die,  an  dem  freien 
Ende  der  Marksegmente  beginnend,  dieselben  in  ihrer  ganzen  Aus- 
dehnung ergreift. 

Begreiflicherweise  machen  sich  Quellungserscheinungen  der  Mark- 
scheide an  solchen  Stellen  am  meisten  bemerkbar,  wo,  Avie  z.  B.  am 
Querschnitt,  das  Myelin  in  unmittelbarer  Berührung  mit  der  zutretenden 
Flüssigkeit  steht.  Hier  kommt  es  dann  oft  unter  Bildung  sehr 
charakteristischer  „My  eli  nfiguren"  zu  einem  förmlichen  Heraus- 
fliessen  des  Markes  aus  der  Scheide,  das  sich  unter  Umständen  ziemlich 


478 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 


weit  vom  Querschnitt  aus  erstrecken  kann.  Sehr  eigenthümliche 
Bilder  erhält  man  bei  Behandlung  markhaltiger  Nervenfasern  mit 
heissem  Alkohol  und  Aether,  wodurch  ein  grosser  Theil  der  Marksubstanz 
in  Lösung  geht  und  ein  zierliches  Netzwerk  einer  ziemlich  stark  licht- 
brechenden  Masse  übrig  bleibt,  die  ihrem  chemischen  Verhalten  zufolge 
dem  Keratin  nahe  steht  und  daher  von  Kühne  und  Ewald  als  Neu- 
rokeratin  bezeichnet  wurde  (Fig.  154).  Ob  diese  netzförmigen  „Horn- 
scheiden"  als  solche  innerhalb  der  normalen  Markscheide  präformirt 
sind  oder  nicht,  muss  als  zur  Zeit  nicht  sicher  entschieden  gelten. 
Ueberhaupt  sind  die  durch  verschiedene  Reagentien 
verursachten  Veränderungen  im  Aussehen  der  mark- 
haltigen  Nervenfasern  bei  der  ausserordentlichen 
Zersetzlichkeit  der  Markscheide  immer  nur  mit 
grösster  Vorsicht  für  die  Erkenntniss  der  Structur 
derselben  zu  verwerthen. 

Es  wurde  schon  erwähnt,  dass  alle  mark- 
haltigen  Nervenfasern  der  Wirbelthiere  ursprünglich 
der  Markscheide  entbehren,  die  erst  in  einem  ge- 
wissen Stadium  der  Entwicklung  auftritt.  In  Bezug 
auf  die  Frage,  wie  dies  geschieht,  sind  allerdings 
die  Anschauungen ,  wie  auch  hinsichtlich  der  Ent- 
wicklung der  Nervenfasern  überhaupt  noch  sehr 
getheilt.  Als  sicher  darf  gelten ,  dass  die  Nerven- 
fasern unter  allen  Umständen  aus  besonderen  Zellen 
(Nervenzellen)  hervorwachsen  und  daher  als  Aus- 
läufer von  solchen  angesehen  werden  müssen ;  dies 
gilt  nach  den  Untersuchungen  von  KöUiker  und 
H  i  s  insbesondere  auch  für  die  Spinalnerven-Wurzeln. 
Sowohl  die  vorderen  wie  die  hinteren  stellen  an- 
fangs lediglich  Bündel  nackter  Axencjlinder  dar, 
welche,  soweit  es  sich  um  die  ersteren  handelt,  aus 
den  motorischen  Vorderhornzellen  hervorsprossen, 
Avährend  die  hinteren  Wurzelfasern  von  den  Zellen 
der  Spinalganglien  aus  theils  ins  Rückenmark  hinein, 
theils  nach  der  Peripherie  wachsen.  Dem  Mesoderm 
entstammende  Zellen  bilden  dann  später  eine  zu- 
nächst das  ganze  Bündel  markloser  Fasern  einschei- 
dende Hülle  und  endlich  auch  eine  Specialscheide 
jeder  einzelnen  Faser  (Schwann'sche  Scheide).  Die- 
selbe Thatsache  der  secundären  Entstehung  der 
Schwann'schen  Scheide  lässt  sich  noch  deutlicher  an 
den  sich  entwickelnden  Nerven  des  Froschlarven- 
schwanzes feststellen  (Kölliker,  Rouget,  Hen- 
sen).  Wie  Hensen  fand,  bestehen  hier  die  Nerven  im  ersten 
Anfang  aus  glänzenden,  feinen,  gabelförmig  sich  theilenden  Fäden 
ohne  Kerne;  später  treten  dann  zuerst  in  der  Nähe  der  Körperaxe 
einzelne  Kerne  auf,  Avelche  später  auch  an  den  letzten  Verzwei- 
gungen erscheinen.  Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  dieselben  Zellen 
der  Bindesubstanz  angehören,  aus  deren  Verschmelzung  die  Schwann'- 
sche Scheide  hervorgeht.  Was  nun  die  Bildung  der  Markscheide 
anlangt,  so  scheint  dieselbe  ebensowenig  wie  die  der  Schwann'schen 
Scheide  gleichzeitig  in  allen  Punkten  im  Verlauf  einer  Nervenfaser 
zu  erfolgen.      So    ist    es   bekannt,    dass    innerhalb    des   Centralorganes 


m 


Fig. 
faser 


Nerven- 
Fr  0  seh  es 


154. 
des 

mit  Alkohol  gekocht. 
Im  Innern  der  ver- 
bogene Axencylinder. 
Zwischen  demselben 
und  der  Schwann'- 
schen    Scheide     das 

Neurokeratingerüst. 

(Nach  Kölliker.) 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  479 

(Gehirn,  Rückenmark)  die  Fasern  der  Pyramidenbahn  in  der  Richtung 
von  ihren  Ursprungszellen  aus  nach  dem  Rückenmark  hin  sich  all- 
mählich mit  Markscheiden  umhüllen,  und  dasselbe  gilt  nach  Kölliker 
hinsichtlich  der  peripheren  Nerven,  wo  die  Markentwicklung  in  der 
Richtung  von  den  Stämmen  nach  der  Peripherie  zu  fortschreitet.  Der 
Angabe  von  Hensen,  dass  das  Mark  zunächst  in  Form  einzelner 
Tropfen  auftritt,  trat  Kölliker  entgegen,  welcher  bei  Froschlarven 
beobachtete,  dass  es  „als  eine  von  vorneherein  zusammenhängende 
Röhre  in  die  Erscheinung  tritt,  welche  ganz  allmählich  ihre  dunklen 
Contouren  gewinnt,  so  dass  ein  unmerklicher  Uebergang  von  den 
blassen  zu  den  dunkelrandigen  Fasern  statthat".  Dies  geschieht,  wie 
es  scheint,  zunächst  in  der  Nähe  der  Schwann'schen  Kerne,  so  dass 
sich  Marksegmente  bilden,  welche  durch  längere,  den  Ranvier'schen 
Einschnürungen  entsprechende  marklose  Strecken  von  einander  getrennt 
erscheinen. 

Das  Vorkommen  ächter  Markscheiden  bei  gewissen  Nerven  wirbel- 
loser Thiere  wurde  wiederholt  behauptet,  bildet  aber  unter  allen  Um- 
ständen eine  relativ  seltene  Ausnahme.     Ohne  auf  die  älteren  hierher- 


Fig.   155.     Zwei  markhaltige  Nervenfasern  von  Palaemon   squilla. 
(Nach  Ketzius.) 

gehörigen  Angaben  näher  einzugehen,  sei  nur  erwähnt,  dass  nach  den 
Untersuchungen  von  Retzius  an  Palaemon  squilla  und  von 
Friedländer  an  Anneliden  (Mastobranchus,  Lumbricus)  an 
dem  Vorkommen  markhaltiger  Nervenfasern  bei  Evertebraten  nicht 
mehr  zu  zweifeln  ist.  Am  weitesten  scheint  die  Uebereinstimmung 
der  fraglichen  Structurverhältnisse  mit  den  markhaltigen  Nerven  der 
Wirbelthiere  bei  den  Nervenfasern  von  Palaemon  zu  gehen.  Hier 
konnte  Retzius  sowohl  mit  Hülfe  der  Silberfärbung,  wie  auch  durch 
Methylenblau  ganz  charakteristische,  den  Ranvier'schen  Kreuzen  ent- 
sprechende Figuren,  sowie  auch  Frommann'sche  Linien  erzeugen,  welche 
wie  jene  Einschnürungen  entsprechen  und  an  gewissen,  regelmässig 
Aviederkehrenden  Stellen  vorkommen  (Fig.  155);  zwischen  je  2  Ein- 
schnürungen Hegt  ein  länglich  ovaler  Kern,  der  offenbar  den  Schwann '- 
sehen  Kernen  markhaltiger  Wirbelthiernerven  entspricht,  obschon 
Retzius  das  Vorhandensein  einer  Schwann'schen  Scheide  nicht  nur 
bei  den  Fasern  des  Bauchstranges,  sondern  auch  an  peripherischen 
Nerven  in  Abrede  stellt.  Die  Myelinscheide  verläuft  ununterbrochen 
von  einer  Einschnürung  zur  anderen,  zeigt  doppelte  Contouren  und 
ein  fettartig  glänzendes  Aussehen ;  nach  Behandlung  mit  Ueberosmium- 
säure  wird  die  Scheide  zuerst  grau,  später  schwarz,  ganz  wie  die  Mark- 
scheide der  Wirbelthiernervenfasern  (6). 

Der  Axencylinder. 

Auch  hinsichtlich  des  feineren  Baues  dieses  functionell  wichtigsten 
Theiles  der  Nervenfasern  gehen  die  Ansichten  zur  Zeit  noch  ziemlich 
weit    auseinander.      Der    Grund    hierfür    dürfte,    abgesehen    von    den 


480  Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

zweifellos  bestehenden  Schwierigkeiten  der  Untersuchung,  hauptsächlich 
darin  zu  suchen  sein,  dass  man  sich  vielfach  nicht  gleich  an  diejenigen 
Objecte  gewendet  hat,  welche  voraussichtlich  am  ehesten  geeignet 
erscheinen,  über  die  schwebenden  Fragen  Aufschluss  zu  geben.  Offenbar 
kommt  es  einerseits  auf  die  Grösse  der  Elemente,  andererseits  aber 
auf  den  Mangel  dickerer  Hüllen  an,  durch  welche  die  Klarheit  des 
mikroskopischen  Bildes  wesentlich  getrübt  wird.  Es  sind  daher  auch 
sicher  alle  markhaltigen  Fasern  von  vorneherein  als  minder  günstige 
Objecte  gegenüber  den  marklosen  der  Wirbelthiere  und  Evertebraten 
zu  bezeichnen.  In  der  That  stützt  sich  die  Anschauung  über  den  Bau 
des  Axencylinders ,  welche  zur  Zeit  wohl  die  am  meisten  verbreitete 
ist  und  vom  morphologischen  wie  physiologischen  Gesichtspunkte  aus 
auch  am  besten  begründet  erscheint,  zunächst  und  hauptsächlich  auf 
Beobachtungen  an  Nervenfasern  wirbelloser  Thiere  und  an  marklosen 
Wirbelthiernerven.  Schon  im  Jahre  1843  hat  Rem ak  an  gewissen 
riesigen  Nervenfasern  des  Bauchmarkes  der  Krebse  an  Stelle  des 
Axencylinders  ein  Bündel  feinster  Fibrillen  beobachtet,  und  später  trat 
insbesondere  M.  Schnitze  sehr  entschieden  zu  Gunsten  der  Annahme 
einer  durchgreifenden,  hbrillären  Structur  des  Axencylinders  bei  allen 
Nervenfasern  ein.  Er  weist  darauf  hin,  dass  insbesondere  an  den 
dicken,  markhaltigen  Nervenfasern  aus  den  Seitensträngen  des  Rücken- 
markes, „aus  denen  man,  da  sie  der  Schwann 'sehen  Scheide  entbehren, 
den  Axencylinder  leicht  isoliren  kann ,  sowohl  ganz  frisch  als  noch 
besser  nach  Maceration  in  Jodserum,  bei  starker  Vergrösserung  eine 
parallele  Streifung  und  eine  Substanz  feinkörniger  Natur  zwischen  den 
Streifen"  erkennbar  Avird,  welche  nur  „auf  eine  Zusammensetzung  aus 
Fibrillen  und  interfibrillärer  Substanz"  zurückzuführen  sei.  Aber  selbst 
innerhalb  der  Markscheide  konnte  M.  Schnitze  dieselbe  Structur 
des  Axencylinders  an  den  dicken  Fasern  des  Gehirns  von  Torpedo 
erkennen.  Sehr  überzeugend  sprechen  ferner  für  die  fibrilläre  Structur 
des  Axencylinders  Beobachtungen  über  den  Ursprung  desselben  aus 
dem  zugehörigen  Zellkörper,  wie  sie  von  M.  Schnitze  an  den  grossen 
Nervenzellen  des  Rückenmarkes  und  Gehirns  der  Wirbelthiere,  von 
Hans  Schulze  dagegen  fast  noch  überzeugender  an  Avirbel- 
losen  Thieren  gemacht  wurden.  In  beiden  Fällen  zeigt  der  Körper 
der  Ganglienzellen  selbst  eine  mehr  oder  minder  deutlich  ausgeprägte 
fibrilläre  Structur,  die  am  deutlichsten  in  der  Rinde  zu  erkennen  ist. 
Ihre  Wahrnehmbarkeit  wii-d  wesentlich  dadurch  erleichtert,  dass  be- 
nachbarte Fibrillen  durch  verhältnissmässig  dicke  Schichten  plasma- 
tischer  Grundsubstanz  von  einander  getrennt  erscheinen.  Der  com- 
plicirte  Verlauf  der  einzelnen  Fäserchen  im  Inneren  des  Zellkörpers 
tritt  nach  M.  Schul tze  mit  besonderer  Klarheit  an  gewissen  mächtigen 
multipolaren  Ganglienzellen  im  Gehirn  von  Torpedo  hervor,  wo  man 
leicht  zu  erkennen  vermag,  wie  die  Fibrillen  theils  in  divergirender 
Richtung  von  jedem  Fortsatze  aus  in  den  Zellkörper  einstrahlen, 
anderentheils  aber  um  den  central  gelegenen  Kern  concentrische  Kreise 
beschreiben. 

Jeder  Zweifel  an  der  Präexistenz  einer  fibrillären  Structur  des 
Axencylinders  Avird  endlich  durch  das  Studium  der  breiten  marklosen 
Nervenfasern  der  Petromy zonten  beseitigt,  welche  noch  besser  als 
gewisse  Fasern  wirbelloser  Thiere  (z.  B.  des  Krebses)  gestatten, 
die  fraglichen  Structurverhältnisse  an  völlig  lebensfrischen  Präparaten 
nachzuweisen  (Schiefferdecker  7).     Innerhalb  der  Schwann'schen 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  481 

Scheide  lassen  sich  in  der  Regel  zweierlei  Substanzen  erkennen,  ein 
in  der  Axe  gelegenes  Bündel  feinster  Fäserchen  (Nervenfibrillen,  Axen- 
librillen),  welche  oft  deutlich  einen  welligen  Verlauf  zeigen  und  rings 
umschlossen  werden  von  einem  Mantel  einer  homogen  erscheinenden 
Substanz,  die  sich  zweifelsohne  auch  in  das  Innere  des  „Axen- 
stranges",  wie  Schiefferd  ecker  das  Fibrillenbündel  nennt,  fort- 
setzt, und  die  einzelnen,  etwa  0,4  /.i  dicken  Fäserchen  von  einander 
trennt  (Fig.  152).  Es  besteht  hier  demnach  zwischen  den  letzteren  und 
der  homogenen  Grundsubstanz  (dem  „ A x o p  1  a s m a" ,  N e u r  o p  1  a s m a 
K  ö  1 1  i  c  k  e  r  '  s )  eine  ganz  ähnliche  Beziehung  wie  etwa  bei  den  glatten 
und  quergestreiften  Muskelfasern  zwischen  den  contractilen  Fibrillen 
und  dem  Sarkoplasma.  Der  Axoplasmamantel  ist  besonders  an  den 
dicksten  Kervenfasern  stark  entwickelt  und  tritt  um  so  weniger  als 
besonderer  Bestandtheil  des  ganzen  Axencylinders  hervor,  je  dünner 
die  Fasern  sind.  Dies  zeigt  sich  besonders  deutlich  an  Querschnitten  ge- 
härteter Nervenfasern  (Fig.  156).  Das  centrale  Fibrillenbündel  erscheint 
hier  an  breiten  wie  an  schmalen  Fasern  fast  gleich  entwickelt,  während 
die  Dicke  des  Axoplasmamantels  sehr  auffallende  Verschiedenheiten 
darbietet.  „Es  nimmt  also  mit  abnehmendem 
Axencylinderdurclimesser  bei  P  e  t  r  o  m  y  z  o  n 
die  Menge  des  Axoplasmas  schneller  ab  als 
die  Anzahl  der  Fibrillen.  Da  diese  letzteren 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die  eigentlich 
wichtige  leitende  Substanz  darstellen,  so 
würde  man  bei  Petromyzon  aus  dem 
Durchmesser  des  Axencylinders  nicht  ohne 
Weiteres  auf  die  Menge  der  leitenden  Sub-  ^ig.  156.  Querschnitte  von 
stanz  schliessen  dürfen.  Die  Entfernung  zwi-  Axeneylindern  aus  dem  N.  tri- 
schen  zwei  Fibrillen  ist  stets  grösser  als  der  geminus  von  Petromyzon  flu- 
Durchmesser  der  Fibrillen,  es  sind  dieselben  ^^^«1^«-  ^J'^ckelf"'^^'" 
also  durch  relativ  grosse  Mengen  von  Axo- 
plasma  von  einander  getrennt.    Die  Fibrillen 

von  Petromyzon  sind  äusserst  hinfällige  Gebilde,  welche  augenscheinlich 
nur  lebensfrisch  überhaupt  sichtbar  sind;  sobald  sie  absterben,  zerfallen 
sie,  auch  bei  Untersuchung  im  Blutserum  desselben  Thieres,  in  feine 
Körnchen  von  sehr  starkem  Lichtbrechungsvermögen,  welche  zunächst 
noch  in  Reihen  liegen  bleiben,  entsprechend  den  Fibrillen,  durch  deren 
Zerfall  sie  entstanden  sind.  Bei  weiterem  Absterben  tritt  dann  augen- 
scheinlich eine  Verflüssigung  des  Axenstranges  ein,  derselbe  fliesst  als 
eine  zähe  Masse  hervor,  begleitet  von  der  wohl  noch  festeren  Substanz 
des  Axoplasmamantels."  Noch  weniger  widerstandsfähig  als  das  Axo- 
plasma  scheinen  die  Fibrillen  zu  sein.  „Bald  nach  dem  Tode  ist  daher 
von  den  Fibrillen  überhaupt  nichts  mehr  zu  sehen ;  statt  ihrer  bemerkt 
man  einen  körnigen  Strang,  wie  er  schon  vielfach  abgebildet  worden 
ist."  Ich  kann  diese  Schilderung,  welche  ich  mit  S  c  h  i  e  f  f  e  r  d  e  c  k  e  r '  s 
eigenen  Worten  hier  wiedergegeben  habe,  nach  eigenen  Beobachtungen 
durchaus  bestätigen. 

Unverhältnissmässig  schwieriger  ist  der  Bau  des  Axencylinders 
bei  den  mit  dicken  Markscheiden  umgebenen  Nervenfasern  der 
höheren  Wirbelthiere  zu  erkennen,  und  sind  hierauf  ohne  Zweifel 
die  so  sehr  verschiedenen  Ansichten  der  Autoren  zurückzuführen. 
Von  vorneherein  kann  es  w^ohl  kaum  bezweifelt  werden,  dass  die 
Structurverhältnisse    des  Axencylinders    in    der   ganzen    Thierreihe    in 


482  ßiß  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

allen  wesentlichen  Punkten  übereinstimmen  Averden.  Wenn  daher 
in  einem  Falle  die  Existenz  einer  fibri Hären  Struetur  als  über 
jeden  Zweifel  feststehend  betrachtet  werden  darf,  so  erscheint  es  geradezu 
als  ein  Postulat,  die  Fibrille  allgemein  als  den  eigentlichen  Elementar- 
bestandtheil  des  Axencylinders  anzunehmen.  In  der  That  darf  zur 
Zeit  diese  von  R  e  m  a  k  und  Max  Schnitze  begründete  Anschauung 
durch  die  Untersuchungen  von  Engel  mann,  Kupffer,  Maley, 
Boveri,  Kölliker,  Jacob i,  Joseph  u.  A.  als  eine  durchaus  ge- 
sicherte angesehen  werden,  und  weder  die  Ansicht  F 1  e  i  s  c  h  1 '  s ,  der 
den  Axencylinder  als  eine  Flüssigkeitssäule  erklärte,  noch  jene  K  u  h  n  t '  s, 
der  den  Axenraum  von  einer  „homogenen,  fest  weichen,  ziemlich 
elastischen,  bald  fein,  bald  grob  granulirten  Masse"  erfüllt  sein  lässt 
und  die  fibrilläre  Längsstreifung  für  Falten  der  von  ihm  angenommenen 
„Axencylinderscheide"   hält,  kann  als  begründet  gelten. 

Wie  bei  den  marklosen  Fasern  der  P  e  t  r  o  m  y  z  o  n  t  e  n  und  gewisser 
Wirbellosen  (Krebs)  nehmen  wir  daher  auch  für  den  Axencylinder  der 
markhaltigen  Fasern  eine  Zusammensetzung  aus  einer  weichen,  wasser- 
reichen Grundsubstanz  von  wahrscheinlich  gallertiger  Consistenz,  dem 


Fig.  157.     Längs-  und  Querschnitt   von    markhaltigen    Nervenfasern    aus   dem 
N.  ischiadicus  des  Frosches  (Osmiumsäure-Säurefuchsin).    Eanvier'scher  Schnür- 
ring und  zwei  Lantermann'sche  Einkerbungen.     Fibrilläre  Struetur  des  Axen- 
cylinders. 

„Axoplasma",  und  darin  eingebetteten  Fibrillen  an.  Während  die 
letzteren  aber  in  den  erwähnten  Fällen  ein  centrales,  von  einer  mehr 
oder  weniger  dicken  Schicht  von  Axoplasma  umhülltes  Bündel  dar- 
stellen, erscheinen  sie  bei  markhaltigen  Fasern  gleichmässig  über  den 
ganzen  Querschnitt  des  Axencylinders  verbreitet,  so  dass  die  Mantel- 
schichte entweder  gar  nicht  oder  nur  undeutlich  als  eine  ganz  schmale 
Randzone  hervortritt.  Bei  Anwendung  geeigneter  Färbemittel  (Säure- 
fuchsin, Bismarckbraun  etc.)  lassen  sich  die  Fibrillen  überaus  deutlich 
sowohl  in  der  Längsansicht  der  Fasern,  wie  im  Querschnitt  erkennen. 
Man  bemerkt  dann  leicht,  dass  an  den  Schnürringen  die  Fibrillen  ein- 
ander genähert  und  durch  weniger  Kittsubstanz  verbunden  sind,  so  dass 
der  Axencylinder  au  solchen  Stellen  am  dünnsten  ist  (Fig.  157).  Nach 
Engelmann  (8)  würden  hier  präformirte  Discontinui täten  der  Fibrillen 
anzunehmen  sein,  wofür  besonders  die  Thatsache  geltend  gemacht  wird, 
dass  unter  gewissen  Umständen  der  Axencylinder  gerade  an  der  Stelle 
der  Einschnürung  eine  glatte  Continuitätstrennung  erfährt,  entsprechend 
„der  bei  Silberbehandlung  sich  schwarz  färbenden  Querlinie".  („Quer- 
scheibe" Engelmann.)  Engelmann's  Gründe  wairden  später  als  nicht 
stichhaltig  erwiesen  und  können  daher  auch  nicht  zur  Stütze  der  Lehre 
von  der  Zusammensetzung  der  markhaltigen  Nervenfasern  aus  einzelnen 
aneinandergereihten   Zellindividuen   gelten    ( vergl.  J  a  c  o  b  i ,  Boveri), 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  483 

einer  Lehre,  die  zur  Zeit  wohl  auch  als  durch  entwicklungsgeschicht- 
liche Untersuchungen  widerlegt  angesehen  werden  darf.  Es  verdient 
bemerkt  zu  werden,  dass  bei  der  Ehrlich'schen  „intravitalen"  Methylen- 
blau-Färbung, soweit  meine  Erfahrungen  reichen,  niemals,  weder  bei 
marklosen  noch  bei  markhaltigen  Fasern  die  librilläre  Structur  des 
Axencylinders  am  frischen  Präparate  merklich  hervortritt;  dagegen 
findet  man  an  gewissen  so  gefärbten  Fasern  im  Bauchmark  vom 
Hirudo  medicinalis  nach  Behandlung  mit  pikrinsaurem  Ammoniak 
die  Zusammensetzung  aus  einzelnen  Fibrillen  stets  überaus  deutlich 
ausgeprägt.  Es  muss  zur  Zeit  als  zweifelhaft  bezeichnet  werden,  ob 
der  Axencylinder  als  Ganzes  (Fibrillen  -f-  Neuroplasma) ,  abgesehen 
von  seinen  sonstigen  Hüllen  (Schwann' sehe  Scheide,  Markscheide),  auch 
noch  von  einer  besonderen  zarten  Scheide  („Axencylinderscheide")  um- 
geben ist.  In  einzelnen  Fällen  scheint  dies  thatsächlich  der  Fall  zu 
sein,  immer  handelt  es  sich  aber  nur  um  eine  äusserst  feine,  als  be- 
sondere Membran  kaum  darstellbare  Schicht. 

Die  schon  erwähnte  ausserordentliche  Empfindlichkeit  der  den 
Axencylinder  zusammensetzenden  Substanzen  bedingt  es,  dass  durch 
Behandlung  mit  Reagenzien  mancherlei  morphologische  Veränderungen 
bewirkt  werden,  welche  bei  nicht  genügender  Berücksichtigung  leicht 
zu  Irrthümern  Anlass  bieten  können.  Hierher  gehört  vor  Allem  die 
in  den  meisten  Fällen  sehr  beträchtliche  Schrumpfung,  welche  selbst 
schon  durch  physiologische  Kochsalzlösung,  in  besonders  hohem  Grade 
aber  durch  alle  stärker  wasserentziehenden  Härtungsmittel,  wie  Alkohol, 
Chromsäure  und  chromsaure  Salze  u.  A.,  herbeigeführt  wird. 

Hierher  gehört  ferner  die  Thatsache,  dass  gefärbte  Querschnitte 
durch  Nerven,  Avelche  in  Lösungen  von  Chromsäure  oder  chromsauren 
Salzen  gehärtet  wurden,  in  der  Regel  kein  richtiges  Bild  von  dem 
Verhältniss  der  Grösse  des  Axencylinders  zu  dem  Marke  geben,  indem 
jener  stark  geschrumpft  innerhalb  der  gequollenen  Markscheide  liegt 
und  auf  dem  Querschnitt  zur  Entstehung  der  bekannten  „Sonnen- 
bildchen" führt. 

Bessere,  wenngleich  auch  nicht  einwandfreie  Resultate  liefert  die 
Härtung  mit  Osmiumsäure.  M.  Joseph  bestimmte  in  diesem  Falle 
bei  den  elektrischen  Nerven  von  Torpedo  das  Verhältniss  der  Grösse 
des  Axenraumes  zum  Marke  wie  1:3  —  5.  Innerhalb  dieses  grossen 
Axenraumes  tritt  nun  bei  combinirter  Osmiumsäure-Alkohol-Behandlung 
sowohl  auf  Quer-  wie  an  Längsschnitten  ein  äusserst  zartes  Netzwerk 
hervor  („Axengerüst"  Joseph's),  welches  Joseph  für  präformirt 
hält  und  in  dessen  Maschen  die  Axenfibrillen  liegen  sollen,  die  bei  der 
angewendeten  Behandlung  der  Präparate  nicht  sichtbar  werden.  Joseph 
nimmt  ferner  an,  dass  das  „Axengerüst"  mit  dem  Neurokeratingerüst 
der  Markscheide  in  directem  Zusammenhang  steht,  was,  wie  Kölliker 
mit  Recht  bemerkt,  eher  als  ein  Beweis  gegen  die  Präformation  gelten 
müsste,  da  die  Existenz  des  letzteren  als  eines  präformirten  Bestand- 
theils  der  Markscheide  zum  mindesten  sehr  zweifelhaft  ist.  Die  Bilder, 
welche  Joseph  beschreibt,  erinnern  in  mancher  Beziehung  an  die 
Structurverhältnisse ,  welche  nach  Bütschli  dem  Axencylinder  in 
weitester  Verbreitung  zukommen  würden.  Wie  beim  Muskel  soll  auch 
hier  die  fibrilläre  Structur  durch  der  Länge  nach  aneinander  gereihte, 
gestreckte  Waben  bedingt  sein ,  deren  dickere  Seitenwände  durch 
äusserst  zarte  Querbrücken  miteinander  verbunden  sind.  Dadurch 
kommt  bei  schwächerer  Vergrösserung  das  Bild  einer  parallelen  Längs- 


484  Die  Nex-ven  und  ihre  physiologische  Function. 

streifung  zu  Stande.  Es  muss  vorläufig  dahingestellt  bleiben,  ob  diese 
von  Bütschli  beobachtete  Wabenstructur  wirklich  als  präformirt 
anzusehen  oder  nur  als  eine  Reagenzienwirkung  aufzufassen  ist.  Die 
letztere  Möglichkeit  wird  man  bei  einem  Gebilde  von  so  ausserordent- 
licher Labilität  immerhin  zugeben  müssen.  Ausserdem  sprechen  aber 
auch  physiologische  Erwägungen,  deren  Erörterung  hier  nicht  am 
Platze  scheint,  viel  mehr  zu  Gunsten  der  Annahme  isolirter  und  isolirt 
leitender  Fibrillen,  als  fiir  die  Existenz   eines  leitenden  Netzwerkes. 

Als  eine  Reagenzienwirkung  möchte  endlich  wohl  auch  in  allen 
Fällen  das  Vorkommen  varicöser  Anschwellungen  im  Verlaufe  einzelner 
Fibrillen  oder  feinerer  Fibrillenbündel  (dünner  Axencylinder)  anzu- 
sehen sein.  Bekanntlich  treten  dieselben  sehr  häufig,  ja  man  kann 
sagen  regelmässig,  sowohl  bei  Goldbehandlung,  wie  bei  Färbung  mit 
Methylenblau  auf  und  wurden  namentlich  auf  Grund  der  letzterwähnten 
Thatsache  vielfach  als  präformirt  angesehen.  In  der  That  scheint  hier 
ja  auch  das  regelmässige  Vorkommen  der  Varicositäten  im  Gebiete 
der  Endigungen  sensibler  wie  motorischer  Nerven  in  überlebenden 
Organen  (noch  zuckenden  Muskeln  etc.)  sehr  zu  Gunsten  der  erwähnten 
Anschauung  zu  sprechen.  Nichtsdestoweniger  glaube  ich  doch  und 
befinde  mich  hier  in  Uebereinstimmung  mit  auf  diesem  Gebiete  sehr 
erfahrenen  Forschern,  dass  Varicositäten,  wo  und  unter  welchen  Um- 
ständen immer  sie  auftreten  mögen,  als  eine  abnorme  Erscheinung 
anzusehen  sind,  bedingt  durch  eine  beginnende  Gerinnung  oder 
Erstarrung  als  erstes  merkbares  Zeichen  des  Absterbens. 

Ein  Umstand,  der  bisher  noch  nicht  erwähnt  wurde,  verdient,  wie 
ich  glaube,  besondere  Beachtung,  nämlich  die  ausserordentliche  Ver- 
schiedenheit der  Caliberverhältnisse  sowohl  markhaltiger  wie  markloser, 
centraler  wie  peripherer  Nervenfasern.  Am  eindringlichsten  macht  sich 
diese  Thatsache  vielleicht  bei  Betrachtung  eines  mit  Methylenblau  ge- 
färbten grösseren  Nervenstammes  oder  des  Bauchstranges  von  Crustaceen 
und  Insekten  geltend;  aber  auch  bei  markhaltigen  Wirbelthiernerven 
finden  sich  sehr  auffallende  Unterschiede.  Hängt  dies,  wie  es  den 
Anschein  hat,  mit  functionellen  Verschiedenheiten  zusammen,  so 
würden,  auch  abgesehen  von  später  zu  erwähnenden  physiologischen 
Gründen,  allein  schon  die  anatomischen  Differenzen  sehr  entschieden 
gegen  die  oft  behauptete  Einerleiheit  aller  Nervenfasern  sprechen,  wo- 
nach die  Verschiedenheit  der  Reizwirkungen  lediglich  und  allein  durch 
die  Verschiedenheit  der  Erfolgsorgane  bedingt  sein  soll. 

In  Bezug  auf  weitere  histologische  Einzelheiten  sei  erwähnt,  dass 
im  Allgemeinen  grosse  Ganglienzellen  auch  dickeren  Nervenfasern  den 
Ursprung  geben  als  kleine,  und  dass  alle  peripheren  Fasern  um  so 
dünner  werden,  je  mehr  sie  sich  ihrem  (peripheren)  Ende  nähern; 
besonders  deutlich  tritt  dies  an  allen  Theilungsstellen  motorischer 
sowie  insbesondere  der  elektrischen  Nerven  hervor.  Innerhalb  der 
Centralorgane  findet  man  dagegen  oft  ein  gegentheiliges  Verhalten, 
indem  eine  Nervenfaser  von  der  Ursprungszelle  aus  zunächst  erheblich 
an  Dicke  zunimmt. 

II.   Erregungsleitung  und  Erregbarkeit  der  Nerven. 

Mit  Rücksicht  darauf,  dass  die  wesentlichste,  ja  ausschliessliche 
Function  der  Nervenfasern  in  der  Erregungs  1  e i t u n g  besteht,  er- 
scheint es  angemessen,  zunächst  eine  kurze  Uebersicht  der  wichtigsten 


Die  Nerven  iind  ihre  physiologische  Function.  485 

hierhergehörigen  Thatsachen  zu  geben.  Der  Hauptsache  nach  besteht, 
um  dies  an  die  Spitze  zu  stellen,  kein  principieller  Unterschied  in 
Bezug  auf  die  Leitung  des  Erregungsvorgangs  in  irgend  einem  irri- 
tablen, leitungsfähigen  Plasma,  wie  beispielsAveise  der  Muskelsubstanz 
und  im  Nerven.  Hier  wie  dort  scheint  die  normale  Continuität 
der  Structur  ein  unabweisliches  Erforderniss  der  Erregungsleitung 
zu  sein,  welche  demnach,  wenigstens  innerhalb  der  Nervenfasern, 
von  Querschnitt  zu  Querschnitt  übertragen  wird.  Gewisse  neuere 
Erfahrungen  auf  dem  Gebiete  der  feineren  Anatomie  der  Central- 
organe  haben  es  dagegen  in  hohem  Grade  wahrscheinlich  gemacht, 
dass  hier,  wie  es  scheint,  das  in  Rede  stehende  Gesetz  insofern  eine 
Ausnahme  erleidet,  als  die  Uebertragung  der  Erregung,  insbesondere 
von  Ganglienzellen  auf  Nervenfasern  resp.  umgekehrt,  vielfach  nicht 
per  continuitatem,  sondern  nur  durch  Berührung  (per  contiguita- 
tem)  erfolgt. 

Schon  beim  Muskel  wurde  darauf  hingewiesen,  dass  unter  nor- 
malen Verhältnissen  die  Erregung  in  der  direct  gereizten  Faser  locali- 
sirt  bleibt  und  nicht  der  Quere  nach  auf  die  benachbarten  über- 
springt. Genau  das  Gleiche  gilt  auch  für  die  Nerven  und  zwar 
ebensowohl  die  marklosen  wie  die  markhaltigen.  Wie  Kühne  (9) 
gezeigt  hat,  kann  man  mittels  der  monopolaren  Reizmethode  unter 
bestimmten  Bedingungen  selbst  einzelne  Fasern  des  Froschischiadicus 
elektrisch  reizen  und  sieht  dann  immer  nur  die  zugehörigen  Muskel- 
fasern sich  verkürzen.  Bestätigt  wird  die  Isolation  und  Selbständig- 
keit der  einzelnen  Fasern  durch  die  Folgen  partieller  Durchschnei- 
dungen eines  Nervenstammes;  dieselben  lähmen  stets  nur  einen 
bestimmten  Theil  des  von  dem  Nerven  versorgten  Gebietes.  Wenn 
sich  eine  Nervenfaser  verzweigt,  so  verbreitet  sich  natürlich  die  Er- 
regung der  Stammfaser  auch  auf  alle  Theiläste.  Derartige  oft  ausserordent- 
lich reiche  Theilungen  kommen  besonders  entwickelt  innerhalb  der 
Centralorgane,  aber  auch  in  peripheren  Erfolgsorganen  (Muskeln,  elek- 
trischem Organ  u.  s.  w.)  und  Aviewohl  viel  seltener  innerhalb  der 
Stämme  selbst  vor.  In  ersterer  Hinsicht  braucht  nur  an  die  oft  er- 
staunlich reiche  Verästelung  des  einzigen  Nervenfortsatzes  monopolarer 
Ganglienzellen  im  Bauchmark  der  Crustaceen  und  Würmer  (Fig.  158) 
sowne  an  die  „Collateralen"  im  Rückenmarke  der  Wirbelthiere  er- 
innert zu  werden.  Hier  werden  durch  die  Theilung  offenbar  Be- 
ziehungen zwischen  mehr  oder  weniger  weit  von  einander  entfernt 
gelegenen  Theilen  des  centralen  Nervensystems  vermittelt.  In  ex- 
tremster Weise  rindet  sich  die  Theilung  (peripherer)  Nervenfasern  ent- 
wickelt bei  den  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  als  umgewandelte  Muskeln 
aufzufassenden  elektrischen  Organen  gewisser  Fische  (vergl.  das 
Capitel  über  elektrische  Fische).  So  wird  bei  Malopterurus  das 
ganze,  aus  vielen  Tausend  einzelner  Platten  bestehende  paarige 
Organ  von  je  einer  einzigen  Nervenfaser  versorgt,  die  sich 
dementsprechend  unzählige  Mal  theilen  muss,  um  jede  einzelne  elek- 
trische Platte  zu  versorgen,  und  ähnlich  verhält  es  sich  auch  bei 
andern  elektrischen  Fischen.  Es  sind  dies  übrigens  zugleich  die- 
jenigen Fälle,  welche  auf  die  functionelle  Bedeutung  der  Theilungen 
peripherer  Nervenfasern  am  meisten  Licht  werfen.  Offenbar  werden 
solche  hauptsächlich  da  vorkommen,  wo  kein  isolirtes  Functioniren 
der  betreffenden  Endorgane  erforderlich  ist,  wo  es  im  Gegentheil 
darauf   ankommt,    dass  alle  einzelnen  Elemente  möglichst  gleichzeitig 


486 


Die  Xerven  und  ihre  physiologische  Function. 


und  in  gleichem  Sinne  zusammenwirken.  Dies  wird  auch  bei  Muskeln 
der  Fall  sein,  welche  Bewegungen  von  sehr  geringer  Mannigfaltigkeit 
zu  vermitteln  haben,  wie  beispielsweise  die  in  festen  Hüllen  ein- 
geschlossenen Muskeln  der  Crustaceen  und  Insekten,  deren  Nerven 
sich  in  der  That  durch  äusserst  reiche  Theiluugen  auszeichnen  (Fig.  150). 


Fig.  158.     Ganglienzelle    mit    reich    ver- 
zweigtem Nervenfortsatz   aus   dem  Bauch- 
mark   des    Krebses    (Methylenblau-Pikrin- 
säure). 
(Nach  Biedermann.) 


Solche  kommen  ferner  nach  Stannius  sehr  allgemein  in  den  moto- 
rischen Nerven  der  Fische  und  in  gewissen  Muskeln  der  Amphibien 
(Fig.  159)  vor  und  finden  hier  wohl  auch  ihre  Erklärung  in  der 
geringen  Mannigfaltigkeit  der  Bewegungscombinationen  bei  diesen 
Thieren.  Je  grösser  diese  letztere  ist,  je  mehr  ein  Muskel  bestimmt 
ist,   mit   verschiedenen  Fasergruppen   bei  verschiedenen,    coordinirten 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  487 

Bewegungen  sich  zu  betheiligen,  umsomehr  wird  es  auf  eine  par- 
tielle Innervirung  ankommen  und  umso  beschränkter  werden  auch 
naturgemäss  die  Theilungen  der  Nervenfasern  sein  müssen. 

In  Bezug  auf  den  Theilungsmodus  der  marklosen  Fasern  wirbel- 
loser Thiere  herrscht  innerhalb  der  Centralorgane  wie  in  der  Peri- 
pherie eine  grosse  Mannigfaltigkeit;  von  der  einfachen  dichotomischen 
Theilung  bis  zur  reichsten  baumförmigen  Verästelung  linden  sich  alle 
Uebergänge.     Als    zwei    Haupttypen    können    hier   die  Verzweigungen 


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Fig.  159.  Einige  Nervenstämmchen  aus  dem  Brusthautmuskel  eines  mit  Methylenblau 
injicirten    Frosches    mit    zahlreichen   Theilungen    und    Ranvier'schen    Kreuzen.     (Nach 

Kölliker.) 

der  Axencylinderfortsätze  centraler  Ganglienzellen  im  Bauchmarke  der 
Würmer  und  Crustaceen  und  die  Muskelnerven  der  letzteren  gelten. 
Beide  treten  natürlich  im  Verlaufe  eines  und  desselben  Axencylinders 
auf,  indem  der  centrale,  mehr  oder  weniger  reich  verästelte  Abschnitt 
von  der  peripheren  Endausbreitung  durch  eine  ungetheilte  oder  doch 
theilungsarme  Strecke  getrennt  wird.  Während  innerhalb  des  Central- 
organs  von  der  dicken  Stammfaser  meist  zahlreiche,  sehr  feine  Seiten- 
zweige entspringen,  welche  sich  ihrerseits  baumförmig  verästeln,  wobei 
der  Unterschied  im  Caliber  des  Axencylinderstammes  und  seiner 
Zweige    oft   ausserordentlich    auffallend  ist,    herrscht  im  Bereiche  der 


488  I^iß  Nerven  und  ihre  pkysiologische  Function. 

peripheren  Endausbreitimg  der  Typus  streng  dichotomischer  Ver- 
zweigung vor.  Hierfür  dürfte  sich  kaum  ein  geeigneteres  Beispiel 
linden  lassen  als  der  Oeffnungsmuskel  der  Krebsscheere  mit  seinen 
Nerven  (3).  Hier  enthalten  die  feineren  Stämmchen  stets  nur  zwei, 
von  einer  geschichteten  Bindegewebshülle  umschlossene  Axencylinder, 
die  in  Bezug  auf  ihre  Dicke  Avesentlich  verschieden  sind  und  sich  auch 
mit  Methylenblau  in  verschiedenem  Tone  färben.  Verfolgt  man  die- 
selben nach  der  Peripherie  hin,  so  sieht  man,  wie  sich  ausnahmslos 
beide  Axencylinder  an  einer  und  derselben  Stelle  theilen;  es  wieder- 
holt sich  dies  in  gleicher  Weise  bei  jeder  neuen  Gabelung  bis  in  die 
feinsten  Verzweigungen  hinein,  wobei  zugleich  die  Zahl  der  Theilungen 
rasch  zunimmt  (Fig.  150).  Wie  innerhalb  des  Centralorganes,  so  ist 
auch  in  der  Peripherie  das  Grössenverhältniss  der  Zweige  und  der 
Stammfaser  bemerkenswerth.  Nur  selten  erfolgt  die  dichotomische 
Theilung  so ,  dass  die  beiden  Zweige  gleich  dick  erscheinen ,  sondern 
gewöhnlich  ist  der  eine  Ast  viel  dünner  als  der  andere  und  oft  be- 
steht in  dieser  Beziehung  ein  geradezu  auffallendes  Missverhältniss, 
indem  ein  sehr  dicker  Axencylinder  ein  überaus  feines  Aestchen  seit- 
lich abgiebt. 

Hinsichtlich  des  Theilungsmodus  der  Wirbelthiernerven ,  ins- 
besondere der  so  interessanten  Verhältnisse  im  elektrischen  Organ  der 
Zitterfische  wird   an  geeigneter  Stelle  noch  Näheres  mitzutheilen  sein. 

Nicht  in  demselben  Sinne  wie  bei  den  peripheren  Nerven  und 
deren  peripheren  Endigungen  hat  das  Gesetz  der  isolirten  Lei- 
tung Geltung  innerhalb  der  Gen tralorgane.  Hier  sind  nach- 
weislich Bedingungen  gegeben  für  eine  allseitige  Ausbreitung  (Irra- 
diation) der  Erregung,  wie  insbesondere  die  Erscheinung  des  Strychnin- 
tetanus  lehrt,  wobei  durch  Eeizung  einer  einzelnen  oder  weniger 
sensiblen  Nervenfasern  unter  Vermittelung  des  Rückenmarkes  fast 
sämmtliche  quergestreifte  Stammesmuskeln  in  die  heftigste  Erregung 
gerathen  können.  Wenn  hier  derselbe  beschränkte  Reiz  unter  nor- 
malen Verhältnissen  auch  nur  eine  auf  bestimmte  Muskelgruppen 
beschränkte,  coordinirte  (Reflex- jBewegung  hervorruft,  so  kann  man 
in  gewissem  Sinne  von  einer  isolirten  Leitung  sprechen.  Allein  der 
Grund,  wesshalb  in  diesem  Falle  die  Erregung  bestimmte  und  stets 
dieselben  Bahnen  einschlägt,  liegt  nicht  in  einem  scharf  begrenzten 
anatomischen  Zusammenhang  der  betreffenden  nervösen  Theile,  die 
vielmehr  innerhalb  des  Centralorganes  allseitig  mit  einander  leitend 
verknüpft  sein  müssen,  sondern  in  gewissen  besonderen  Erregungs- 
bezw.  Leitungsbedingungen  längs  bestimmter  („ausgeschliffener") 
Bahnen  oder  Entladungslinien  in  der  grauen  Substanz. 

Wo  immer  eine  irritable  Substanz  mit  einem  entwickelteren 
Leitungsvermögen  begabt  ist,  da  lässt  sich  auch  stets  eine  nach  allen 
möglichen  Richtungen  gleichmässige  Ausbreitung  des  Erregungspro- 
cesses  constatiren,  so  dass  es  fast  als  selbstverständlich  bezeichnet 
werden  dürfte,  dass  jeder  Nervenfaser  gerade  wie  etwa  einer  Muskelfaser 
doppelsinniges  Leitungsvermögen  zukommt..  Nur  der  Umstand, 
dass  jede  Nervenfaser  naturgemäss  mit  einem  Erregungs-  und  einem 
Erfolgsorgan  verbunden  ist,  würde  es  demnach  bedingen,  dass  eine 
andere  Richtung  der  Leitung  als  von  ersterem  zu  letzterem  keine  er- 
kennbare Wirkung  zu  entfalten  vermag.  Nichtsdestoweniger  hat  man 
sich  vielfach  bemüht,  einen  directen  experimentellen  Beweis  für  die 
in  Rede  stehende  Frage  zu  liefern.     Hier  sind  vor  Allem  Versuche  zu 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 


489 


erwähnen,  bei  welchen  man  anstrebte,  den  centralen  Theil  durch- 
schnittener sensibler  und  den  peripheren  motorischer  Nervenfasern 
künstlich  zusammenzuheilen. 

Ohne  hier  auf  die  nicht  einwandfreien  älteren  Versuche  von 
Bidder,  Philipeaux  und  Vulpian  u.  A.  näher  einzugehen, 
bei  welchen  es  sich  darum  handelte,  den  centralen  Stumpf  des  sen- 
siblen Ramus  lingualis  trigemini  mit  dem  peripherischen  des  Hypo- 
glossus  zu  vereinigen,  seien  nur  die  neuerdings  von  Kochs  (10) 
wiederholten  Versuche  P.  Berts  erwähnt,  wobei  die  angefrischte 
Schwanzspitze  einer  Ratte  zunächst  der  Rückenhaut  implantirt  wurde, 
worauf  nach  erfolgter  Anheilung  der  Schwanz  an  seinem  Ursprung 
abgeschnitten  wurde.  Nach  kurzer 
Zeit  sollte  die  Sensibilität  in  dem 
ti-ansplantirten  Schwänze  wieder  her- 
gestellt sein ,  scheinbar  ein  Beweis 
dafür,  dass  die  der  Degeneration 
noch  nicht  anheimgefallenen  Nerven 
in  einer  der  normalen  entgegen- 
gesetzten Richtung  die  Erregung 
leiteten.  Auch  die  Beweiskraft 
dieser  Versuche  ist  durch  Kochs 
als  völlig  unzureichend  erwiesen 
worden. 

Als  einen  wirklichen  experimen- 
tellen Beweis  für  das  doppelsinnige 
Leitungsvermögen  der  Nervenfasern 
darf  man  aber,  abgesehen  von  ge- 
wissen, später  zu  erwähnenden  Beob- 
achtungen von  Du  Bois-Reymond 
über  die  Fortpflanzung  der  nega- 
tiven Schwankung  in  beiden  Rich- 
tungen, Versuche  an  verzweigten  Nervenfasern  ansehen, 
wie  sie  von  Kühne  (11)  an  den  intramuskulären  Nervenverzwei- 
gungen verschiedener  Froschmuskeln,  insbesondere  des  Sartorius  und 
Gracilis,  von  Babuchin  an  dem  hierzu  noch  geeigneteren  elektrischen 
Organ  des  Zitterwelses  (Mal opteruru s)  angestellt  worden  sind.  Der 
zarte  Nerv,  welcher  in  der  Mitte  des  Sartorius  seitlich  hinzutritt,  ver- 
zweigt sich  in  dem  Muskel  derart,  dass  sich  die  einzelnen  Fasern  als 
Bestandtheile  von  Gabelästchen  vielfach  ebenfalls  dichotomisch  theilen. 
Machte  nun  Kühne  das  obere  breite  Muskelende  durch  Eintauchen 
in  erwärmtes  Oel  wärmestarr  (Fig.  160  a),  so  zuckte  eventuell  bei  Durch- 
schneidung des  erstarrten  Abschnittes  mit  der  Scheere  der  normal 
gebliebene  Theil  des  Muskels,  was  sich  so  deuten  lässt,  dass  noch 
erregbare  Nervenfasern  zwischen  den  starren,  todten  Muskelfasern 
mechanisch  gereizt  wurden  und  die  Erregung  in  centripetaler 
Richtung  auf  Aeste  übertragen  haben,  welche  jenseits  des  erstarrten 
Muskeltheiles  abzweigen.  Beweisender  ist  noch  der  sogenannte  „Zwei- 
zipfel versuch",  bei  welchem  das  breite  Sartoriusende  der  Länge 
nach  gespalten  wird ,  worauf  Reizung  des  einen  Zipfels  stets  auch 
ein  Mitzucken  des  anderen  bedingt  (Fig.  160  6).  Da  hierbei,  soferne 
es  sich  um  einen  normalen  Muskel  handelt,  eine  Uebertragung 
durch  secundäre  Erregung  von  Muskelfaser  zu  Muskelfaser  aus- 
geschlossen erscheint,  so  bleibt  nur  die  eine  Deutung  übrig,  dass  die 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  32 


490  I^iß  Nerven  uud  ihre  physiologische  Function. 

eine  Zinke  einer  Nervengabel  gereizt  wurde^  welche  beide  Zipfel  ver- 
sorgt und  somit  die  Erregung  zunächst  centripetal  geleitet  haben 
musste.  Später  hat  Kühne  analoge  Versuche  auch  an  anderen  Mus- 
keln, insbesondere  dem  Gracilis  des  Frosches,  mit  Erfolg  augestellt. 
Wie  die  beistehende  Fig.  160  c  zeigt,  theilt  sich  der  zutretende  Nerv  in 
zwei  Zweige,  a  und  b,  von  denen  der  eine  so  umschnitten  wird,  dass 
ein  Lappen  entsteht,  dessen  Reizung  (durch  Schnitt)  jedesmal  eine 
Zuckung  des  ganzen  Muskels  bewirkt.  Da  auch  hier  Fasertheilungen 
an  der  Theilungsstelle  des  ganzen  Nerven  vorhanden  sind,  so  beweist 
der  Versuch  die  centripetale  Leitung  in  dem  Nervenzweig  des  Lappens. 
Auf  den  Versuch  von  B  a  b  u  c  h  i  n  kommen  wir  an  anderer  Stelle 
noch  zurück;  hier  sei  nur  bemerkt,  dass  es  sich  dabei  um  eine  Ent- 
ladung des  ganzen  Organes  handelt,  wenn  ein  Zweig  der  peripheren 
Verästelung  der  einzigen  Nervenfaser  gereizt  wurde;  es  musste  also 
wie  bei  Kühne 's  Versuch  die  Erregung  in  dem  centrifugal  leitenden 
Nerven  zunächst  centripetal  fortgeleitet  worden  sein,  um  sich  auf  alle 
einzelnen  Zweige  zu  verbreiten  (12). 

Wenn  man  den  Achsencylinder  als  homogen  auffassen  dürfte,  so 
wäre  das  Ergebniss  des  Zweizipfelversuches  am  Sartorius,  sowie  der 
analogen  Versuche  an  anderen  Muskeln  und  am  elektrischen  Organ 
von  Malopterurus  sehr  klar  und  einwandfrei.  Die  Erregung  hätte 
in  den  aus  den  Theilungen  hervorgegangenen  Aesten,  die  gereizt  wurden, 
den  rückläufigen  Weg  eingeschlagen  bis  zur  Theilungsstelle,  von  dieser 
vermuthlich  weiter  denselben  centripetalen  Weg  in  der  Stammfaser 
und  nur  in  den  andern  zur  Peripherie  gehenden  Theilästen  den  nor- 
malen centrifugalen.  Nun  sind  aber  die  Achsencylinder  nicht  homogen, 
sondern  aus  Fibrillen  zusammengesetzt,  und  vieles  spricht  dafür,  dass 
diese  die  eigentlich  leiten  den  Elemente  sind.  Wir  können 
also  kein  Stück  des  Nerven  als  etwas  physiologisch  Einheitliches  be- 
trachten und  können  oder  müssen  vielleicht  darin  so  viel  isolirte 
Leitungswege  annehmen,  als  es  Fibrillen  enthält.  Dann  würden  aber 
die  Resultate  des  Zweizipfelversuches,  wie  Kühne  ausführt,  nur  unter 
einer  Reihe  von  Prämissen  als  entscheidend  für  die  doppelsinnige 
Nervenleitung  anzusehen  sein.  Setzt  man  das  Gesetz  als  gültig  voraus, 
so  muss  an  den  Theilungsstellen  einer  Primitivfaser  auch  eine  Thei- 
lung  der  Achsencylinderfibrillen  angenommen  werden  (Kühne).  Als 
M.  Schnitze  die  Remak'sche  Lehre  von  der  fibrillären  Structur 
des  Achsencylinders  neu  zu  begründen  suchte,  war  er  bekanntlich  zu 
der  entgegengesetzten  Ansicht  gelangt:  die  Nervenfasern  sollten  nach 
ihm  schon  sämmtliche  für  die  peripherische  Ausbreitung  bestimmte 
Fibrillen  enthalten,  so  dass  in  den  Theilungen  der  Achsencylinder 
nur  eine  Auffaserung  oder  ein  Abbiegen,  aber  keine  wirklichen 
Fibrillentheilungen  vorkämen.  Lidessen  sprechen  gegen  diese  An- 
schauung viele  Thatsachen.  Wo  immer  Nerventheilungen  vorkommen, 
steht  die  Summe  der  Faserquerschnitte  an  der  Peripherie  in  auffälligem 
Missverhältniss  zur  Grösse  des  Querschnittes  der  Stammfaser ;  man 
braucht  nur  an  den  schmächtigen  Achsencylinder  der  einzigen  Faser 
des  elektrischen  Nerven  l)eim  Zitterwels  zu  denken,  und  das  Areal, 
das  die  ungeheure  Zahl  seiner  Theiläste  im  Querschnitt  zusammen- 
gelegt bedecken  würde  (G.  Fritsch  berechnet  die  Zunahme  auf  das 
346  760 fache!),  um  über  dieses  Missverhältniss  nicht  im  Zweifel  zu 
sein,  oder  nur  irgendeinen  an  Nerventheilungen  reichen  Muskel  anzu- 
sehen, um  sich  zu  vergewissern,  dass  der  Querschnitt  der  Stammfaser 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 


491 


schon  von  der  Summe  der  Querschnitte  der  nächsten  Theilfasern  er- 
heblich übertroffen  wird.  Da  dies  nicht  von  einer  Zunahme  der  Mark- 
rinde herrührt,  wie  ohne  Weiteres  ersichtlich,  so  müssen  es  die  Achsen- 
cylinder  sein,  und  es  bleiben  somit  nur  zwei  Möglichkeiten  übrig,  um 
die  Schultze'sche  Ansicht  aufrecht  zu  erhalten:  die  Fibrillen  müssten 
entweder  nach  der  Peripherie  hin  dicker  werden,  oder  es  müsste  ihre 
Zahl  auf  Kosten  des  Stromas  abnehmen,  was  sich  Beides  nicht  nach- 
weisen lässt  (Kühne). 

Das  Studium  der  Nervenerregung  wird  ausserordentlich  erschwert 
durch  den  Umstand,  dass  der  Erregungsvorgang  mit  keinerlei  un- 
mittelbar sinnlich  wahrnehmbaren  Veränderungen  des  Nerven  ver- 
knüpft ist.  Man  ist  durchaus  auf  die  am  Wirkungsende  des  Nerven 
eintretenden  Veränderungen 
angewiesen,  unter  denen  sich 
vor  Allem  die  Muskelcontrac- 
tion  als  ein  überaus  feines  und 
empfindliches  Reagens  auf  die 
jeweiligen  Zustandsänderungen 
des  Nerven  erweist.  Der  Mus- 
kel, besonders  der  querge- 
streifte, ist  der  sicherste  Index 
der  Nervenerregung,  und  da- 
her sind  fast  alle  Kenntnisse 
über  die  physiologischen  Eigen- 
schaften der  peripheren  Nerven- 
fasern aus  Versuchen  an  moto- 
rischen Nerven  abgeleitet.  Reizt 
man  irgend  einen  motorischen 
Nerven,  so  fällt  vor  Allem  die 
ausserordentlich  rasche  Reac- 
tion  des  Muskels  auf,  die  bei 
beliebigem  Abstand  der  ge- 
reizten Stelle  vom  Muskel  kein 

merkliches  Intervall  zwischen  dem  Moment  der  Reizung  und  dem  Be- 
ginn der  Contraction  erkennen  lässt.  Man  hatte  sich  daher  auch 
früher  vielfach  übertriebene  Vorstellungen  von  der  Geschwindigkeit 
der  Fortleitung  jener  Veränderungen  im  Nerven  gemacht  und  die- 
selbe geradezu  für  unmessbar  gehalten. 

Helmholtz  (13)  gelang  es  zuerst,  die  Geschwindigkeit  der  Nerven- 
leitung zu  messen,  und  er  bediente  sich  hierzu  zunächst  der  Pouillet'schen 
Zeitmessungsmethode  (Fig.  161),  wobei  mittels  einer  Wippe  im  Momente 
der  Reizung  durch  Oeffnung  bei  C  ein  Kettenstrom  bei  P  geschlossen 
und  durch  die  beginnende  Contraction  des  Muskels  bei  B  wieder  ge- 
öffnet wird;  während  der  kurzen  Zwischenzeit  wirkt  derselbe  auf  ein 
Galvanometer  G  und  bewirkt  eine  merkliche  Ablenkung  des  Magneten, 
deren  Grösse  der  Schliessungsdauer  proportional  ist.  Wird  nun  ein- 
mal eine  vom  Muskel  entferntere  (a)  und  dann  eine  demselben  mög- 
lichst nahe  (&)  gelegene  Nervenstelle  gereizt,  so  ist  ersteren  Falles  die 
Ablenkung  grösser.  Aus  der  beobachteten  Differenz  ergiebt  sich  die 
Zeit  der  Fortpflanzung  der  Erregung  von  der  ferneren  (centralen) 
Reizstelle  zu  der  näheren  (peripheren).  Dasselbe  Ziel  erreichte  Helm- 
holtz später  in  noch  einfacherer  Weise  durch  graphische  Verzeich- 
nung der  Muskelzuckungen  bei  Reizung   an  zwei  möglichst  von  ein- 

32* 


Fig.  161.     Bestimmung    der    Fortpflanzungsge- 
schwindigkeit   der    Erregung    im    motorischen 
Froschherzen  nach  Helmholtz   (Methode  von 
Pouillet). 


492  I^ie  Nei-vea  und  ihre  physiologische  Function. 

ander  entfernten  Stellen  des  Nerven,  Der  Unterschied  der  Latenz- 
stadien  der  beiden  gegen  einander  merklich  verschobenen,  sonst  aber 
congruenten  Curven  (Fig.  162)  entspricht  wieder  der  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit der  Erregung  in  der  zwischenliegenden  Nervenstrecke. 
Dieselbe  beträgt  für  motorische  Froschnerven  bei  Zimmertemperatur 
etwa  27  m  in  der  Secunde,  Nach  derselben  Methode  am  Menschen 
(Muskeln  des  Daumenballens)  angestellte  Versuche  ergaben  einen 
wesentlich  höheren  Werth  (34  m).  Bemerkenswerth  sind  ferner  Be- 
obachtungen von  Chauveau  an  Nerven  glatter  Muskeln  bei  Säuge- 
thieren,  aus  denen  hervorzugehen  scheint,  dass  hier  die  Leitungs- 
geschwindigkeit viel  geringer  ist,  als  bei  den  Nerven  quergestreifter 
Muskeln.  Er  fand  dieselbe  kaum  8  m  in  der  Secunde.  Noch  ge- 
ringer scheint  die  Leitungsgeschwindigkeit  in  den  marklosen  Nerven 
mancher  Wirbellosen  zu  sein,  selbst  wenn  dieselben  mit  quergestreiften 
Muskeln  in  Verbindung  stehen.  Fr  ederi  cq  und  Vandervel  de  (15) 
fanden  je  nach  der  Temperatur  (10 — 20^  C.)  6 — 12  m  an  den  Scheeren- 
nerven  des  Hummers,  während  Fiek  die  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit  an   den  Verbindungsnerven   von   Anodonta   auf  nur    1  cm   in 


Fig.  162.     Verschiebung  der  Zuckungscurven  bei  Reizung  des  N.  ischiadicus  vom  Frosch 
dicht  am  Rückenmark  und  5  mm  vom  Knie.     (Nach  Th.  W.  Engelmann.) 

der  Secunde  schätzt.  An  dem  Mantelnerven  von  Eledone  fand 
Uexküll  (16)  neuerdings  Werthe  von  400  mm  bis  1  m. 

In  interessanter  Weise  versuchte  neuerdings  W.  A.  Boekelman 
(17)  die  Leitungsgeschwindigkeit  der  Erregung  in  den  marklosen 
Fibrillen  der  Cornea  bei  Fröschen  zu  bestimmen,  indem  er  den  zeit- 
lichen Unterschied  im  Eintreten  einer  durch  mechanische  oder  elek- 
trische Reizung  ausgelösten  Reflexbewegung  (Retractio  bulbi )  bestimmte, 
wenn  einmal  das  Centrum  und  dann  die  Peripherie  der  Hornhaut  ge- 
reizt wurde.  Es  ergaben  sich  Werthe  von  derselben  Ordnung,  wie  an 
den  markhaltigen  Fasern  der  Stämme,  eine  Thatsache,  die  mit  Rück- 
sicht auf  die  Frage,  ob  die  peristaltischen  Bewegungen  glattmuskeliger 
Organe  auf  Nervenleitung  oder  auf  directer  Uebertragung  der  Erregung 
von  Zelle  zu  Zelle  beruhen,  nicht  ohne  Belang  ist. 

Aus  allen  vorliegenden  Bestimmungen  ergiebt  sich  das  wesentliche 
und  wichtige  Resultat,  dass  der  Nervenprocess  sich  mit  einer  verhält- 
nissmässig  geringen  Geschwindigkeit,  jedenfalls  mit  einer  ohne  Ver- 
gleich geringeren  als  etwa  Licht  oder  Elektricität,  fortpflanzt.  Wenn 
es  sich,  wie  nicht  zu  bezweifeln  ist,  um  die  Fortleitung  einer  materi- 
ellen, ehemischen  Veränderung  des  Substrates  (der  Achsencylinder- 
substanz)  handelt,  so  wird  die  qualitative  Beschafi'enheit  des  letzteren 
den  Leitungsvorgang  voraussichtlich  wesentlich  beeinflussen.  In  der 
That  ist  die  Abhängigkeit  der  Leitungsgeschwindigkeit  von  verschie- 
denen physiologischen  Zuständen  des  Nerven  seit  lange  bekannt.    Schon 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  493 

Helniholtz  hatte  bei  seinen  Untersuchungen  an  motorischen  Frosch- 
nerven eine  sehr  beträchtliche  Verlangsamung  der  Nervenleitung  durch 
Kälte  beobachtet.  Ebenso  fanden  Fredericq  und  Vandervelde 
die  Geschwindigkeit  der  Nervenleitung  im  Hummernerven  sehr  von 
Jahreszeit  und  Temperatur  abhängig.  Es  verhält  sich  also  der  Nerv 
in  dieser  Beziehung  ganz  analog  wie  der  Muskel  und  wohl  jedes  reiz- 
bare Plasma.  Man  wird  in  dieser  Uebereinstimmung  einen  neuen  Beweis 
dafür  erblicken  dürfen,  dass  das,  was  im  Nerven  fortgepflanzt  wird, 
wohl  eine  Veränderung  ähnlicher  Art  ist,  wie  in  jedem  anderen  reiz- 
baren, leitungsfähigen  Plasma,  d.  h.  ein  mit  StofFverbrauch  ver- 
knüpfter chemischer  Process.  Es  erscheint  diese  Bemerkung  mit 
Rücksicht  auf  gewisse  später  zu  erwähnende  Thatsachen  und  Er- 
wägungen nicht  unwesentlich. 

•  Auch  durch  anhaltenden  Druck  und  Compression  des  Nerven 
kann  das  Leitungsvermögen  eine  tiefgreifende  Schädigung  erfahren, 
wobei  es  bemerkenswerth  ist,  dass  dies,  wie  es  scheint,  bei  motorischen 
und  sensiblen  Fasern  in  verschiedenem  Grade  der  Fall  ist,  indem 
nach  den  Einen  (Lüderitz  18)  die  Drucklähmung  sich  früher  an 
den  ersteren,  nach  Anderen  dagegen  (Zederbaum  19)  an  den  letz- 
teren bemerkbar  macht. 

Sehr  bemerkenswerth  und  von  grossem  theoretischen  Interesse  ist 
die  Einwirkung  der  Anästlietica  auf  das  Leitungs vermögen 
der  Nerven.  Es  wurde  schon  bei  Besprechung  der  Aetherwirkung 
auf  Muskeln  hervorgehoben ,  dass  dabei  vor  Allem  das  Leitungsver- 
mögen und  später  erst  die  Contractilität,  zuletzt  aber  die  örtliche 
Erregbarkeit  erlischt.  Die  letztere  äussert  sich  durch  gewisse  secundär- 
elektromotorische  Erscheinungen  (u.  a.  den  positiven  Polarisationsstrom), 
sowie  auch  durch  den  Demarcationsstrom  noch  zu  einer  Zeit,  wo  die 
Contractilität  bereits  völlig  aufgehoben  ist.  Auch  beim  Nerven  scheint 
das  Leitungsvermögen  bei  Einwirkung  von  Aether,  Chloroform,  Alkohol 
u.  s.  w.  in  erster  Linie  zu  leiden,  wie  sich  ohne  Weiteres  aus  dem 
Fortbestehen  des  Nervenstromes  bei  aufgehobenem  Leitungsvermögen 
ergiebt,  wenn  man  diesen  in  dem  früher  erörterten  Sinne  als  Ausdruck 
einer  localen  Dauererregung  auffassen  darf.  Nach  einer  zuerst  von 
Grünhagen  (20)  angewendeten  Methode  lässt  sich  örtlich  jederzeit 
leicht  das  Leitungsvermögen  eines  Nerven  aufheben,  indem  man  die 
Narcose  auf  das  untere  Ende  eines  frei  präparirten  Froschiadicus  be- 
schränkt, derart,  dass  der  Nerv  durch  ein  Glasrohr  hindurchgezogen 
wird,  welches  das  centrale  Schnittende  freilässt  und  an  beiden  Enden 
bis  auf  eine  kleine,  zum  Durchziehen  des  Nerven  geeignete  Stelle  ver- 
schlossen ist.  In  den  Mantel  des  Rohres  sind  3  andere  Glasröhren 
eingeschmolzen;  zwei  dienen  zur  Zu-  und  Ableitung  der  Gase  oder 
Dämpfe,  die  dritte  zur  Einführung  von  Elektroden ;  auf  genau  gleichen 
Elektroden  ruht  die  centrale  Nervenstrecke.  Stets  lässt  sich  dann 
ein  Stadium  der  Narcose  constatiren,  wo  selbst  stärkste  Reizung 
oben  wirkungslos  bleibt,  während  eine  bedeutend  schwächere  unten 
(d.  h.  im  Röhrchen)  noch  erregt.  Schliesshch  tritt  natürlich  auch 
hier  Lähmung  ein.  Durch  Einblasen  von  Luft  lässt  sich  der  nor- 
male Zustand  wieder  herbeiführen.  Es  ist  also  unter  diesen 
Umständen  das  Leitungs  vermögen  des  Nerven  bei  er- 
haltener, ja  anfangs  sogar  gesteigerter  örtlicherErreg- 
barkeit  der  narcotisirten  Strecke  erloschen,   ein  Zustand, 


494  Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

Regel  gehört.  Auch  bei  diesen  Versuchen  machen  sich,  wie  neuer- 
dings Pereies  und  Sachs  (21)  gezeigt  haben,  Verschieden- 
heiten z  Avischen  den  centripetal  und  centrifugal 
leitenden  Nervenfasern  eines  gemischten  Nervenstammes  (Ischia- 
dicus)  bemerkbar.  Bestimmt  man  zunächst  den  Minimalreiz,  der 
oberhalb  der  zu  narcotisirenden  mittleren  Nervenstrecke  eine  Bewegung 
der  Pfote  auslöst,  und  andererseits  die  Reizstärke,  bei  welcher  von 
der  Schwimmhaut  aus  mit  Sicherheit  eine  reflectorische  Bewegung 
des  betreffenden  Beines  vermittelt  wird,  so  zeigt  sich  als  Folge  der 
Narcose  regelmässig  ein  früheres  Seh  winden  der  reflectirten 
als  der  direct  ausgelösten  Bewegung.  Noch  einwandfreier 
ergiebt  sich  dasselbe  Resultat  aus  analogen  Versuchen,  bei  welchen 
jedesmal  der  Nerven  stamm,  einmal  oberhalb,  dann  unterhalb  der 
ätherisirten  Strecke,  tetanisirend  gereizt  wurde.  Stets  fällt  auch  hier 
zuerst  die  bei  Reizung  der  unteren  Stelle  durch  centripetale  Leitung 
einer  sensiblen  Erregung  verursachte  Unruhe  des  Körpers  weg,  wäh- 
rend noch  Bewegungen  der  Pfote  von  oben  her  zu  erzielen  sind,  ob- 
schon  der  hierzu  erforderliche  Reiz  von  vornherein  schwächer  ist,  als 
der  andere.  „Bei  localer  Narcotisirung  des  Froschischiadicus  erlischt 
zunächst  die  Leitungstähigkeit  der  sensiblen,  später  die  der  motorischen 
Nervenfasern;  beim  Erwachen  aus  der  Narcose  werden  die  motorischen 
Fasern  früher  leitungsfähig,  als  die  sensiblen." 

Eine  genauere  Untersuchung  zeigt,  dass  beim  Nerven  unter  Um- 
ständen das  Verhältniss  zwischen  Erregungsleitung  und  Erregung  sich 
auch  noch  in  anderer  Weise  und  in  anderem  Sinne  ändern  kann.  Schon 
Grrünbagen  (1.  c.)  beobachtete,  dass  in  einem  gewissen  Stadium 
der  Narcose  mit  Kohlensäure  die  örtliche  Erregbarkeit  der  betreifenden 
(peripher  gelegenen)  Nervenstrecke  schon  sehr  bedeutend  herabgesetzt 
sein  kann,  Avährend  der  Erfolg  der  Reizung  der  nicht  vergifteten 
Nervenstrecke  zur  selben  Zeit  unverändert  bleibt,  obschon  der  in  ihr 
ausgelöste  Erregungsvorgang  sich  durch  die  narcotisirte  Strecke  fort- 
pflanzen musste.  Aehnliche  Versuche  wurden  auch  später  von  Szpil- 
mann  Vmd  Luchsinger,  Hirschberg,  Efron,  Gad  und  Sa  wyer, 
Groldscheider  und  neuerdings  in  ausgedehntem  Maasse  von  G.  P i o - 
trowsky  (22)  angestellt.  Es  ergab  sich  vor  Allem  die  bemerkens- 
werthe  Thatsache,  dass  bei  localer  Einwirkung  von  Alkohol- 
dämpfen (resp.  Aether  oder  Chloroform)  in  der  Regel 
zuerst  und  in  viel  höherem  Grade  das  Leitungsvermögen 
an  der  betreffenden  Nervenstelle  sinkt,  ehe  die  Reiz- 
barkeit merklich  beeinträchtigt  erscheint,  während 
die  Kohlensäure,  sowie  auch  Kohlenoxyd  umgekehrt  zu- 
nächst das  Leitungs vermögen  ganz  unverändert  lässt, 
während  die  locale  Erregbarkeit  rasch  vernichtet  wird. 
Es  sind  diese  Beobachtungen  um  so  auffallender,  als  sie  der  nächst- 
liegenden und  geläufigen  Anschauung  zu  widersprechen  scheinen, 
dass  Reizbarkeit  und  Leitungsvermögen  in  einem  derartigen  Verhält- 
niss zu  einander  stehen,  dass,  wenn  jene  vermindert  wird,  auch  dieses 
abnimmt,  und  umgekehrt.  Man  muss  sich  doch  offenbar  vorstellen, 
dass  die  Fähigkeit  der  Nervenfasern,  die  Erregung  zu  leiten,  und 
andererseits,  an  jeder  beliebigen  Stelle  ihres  Verlaufes  durch  äussere 
Einwirkungen  (Reize)  in  Erregung  versetzt  zu  werden,  nur  verschiedene 
Ausdrucksweisen  derselben  fundamentalen  Eigenschaft  der  Nervensub- 
stanz und  in  Folge  dessen  untrennbar  mit   einander  verbunden  seien. 


Die  Nerveil  und  ihre  physiologische  Function.  495 

Die  natürlichste  Folgerung  hieraus  Avürde ,  um  mit  Herrn  a  n  n  zu 
reden,  die  sein,  dass  bei  der  Leitung  der  Process  der  Erregung  sich 
fortwährend  wiederholt,  dass  jedes  Theilchen  des  Nerven  in  den  gleichen 
Zustand  geräth ,  mag  es  von  dem  im  Nerven  entlaug  lautenden  Vor- 
gang ergriffen  oder  direct  durch  einen  äusseren  Reiz  erregt  werden, 
so  dass  ein  Leitungsvorgang  erst  von  ihm  seinen  Ausgang  nimmt. 

Die  Nervenleituug  ist  nach  dieser  Anschauung,  wie  jeder  Leitungs- 
vorgang innerhalb  einer  irritablen  Substanz,  nichts  weiter,  als  eine 
Uebertragung  der  Erregung  von  Theilchen  zu  Theilchen  und  wird 
deshalb  auch  als  Fortpflanzung  des  Erregungsvorganges  bezeichnet. 

Von  verschiedener  Seite  wurde  demgegenüber  die  Möglichkeit, 
ja  Wahrscheinlichkeit  betont,  dass  Reizbarkeit  (Aufnahmsfähigkeit)  und 
Leitungsvermögen  des  Nerven  von  einander  getrennte  und  in  keinem 
ursächlichen  Zusammenhang  stehende  Eigenschaften  desselben  seien.  Die 
erste  genauere,  hierliergehörige,  physiologische  Beobachtung  stammt  von 
H.  M  u  n  k  (23),  der  beim  Verfolgen  der  mit  dem  Absterben  des  Nerven 
verbundenen  Reizbarkeitsveränderungen  am  Nerv-Muskelpräparat  vom 
Frosch  fand,  dass  die  Hauptverästelungsstellen  des  N.  ischiadicus  gegen 
die  stärksten  elektrischen  Reize  unempfindlich  geworden  sein  können 
zu  einer  Zeit,  wo  der  Muskel  auf  viel  schwächere,  weiter  central  am 
Nerven  angebrachte  Reize  noch  kräftig  zuckt.  Allgemeinere  Beachtung 
hat  dann  eine  Angabe  von  Erb  (24)  gefunden,  welcher  beobachtete, 
dass  nach  Quetschung  des  N.  ischiadicus  beim  Frosch  oder  Kaninchen 
zur  Zeit,  wenn  die  Regeneration  angefangen  hat,  und  die  geschädigte 
Extremität  schon  wieder  normal  vom  Thiere  bewegt  wird,  die  gequetscht 
gewesene  und  in  Regeneration  begriffene  Nervenstelle  selbst  noch  un- 
empfindlich für  elektrische  Reize  ist.  Hierher  zählen  ferner  auch  die 
verwickeiteren  und  später  näher  zu  erörternden  Erfahrungen  am  Rücken- 
mark, durch  welche  M.  Schiff  zur  Aufstellung  seiner  Lehre  von  der 
„ästhesodischen"  und  „kinesodischen",  direct  nicht  reizbaren,  wohl  aber 
leitungsfähigen  Nerven  -  Substanz  geführt  wurde.  Vor  Allem  aber 
Avaren  es  die  schon  erwähnten  Erfahrungen  von  Grün  ha  gen,  Efron, 
Gad-Sawyer,  Goldscheider  und  Piotrowsky  über  die  Er- 
folge localer  Narcose  motorischer  Nerven,  welche  in  neuerer  Zeit  sehr 
bestimmt  die  Ansicht  auftreten  Hessen,  dass  die  beiden  Vorgänge  der 
Reizaufnahme  und  der  Reizleitung  von  einander  zu  trennen  sind.  In 
der  That  scheint  die  Thatsache,  dass  eine  periphere,  (mit  COg)  nar- 
cotisirte  Nervenstrecke  unerregbar  wird  und  doch  die  von  einer  cen- 
traleren  Stelle  kommende  Erregung  durchlässt,  kaum  einer  anderen 
Deutung  fähig,  als  der,  dass  Erregbarkeit  und  Leitungsvermögen  un- 
abhängig von  einander  sich  ändern  können. 

Darf  man  den  mit  dem  Erregungszustand  verbundenen  Vorgang 
in  einem  Nervenelement  als  den  Reiz  betrachten,  durch  welchen 
das  in  der  Längsrichtung  nächstgelegene  Element  erregt  wird,  so  er- 
scheint die  Leitungsfähigkeit  dann  als  Empfindlichkeit  der  Nerven- 
elemente gegen  gewisse  Einflüsse,  welche  auf  dieselben  in  der  Längs- 
richtung einwirken.  Man  kann  mit  Gad  diese  Empfindlichkeit  als 
„Längslabilität"  bezeichnen.  Nun  ist  es  leicht  denkbar,  ja  wahrschein- 
lich, dass  der  Reiz,  welchen  die  Nervenelemente  selbst  auf  einander 
ausüben,  wenn  auch  vielleicht  mit  einem  äussern  Reize  nahe  verwandt, 
oder  identisch,  doch  günstigere  Bedingungen  findet,  als_  letzterer. 
Diese  Annahme  (vergl.  Hermann's  Handbuch  H.  L  p.  187)  lässt  es 
dann    begreiflich    erscheinen,    dass    in    einem    gewissen    Stadium    der 


496  I^iö  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

localeii  Narcose  die  örtliche  Anspruchsfähigkeit  schon  wesentlich  ge- 
sunken sein  kann,  während  in  Folge  des  Vorherrschens  der  „Längs- 
labilität" das  Leitungsvermögen  noch  intact  erscheint  (Grün hagen's 
CO2- Versuch) ;  unter  andern  Umständen  (wie  bei  Alkoholbehandlung) 
nimmt  dagegen,  wie  auch  regelmässig  beim  Muskel,  die  directe  Erreg- 
barkeit viel  langsamer  ab,  als  das  Leitungsvermögen.  Mit  Rücksicht 
auf  das  eben  Gesagte  wird  man  das  Verhalten  kaum  im  8inne  von 
S  z  p  i  1  m  a  n  n  und  L  u  c  h  s  i  n  g  e  r  so  deuten  dürfen,  dass  hier  die  von 
einer  ferneren,  normalen  Stelle  ausgehende  Erregung  durch  eine 
längere,  gelähmte  Strecke  hindurchgehen  muss  und  daher  an  Intensität 
verliert.  Aber  auch  die  von  Gad  geäusserte  Anschauung  einer  ver- 
schiedenen Beeinflussung  der  Längs-  und  Quererregbarkeit  der  Nerven 
scheint  hauptsächlich  aus  dem  Grunde  unannehmbar,  weil,  wie  ich 
glaube,  an  der  Unerregbarkeit  des  Nerven  für  reine  Querdurchströmung 
ebensowenig  zu  zweifeln  ist,  wie  beim  Muskel.  Zu  einer  richtigen 
Auffassung  und  sicheren  Deutung  der  mitgetheilten  Thatsachen  wird 
man  wohl  erst  dann  gelangen,  wenn  genauer  bekannt  sein  wird,  wie 
eigentlich  ein  erregter  Nervenquerschnitt  auf  den  nächstfolgenden  als 
Reiz  wirkt.  Dass  nicht  nothAvendig  der  Zustand  der  Erregung  an  sich 
auch  schon  die  Fortleitung  des  Processes  auf  die  Nachbarquerschnitte 
bedingt,  dafür  lassen  sich  ja  zahlreiche  Beispiele  anführen.  Die  Locali- 
sation  der  Schliessungs-  und  OefFnungsdauercontraction,  die  durch  rein 
örtliche  Veränderungen  bedingte  „positiv-anodische  Polarisation"  des 
narcotisirten  Muskels,  das  Einschleichen  selbst  starker  Ströme  in  Nerven 
und  Muskeln  zeigen  hinlänglich,  dass  die  Art  der  Entstehung  insbe- 
sondere der  zeitlichen  Entwicklung  des  Erregungsvorganges  für  die 
Weiterleitung  desselben  ganz  wesentlich  ist.  Es  wäre  ganz  wohl 
denkbar,  dass  durch  verschiedene  Siibstanzen  die  zeitlichen  Verhältnisse 
der  Reizübertragung  von  Querschnitt  zu  Querschnitt  derart  beeinflusst 
würden,  dass  die  erwähnten  Wirkungen  erklärbar  werden. 

Bei  seinen  Versuchen  an  motorischen  Froschnerven  hatte  sich 
Helmholtz  maximaler  Reize  bedient,  oder  die  Reizgrösse  nur  soweit 
an  der  einen  Reizstelle  vermindert,  dass  die  Zuckungen  gleich  gross 
ausfielen.  Aus  Untersuchungen,  welche  er  später  mit  Baxt  (14)  am 
Menschen  bei  Erregung  der  Muskeln  des  Daumenballens  durch  Reizug 
des  N.  medianus  an  2  verschiedenen  Orten  anstellte,  schien  sich  zu 
ergeben,  dass  das  Latenzstadium  bei  Reizung  der  entfernteren  Nerven- 
strecke regelmässig  kleiner  ausfällt  bei  stärkerer  Reizung,  während 
an  der  nahen  Nervenstelle  kein  erheblicher  Einfluss  der  Reizstärke  vor- 
handen ist.  Hieraus  würde  folgen,  dass  stärkere  Erregungen  sich 
schneller  im  Nerven  fortpflanzen,  als  schwächere.  Diese 
Ansicht  fand  in  späteren  Untersuchungen  von  Valentin,  Troitzky 
und  Wundt  eine  Stütze,  während  Rosen  thal  und  Lautenbach 
behaupten,  dass  die  Leitungsgeschwindigkeit  von  der  Reizstärke  un- 
abhängig ist.  Aus  einer  neueren,  ausführlichen  Untersuchung  von 
M,  V.  Vintschgau  (25)  ergiebt  sich,  dass,  „wenn  man  den  (Frosch-) 
Nerven  an  2  verschiedeneu  Stellen  mit  jenen  Reizstärken  (Inductions- 
schlägen)  zu  erregen  anfängt,  welche  die  erste  oder  nahezu  die  erste 
maximale  Zuckung  verursachen,  und  zu  immer  stärkeren  Reizen  über- 
geht, ein  Reizstärkeintervall  vorhanden  ist,  innerhalb  dessen  die  Fortpflan- 
zungsgeschwindigkeit der  Nervenerregung  keine  wesentliche  Aenderung 
erfährt".  Sobald  aber  die  Reizstärke  eine  gewisse  obere  Grenze  über- 
schritten hat,  nimmt  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erregung 


Die  Nei'ven  und  ihre  physiologische  Function.  497 

mit  dem  weiteren  Verstärken  des  Reizes  zu  bis  zur  Unmessbarkeit. 
Auch  A.  Fick  (26)  fand  am  marklosen  Verbindungsnerven  von 
Anodonta,  dass  sich  ein  starker  Reiz  in  den  Nervenfasern  rascher 
fortpflanzt,  als  ein  schwacher,  und  S.  Fuchs  (27)  gelangte  neuerdings 
zu  demselben  Resultate  bei  Bestimmung  der  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit der  negativen  Schwankung  im  marklosen  Mantelnerven  von 
Eledone. 

Es  erscheint  hier  am  Platze,  die  Frage  zu  erörtern,  ob  und 
welchen  Einfluss  die  Einschaltung  g an gliöser  Elemente 
in  den  Verlauf  von  Nervenfasern  auf  die  Fortleitung  der 
Erregung  besitzt. 

Bei  Reizung  motorischer  Fasern  ausserhalb  des  Centralorganes 
kommt  natürlich  diese  Frage  kaum  in  Betracht;  hier  kann  es  sich 
höchstens  darum  handeln,  zu  untersuchen,  ob  die  Uebertragung  der 
Erregung  vom  Nerven  auf  den  Muskel  eine  erhebliche  Verzögerung  der 
Leitung  bedingt  oder  nicht.  Nach  später  zu  erwähnenden  Unter- 
suchungen von  Bernstein  scheint  dies  in  der  That  der  Fall  zu  sein. 

Von  grösster  Bedeutung  und  stets  zu  berücksichtigen  ist  dagegen 
die  Einschaltung  von  Ganglienzellen  bei  allen  Reizversuchen,  wo 
entweder  Theile  eines  Centralorganes  direct  oder  unter  Vermittlung 
centripetalleitender  Nerven  erregt  werden.  Den  anscheinend  einfachsten 
Fall  hat  S.  Exner  (28)  seinerzeit  untersucht,  wobei  es  sich  nur  um 
die  Frage  handelte,  oJa  in  einem  Spinalganglion  schon  durch  Ein- 
schaltung einer  einzigen  Ganglienzelle  eine  merkliche  Veränderung 
der  Leitungsgeschwindigkeit  bewirkt  wird.  Es  ist  klar,  dass,  wenn 
die  Zeit,  welche  auf  den  Durchgang  der  Erregung  durch  das  Ganglion 
entfällt,  erheblich  länger  ist,  als  die  bekannte  Leitungszeit  durch  ein  gleich 
langes  Stück  gewöhnlicher  Nervenfaser,  daraus  zu  folgern  sein  würde, 
dass  Schaltstücke  eigener  Art  angebracht  sein  müssen.  Die  einzigen 
histologischen  Elemente  der  Ganglien,  welche  als  solche  Schaltstücke 
aufgefasst  werden  können,  sind  aber  dieNervenzellen.  Die  Verhält- 
nisse liegen  hier  noch  viel  einfacher,  als  im  Centralnervensystem ,  wo 
man  ja  ebenfalls,  wie  gleich  zu  zeigen  sein  wird,  die  Uebertragungszeit 
von  Erregungen  vielfach  als  Beweis  für  das  Vorhandensein  besonderer,  in 
den  Verlauf  der  einfachen  Leitungsbahnen  eingeschalteter  Glieder 
benutzt  hat,  wo  aber  die  Verzögerung  der  Erregungsleitung  nicht  nur 
auf  Nervenzellen,  sondern  auch  auf  das  möglicherweise  dort  vorhandene 
Nervennetz  bezogen  werden  kann.  S.  Exner,  welcher  sich  die  Auf- 
gabe stellte,  die  Zeit  zu  bestimmen,  welche  die  centripetalen  Erregungs- 
wellen für  den  Durchgang  durch  die  Spinalganglien  des  Frosches 
brauchen,  versuchte  mittels  des  Bernstein'schen  Rheotomes  an  seinem 
Objecte  (bestehend  aus  Ischiadicus,  Ganglion  und  hinterer  Wurzel)  die 
Zeit  zwischen  der  Reizung  des  Ischiadicus  und  dem  Eintreften  der 
negativen  Schwankung  in  den  hinteren  Wurzelfasern  zu  messen,  welche, 
zum  Galvanometer  abgeleitet  waren.  Er  erhielt  Zahlen,  welche  inner- 
halb der  von  Bernstein  für  die  Geschwindigkeit  in  gewöhnlichen 
peripheren  Nerven  gefundenen  Werthe  lagen,  und  schloss  daraus,  dass  im 
Ganglion  keine  Verzögerung  der  Leitung  stattfindet.  Doch  lässt  das 
Rheotomverfahren  mancherlei  Einwände  zu.  Wundt  (29)  hatte  schon 
vor  Exner  dieselbe  Frage  zu  lösen  versucht,  indem  er  den  Einfluss 
der  Spinalganglien  auf  die  Reflexreizbarkeit  prüfte. 
Zuckungscurven,  welche  von  Muskeln  des  einen  Beines  (beim  Frosch) 
aufgeschrieben    wurden,    wenn    auf    der    anderen    Seite    einmal    der 


498  I5i6  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

Ischiadicusstamm  und  dann  eine  hintere  Wurzel  jenseits  des  Ganglions 
(zwischen  diesem  und  Rückenmark)  gereizt  wurde,  Hessen  stets  einen 
merklichen  Unterschied  der  Latenzzeit,  entsprechend  einer  durch  das 
Ganglion  bewirkten  Verzögerung  der  Leitung  erkennen.  Nach  Exner 
hat  noch  Gad  (30)  an  dem  beim  Kaninchen  in  den  Verlauf  des 
Vagus  eingeschalteten  Ganglion  jugulare  entsprechende  Versuche 
angestellt.  Als  Reaction,  deren  Eintrittszeit  bestimmt  werden  sollte, 
diente  die  durch  Vagusreizung  zu  erzielende  reflectorisehe  Beeinflussung 
der  Athembewegung.  Die  einzige  Bedingung,  welche  variirt  werden 
sollte,  war  die  Applicationsstelle  des  Reizes,  einmal  central  und  einmal 
peripher  vom  Ganglion.  Die  Athembewegungen  wurden  in  üblicher 
Weise  graphisch  verzeichnet,  und  um  die  äusseren  Bedingungen  für 
den  jeweiligen  Zustand  des  Centrums  bei  den  einzelnen  Prüfungen 
möglichst  gleich  zu  haben,  wurde  entweder  Apnoe  herbeigeführt,  oder 
es  wurde  Sorge  getragen,  die  Reize  in  möglichst  gleichen  Athemphasen 
einwirken  zu  lassen.  Bei  diesen  Versuchen  ergab  sich  für  die  Reactions- 
zeit  bei  Reizung  peripher  vom  Ganglion 

0,123  See.   (Mittel  aus  148  Versuchen) 
central  vom  Ganglion  0,087      -      (     -  -       97  -         ) 

Differenz  0,036  See. 

Von  Interesse  für  die  hier  vorliegende  Frage  sind  auch  neuere 
Beobachtungen  von  v.  Uexküll  (16)  über  die  Function  des  Ganglion 
stellatum  belEledonemoschata,  von  welchem  seitlich  eine  grössere 
Anzahl  von  Nerven  ausstrahlen  (Stellarnerven),  welche  die  Mantel- 
und  Hautmusculatur  versorgen.  „Bei  Reizung  der  Stellarnerven  kommt 
sofort  die  zunächst  liegende  Musculatur  in  Thätigkeit  und  dann  nach 
und  nach  die  entferntere  im  Tempo  der  Leitungsgeschwindig- 
keit der  Nerven.  Bei  Reizung  vor  dem  Ganglion  wird 
die  Contraction  der  nächstliegenden  Musculatur  ver- 
zögert, -svas  durch  den  sanfteren  Anstieg  der  Curve  ausgedrückt 
wird.  Dafür  ist  aber  der  Curvengipfel  spitzer,  was  darauf  himveist, 
dass  der  Gesammteffect  aller  Muskeln  auf  eine  kürzere  Zeit  zusammen- 
gedrängt ist.  Demnach  scheint  das  Ganglion  stellatum  eine  Art 
Correctur  für  die  langsame  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  zu  liefern, 
indem  es  die  Musculatur  des  Mantels  befähigt,  mehr  synchronische 
und  daher  eff'ectvollere  Bewegungen  auszuführen." 

Wenn  sich  so  aus  dem  bei  örtlich  verschiedener  Reizung  zu  beob- 
achtenden Unter  seh  i  ed  der  Reflex  Zeiten  Anhaltspunkte  für  die 
Beurtheilung  des  Einflusses  ergeben,  welchen  in  den  Verlauf  von  Nerven- 
fasern eingeschaltete  Ganglienzellen  auf  den  zeitlichen  Verlauf  des 
Erregungsvorganges  ausüben,  so  zeigt  dies  nicht  minder  auch  das  Ver- 
halten der  Reflexzeit  an  sich.  Eine  Reflexbewegung,  d.  i.  ein 
Bewegungsvorgang  im  Muskelapparate  in  Folge  eines  centripetal  ge- 
leiteten Reizes,  kommt  bekanntlich  nur  zu  Stande,  wenn  die  centripetale 
Bahn,  auf  welche  zunächst  der  Reiz  wirkt,  mit  der  motorischen  Bahn 
durch  einen  Theil  des  Centralnervensystemes  in  Verbindung  steht.  Bei 
den  Wirbellosen  sind  es  die  einzelnen  Ganglien,  bei  den  Wirbelthieren 
vor  Allem  das  Rückenmark  und  die  Oblongata,  wo  sich  diese 
Reflexvorgänge  abspielen.  Im  Jahre  1855  machte  Helmhol tz  die 
Mittheilung,  dass  die  Zeit,  die  zwischen  dem  Augenblick  der  Reizung 
und  dem  Eintritt  der  Bewegung  quergestreifter  Muskeln  auf  reflec- 
torischem  Wege  vergeht,  10—12  mal  länger  ist,     " 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  499 

zur  Leitung  in  peripheren  Nerven  von  ungefähr  gleicher  Länge  er- 
forderlich sein  würde.  Es  ist  dabei  vorausgesetzt,  dass  die  Leitungs- 
geschvvindigkeit  in  den  motorischen  und  sensiblen  Nerven  annähernd 
oder  ganz  gleich  sei,  was  ja  nach  den  vorliegenden  Versuchen  in  der 
That  der  Fall  zu  sein  scheint. 

Die  Zeitdauer  eines  ganzen  Reflexvorganges  summirt  sich  im 
Wesentlichen  aus  drei  Bestandtheilen :  1)  die  Zeit,  Avelche  die  Leitung 
im  centripetalleitenden  Nerven  vom  Reizorte  bis  zum  centralen  Ende 
braucht;  2)  die  Zeit,  Avelche  verstreicht  vom  Eintreffen  der  Erregung 
im  Centrum  bis  zur  Uebertragung  derselben  auf  das  centrale  Ende  des 
centrifugalleitenden  (motorischen)  Nerven;  es  ist  dies  die  eigentliche 
„Reflexzeit"  („reduclrte  Reflexzeit"  Exner's).  Endlich  3)  die  Zeit, 
welche  die  Erregung  braucht,  um  den  motorischen  Nerven  zu  durch- 
laufen und  im  Muskel  die  Contraction  hervorzurufen. 

Die  für  die  Leitungsgeschwindigkeit  im  Froschnerven  gewöhnlich 
angenommene  Zahl  von  etwa  27  M.  p.  See.  stellt  nun  freilich,  Avie 
schon  erwähnt,  keinen  ganz  invariablen  Werth  dar;  auch  sind  die 
Untersuchungen  von  Helmholtz  unter  der  Voraussetzung  angestellt, 
dass  die  Erregungsleitung  mit  constanter  Geschwindigkeit  erfolgt,  was 
keineswegs  sichergestellt,  ja  nicht  einmal  wahrscheinlich  ist.  Es  würde 
daher  jene  Zahlenangabe  für  die  Reflexzeit  nur  eine  obere  Grenze 
bedeuten,  und  für  längere  Nerven,  als  sie  thatsächlich  zur  Verfügung 
stehen,  würde  man  wahrscheinlich  geringere  Geschwindigkeiten  finden. 
Aber  selbst  wenn  man  eine  derartige  Annahme  macht,  so  bleibt  dennoch 
die  von  Helmholtz  beobachtete  Thatsache  unanfechtbar:  Es  wird 
der  Erreg ungvor gang,  während  er  durch  das  Rücken- 
mark von  den  sensiblen  Fasern  zu  den  motorischen  ge- 
langt, auffallend  verzögert,  Avas  Avohl  seinen  Grund 
wesentlich  in  einer  besonderen  Beschaffenheit  der 
nervösen  Zellenelemente  haben  dürfte,  wodurch  sie 
sich  von  ihren  Ausläufern,  den  Nervenfasern,  unter- 
scheiden, und  es  lässt  sich  dieser  Unterschied  vielleicht  am  besten 
so  ausdrücken,  dass  man  sagt,  es  bestehe  im  nervösen  Centralorgan 
für  die  Fortpflanzung  der  Erregung  ein  viel  grösseres  Hinderniss,  als 
in  den  sensiblen  oder  motorischen  peripheren  Bahnen. 

Wie  die  Leitungsgeschwindigkeit  in  den  peripheren  Nerven,  so  ist, 
nur  noch  in  viel  höherem  Maasse,  auch  die  Reflexzeit  als  Ausdruck 
der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erregung  innerhalb  der  Central- 
organe  von  sehr  verschiedenen  Umständen  abhängig  und  daher  äusserst 
variabel. 

Vor  Allem  kommt  es  auf  die  Länge  des  Weges  innerhalb 
des  Cent ralorganes  oder,  wie  man  das  vielleicht  auch  ausdrücken 
darf,  die  Zahl  der  zu  durchsetzenden  Ganglienzellen  an.  Hierbei 
muss  ein  Umstand  erwähnt  werden,  durch  den  sich  die  centrale 
Erregungsleitung  ganz  Avesentlich  von  der  peripheren  unterscheidet 
und  zugleich  äusserst  verwickelt  gestaltet.  Jedes  Centralorgan  besteht 
bekanntlich  aus  einer  Vielheit  von  Nervenzellen  mit  centripetalen  und 
centrifugalen  Fasern.  Würde  nun  das  Gesetz  der  isolirten  Leitung 
auch  innerhalb  des  Centrums  strenge  gelten,  und  bliebe  jede  Leitungs- 
bahn ähnlich  isolirt,  wie  im  peripheren  Verlauf  der  Nerven,  so  würde 
jede  Erregung  von  Seite  einer  zuleitenden  Nervenfaser  auch  immer 
nur  eine  einzige,  bestimmt  localisirte  Wirkung  haben  können,  die  unter 
keinen  Umständen  sich  ändern  könnte.    Denken  wir  uns  andererseits, 


500  I^i^  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

dass  die  Verknüpfungen  der  verschiedenen  Fasern  durch  Ganglien- 
zellen, die  schliesslich  eine  nähere  oder  entferntere  Verbindung  aller 
Gebiete  des  Centralorganes  herstellen,  die  Leitung  nach  allen  Richtungen 
mit  gleicher  Leichtigkeit  gestatteten,  so  würde  eine  irgendwo  im  Central- 
organ  ankommende  Erregung  diffus  irradiiren,  ohne  eine  bestimmte 
localisirte  Wirkung  hervorbringen  zu  können.  Weder  das  Eine  noch 
das  Andere  ist  aber  in  Bezug  auf  die  Reflexbewegungen  wirklich  zu- 
treffend, deren  Eigenthümlichkeiten  bereits  in  scharf  ausgeprägter 
Weise  bei  niederen  wirbellosen  Thieren  hervortreten.  Immer  handelt 
es  sich  um  c  o  o  r  d  i  n  i  r  t  e  Bewegungen,  d.  i.  solche,  die  lediglich  durch 
die  Thätigkeit  einer  bestimmten  Anzahl  und  in  einer  bestimmten 
Weise  gruppirter  Muskeln  zu  Stande  kommen.  Am  klarsten  tritt  dies 
hervor  bei  den  Reflexbewegungen  im  engeren  Sinne,  d.  i.  jenen  Be- 
wegungen, welche  durch  quergestreifte  Skelettmuskeln  nach  Reizung 
sensibler  Nerven  unter  Vermittlung  eines  Centi^alorganes  bewirkt  werden. 
Drückt  man  das  Ende  einer  Zehe  bei  einem  geköpften  Frosch, 
so  wird  das  betreffende  Bein  angezogen,  worauf  wieder  Ruhe  eintritt. 
Es  ist  dies  eine  typische,  durch  das  Rückenmark  vermittelte  Reflex- 
bewegung. Die  Erregung,  einwirkend  auf  sensible  Nerven  der  Haut, 
pflanzt  sich  von  der  Peripherie  centralwärts  bis  zum  Rückenmark  fort  und 
giebt  Anlass  zu  einer  in  umgekehrter  Richtung  verlaufenden  Erregung, 
welche  vom  Rückenmark  ausgehend  gewisse  Muskeln  des  betreffenden 
Gliedes  erregt.  Hier,  wie  in  allen  ähnlichen  Fällen,  muss  man  eine 
Irradiation  und  zwar  eine  ganz  bestimmte  Irradiation  der 
Erregung  im  Centralorgan  annehmen,  denn  es  ist  offenbar  die 
Zahl  der  erregten  motorischen  Nervenfasern  eine  un- 
verhältniss massig  grössere,  als  die  Zahl  der  primär 
erregten  sensiblen  Fasern,  Ein  Stich  oder  eine  möglichst  be- 
grenzte Berührung  der  Haut  mit  der  feinsten  Nadelspitze  genügt,  um 
eine  sehr  grosse  Zahl  von  Muskeln  gleichzeitig  in  Contraction  zu  ver- 
setzen, und  wie  wir  etwa  bei  einer  reizbaren  Mimose  aus  der  einer 
localen  Reizung  folgenden,  weitverbreiteten  Reaction  auf  eine  Weiter- 
leitung der  Erregung  innerhalb  bestimmter  Bahnen  schliessen  dürfen, 
so  müssen  wir  auch  in  dem  ersterwähnten  Falle  eine  functionelle  Ver- 
kettung jeder  einzelnen  sensiblen  Nervenfaser  mit  vielen  motorischen 
Fasern  innerhalb  des  Centralorgans  annehmen;  denn  jede  Möglichkeit 
der  Uebertragung  hört  auf,  sobald  das  letztere  zerstört  ist.  Das 
Gesetz  der  isolirten  Leitung,  im  Gebiete  des  peripheren 
Nervensystems  allgemein  giltig,  gilt  also  nicht  für  den 
Reflexvorgang.  Auf  Grund  von  Thatsachen,  die  früher  schon  er- 
örtert wurden,  darf  man  behaupten,  dass,  wenn  es  möglich  wäre,  eine 
einzige  Primitivfaser  eines  motorischen  Nervenstammes  isolirt  zu  reizen, 
eben  nur  die  von  dieser  Faser  versorgten  Muskelfasern  sich  contra- 
hiren  würden,  und  ein  Gleiches  gilt  von  den  sensiblen  Nervenfasern 
bis  zum  Eintritt  ins  Centralorgan.  Bei  einer  Reflexbewegung  ist  dies 
anders;  hier  überträgt  sich  die  Erregung  einer  einzigen  oder  weniger 
sensibler  Fasern  unter  Vermittlung  des  Centralorganes  auf  eine  Viel- 
heit von  motorischen  Elementen.  Es  liesse  sich  aber  immer  noch  ein- 
wenden, dass  der  jeweils  zu  beobachtenden,  bestimmten  Irradiation 
der  Erregung  auch  eine  feste  und  unabänderliche  anatomische  Ver- 
knüpfung gewisser  centripetalleitender  Nervenfasern  mit  gewissen 
centrifugalleitenden  zu  Grunde  liegt.  Allein  auch  diese  Vorstellung 
lässt   sich   leicht   als    eine    unbegründete   erweisen.     Zunächst  ist  die 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  501 

Stärke  des  peripheren  Reizes  von  wesentlichem  Ein fluss 
auf  die  Grösse  der  Irradiation.  So  sieht  man,  wenn  der 
sensible  Reiz  grösser  wird,  bei  einem  geköpften  Frosch  Reflexbewegungen 
in  beiden  Hinterbeinen  und  schliesslich  auch  in  den  Vorderbeinen 
und  am  Rumpfe  auftreten.  Dann  handelt  es  sich  um  eine  Irradia- 
tion der  Erregung  fast  über  das  ganze  Rückenmark, 
und  fast  alle  motorischen  Nerven,  welche  aus  diesem  Theil  des  Central- 
organes  entspringen,  gerathen  reflectorisch  in  Erregung.  Aber  auch 
dann  noch  sind  die  Bewegungen  durchaus  coordinirt, 
d.  i.  die  Gruppen  der  gleichzeitig  erregten  motorischen 
Fasern   sind   stets   physiologisch   zusammengehörige. 

Es  ist  leicht  verstcändlich ,  dass  unter  diesen  Umständen  die 
Ueber tragung  der  Erregung  auf  entferntere  Muskeln 
eine  längere  Zeit  beansprucht.  Bestimmt  man  die  Reflexzeit 
für  einen  Muskel  derselben  und  den  analogen  der  anderen  Seite  bei 
Reizung  einer  gewissen  Hautstelle,  so  ist  die  Reflexzeit  im  letzteren 
Falle  grösser  als  im  ersteren.  Die  Grösse  dieses  Betrages  wird  die 
Zeit  der  Querleitung  genannt.  Geringer  scheinen  die  Wider- 
stände in  der  Längsrichtung  des  Rückenmarkes  zu  sein.  (Wundt  29.) 
Am  unzweideutigsten  wird  aber  die  Eigenart  des  Leitungs- 
vorganges innerhalb  der  nervösen  Centralorgane  be- 
wiesen durch  die  überaus  auffallenden  Veränderungen,  welche  in  sehr 
vielen  Fällen  durch  gewisse  Gifte  hervorgerufen  werden.  Es  ist 
seit  lange  bekannt,  dass  bei  den  meisten  Wirbelthieren  nach  Vergiftung 
mitStrychnin  schon  auf  die  leisesten  Reize  irgendwelcher  sensibler 
Theile  die  heftigsten  uncoordinirten  Muskelbewegungen  (Krämpfe)  auf- 
treten, durch  welche  bei  Warmblütern  sehr  i'asch  der  Tod  herbeige- 
führt wird.  Durch  ältere  wie  neuere  Versuche  ist  es  als  sichergestellt 
zu  betrachten,  dass  das  Rückenmark  für  den  Strychninkrampf  ebenso 
wie  für  die  Entstehung  der  Reflexe  überhaupt  Mitbedingung  ist. 
Weder  die  peripheren  motorischen,  noch  auch  die  sensiblen  Nerven 
werden  durch  das  Gift  merklich  in  ihrer  Erregbarkeit  beinflusst.  Es 
stellt  das  Strychnin  demnach  ein  specifisches  Rückenmark sgift  dar. 

Die  Einverleibung  sehr  kleiner  Dosen  (von  0,02 — 0,04  mgr)  be- 
wirkt beim  Frosch  zunächst  keine  andere  Veränderung  als  eine  deut- 
liche Zunahme  der  Reflexerregbarkeit.  Die  Reflexzuckungen  treten 
bei  schwächeren  Reizen  und  bei  jedem  einzelnen  Reize  mit  grösserer 
Sicherheit  als  zuvor  ein*,  weder  zeigt  sich  aber  in  der  Dauer  der 
latenten  Reizung  noch  in  dem  sonstigen  Verlauf  eine  irgend  merkliche 
Abweichung  von  normalen  Reflexzuckungen.  Nach  etwas  stärkeren 
Dosen  geht  dann  ganz  allmählich,  während  die  Dauer  der  latenten 
Reizung  nach  Rosenthal  immer  mehr  abnimmt  (Wundt  giebt  das 
Gegentheil  an),  der  Verlauf  der  Zuckung  in  einen  anhaltenden  Tetanus 
über,  der  schon  bei  schwächster  Reizung  eintritt  und  mit  der  Ver- 
stärkung derselben  nur  wenig  zunimmt.  Auf  der  Höhe  der  Strychnin- 
wirkung  tritt  bei  einem  Reize,  der  eben  stark  genug  ist,  um  den  Reflex 
auszulösen,  sogleich  auch  schon  die  Maximalerregung  ein.  In  Bezug 
auf  die  Abhängigkeit  einer  Reflexzuckung  von  der  Stärke  der  Reizung 
ist  hervorzuheben,  dass  nur  ein  ganz  enges  Intervall  der  Reizstärken 
besteht,  innerhalb  dessen  die  Contractionsgrösse  mit  dem  Reize  wächst ; 
sobald  dieser  überhaupt  im  Stande  ist,  einen  Reflex  auszulösen,  ist 
dies  schon  gleich  eine  ziemlich  starke  Muskelzuckung,  die  bei  weiterer 
Verstärkung   des  Reizes   nicht   wesentlich   mehr  zunimmt,    während 


502  ^'6  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

dagegen  die  Reflexzeit  abnimmt.  Nach  Rosenthal  (31) 
kann  dann  bei  sehr  starker  Reizung  die  Reflexzeit  so  klein  werden, 
dass  von  dem  ursprünglichen  Helmholtz'schen  Phcänomen  gar  nichts 
mehr  übrig  bleibt  und  dass,  wenn  man  die  Zeit  berechnet,  welche  die 
Erregung  braucht,  um  von  der  Reizstelle  zum  Rückenmark  und  von 
diesem  zum  Muskel  zu  gelangen,  die  Summe  beider  Zeiten  ungefähr 
der  wirklich  gemessenen  Latenzdauer  entspricht.  Das  an  sich  schon 
sehr  enge  Gebiet,  innerhalb  dessen  einer  Steigerung  der  Reize  eine 
merkliche  Zunahme  des  reflectorischen  Erfolges  entspricht,  wird  bei 
stärkerer  Strychninvergiftung  immer  kleiner  und  zuletzt  verschwindend 
klein  (Rosenthal). 

Die  Erscheinungen,  welche  man  dann  an  einem  derart  vergifteten 
Frosch  beobachtet,  sind  sehr  charakteristisch.  Wie  schon  erwähnt, 
tritt  am  normalen  Reflexapparat  selbst  bei  schwächster  Reizung  der 
Hinterpfote  eine  Beugebewegung  der  betreß'enden  Extremität  ein, 
während  die  Streckmuskeln  in  Ruhe  bleiben.  Ganz  anders,  wenn  der 
Frosch  mit  Strychnin  vergiftet  wurde;  dann  beobachtet  man  unter 
allen  Umständen  starke  Contractionen  sämmtlicher  Muskeln  des 
Beines,  und  da  die  Strecker  stärker  sind,  wird  das  Bein  krampfhaft 
gestreckt.  Es  fragt  sich  nun,  worauf  es  beruht,  dass  der  normale 
coordinirte  Beugereflex  nach  Strychninvergiftung  in  den  uncoordinirten 
Streckreflex  übergeht.  Nimmt  man  statt  der  gewöhnlichen  Dosen  viel 
kleinere  (bis  zu  0,0001  gr),  so  sieht  man,  dass  dieselben  nicht  im 
Stande  sind,  den  Beugereflex  in  den  Streckreflex  überzuführen,  ob- 
schon  sie  doch  einen  Einfluss  auf  das  Rückenmark  ausüben,  indem 
ein  schwächerer  Reiz  schon  ausreicht,  um  den  Reflex  zu  bewirken,  und 
indem  die  Reflexe  prompter  und  sicherer  eintreten.  Sowie  man  aber 
über  diese  ausserordentlich  kleinen  Dosen  hinausgeht,  so  treten  sehr 
bald  krampfhafte  Streckreflexe  ein.  Der  Unterschied  ist  der,  dass  bei 
dem  coordinirten  Beugereflex  zunächst  gewisse  Bahnen  allein  reflec- 
torisch  angeregt  werden,  dagegen  bei  den  incoordinirten  Streckreflexen 
alle  gleichzeitig,  und  dass  nun  die  Streckmuskeln  kräftiger  wirken 
und  die  Stellung  des  Gliedes  bedingen.  Ist  das  Rückenmark  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  mit  Strychnin  vergiftet,  so  wird  von  allen  wirk- 
samen, ihrem  Orte  nach  noch  so  verschiedenen  sensiblen  Reizen  eine 
gleichzeitige  Zusammenziehung  aller  Skelettmuskeln  ausgelöst,  äh  ob 
sämmtliche  Nerven  derselben  in  ein  Bündel  zusammengefasst  gleich- 
zeitig gereizt  würden.  Kann  man  sonach  während  der  Strychninver- 
giftung von  jedem  beliebigen  Empfindungsnerven  der  Haut  aus  jeden 
motorischen  Nerven  in  gleicher  Weise  erregen,  so  müssen  notwendig 
auch  alle  Fortsetzungen  derselben  innerhalb  des  reflectirenden  Central- 
organes  (Rückenmark)  in  gleicher  Weise  mit  einander  verkettet  sein. 
Es  ist  selbstverständlich,  dass  sich  durch  die  Vergiftung  nicht  der  Bau 
und  Verlauf  der  centralen  Bahnen  geändert  haben  kann,  auf  welchen 
sich  die  Erregung  im  Rückenmark  sonst  fortpflanzt.  Wir  müssen 
vielmehr  annehmen,  dass  die  neuen  Beziehungen,  in  welche  die 
centralen  Nervenelemente  zu  einander  getreten  sind,  aus  einer 
chemischen  Aenderung  ihrer  Substanz  abzuleiten  sind.  Das 
Strychnin  hat  somit  den  Beweis  geliefert,  dass  die  Wege,  welche 
die  Erregung  im  unver  gifteten  Centralorgan  ein- 
schlägt, nicht  darum  beschränkte  sind,  weil  sie  durch 
eine  bestimmte  Anordnung  des  Faser  Verlaufes  vorge- 
schrieben werden,  sondern  nur  deshalb,  w  e  i  1  d  e  r  d  i  e  E  r  - 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  503 

regung  fortpflanzenden  Masse  in  bestimmten  Richtungen 
eine  besondere  Beweglichkeit  zukommt.  Denkt  man  sich 
die  ganze  graue  Substanz  als  ein  in  sich  zusammenhängendes  Netzwerk 
von  gleichartigem,  erregbarem  und  leitungsfähigem  Plasma,  das  mit 
sensiblen  und  motorischen  Nervenfasern  in  directer  Verbindung  steht, 
eine  Vorstellungs weise,  die  freilich  durch  die  neueren  histologischen 
Untersuchungen  nicht  gestützt  Avird,  so  kann  man  sich  das  Zustande- 
kommen geordneter,  einem  bestimmten  Reize  in  immer  gleicher  gesetz- 
mässiger  Weise  folgender  Reflexbewegungen  nur  so  erklären,  dass 
gewisse  „Entladungslinien"  bestehen,  längs  deren  die  betreffende 
Erregung  normaler  Weise  fortgepflanzt  Avird,  weil  hier  geringere  Wider- 
stände bestehen,  das  Plasma  erregbarer  ist.  Man  hat  die  Bahnen,  welche 
eine  sensible  Erregung,  die  eine  gewisse,  bestimmte  Reflexbewegung 
hervorruft,  im  Rückenmarke  einschlägt,  oft  mit  ausgefahrenen  Geleisen 
verglichen,  und  in  gewisser  Beziehung  triff't  dieser  rohe  Vergleich  ja 
auch  zu.  Hier  drängt  sich  nun  aber  die  Frage  auf:  wie  ist  es  zur 
Bildung  des  so  wunderbar  zweckmässig  angeordneten  Netzes  von  Ent- 
ladungslinien gekommen,  und  weiter,  ist  es  möglich,  dass  auch  während 
des  individuellen  Lebens  neue  Combinationen,  neue  Erregungsbahnen 
für  Reflexe  gebildet  werden?  Es  würde  zu  weit  führen,  auf  diese 
Fragen  hier  näher  einzugehen;  es  sei  daher  nur  bemerkt,  dass  Grund 
zu  der  Annahme  vorliegt,  dass  jede  im  Centralnervensystem  auf  irgend 
einer  Bahn  ablaufende  Erregung  auf  derselben  Spuren  hinterlässt, 
indem  sie  gewisse,  immer  schärfer  hervortretende,  molekulare  Ver- 
änderungen daselbst  hervorruft,  welche  den  abermaligen  Ablauf  von 
Erregungen  längs  derselben  Entladungslinien  mehr  und  mehr  erleichtern, 
je  öfter  die  betreffende  Erregung  sich  wiederholt  (Ex ner's  „Bahnung"). 
Diese  Voraussetzung  erklärt  nicht  nur  die  Thatsache,  dass  sich  während 
des  individuellen  Lebens  neue  reflectorische  Bewegungscombinationen 
bilden  können,  sondern  bildet  auch  den  Schlüssel  zum  Verständniss 
der  Entstehung  jener  zweckmässigen  Reflexe,  welche  das  Individuum 
als   „ererbte  Ei  Werbung"  von  seinen  Vorfahren  überkommt. 

Wenn  durch  die  vorstehenden  Thatsachen  erwiesen  ist,  dass  das 
Gesetz  der  isolirten  Leitung  nicht  in  dem  strengen  Sinne  innerhalb 
der  Centralorgane  gilt,  Avie  im  Bereiche  der  peripheren  Nerven,  so 
lässt  sich  auf  der  andern  Seite  auch  zeigen,  dass  dasselbe  in  Bezug 
auf  ein  anderes  Hauptgesetz  gilt,  nämlich  das  der  doppelsinnigen 
Leitung.  Es  ist  bekannt,  dass  centrifugale  (insbesondere  motorische) 
und  centripetale  Nerven  in  gesonderten  Bündeln  (Wurzeln)  in's  Rücken- 
mark der  Wirbelthiere  eintreten.  Es  zeigt  sich  nun,  dass  niemals 
(auch  nicht  nach  Strychninvergiftung)  durch  centrale  Reizung  einer 
durchschnittenen  vorderen  Wurzel  Reflexbewegungen  oder  Krämpfe 
ausgelöst  werden.  Mit  Rücksicht  auf  den  Bau  des  Rückenmarkes 
müsste  hieraus  geschlossen  Averden,  dass  die  Protoplasmafortsätze  der 
Vorderhornzellen,  soferne  dieselben  überhaupt  bestimmt  sind,  Erregungen 
zu  leiten,  dies  nur  in  einer  Richtung  zu  thun  vermögen.  Als  eine 
Eigenschaft  dieser  Zellen  AAÜirde  dann  die  Beschränkung  der  bei  ge- 
gewöhnlichen Nervenfasern  doppelsinnigen  Erregungsleitung  auf  eine 
einzige  Richtung  anzusehen  sein.  ( J.  G  a  d.)  Die  neueren  Aufschlüsse 
über  den  Bau  der  grauen  Substanz  und  speciell  über  die  anatomische 
Beschaff"enheit  des  Reflexbogens  lassen  freilich  die  ganze  Sache  in 
einem  anderen  Lichte  erscheinen.  Denn  handelt  es  sich  nicht  um 
Continuität    der   Substanz,    sondern    nur   um  Contact   zwischen   den 


504  I^ie  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

Endästchen  der  zuleitenden  Nervenfaser  (dem  „Endbäumchen")  und 
der  reflectirenden  (motorischen)  Ganglienzelle,  so  wird  die  einseitige 
Leitung  ganz  wohl  verständlich  und  ebensowenig  wunderbar  wie  die 
Thatsache,  dass  Erregung  eines  Muskels  nicht  auch  zugleich  den 
motorischen  Nerven  miterregt. 

Höchst  bemerkenswerth  ist  die  sehr  verschiedene  Empfind- 
lichkeit verschiedener  Thiere  für  Strychnin,  die  wohl  auf 
entsprechende,  freilich  gänzlich  unbekannte  Unterschiede  in  der 
chemischen  Zusammensetzung  der  centralen  Nervenzellen  schliessen 
lässt.  So  zeichnen  sich  unter  den  Wirbelthieren  Meerschweinchen  und 
Hühner  durch  eine  besondere  Unempfindlichkeit  für  Strychnin  aus 
(Leube  32).  Vor  allem  aber  lassen  die  meisten  Wirbellosen  die 
charakteristischen  Krampferscheinungen,  selbst  bei  Vergiftung  mit 
grossen  Dosen,  ganz  oder  fast  ganz  vermissen.  Von  Gl.  Bernard 
ist  die  später  vielfach  bestätigte  Beobachtung  gemacht  worden,  dass 
die  Reflexerregbarkeit  wirbelloser  Thiere  (Krebs,  Blutegel)  durch 
Strychnin  nicht  geändert  wird.  Sowohl  beim  Egel  wie  beim  Krebs 
hatte  er  jegliches  an  die  Erscheinungen  bei  Wirbelthieren  erinnerndes 
Erregungsstadium  völlig  vermisst,  vielmehr  nur  eine  rasch  eintretende, 
primäre  (centrale)  Lähmung  gesehen.  Krukenberg  (33)  bestätigte 
diese  Angaben  Bernard 's,  während  Yung  (34)  im  Gegentheil  an 
Krebsen  heftige,  allerdings  rasch  der  Lähmung  weichende,  tetanische 
Wirkungen  sah.  Auch  Luchsinger  (35)  berichtet  über  Erscheinungen 
an  Wirbellosen  (Egel,  Krebs)  bei  Strychninvergiftung,  welche  er  als 
Reflexkrämpfe  deuten  zu  dürfen  glaubt.  Allerdings  treten  dieselben 
nur  unter  gewissen  Bedingungen  auf.  Luchsinger  bediente  sich, 
wie  Krukenberg,  des  sinnreichen,  zuerst  von  Bernard  für  den 
Frosch  eingeführten  Verfahrens  partieller  Vergiftung.  Ein  Egel 
wird  durch  2  Ligaturen  in  3  Theile  abgetheilt;  die  Ligaturen  sollen 
die  Girculation  hemmen,  ohne  das  Bauchmark  einzuschnüren.  Wird 
dann  in  den  mittleren  Abschnitt  Strychnin  (0,000  3  gr)  injicirt,  so 
hängt  nach  Luchsinger  der  Erfolg  ganz  von  der  Temperatur 
ab.  Befand  sich  der  Egel  vorher  einige  Zeit  im  Wasser  von  etwa 
8  0  G.,  so  zeigt  sich  keine  Spur  von  Erregungserscheinungen,  wogegen 
die  vergiftete  Mitte  eines  vorher  bei  25—30**  G.  gehaltenen  Thieres 
die  lebhaftesten  Erregungserscheinungen  zeigt.  „Immerfort  laufen 
Reizwellen  von  Querschnitt  zu  Querschnitt,  und  ist  endlich  vorüber- 
gehend Ruhe  eingetreten,  so  weicht  diese  sofort  wieder  wilden  Be- 
wegungen, wenn  nur  ein  leiser  Hautreiz  das  Thier  trifft."  Dabei 
bleiben  die  unvergifteten  Endabschnitte  durchaus  ruhig.  Nach  einiger 
Zeit  tritt  dann  Lähmung  der  Mitte  ein.  Es  scheint  hiernach  ein 
principieller  Unterschied  im  Verhalten  der  centralen  Ganglienzellen 
gegen  Strychnin  bei  Wirbellosen  und  Wirbelthieren  nicht  zu  bestehen, 
wenngleich  eine  gradweise  Verschiedenheit  der  Empfindlichkeit  nicht 
wohl  geläugnet  werden  kann.  Im  Uebrigen  besteht  der  auffallende 
Einfluss,  welchen  die  Temperatur  auf  die  Strychninwirkung  beim  Egel 
zeigt,  in  einem  gewissen  Grade  auch  beim  Frosch  und  wurde  hier 
schon  von  Kunde  beobachtet  und  später  auch  von  W  u  n  d  t  erörtert. 

Stärkere  Strychnindosen  bewirken  sowohl  bei  Wirbelthieren  wie 
auch,  und  zwar  viel  rascher,  bei  Wirbellosen  stets  einen  lähmungs- 
ähnlichen Zustand,  dessen  Ursache,  wie  die  vorhergehende  Erregbar- 
keitssteigerung, centralen  Ursprungs  ist.  Es  gleicht  in  diesem 
Stadium    der    Strychninwirkung   das    Verhalten    der   Thiere    sehr    der 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  505 

Narkose,  welche  durch  die  Anästhetica  (Aether,  Chloroform, 
Alkohol)  bewirkt  wird.  Schon  früher  wurde  der  eigenthümlichen 
Wirkungen  ausführlich  gedacht,  welche  durch  diese  Stoffe  an  allen 
contractilen  Substanzen,  wie  auch  an  Nervenfasern  erzeugt  werden. 
In  Bezug  aufEmpfindlichkeit  stehen  aber  die  Ganglien- 
zellen in  ersterLinie,  und  zwar,  wie  es  scheint,  bei  allen 
Thieren. 

Der  schwächende  Einfluss  der  Anästheti(;a  auf  das  Reflexvermögen 
der  Wirbelthiere  ist  seit  lange  bekannt,  und  man  darf  wohl  sicher 
annehmen,  dass  es  die  Ganglienzellen  der  Centren  sind, 
deren  normale  Lebenseigenschaften  zunächst  und  in 
tiefgreifenderWeise  durch  diebetre f f e nden  Substanz en 
geschädigt  werden,  was  sich  durch  eine  eventuell  bis  auf  Null 
gehende  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  und  des  Leitungsvermögens 
verräth.  Es  ist  das  Verdienst  Cl.  Bernard's,  darauf  hingewiesen 
zu  haben,  dass  die  Wirkung  der  Anästhetica  eine  allgemeine,  die 
Irritabilität  des  Plasmas  überhaupt  betreffende  ist.  Doch  ergiebt  sich 
aus  allen  Erfahrungen  unmittelbar,  dass  die  verschiedenen  Gewebe 
eines  und  desselben  Organismus  gradweise  sehr  verschieden  beeinflusst 
werden.  Unterwirft  man  einen  Menschen  oder  ein  Wirbelthier  der 
Wirkung  des  Chloroforms  oder  Aethers,  so  ist  es  in  erster  Linie  das 
ausserordentlich  empfindliche  Protoplasma  der  Zellen  der  Hirnrinde, 
auf  welches  diese  Substanzen  wirken.  Das  Bewusstsein,  die  bewusste 
Emptindung  und  willkürliche  Bewegung,  kurz,  alle  psychischen  Thätig- 
keiten  im  engeren  Sinne  erlöschen,  während  immer  noch  Reflexe  aus- 
gelöst werden  können.  Nach  dem  dann  folgenden  Erlöschen  der  Reflex- 
function  zeigen  sich  noch  immer  Nerven,  Muskeln,  Drüsen  etc.  nicht 
alterirt.  Dies  erklärt  ja  eben,  wie  die  vitalen  Functionen  fort- 
dauern können,  und  wie  die  beginnende  Narkose  das  Gesammtleben 
nicht  direct  bedroht.  Die  chirurgische  Anästhesie  ist  also  in  Wahrheit 
eine  unvollkommene;  sie  betrifft  blos  die  empfindlichsten  Elemente 
des  centralen  Nervensystems,  während  die  andern,  reizbaren  Theile 
(Muskeln,  Nerven,  Drüsen  etc.)  zwar  auch  der  Narkose  zugänglich 
sind,  aber  erst  viel  später  ergriffen  werden,  nachdem  bereits  die  Func- 
tionen der  nervösen  Centren  längst  erloschen  sind.  Unter  allen  Um- 
ständen ergiebt  sich  aber  aus  den  vorstehenden  Erörterungen  die 
wichtige  Thatsache,  dass  auch  bei  den  Nervenfasern  Erregbarkeit  und 
Leitungsvermögen  als  Function  des  Protoplasmas  des  Axencylinders 
zu  betrachten  sind,  was  mit  Rücksicht  auf  gewisse,  später  zu  be- 
sprechende Anschauungen  von  grösster  Bedeutung  ist. 

Ergiebt  sich  aus  Versuchen  über  die  Wirkungsweise  verschiedener 
Gifte  mit  aller  Sicherheit  der  Schluss,  dass  die  centralen  und 
leitenden  Theile  des  Nervensy stemes  (Zellen  und  Fasern) 
in  ihren  Lebenseigenschaften  ganz  wesentlich  ver- 
schieden sind,  so  ist  dies  nicht  minder  der  Fall,  wenn  man  den 
Einfluss,  welchen  verschiedene  andere  Momente  auf  Erregbarkeit  und 
Leitungsvermögen  nervöser  Centren  besitzen,  einer  genaueren  Betrachtung 
unterwirft.  Hier  ist  vor  Allem  di  e  Temperatur  zu  erwähnen,  deren 
ausschlaggebende  Bedeutung  für  die  Functionen  jeder  lebendigen 
Substanz  ja  allbekannt  ist.  Dass  Frösche  ihre  Reflexerregbarkeit  bei 
verschiedenen  Temperaturen  verschieden  lange  bewahren,  im  Allge- 
meinen bei  niederer  länger  als  bei  lioher,  ist  seit  lange  bekannt,  doch 
fehlt   es   an   eingehenden,   genauen  Untersuchungen,  was  um  so  mehr 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  o'o 


506  Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

ZU  bedauern  ist,  als  die  vorliegenden  Angaben  einander  vielfach 
widerspi-echen.  Während  einerseits  behauptet  Avird,  dass  Erwärmung 
des  Rückenmarkes  auf  24—27  "^  C.  die  Reflexerregbarkeit  steigert,  und 
zwar  um  so  flüchtiger,  je  höher  die  Temperatur  ist,  liegen  anderer- 
seits Angaben  vonTarchanow  und  Freusberg  vor,  denen  zufolge 
durch  Einpacken  des  Rumpfes  in  Eis  die  von  den  Hinterextremitäten 
auszulösenden  Reflexe  ebenfalls  bedeutend  gesteigert  werden ,  eine 
Thatsache,  die,  falls  sie  sich  bestätigt,  an  die  früher  erörterten 
Wirkungen  der  Abkühlung  bei  quergestreiften  Muskeln  erinnert,  wie 
sie  durch  Gad  und  Hey  maus  aufgedeckt  wurden.  Jedenfalls  bedarf 
dieser  Punkt  genauerer  Untersuchung.  Vielleicht  handelt  es  sich 
auch  bei  der  Ganglienzelle  um  ein  ungleich  rasches  Absinken  der 
Dissimilations-  und  Assimilationsprocesse  bei  der  Abkühlung. 

Wie  dem  auch  sein  mag,  soviel  darf  als  sicher  gelten,  dass  inner- 
halb gewisser,  für  den  Kaltblüter  niederer,  für  den  W^armblüter  höherer 
Grenzwerthe  Temperatursteigerung  auch  die  Reflexerregbarkeit  steigert. 
Es  käme  nur  noch  darauf  an,  diese  Grenzwerthe  experimentell  genauer 
festzustellen.  Dass  aber  eine  Temperatursteigerung  über  eine  gewisse 
Grenze  hinaus  gerade  wie  eine  zu  grosse  Abkühlung  lähmend  wirkt, 
ist  eine  ebenfalls  für  alle  irritablen  Gebilde  geltende  Thatsache.  Jedes 
Protoplasma  verfällt  durch  zu  hohe  Temperaturen  in  Wärmestarre 
(Wärmelähmung),  Selbstverständlich  beginnt  schon  etwas  unter  dieser 
Grenze  die  Erregbarkeit  zu  leiden.  Bringt  man  einen  Frosch  für 
einige  Zeit  in  eine  Temperatur  von  30 — 38"  C,  so  verfällt  er  alsbald 
in  einen  Zustand  des  Scheintodes.  Zwar  schlägt  das  Herz  noch,  aber 
das  Thier  ist  ganz  reactionslos ,  selbst  stärkste  Reize  bleiben  ohne 
merklichen  Erfolg,  und  nur  locale  Muskelcontractionen  lassen  sich 
auslösen.  Bringt  man  den  Frosch  dann  für  kurze  Zeit  in  kaltes 
Wasser,  so  beflndet  er  sich  bald  wieder  im  Vollbesitz  seiner  centralen 
Functionen.  Es  erfolgen  zunächst  reflectorische  Bewegungen  der 
Kehlmuskeln,  bald  darauf  spontane  Athembewegungen,  und  endlich  kehrt 
auch  die  Reflexerregbarkeit  des  Rückenmarkes  zurück.  Noch  später 
erholen  sich  auch  die  anderen  Centren  der  Oblongata  und  zuletzt  erst 
das  Grosshirn,  indem  die  spontane  Bewegh'chkeit  zurückkehrt.  Es 
erinnert  dieses  Verhalten  unmittelbar  an  die  Folgewirkungen  zu- 
nehmender Veno  si tat  des  Blutes,  Schon  längst  ist  der  normale 
Gasgehalt  des  Blutes  bei  Warmblütern  als  nothwendige  Bedingung  für 
das  normale  Functioniren  gewisser  Theile  des  Centralnervensystems, 
insbesondere  des  „Athemcentrums",  erkannt  worden,  und  wenn  der 
Gaswechsel  des  Blutes  ganz  unterbrochen  wird,  wenn  wir  ein 
Thier  ersticken  lassen,  dann  treten  beim  Warmblüter  eine  ganze  Reihe 
mächtigster  Reizwirkungen  von  Seite  der  Centralorgane  hervor.  Es 
betheiligen  sich  dabei  nicht  nur  das  Athemcentrum ,  Gefässcentrum 
u.  s,  w.,  sondern  das  ganze  Centralnervensystem  geräth  in  mächtigste 
directe  Erregung.  Dasselbe  ist  auch  der  Fall,  wenn  (bei  Warmblütern) 
die  Blutzufuhr  gänzlich  abgesperrt  wird.  Das  Blut,  und  zwar 
Blut  von  normaler  Zusammensetzung,  insbesondere 
normalem  Gasgehalt,  ist  absolut  not h wendig  für  die  Er- 
haltung der  Functionen  der  nervösen  C  e  n  t  r  e  n ;  aber  diese 
Nothwendigkeit  ist  graduell  ausserordentlich  verschieden  bei  Kalt-  und 
Warmblütern.  Bindet  man  einem  Frosch  das  Herz  ab  oder  bringt 
man  ihn  in  ein  sauerstoöYreies  Medium,  so  kann  er  noch  lange  sich 
willkürlich  bewegen ;    er  springt,    schwimmt,  fühlt  u.  s.  w.    Die  Unter- 


Die  Nerven  imd  ihre  physiologische  Function.  507 

brechung  der  Blutcirculation  hat  nicht  sofort  auch  die  Functionen  des 
centralen  Nervensystemes  vernichtet.  Man  kann  auch  die  gesammte 
Blutmenge  bei  einem  Frosch,  wie  schon  Cohnheim  gezeigt  hat,  durch 
physiologische  Kochsalzlösung  ersetzen  und  sieht  nichtsdesto- 
Aveniger  bei  nicht  zu  hoher  Temperatur  die  normalen  Functionen 
der  Nervencentren  stundenlang  fortdauern.  Verlängert  man  freilich 
den  Versuch  über  Gebühr,  so  sieht  man  allmählich  die  Reflexfunction 
erlöschen.  Aber  selbst  nach  stundenlangem  Verschluss  der  Aorta  oder 
nach  ebenso  langem  Aufenthalt  in  sauerstofffreien  Räumen  kann  sich  ein 
Frosch  wieder  völlig  erholen.  Stets  sieht  man  zuerst  die  Functionen 
der  grossen  Nervencentren  leiden  und  erst  viel  später  auch  die  peri- 
pheren erregbaren  Theile  (Muskeln  und  Nerven).  Die  verschiedenen 
Elementartheile  sind  also  auch  sehr  verschieden  empfind- 
lich gegen  die  Entziehung  der  Blutzufuhr  und  die  da- 
durch bedingten  Stoffwechseländerungen.  Die  einen  sterben 
schnell  ab,  wie  die  graue  Substanz  des  Gehirns  und  Rückenmarkes, 
die  andern  viel  langsamer,  wie  die  peripheren  Nervenstämme  und  die 
Muskeln.  Bei  den  Warmblütern  sind  die  Phänomene  im  Wesentlichen 
dieselben,  aber  ihr  zeitlicher  Verlauf  ist  ungemein  viel  schneller;  auch 
bei  ihnen  stirbt  zunächst  das  Centralnervensystem  ab ,  dann  erst  die 
peripheren  Nerven  und  die  Muskeln.  Dies  gilt  ebensowohl  für  die 
Anämisirung,  wie  für  die  durch  Verarmung  des  Blutes  an  Sauer- 
stoff bedingte  Asphyxie.  In  ersterer  Beziehung  liefert  besonders 
der  sogenannte  Stenson'sche  Versuch  ein  gutes  Beispiel.  Durch  Ab- 
klemmung der  Bauchaorta  lässt  sich  beim  Warmblüter  in  wenigen 
Minuten  eine  Lähmung  der  Hinterextremitäten  erzielen,  wobei  die  Er- 
regbarkeit und  das  Leitungsvermögen  der  Nervenstämme  und  Muskeln 
noch  vollkommen  erhalten  ist. 

Für  die  Abhängigkeit  der  centralen  Ganglienzellen  vom  Blute 
spricht  endlich  auch  schon  die  anatomische  Vertheilung  der  Gefässe 
innerhalb  der  weissen  und  grauen  Substanz  der  Centralorgane,  sowie 
die  Gefässarmuth  der  peripheren  Nerven.  Ausserdem  ist  bekannt, 
dass  eine  länger  dauernde  Absperrung  der  Blutzufuhr  mehr  oder 
weniger  ausgeprägte  histologische  Veränderungen  der  Ganglienzellen 
der  grauen  Substanz  des  Rückenmarkes  beim  Warmblüter  zur  Folge 
hat;  dieselben  können  bereits  vollständig  verschwunden  (degenerirt) 
sein,  während  die  Fasern  des  weissen  Markmantels  noch  intact  er- 
scheinen (36). 

Die  im  Vorstehenden  kurz  erwähnten  Thatsachen  zeigen,  dass  die 
reflexübertragenden  und  automatischen  Centralapparate  des  Gehirns 
und  Rückenmarkes  sich  durch  eine  ganze  Reihe  charakteristischer 
Eigenthümlichkeiten  in  Bezug  auf  Erregbarkeit  und  Leitungsvermögen 
sehr  wesentlich,  wenngleich  nicht  principiell,  von  anderen  irritablen 
Elementen  unterscheiden.  Wir  finden  die  centrale  Ganglienzelle  be- 
sonders empfindlich  gegen  gewisse  Gifte.  Wir  sehen,  wie  das  Strychniu 
in  geradezu  specifischer  Weise  die  Erregbarkeit  der  Ganglienzellen 
des  Rückenmarkes  beeinflusst,  während  es  auf  Nerven  und  Muskeln 
keine  erhebliche  Wirkung  besitzt ;  wir  sehen  die  Anästhetica  in  erster 
Reihe  immer  die  Centralapparate  afliciren  und  erst  viel  später  auch 
das  Herz  sowie  die  peripheren  Nerven  und  Muskeln ;  die  gleiche  That- 
sache  tritt  uns  entgegen  bei  Erhöhung  der  Temperatur  über  eine  ge- 
wisse Grenze  hinaus;  wir  sehen  endlich  (und  es  ist  das  vielleicht  am 
meisten    charakteristisch)    auch    den    Gasgehalt    des    Blutes    von    sehr 

33* 


508  Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

wesentlichem  Einfluss  auf  die  Erregbarkeit  der  nervösen  Centren  und 
finden  dieselben  insbesondere  bei  Warmblütern  so  ausserordentlich 
empfindlich  gegen  Veränderungen  ihres  normalen  Stofi'wechsels,  sei  es, 
dass  dieselben  durch  Anämisirung  oder  djspnoische  Blutbeschaffenheit 
herbeigeführt  werden,  dass  in  dieser  Beziehung  ein  Vergleich  mit  den 
peripheren  Nerven  und  Muskeln  kaum  noch  zulässig  erscheint. 

Von  der  a  priori  wahrscheinlichsten  Annahme  ausgehend,  dass  die 
centralen  Nervenfasern  wie  im  Bau  und  Ursprung,  so  auch  in 
Bezug  auf  ihre  Lebenseigenschafteu  mit  den  peripheren  in  allen  wesent- 
lichen Punkten  übereinstimmen,  lässt  sich  nun  auch  leicht  verstehen, 
dass  die  motorischen  Erfolge  der  directen  Reizung  der 
Centralorgane  und  speciell  des  Rückenmarkes  in  mancher 
Beziehung  von  jenen  der  directen  Erregung  peripherer 
motorischer  Nerven  abweichen  undimWesentlichenvon 
denselben  Bedingungen  abhängig  erscheinen,  wie  re- 
flektorisch ausgelöste  Bewegungen.  Dies  ergiebt  sich  un- 
mittelbar aus  der  Thatsache,  dass  jede  motorische  Nervenfaser  (vordere 
Wurzelfaser)  Ausläufer  einer  Ganglienzelle  ist  und  somit  vom  Rücken- 
marke aus  nur  indirect  unter  Vermittlung  dieser  letzteren  angesprochen 
werden  kann.  Der  Nichtberücksichtigung  dieses  Umstandes  ist  es 
auch  allein  zuzuschreiben,  dass  jene  sonderbare  Lehre  aufgestellt 
werden  konnte,  derzu folge  die  centralen  Nervenfasern  zwar 
leitungsfähig,  aber  nicht  erregbar  sein  sollten. 

Der  Widerspruch  erscheint  um  so  auffallender,  als  einerseits  grade 
die  nervösen  Centralorgane,  Gehirn  und  Rückenmark,  in  so  ausser- 
ordentlich hohem  Grade  befähigt  erscheinen,  schon  auf  die  schwäclisten 
natürlichen  „organischen"  Reize  zu  reagiren  und  die  ausgelöste  Erregung 
weiter  zu  leiten,  und  andererseits  die  in  die  Zusammensetzung  der 
nervösen  Centren  eingehenden  Nervenfasern  sich  kaum  wesentlich  in 
ihrem  Baue  von  den  peripheren  Nerven  unterscheiden. 

Wenn  man  die  Gesammtheit  der  bisher  vorliegenden  einschlägigen 
Versuche  überblickt,  so  findet  man,  dass  alle  darauf  hinzielen,  einer- 
seits mit  möglichster  Sicherheit  den  Beweis  zu  liefern,  dass  eine  als 
Folge  der  Reizung  des  Centralorgans  beobachtete  Bewegung  kein 
Reflex  ist,  und  andererseits  sichere  objective  Zeichen  der  Empfindung 
des  Thiers  zu  ermitteln.  So  sehen  wir  schon  vanDeen  bemüht,  den 
eben  berührten  Einwand  hinsichtlich  der  Deutung  motorischer  Reiz- 
erfolge vom  Rückenmarke  aus  durch  ein  besonderes  Versuchsverfahren 
auszuschliessen,  das  in  der  Folge  vielfach  Nachahmung  fand.  Er  legte 
das  Rückenmark  des  Frosches  etwa  vom  3.  bis  5.  Wirbel  blos,  schnitt 
sämmtliche  Wurzeln  der  Spinalnerven  ausser  denen  des  N.  ischiadicus 
durch  und  stach  nun  ein  kleines  Messerchen  oberhalb  der  Lenden- 
anschwellung von  der  Seite  her  horizontal  ein,  so  dass  es  die  Dorsal- 
und  Ventralhälfte  des  Markes  von  einander  trennte.  Wurde  nun  das 
Messerchen  bei  unveränderter  Stellung  nach  vorn  bis  in  die  Gegend 
der  obern  Markgrenze  durchgezogen,  so  entstand  hierdurch  ein  freier 
Lappen,  welcher  aus  den  Hintersträngen,  einem  mehr  oder  weniger 
grossen  Teil  der  Seitenstränge  und  grauer  Substanz  bestand  und,  nach- 
dem er  an  seiner  vordem  und  hintern  Grenze  durchschnitten  worden 
war,  entfernt  werden  konnte.  Dadurch  Avar  demnach  die  ganze 
hintere  (dorsale)  Hälfte  des  Rückenmarkes  sammt  den  einstrahlenden 
sensibeln  Wurzelfasern  beseitigt  und  so  die  Möglichkeit  zur  Auslösung 
von   Reflexbewegungen    am  Orte    der  Reizung   ausgeschlossen.     Reizte 


Die  Nerven  und  ihre  phj'siologische  Function.  509 

nun  van  Deen  die  isolirte  ventrale  Markliälfte  mechanisch,  so  sali 
er  bisweilen  Bewegungen  der  Hinterfüsse  eintreten,  von  denen  er  zu- 
nächst auch  glaubte,  dass  sie  durch  directe  Erregung  der  Vorder- 
stränge ausgelöst  waren.  Indess  machte  bald  darauf  Stilling  auf 
die  Möglichkeit  aufmerksam,  dass  bei  diesen  Versuchen  die  höchst 
empfindlichen  vordem  Wurzeln  des  Plexus  ischiadicus  do^h  vielleicht 
durch  eine  leichte  Zerrung  des  Markes  gereizt  wurden ,  und  auch 
van  Deen  selbst  war  schon  vor  dem  Erscheinen  der  Stilling'schen 
Arbeit  durch  neue  Versuche  zu  dem  merkwürdigen  Resultate  gelangt, 
dass  weder  die  Vorderstränge  noch  auch  die  andern  Teile  des  Rücken- 
markes erregbar  sind,  und  hatte  so  zum  ersten  Mal  einen  Satz  aufge- 
stellt, der  in  der  Folge  Jahrzehnte  lang  in  der  Physiologie  herrschen 
sollte. 

Zum  Beweise  desselben  hielt  es  van  Deen  später  nicht  einmal 
mehr  für  nöthig,  den  obern  Theil  der  Dorsalhälfte  des  Rückenmarkes 
zu  entfernen,  sondern  bediente  sich  des  aus  dem  Wirbelkanal  heraus- 
getretenen, ganzen  unversehrten  Markes.  Auf  mechanische,  chemische 
oder  elektrische  Reizung  des  Kopfendes  mit  selbst  starken  Strömen 
sollten  angeblich  keinerlei  Erregungserscheinungen  an  den  Muskeln 
der  Hinterextremitäten  erfolgen. 

Unbekannt  mit  den  ersten  Publicationen  van  Deen 's  war  indess 
M.  Schiff  (37)  durch  eine  Reihe  von  Versuchen  an  dem  Rücken- 
marke verschiedener  Warmblüter  zu  gleichen  Anschauungen  gelangt 
wie  van  Deen,  Vollständige  Gefühllosigkeit  der  Schmerzemptindung 
leitenden  („ästhesodischen")  und  Unerregbarkeit  der  motorische 
Impulse  leitenden  („kinesodischen")  Bahnen  schien  auch  hier  all- 
gemeines Gesetz  zu  sein.  Die  Versuche  von  Schiff  waren  im 
Wesentlichen  nach  Analogie  der  ersten  van  Deen'  sehen  Versuche  am 
Frosch  angestellt,  indem  an  dem  theilweise  blosgelegten  Rückenmarke 
die  Hinterstränge  in  einer  Ausdehnung  von  5 — 6  cm  abgetragen 
wurden,  worauf  weder  bei  vorsichtig  angewendeter  elektrischer,  noch 
auch  bei  chemischer  oder  mechanischer  Reizung  (Stechen,  Quetschen 
mit  einer  Pinzette)  des  betreffenden  Markabschnittes  Muskelbewegungen 
oder  irgendwelche  Zeichen  von  ■Schmerzempfindung  bemerkbar  waren. 
Der  von  Schiff  aus  diesem  Verhalten  gezogene  Schluss,  „dass  bei 
einem  solchen  Thier  die  Empfindungsqualitäten  (Schmerz),  die  durch 
das  der  Hinterstränge  beraubte  Rückenmark  geleitet  werden, 
nicht  durch  künstliche  Reizung  des  Markes  erregt  werden  können, 
und  dass  auch  die  motorische  Erregbarkeit  diesem  Marke  fehlt,  obgleich 
es  Bewegung  vollkommen  gut  leitet",  war  unter  diesen  Umständen 
allerdings  sehr  naheliegend.  Niemals  gelingt  es  aber,  das  ganze  un- 
versehrte Rückenmark  eines  Warmblüters  selbst  nach  sorgfältigster 
Entfernung  der  hintern  Wurzelstümpfe  erfolglos  zu  reizen,  da  nach 
Schiff' s  Ansicht  die  einstrahlenden  sensibeln  Wurzelfasern  „dem 
Hinterstrang  noch  einen  hohen  Grad  von  Empfindlichkeit  verleihen, 
welche  fortgeleitet  wird  und  theils  Schmerzempfindung,  theils  in  ver- 
schiedenen Höhen  des  Markes  die  mannigfachsten  Reflexe  veranlasst". 
Ausserdem  schreibt  Schiff  abweichend  von  van  Deen  auch  den  in 
den  Hintersträngen  hirnwärts  verlaufenden  Nervenfasern  Erregbarkeit 
zu.  Doch  soll  Reizung  derselben  niemals  Schmerz,  sondern  aus- 
schliesslich Tastgefühle  oder  „verwandte  schwächere  Empfindungen" 
erzeugen,    deren  Vorhandensein  hauptsächlich  aus  Veränderungen  der 


510  I-^i^  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

Pupillenweite  bei  elektrischer  oder  mechanischer  Reizung  der  in  grösserer 
Ausdehnung  isolirten  Hinterstränge  erschlossen  wird. 

Ohne  hier  auf  das  Detail  der  zahlreichen  Arbeiten  einzugehen, 
welche  es  sich  zur  Aufgabe  machten,  entscheidende  Gründe  für  oder 
wider  die  van  De  en- Schiff '  sehe  Lehre  beizubringen,  will  ich  nur 
erwähnen,  dass  einerseits  von  Fick(37)  und  später  von  Luchsinger 
Versuche  mitgetheilt  w^urden,  welche  das  Vorhandensein  direct  reiz- 
barer motorischer  Elemente  in  den  vordem  (ventralen)  Abschnitten 
des  Froschmarkes  zu  beweisen  schienen,  während  andererseits  aus 
Ludwig 's  Laboratorium  eine  Reihe  von  Arbeiten  hervorging,  durch 
welche  die  Reizbarkeit  centripetal  leitender,  in  den  Seitensträngen 
verlaufender  Fasern  dargethan  wurde.  Es  ist  bekannt,  dass  die  Reizung 
sensibler  Nerven  oft  eine  beträchtliche  Steigerung  des  Blutdrucks 
bewirkt  als  Folge  einer  Vermehrung  der  Widerstände  im  arteriellen 
Stromgebiet  durch  reflectorische  Verengerung  zahlreicher  Gefässe. 
Dittmar  (37)  zeigte  nun,  dass  sowohl  elektrische  als  auch  sch^vache 
mechanische  Reizung  des  der  Hinterstränge  in  grösserer  Ausdehnung 
beraubten  centralen  Stumpfes  des  Kaninchenrückenmarkes  ebenfalls 
beträchtliche  Blutdrucksteigerungen  herbeizuführen  vermag,  und  schloss 
hieraus  auf  die  directe  Reizbarkeit  „ästhesodischer"  Rückenmarks- 
elemente, welche  nach  Miesclier's  Versuchen  hauptsächlich  in  den 
Seitensträngen  gelegen  sind. 

Schiff  bestreitet  allerdings  die  Beweiskraft  dieser  Versuche  und 
wendet  sich  vor  Allem  gegen  die  Annahme,  dass  die  den  erwähnten 
Reflex  auslösenden  centripetalen  Fasern  der  Seitenstränge  als  „sen- 
sible" im  eigentlichen  Wortsinn  zu  bezeichnen  wären ;  indess  ist  dies 
grade  im  vorliegenden  Falle  ein  nebensächlicher  Umstand,  wo  es  sich 
zunächst  doch  nur  um  Feststellung  der  directen  Reizbarkeit  handelt. 
Inwieweit  jedoch  die  spätem  Einwände  Schiffs  berechtigt  sind, 
denen  zufolge  die  Resultate  der  Di  ttniar 'sehen  Versuche  durchwegs 
auf  Stromschleifen  beruhen  sollen,  welche  die  allein  reizbaren  Hinter- 
stränge getroffen  hätten,  lässt  sich  vorläufig  nicht  entscheiden. 

Als  um  so  sicherer  festgestellt  darf  dagegen  die  directe  Reiz- 
barkeit motorischer  Elemente  des  Rückenmarkes  gelten.  Die  bereits 
erwähnten  Versuche  von  Fick,  Avelche  ebenfalls  im  Wesentlichen  den 
ersten  van  Deen' sehen  nachgebildet  waren,  gestatten  allerdings 
noch  immer  den  Einwand,  dass  die  bei  elektrischer  Reizung  der  der 
Hinterstränge  beraubten  Ventralhälfte  des  Froschmarkes  auftretenden 
Bewegungen  der  Hinterextremitäten  durch  Reflex  oder  directe  Reizung 
motorischer  Wurzelfasern  bedingt  wurden,  indem  sich  Stromschleifen 
bis  zu  dem  unversehrten,  untersten  Theil  des  Markes  ausgebreitet  haben 
konnten.  Dieser  Einwand  erscheint  selbst  dadurch  nicht  absolut  aus- 
geschlossen ,  dass ,  wenn  die  ventrale  Markhälfte  dicht  oberhalb  der 
Lendenanschwellung  durchschnitten  und  die  Schnittflächen  wieder 
möglichst  gut  aneinandergelegt  wurden,  die  vorher  beobachteten  Reiz- 
erfolge ausblieben.  Dagegen  lässt  sich  der  van  Deen- Fick' sehe 
Versuch  zu  einem  völlig  beweisenden  unter  der  Voraussetzung  ge- 
stalten, dass  in  den  ventralen  Theilen  des  Rückenmarkes  motorische 
längsverlaufende  Fasern  vorhanden  sind,  deren  physiologische  Eigen- 
schaften in  allen  wesentlichen  Punkten  mit  denen  peripherer  Nerven- 
fasern übereinstimmen.  Da  es  nämlich,  wie  später  gezeigt  werden 
wird ,  zweifellos  feststeht ,  dass  die  Ei-regbarkeit  peripherer  Nerven 
in    nächster   Nähe   eines   frisch   angelegten    Querschnittes    beträchtlich 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  511 

grösser  ist,  als  in  der  Continuität,  so  liess  sich  erwarten,  dass,  wenn 
sich  motorische  Rückenmarksfasern  in  dieser  Beziehung  ähnlich  ver- 
halten, die  elektrische  Reizung  am  Schnittende  der  isolirten  Ventral- 
hälfte des  Markes  früher,  d.i.  bei  geringerer  Stromstärke,  wirksam 
wird,  als  tiefer  unten,  wo  dagegen  entsprechend  der  grössern  Nähe 
der  erhaltenen  Wurzeln  des  N.  ischiadicus  die  Gefahr  der  directen 
Erregung  durch  Stromschleifen  rasch  zunimmt.  Ich  (37)  fand  nun 
in  der  That,  dass  hinsichtlich  der  Erregbarkeit  durch  tetanisirende 
Inductionsströme  die  durchschnittenen  Vorderstränge  des  Frosch- 
rückenmarkes sich,  abgesehen  von  quantitativen  Unterschieden, 
ganz  ebenso  verhalten  wie  jeder  periphere  motorische  Nerv.  Rückt 
man  nämlich  bei  absteigender  Richtung  der  Oeffnungsströme  die  mit 
der  secundären  Spirale  eines  Inductionsapparates  verbundenen  Elek- 
troden, welche  bei  geringem  Abstände  zunächst  so  angelegt  werden, 
dass  die  eine  sich  am  Querschnitt  selbst  belindet,  weiter  und  weiter 
von  diesem  letztern  weg,  so  nimmt  die  anfangs  vorhandene  starke 
Reizwirkung  schnell  ab  und  verschwindet  bald  gänzlich.  Der  erste 
Erfolg  der  Reizung  mit  Strömen ,  welche  bei  directer  Einwirkung  auf 
eine  freiliegende  Muskeloberfläche  keine  sichtbare  Erregung  bewirken 
und  auf  der  Zunge  nicht  gefühlt  werden,  besteht  immer  in  einer  mehr 
oder  weniger  starken  tetanischen  Unruhe  sämmtlicher  Muskeln  der 
beiden  Hinterextremitäten ,  die  sich  oft  zu  einem  förmlichen  Tetanus 
steigert.  Bei  starker  Reizung  treten  oft  auch  coordinirte  Bewegungen 
auf.  Hat  man  die  vom  Querschnitt  der  Vorderstränge  aus  eben  wirk- 
same Stromstärke  bestimmt,  so  kann  man  immer  (bei  absteigender 
Richtung  der  zunächst  allein  wirksamen  Oeffnungsströme)  mit  den 
Elektroden  in  der  Regel  bis  in  die  nächste  Nähe  des  Lendenmarkes 
herabrücken  und  so  die  Gefahr  der  directen  oder  reflectorischen  • 
Reizung  vorderer  Wurzeln  ausserordentlich  steigern,  ohne  dass  an  den 
Muskeln  der  Hinterextremitäten  eine  Spur  von  Erregungserscheinungen 
hervortritt.  Doch  ist  dies  bemerkenswerter  Weise  nur  dann  der  Fall, 
wenn  die  Elektroden  der  Ventralfläche  der  Vorderstränge  entlang  ver- 
schoben werden.  Geschieht  dies  entlang  der  Innenfläche,  d.  i.  der 
Schnittfläche  der  Ventralhälfte  des  Markes,  in  directer  Berührung  mit 
der  daselbst  blosliegenden  grauen  Substanz,  so  lässt  sich  niemals  ein 
merklicher  Unterschied  der  Erregbarkeit  an  dem  Querschnitt  näher 
gelegener  im  Vergleich  zu  tiefern  Stellen  konstatiren.  Es  muss  dahin- 
gestellt bleiben,  ob  aus  diesem  Verhalten  allein  schon  der  Schluss 
gezogen  werden  darf,  dass  im  letzteren  Falle  die  graue  Substanz  direct 
erregt  wurde,  während  es  sich  im  erstem  wohl  sicher  um  Erregung 
längsverlaufender  Nervenfasern  (in  den  Vordersträngen?)  handelt. 

Die  angeführien  Thatsachen  gestatten  nun  wohl  auch  bei  An- 
wendung der  nöthigen  Vorsicht,  das  unterhalb  der  Medulla  oblongata 
durchschnittene,  sonst  jedoch  unversehrte  Rückenmark  des  Frosches  zu 
reizen,  ohne  befürchten  zu  müssen,  durch  Reflexe  getäuscht  zu  werden. 
Es  genügt,  die  die  Inductionsströme  zuführenden  Elektroden  längs  der 
ventralen  Fläche  des  Markes  zu  verschieben,  nachdem  zuvor  die- 
jenige Rollenstellung  bestimmt  wurde,  bei  welcher  die  absteigend 
gerichteten  Oeffnungsströme  in  nächster  Nähe  eines  an  beliebiger 
Stelle  angelegten  Querschnittes  sich  deutlich  wirksam  zeigen.  Man 
findet  dann  die  Reizung  an  jeder  beliebigen  andern  Stelle  in  der  Con- 
tinuität des  Markes  und  selbst  dicht  über  der  Lendenanschwellung 
absolut  unwirksam.    Darf  man  auf  Grund  der  angeführten  Thatsachen 


512  Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

mit  Sicherheit  auf  das  Vorhandensein  direct  erregbarer  motorischer 
Elemente  in  der  ventralen  Hälfte  des  Froschmarkes  schliessen,  so  lässt 
sich  doch  andererseits  nicht  verkennen,  dass  sowohl  hinsichtlich  der 
Erregungsbedingungen,  als  auch  der  Art  und  Weise  der  Reaction 
Avesentliche  Unterschiede  bestehen,  je  nachdem  ein  Muskelapparat 
durch  Reizung  des  zugehörigen  motorischen  Nerven  oder  des  Rücken- 
markes in  Erregung  versetzt  wird.  Es  ist  hier  insbesondere  an  die 
relative  Unwirksamkeit  mechanischer  Reizung  und  elektrischer  Einzel- 
reize zu  erinnern,  sowie  an  die  völlige  Unwirksamkeit  chemischer 
Reizmittel.  Dies  erscheint  von  vornherein  nicht  überraschend,  wenn 
man  berücksichtigt,  dass  die  motorischen  Fasern  des  Rückenmarkes 
nicht  wie  die  peripheren  motorischen  Nerven  unmittelbar  mit  den 
Muskeln  verbunden,  sondern  zunächst  durch  Ganglienzellen  unter- 
brochen werden,  wie  es  für  den  Frosch  insbesondere  die  Unter- 
suchungen Birge '  s  dargethan  haben.  Eine  Avesentliche  Stütze  erhält 
diese  Anschauung  durch  die  weitgehenden  Analogien,  welche  nicht 
nur  hinsichtlich  der  zeitlichen  Verhältnisse  und  des  Verlaufes  direct 
(d.  h.  durch  Reizung  motorischer  Elemente  des  Rückenmarkes)  und 
reflectorisch  ausgelöster  Muskelbewegungen,  sondern  auch  hinsichtlich 
der  Auslösungsbedingungen  in  beiden  Fällen  bestehen. 

Was  zunächst  die  zeitlichen  Verhältnisse  betrifft,  so  war  schon 
früher  davon  die  Rede,  dass  die  unter  Vermittlung  gangliöser  Elemente 
erfolgende  Uebertragung  des  Erregungsvorganges  von  sensibeln  auf 
motorische  Fasern  eine  beträchtlich  grössere  Zeit  beansprucht,  als  der 
einfachen  Leitung  der  Erregung  durch  eine  gleich  lange  Nervenstrecke 
entsprechen  würde.  In  neuerer  Zeit  hat  nun  Mendelssohn  (37) 
gefunden,  dass  die  Reactionszeit  der  ventralen  Hälfte  des  Froschmarkes 
(d.  i.  die  Zeit,  welche  vom  Momente  der  Reizung  derselben  bis  zum 
Eintritt  der  Zuckung  des  M.  gastrocnemius  der  einen  Seite  verstreicht) 
kürzer  ist,  als  die  Reactionszeit  der  dorsalen  Hälfte.  Es  erzeugt  mit 
andern  Worten  die  Reizung  des  ventralen  Theils  des  Rückenmarkes 
eine  Bewegung  der  Extremitäten  schneller,  als  wenn  derselbe  Reiz 
auf  die  entsprechende  Stelle  des  dorsalen  Abschnittes  einwirkt.  Der 
Unterschied  beträgt  nach  M.  durchschnittlich  0,01 — 0,025  See.  Es 
scheint  dieses  Verhalten  darauf  hinzudeuten,  dass,  wie  es  die  Theorie 
erwarten  lässt,  die  durch  directe  Reizung  der  Vorderstränge  erzeugte 
Muskelcontraction  früher  eintritt,  als  die  reflectorisch  von  den  Hinter- 
strängen ausgelöste,  wobei  als  Ursache  der  Verzögerung  im  letztern 
Falle  die  grössere  Menge  zwischengeschalteter  grauer  Substanz  in 
Betracht  kommen  dürfte. 

Von  grösster  Bedeutung  für  die  Beurtheilung  der  zwischen  den  Er- 
folgen der  Rückenmarksreizung  und  der  directen  Erregung  peripherer 
motorischer  Nerven  bestehenden  Verschiedenheiten  ist  aber  der  Umstand, 
dass  ein  durchgreifender  Unterschied  in  den  Lebensbedingungen  der 
Nervenzellen  und  Nervenfasern  besteht,  indem  die  ersteren  ausser- 
ordentlich viel  empfindlicher  gegen  Veränderungen  ihres  normalen 
Stoffwechsels,  sowie  gegen  alle  Schädlichkeiten  sind,  als  die  letzteren. 
Dies  kommt  aber  wesentlich  in  Betracht,  Avenn  es  sich  darum  handelt, 
die  Erregbarkeit  verschiedener  Abschnitte  eines  aus  Nervenzellen  und 
Fasern  nebst  den  zugehörigen  musculösen  Endorganen  zusammen- 
gesetzten motorischen  Apparates  lediglich  nach  dem  an  jenen  zu  be- 
obachtenden Reizerfolge  vergleichend  zu  beurtheilen.  Es  wird  dann 
offenbar  ganz  von  dem  jeweiligen  Zustande  der  Erregbarkeit,  beziehungs- 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  513 

weise  des  Leitungsvermögens  der  im  Verlaufe  der  Fasern  eingeschal- 
teten zelligen  Elemente  abhängen,  ob  eine  diesseits  derselben  ausge- 
löste Erregung  einen  Reizerfolg  bedingen  kann  oder  nicht.  In  der 
That  sehen  wir  nun  die  Reflexfunction  des  Rückenmarkes  unter  Um- 
ständen leiden  oder  völlig  vernichtet  werden,  wo  weder  die  Erregbar- 
keit noch  auch  das  Leitungsvermögen  des  motorischen  und  sensibeln 
Abschnittes  eines  Reflexbogens  merklich  beeinträchtigt  erscheint. 
Luchsinger  hat  sich  dieser  ungleichen  Resistenzfähigkeit  centraler 
Nervenzellen  und  Fasern  bedient,  um  bei  örtlicher  Vernichtung  der 
Reflexfunction  die  directe  Erregbarkeit  des  Rückenmarkes  zu  er- 
weisen. Er  schlägt  vor,  Kaltblüter  mit  langgestrecktem  Rückenmarke, 
Schlangen,  Blindschleichen,  Tri  tonen  etc.,  zu  köpfen  und  sofort  mit 
dem  Vorderkörper  in  auf  40—45  "  erwärmtes  Salzwasser  zu  tauchen, 
während  der  übrige  Theil  des  Körpers  bei  normaler  Temperatur  erhalten 
wird.  Durch  die  Wärme  wird  nun  das  Reflexvermögen  des  Cervical- 
beziehungsweise  Dorsalmarkes  bald  vernichtet,  und  zwar  zu  einer  Zeit, 
wo  die  Erregbarkeit  und  das  Leitungsvermögen  der  markhaltigen 
Längsfasern  voraussichtlich  noch  erhalten  sein  dürfte.  Wenn  nun, 
wie  es  Avirklich  der  Fall  ist,  bei  elektrischer  Reizung  des  reflexun- 
fähigen Marktheiles  Bewegungen  des  Schwanzes  auftreten,  so  können 
diese  nach  L.'s  Ansicht  nur  durch  eine  directe  Erregung  motorischer, 
längsverlaufender  Rückenmarksfasern  ausgelöst  worden  sein.  Gegen 
die  Beweiskraft  dieser  Versuche  wendet  jedoch  Schiff  ein,  dass  die 
Prüfung  des  Reflexvermögens  innerhalb  des  erwähnten  Körperabschnittes 
durch  Hautreize  keine  ganz  sichere  Garantie  biete  für  die  völlige  Ver- 
nichtung der  Reflexfunction  des  Markes.  Er  macht  auf  die  Möglich- 
keit „intramedullarer"  Reflexe  aufmerksam,  die  sich  nur  deshalb  inner- 
halb des  erwärmten  Abschnittes  nicht  äussern  können,  weil  die  Muskeln 
hier  durch  die  vorgängige  Erwärmung  in  den  Zustand  der  Starre  ver- 
setzt werden.  Zur  Stütze  dieser  Ansicht  führt  Schiff  Versuche  an 
Bombinatoren  und  Kröten  an,  wo  nach  Erwärmung  des  ganzen 
Rückenmarkes  mit  Ausschluss  der  peripheren  Enden  der  Cauda  equina 
bis  zur  völligen  Erstarrung  der  Muskeln  des  Rumpfes  die  Reflex- 
erregbarkeit der  Hinterextremitäten  erhalten  war. 

Demungeachtet  bleibt  jedoch  der  Satz  von  der  viel  geringeren 
Resistenzfähigkeit  der  grauen  Substanz  des  Rückenmarkes  im  Vergleich 
zu  der  der  weissen  Fasermassen  in  vollem  Umfange  aufrecht.  Es  er- 
klärt sich  daraus  unter  Anderem  die  Thatsache,  dass  die  motorischen 
Wirkungen  der  directen  Rückenmarksreizung  an  den  Muskeln  der 
Hinterextremitäten  um  so  deutlicher  hervortreten,  je  grösser  die  Reflex- 
erregbarkeit der  Präparate  ist,  und  mit  dem  Erlöschen  dieser  gänzlich 
ausbleiben.  Nach  dem  bereits  erwähnten  Befunde  Birge's  müssen 
ja  nothwendig  dieselben  Elementartheile  der  grauen  Substanz  des 
Lendenmarkes  (Ganglienzellen  der  Vorderhörner)  die  Uebertragung 
der  Erregung  im  einen  Falle  von  centripetal,  im  andern  von  centri- 
fugal  leitenden  Fasern  auf  dieselben  vordem  Wurzelfasern  mitver- 
mitteln. Das  Reflexcentrum  der  Hinterextremitäten  kann  demnach 
nicht  nur  von  der  Peripherie  bis  auf  die  Bahn  der  sensibeln  Nerven 
in  den  Zustand  der  Erregung  versetzt  werden ,  sondern  besitzt  sozu- 
sagen 2  Pole,  einen  centralen  (die  motorischen  Bahnen  des  Rücken- 
markes) und  einen  peripheren  (die  sensibeln  Fasern).  Alle  Schädlich- 
keiten,   welche    die   Leitungsfähigkeit    des    Centrums    beeinträchtigen. 


514  I^i*^  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

beeinflussen  in  gleicher  Weise  die  Erfolge  der  reflectorischen  wie  auch 
der  directen  Erregung  des  Markes. 

Die  ausserordentliche  Empfindlichkeit  der  centralen  Ganglienzellen 
der  Warmblüter  gegen  jede  Störung  ihrer  normalen  Ernährung  lässt, 
wie  dies  ja  auch  der  Stenson'sche  Versuch  bestätigt,  von  vorneherein 
erwarten,  dass  die  Leitung  im  Rückenmarke  in  Folge  irgendwelcher 
Eingriffe,  insbesondere  durch  Anämie  oder  Asphyxie,  in  allen  durch 
Ganglienzellen  unterbrochenen  Bahnen  noch  viel  rascher  abnehmen 
und  erlöschen  wird,  als  beim  Kaltblüter,  so  dass  Versuche  über  directe 
Reizung  des  Markes  hier  noch  mit  wesentlich  grösseren  Schwierig- 
keiten verbunden  sind  und  viel  leichter  misslingen,  als  beim  Kaltblüter. 
Ausserdem  ist  klar,  dass  eine  rasche  und  möglichst  vollständige  Unter- 
brechung der  Blutzufuhr  zum  Rückenmarke  bei  thunlichster  Schonung 
der  Circulation  im  Kopf  und  bei  künstlicher  Respiration  ein  brauch- 
bares Mittel  an  die  Hand  giebt,  um  beim  Warmblüter  etwa  vorhandene 
ununterbrochene  Leitungsbahnen  im  Marke  nach  Ausserkraft- 
setzung der  anderen  zu  ermitteln.  Denn  Leitungsbahnen,  welche  inner- 
halb weniger  Minuten  durch  Anämie  unwegsam  gemacht  werden, 
kann  man  nicht  wohl  als  directe  Fortsetzungen  peripherer  Nerven- 
fasern auffassen.  Dass  eine  markhaltige  Faser  der  weissen  Rücken- 
markstränge anders  auf  Anämie  reagieren  sollte,  als  eine  solche  im 
peripheren  Nerven,  ist  weit  Aveniger  wahrscheinlich,  als  dass  Functions- 
störungen,  welche  durch  Anämie  im  Rückenmark  so  ausserordentlich 
viel  früher  herbeigeführt  werden,  als  im  peripheren  Nerven,  in  ein- 
geschalteten Zellen  der  grauen  Substanz  Platz  greifen.  Nach  Versuchen 
von  S.  Mayer  über  die  Wirkungen  der  Anämisirung  des  Rücken- 
markes beim  Kaninchen  durch  hohe  Abklemmung  der  Aorta  scheint 
es  in  der  That,  dass  vasomotorische  Fasern  aus  dem  verlängerten  Mark 
entspringen  und  das  Rückenmark  ohne  Unterbrechung  durch  gangliöse 
Elemente  durchsetzen. 

Aus  den  bisher  erörterten  Thatsachen  der  Erregungsleitung  inner- 
halb der  nervösen  Centren  ergeben  sich  in  Bezug  auf  die  anatomische 
Anordnung  und  die  gegenseitigen  Beziehungen  der  Leitungsbahnen 
einige  wichtige  Folgerungen.  Von  der  sicheren  Thatsache  aus- 
gehend, dass  jede  Nervenfaser  entweder  innerhalb  oder  ausserhalb  der 
Centralorgane  mit  mindestens  einer  Ganglienzelle  (ihrer  Ursprungs- 
zelle) zusammenhängt,  ist  anzunehmen,  dass  jeder  Reflexbogen  durch 
gangliöse  Elemente  geschlossen  wird,  und  dass  diese  (insbesondere  die 
motorischen  Zellen)  untereinander  in  ausgedehntestem  Maasse  in  leitende 
Verbindung  gesetzt  sind. 

Die  histologische  Untersuchung  hat  bisher  dieses  physiologische 
Postulat  nur  in  sehr  ungenügender  Weise  zu  stützen  vermocht.  Zwar 
lag  es  nahe,  in  den  grossen  maltipolaren  Ganglienzellen  der  Vorder- 
hörner  mit  ihren  zahlreichen,  verästelten  „Protoplasmafortsätzen"  und 
dem  direct  in  eine  vordere  Wurzelfaser  übergehenden  Deiters'schen 
Fortsatz  jene  Elemente  zu  erblicken,  durch  welche  die  von  der  Peri- 
pherie kommenden,  functionell  verschiedenen  Nervenfasern  im  Centrum 
anatomisch  verkettet  werden.  Diese  Vorstellung  fand  auch  ihren 
Ausdruck  in  der  von  Gerlach  vertretenen  Lehre,  der  zufolge  aus  den 
Protoplasmafortsätzen  der  Ganglienzellen  ein  äusserst  reiches  Netz 
feinster  Nervenlibrillen  hervorgehen  sollte,  welches  nicht  nur  die 
Vorderhornzellen  untereinander,  sondern  auch  mit  den  im  Hinterhorn 
gelegenen  Ganglienzellen,  sowie  mit  hinteren  Wurzelfasern  verknüpft. 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  515 

welche  nach  Ger  lach  nach  ihrem  Eintritt  in  die  graue  Substanz  sich 
ebenfalls  in  ein  feines  Fasernetz  auflösen  sollten.  Die  neueren,  ins- 
besondere durch  Golgi,  Ramon  j  Cajal,  KöUiker,  Retzius 
u.  A.  begründeten  Fortschritte  in  der  Erforschung  des  feineren  Baues 
der  nervösen  Centren  haben  die  alte  Gerlach 'sehe  Lehre  in  einigen, 
gerade  physiologisch  wichtigen  Punkten  ganz  wesentlich  modificirt. 
Vor  Allem  konnte  ein  centrales  Nervennetz  als  anatomische 
Grundlage  der  Irradiation  der  Erregung  nicht  nachgewiesen  werden. 
Die  sich  innerhalb  der  grauen  Substanz  baumförmig  verästelnden  Zell- 
fortsätze (Nervenfasern)  scheinen  alle  frei  auszulaufen,  ohne 
mit  den  Fortsätzen  anderer  Nervenzellen  irgend  zu  anastomosiren. 
Freilich  lässt  sich  zur  Zeit  nur  sagen ,  dass  Anastomosen  bisher  nicht 
gesehen  wurden;  ob  sie  nicht  doch  vorhanden  sind,  kann  bezweifelt 
werden,  wenn  man  die  oft  ausserordentlich  reiche  Verästelung  der 
Protoplasmafortsätze  berücksichtigt,  denen  übrigens  von  Golgi  sogar 
die  nervöse  Natur  abgesprochen  wurde,  was  sicher  unzutreffend  ist, 
da  in  sehr  vielen  Fälle  alle  Fortsätze  denselben  Charakter  zeigen  und 
unter  Umständen  (so  bei  den  elektrischen  Riesenganglienzellen  von 
Malopter ur us)  der  Nervenfortsatz  gar  nicht  vom  eigentlichen  Zell- 
körper, sondern  aus  den  zu  einem  dichten  Netzwerk  zusammentretenden 
Protoplasmafortsätzen  entspringt. 

Wenn  daher  der  physiologisch  geforderte  Zusammenhang  der 
motorischen  centralen  Elemente  noch  immer  als  eine  offene  Frage 
bezeichnet  werden  muss,  so  scheint  andererseits  die  Art  der  Beziehung 
zwischen  diesen  letzteren  und  den  centripetal  leitenden  (sensiblen)  Fasern 
zur  Zeit  auch  histologisch  genügend  sichergestellt  zu  sein. 

Die  hinteren,  als  Fortsätze  von  Spinalganglienzellen  aufzufassenden 
Wurzelfasern  theilen  sich  nach  den  Beobachtungen  von  Ramon  y 
Cajal  und  Kölliker  beim  Eintritte  ins  Rückenmark  dichotomisch 
in  einen  längsverlaufenden,  aufsteigenden  und  absteigenden  Ast,  deren 
Gesammtmasse  die  Hinterstränge  zusammensetzt.  Von  diesen  Längs- 
fasern gehen  nun  unter  meist  rechtem  Winkel  Seitenzweige  ab 
(Collateraleu),  welche  in  die  graue  Substanz  eintreten  und  hier 
mit  freien,  baumförmig  verzweigten  Enden  („End bäumchen" 
Köllikers)  aufhören.  Die  Aehnlichkeit,  welche  diese  Endbüschel  mit 
den  Verzweigungen  des  Axencylinders  in  den  quergestreiften  Muskeln 
der  Wirbelthiere  besitzen,  legt  von  vorneherein  den  Gedanken  nahe, 
dass  die  unzweifelhaften  Beziehungen  jener  zu  den  motorischen  Zellen 
des  Rückenmarkes  ähnliche  sein  werden.  Freilich  giebt  Kölliker 
an,  dass  die  in  der  Regel  mit  einem  Knöpfchen  versehenen  Zweige 
eines  „Endbäumchens"  an  die  Ganglienzellen  zwar  dicht  herantreten, 
sich  jedoch  niemals  mit  denselben  oder  ihren  Fortsätzen  wirklich  ver- 
binden. Es  wird  aber  wohl  unter  allen  Umständen  eine  Berührung 
gefordert  werden  müssen ,  wenn  eine  Uebertragung  der  Erregung- 
möglich  sein  soll.  Eine  „Ausstrahlung"  von  einem  freien  Nerven- 
ende auf  ein  ihm  nur  genähertes  anderes  (wie  in  den  Glomeruli  olfac- 
torii)  oder  auf  einen  Zellkörper  (wie  im  einfachen  Reflexbogen)  anzu- 
nehmen, liegt  zur  Zeit  um  so  weniger  Grund  vor,  als  die  histologischen 
Grundlagen  für  eine  so  weitgehende  und  alle  bisherigen  Anschauungen 
über  Erregungsleitung  umstossende  Annahme  keineswegs  als  hinreichend 
gesichert  angesehen  werden  können. 

Da  jede  Nervenfaser  als  P^ortsatz  einer  Zelle  aufzufassen  ist  und 
mit  dieser  zusammen  eine  physiologische  Einheit  (Nerveneinheit,  Neuron, 


516  Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

Neiirodendron)  bildet,  so  ist  leicht  verständlich,  dass  eine  von  ihrer 
Ursprungszelle  getrennte  Nervenfaser  früher  oder  später  dem  Unter- 
gang verfällt  (degenerirt).  Jede  Nervenzelle  ist  also  „trophisches" 
Centrum  für  die  abgehende  Nervenfaser,  und  der  normale  Zusammen- 
hang zwischen  beiden  ist  eine  der  Avesentlichsten  Bedingungen  für  die 
dauernde  Erhaltung  des  Leitungsvermögens  und  der  Erregbai'keit  der 
Nervenfaser.  Man  wird  auf  Grund  der  vorliegenden  Erfahrungen 
kaum  fehl  gehen,  diesen  trophischen  Einfluss  zum  guten  Theil  auf  eine 
Wirkung  des  Kernes  zu  beziehen,  wofür  zunächst  die  Analogie  der 
Erscheinungen  an  anderen  Zellen  spricht. 

Mit  Rücksicht  auf  die  ausserordentliche  Labilität  centraler  Ganglien- 
zellen ist  die  Widerstandsfähigkeit,  womit  periphere,  markhalt  ige 
Nervenfasern  ihre  wesentlichen  Lebenseigenschaften  bewahren,  wenn 
sie  vor  Vertrocknung  und  anderen  Schädlichkeiten  geschützt  werden, 
gewiss  höchst  auffallend  und  geeignet,  den  tiefgreifenden  Unterschied 
der  Lebensbedingungen  beider  unmittelbar  vor  Augen  zu  führen.  In 
der  That  bleibt  die  Erregbarkeit  und  das  Leitungsverraögen  eines 
Nerven  Stammes,  der,  aufweite  Strecken  hin  freipräparirt,  nur  noch 
an  einem  Ende  mit  seinem  Erfolgsorgan  zusammenhängt,  in  dem  daher 
die  Circulation  völlig  aufgehoben  ist,  selbst  beim  Warmblüter  noch 
stundenlang  erhalten. 

Sehr  viel  vergänglicher  scheinen  demgegenüber  marklose  Nerven 
zu  sein.  Wenigstens  gelingt  es  bei  Krebs-  und  Hummernerven  nicht, 
dieselben  auch  nur  annähernd  so  lange  reizbar  zu  erhalten,  wie  etwa 
Froschnerven,  wenn  sie  freipräparirt  gereizt  werden  sollen.  Pio- 
trowsky  fand  dies  im  Sommer  ganz  unmöglich,  im  Winter  verschwand 
die  Erregbarkeit  nach  8 — 10  Min.  Auch  der  marklose  Olfactorius  des 
Hechtes  bleibt,  wie  schon  Kühne  bemerkte,  nur  kurze  Zeit  erregbar. 

Kommt  es  darauf  an,  die  wirkliche  Dauer  des  Ueberlebens  eines 
ausgeschnittenen  Nerven  zu  bestimmen,  so  ist  dies  offenbar  nur  dann 
möglich,  Avenn  nur  der  Nerv  und  nicht  auch  das  Erfolgsorgan,  welches 
über  den  Thätigkeitszustand  des  ersteren  allein  Aufschluss  geben  kann, 
den  normalen  Ernährungsbedingungen  entzogen  ist.  Daher  lässt  sich 
ein  sicherer  Schluss  auf  die  Ueberlebensdauer  eines  ausgeschnittenen 
Kalt-  oder  Warmblüternerven  im  Allgemeinen  nicht  aus  Beobachtungen 
an  gänzlich  losgetrennten  Nervmuskelpräparaten  ziehen;  denn  voraus- 
sichtlich wird  der  Muskel  immer  viel  früher  unerregbar,  als  der  zu- 
gehörige Nerv. 

Jedenfalls  spricht  aber  der  Umstand,  dass  aus  ihrer  natürlichen 
Lage  gebrachte,  über  Elektroden  gebrückte  Nervenstämme  auch  beim 
Warmblüter  stundenlang  erregbar  bleiben,  für  eine  ausserordentlich 
grosse  Resistenz,  an  der  dem  Mitgetheilten  zufolge  wohl  die  Mark- 
scheide als  ein  sehr  wirksames  Schutzmittel  betheiligt  sein  dürfte. 

Prüft  man  mittels  irgend  eines,  am  besten  des  genau  abstufbaren 
elektrischen  Reizes,  die  Erregbarkeit  eines  von  seinem  natürlichen 
Zusammenhang  mit  dem  Centrum  getrennten  Nerven,  indem  man  die 
allmählich  eintretenden  Veränderungen  der  Reaction  des  Erfolgsorganes 
(z.  B.  des  Muskels)  untersucht,  so  stellt  sich  heraus,  dass  der  Verlauf 
der  Erregbarkeitsänderungen  sowohl  an  einer  und  derselben  Nerven- 
stelle wie  auch  an  verschiedenen  Punkten  im  Verlaufe  des  Nerven 
sich  anscheinend  ziemlich  verwickelt  gestaltet.  Die  einfachste 
mögliche  Annahme  in  Bezug  auf  den  1 .  Punkt  wäre  offenbar  die,  dass 
die  Erregbarkeit  jedes  Nerventheilchens    im  Laufe   der  Zeit   ganz  all- 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  517 

mählich  und  gleichmässig  bis  auf  Null  sinkt.  Dem  scheinen  Be- 
obachtungen von  Rosenthal  (88)  zu  widersprechen,  denen  zufolge 
der  Verminderung  der  Erregbarkeit  an  jedem  Punkte 
des  Nerven  eine  beträchtliche  Erhöhung  vorausgehen 
würde.  Ich  war  jedoch  ebensowenig  wie  vorher  Mommsen  und 
neuerdings  Wer igo  (39)  in  der  Lage,  mich  von  der  Richtigkeit  dieser 
Behauptung  zu  überzeugen,  und  fand  stets,  wenn  Vertrocknung  und 
alle  Schädlichkeiten  möglichst  ausgeschlossen  waren ,  ein  langsames 
und  gleichmässiges  Absinken  der  Erregbarkeit  einer  und  derselben 
Nervenstelle,  soweit  sich  dies  an  einem  ausgeschnittenen  Nerv- 
muskelpräparate vom  Frosch  durch  Vergleichung  der  Zuckungshöhen 
bei  Reizung  mit  einzelnen  gleichstarken  (untermaximalen)  Inductions- 
schlägen  beurtheilen  lässt.  Dagegen  ist  eine  andere  Thatsache  leicht 
zu  bestätigen.  Valli,  Pf  äff  und  Ritter  hatten  bereits  die  Be- 
obachtung gemacht,  dass  ein  gegebener  (motorischer)  Nerv  nach  dem 
Tode  des  Thieres  oder  einfach  nach  seiner  Trennung  von  dem  Central- 
organ  stets  zuerst  in  seinen  centralen  Partien  die  Fähig- 
keit verliert,  auf  Reize  die  zugehörigen  Muskeln  zur 
Zuckung  zu  bringen,  später  erst  in  seinen  Aesten  und 
zuletzt  in  seinen,  im  Muskel  selbst  gelegenen  Endzweigen. 
Dieser  centrifugale  Gang  des  Nerventodes,  welchen  Valli  und  Ritter 
aus  ihren  Beobachtungen  erschlossen,  erfolgt,  wie  zu  erwarten  war, 
bei  verschiedenen  Thieren  mit  sehr  verschiedener  Geschwindigkeit,  am 
raschesten  bei  Warmblütern,  am  langsamsten  bei  Kaltblütern,  deren 
Nerven  vor  Verdunstung  geschützt,  bei  niederer  Temperatur  ihre  Er- 
regbarkeit selbst  im  Stamme  tagelang  bewahren.  Die  Deutung  der 
erwähnten  Beobachtungen  ist  nun  keineswegs  eine  so  einfache,  wie  es 
vielleicht  auf  den  ersten  Blick  scheinen  möchte.  Schon  Du  Bois- 
Reymond  machte  auf  die  Möglichkeit  aufmerksam,  dass  der  ab- 
sterbende Nerv  die  Erregung  vielleicht  nicht  auf  so  lange  Strecken 
hin  fortpflanzen  könnte,  als  der  normale,  lebende,  und  später  haben 
sich  Mommsen  (1.  c),  sowie  Szpilmann  und  Luchsing  er  (22) 
dieser  Anschauung  angeschlossen.  In  der  That  erklären  sich  alle  dem 
Ritter -Valli'schen  Gesetze  entsprechenden  Erscheinungen  ganz 
ungezwungen,  auch  unter  der  Voraussetzung  eines  an  allen  Stellen  gleich- 
massigen  Sinkens  der  Erregbarkeit,  wenn  nur  das  Leitungsvermögen 
rascher  schwindet,  als  die  directe  Anspruchsfähigkeit. 

Im  weiteren  Verlaufe  des  Absterbens  stellen  sich  dann  an  Nerven, 
welche  vom  Centrum  getrennt  wurden  (besonders  deutlich  an  mark- 
haltigen),  auch  sichtbare  anatomische  Veränderungen  ein,  welche 
als  fettige  Degeneration  "bezeichnet  werden.  Wird  ein  gemischter 
Nerv  irgendwo  in  der  Continuität  durchschnitten,  und  untersucht  man 
nach  einigen  Tagen  oder  Wochen  den  peripheren  Nervenstamm,  so 
findet  man  die  Fasern  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  gleichmässig  ver- 
ändert, die  Markscheide  zerklüftet  oder  schon  gänzlich  zerfallen;  die 
Reste  derselben  bilden  dann  vielfach  spindelförmige  Anhäufungen  im 
Verlauf  der  Faser,  in  denen  man  nebst  Markschollen  Fetttropfen  der 
verschiedensten  Grösse  wahrnimmt;  schliesslich  bleibt  nur  das  Binde- 
gewebe zurück,  und  alles  nervöse  Gewebe  ist  verschwunden;  untersucht 
man  gleichzeitig  die  Veränderungen  im  centralen  Stumpfe  des  durchtrennten 
Nerven,  so  findet  man  dieselben  nur  in  der  allernächsten  Nähe  der 
Schnittfläche  schwach  entwickelt;  weiterhin  zeigen  die  Fasern  keinerlei 
sichtbare  Veränderungen,  und  es  bleibt  der  Nervenstamm  auch  dauernd 


518  Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

erregbar.  Weitere  Aufschlüsse  haben  insbesondere  die  Uiitersuchungen 
Waller's  an  den  Wurzeln  der  Spinalnerven  geliefert,  aus  welchen 
sich  zweifellos  ergiebt,  dass  die  Ganglienzellen  auf  die  mit  ihnen 
zusammenhängenden  Nervenfasern  einen  „trophischen"  Einfluss  ausüben, 
wie  dies  ja  von  jedem  kernhaltigen  Zellkörper  in  Bezug  auf  seine 
kernfreien  Ausläufer  gilt.  Nach  Durchschneidung  der  vorderen 
Wurzeln  eines  Spinalnerven  erfolgt  stets  Degeneration  des  peri- 
pheren Stumpfes,  während  der  mit  dem  Rückenmark  noch  in  Ver- 
bindung stehende  erhalten  bleibt.  Nach  Durchtrennung  einer  hinteren 
Wurzel  ist  das  Resultat  verschieden,  je  nachdem  der  Schnitt  zwischen 
Rückenmark  und  Spinalganglion  oder  diesseits  des  letzteren  geführt 
wurde.  Im  ersteren  Falle  degenerirt  der  centrale,  mit  dem  Rückenmark 
zusammenhängende  Stumpf,  und  zwar  lassen  sich  die  degenerirten 
Fasern  im  Rückenmark  selbst  (in  den  Hintersträngen)  auf  weite 
Strecken  hin  verfolgen;  der  mit  dem  Ganglion  zusammenhängende 
Stumpf  bleibt  dagegen,  wie  jenes  selbst,  dauernd  unverändert.  Nach 
Durchschneidung  diesseits  des  Ganglions  bleibt  wieder  der  mit  dem 
letzteren  verbundene  Stumpf  unverändert,  während  der  periphere 
degenerirt.  Es  ergiebt  sich  aus  diesen  vielfach  bestätigten  Versuchen, 
dass  die  Zellen  des  Spinalganglions  als  Ursprungszellen 
(bez.  trophische  Centren)  der  hinteren  Wurzel  fasern, 
das  Rückenmark  und  die  multipolaren,  grossen  Vorder- 
hornzellen  dagegen  als  trophische  Centren  der  vorderen 
Wurzelfasern  angesehen  werden  müssen.  Es  steht  dies 
durchaus  in  Uebereinstimmung  mit  der  Entwicklung  der  betreffenden 
Fasern,  da  die  Spinalganglien  die  eigentlichen  Ursprungszellen  der 
hinteren  Wurzeln  sind.  Man  hat  sich  der  Degeneration  durchschnittener 
Nervenstämme  vielfach  und  mit  bestem  Erfolge  bedient,  um  bei  Wirbel- 
thieren  an  den  leicht  erkennbaren  Veränderungen  der  Markscheide 
den  Verlauf  bestimmter  Faserzüge  insbesondere  auch  innerhalb  des 
Centralorganes  (Rückenmark)  zu  erforschen,  und  es  ist  so  z,  B.  gelungen, 
auf  diesem  Wege  sehr  genauen  Aufschluss  über  den  Aufbau  der 
Hinterstränge  des  Rückenmarkes  zu  gewinnen. 

W^ir  haben  bisher  angenommen,  dass  eine  Nervenfaser  von  ihrem 
Ursprung  bis  zu  ihrem  Ende  unter  noi'malen  Verhältnissen  an  allen 
Stellen  ihres  Verlaufes  vollkommen  gleichartig  ist,  d.  i.  keine  wesent- 
lichen Unterschiede  in  Bezug  auf  Erregbarkeit  und  Leitungsvermögen 
darbietet.  Indessen  ist  diese  Annahme  keineswegs  notwendig  und 
wahrscheinlich  auch  nicht  richtig.  In  der  That  sind  seit  lange  That- 
sachen  bekannt,  welche  darauf  hinweisen,  dass  verschiedene  Strecken 
eines  Nerven  sich  in  der  erwähnten  Hinsicht  keineswegs  gleichartig 
verhalten.  Als  Maass  der  Erregbarkeit  steht  natürlich  nur  die  durch 
einen  Reiz  von  bestimmter  Grösse  ausgelöste  Reaction  des  Erfolgs- 
organes  zur  Verfügung,  und  es  beziehen  sich  daher  fast  alle  hierher- 
gehörigen Versuche  auf  elektrische  Reizung  motorischer  Nerven, 
denn  von  allen  Reizen  ist  einzig  der  elektrische  einer  genaueren  Maass- 
bestimmung zugänglich.  Die  Beziehungen,  welche  für  eine  und  dieselbe 
Nervenstelle  zwischen  Reiz-  und  Erregungsgrösse  sich  ermitteln  lassen, 
stimmen  im  Allgemeinen  mit  jenen  überein,  welche  wir  als  für  die 
directe  Muskelreizung  geltend  oben  bereits  kennen  gelernt  haben. 
Reizt  man  eine  Nervenstrecke  mit  allmählich  zunehmenden  einzelnen 
Inductionsströmen,  so  findet  man,  dass  Ströme,  deren  Intensität  unterhalb 
einer   gewissen    Grenze    (Seh  wellen  wer  th)    liegt,    überhaupt    nicht 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  519 

erregend  wirken,  worauf  mit  wachsender  Stromesintensität  auch  die 
Zuckungshöhen  zunehmen,  und  zwar  nach  Fick  (40)  innerhalb  gewisser 
Grenzen  den  Reizen  proportional,  nach  Hermann  (40)  dagegen 
anfangs  schneller  und  spcäter  immer  langsamer.  Die  Verbindunglinie 
der  Gipfelpunkte  der  einzelnen  Zuckungen  würde  daher  nach  Fick 
bis  zu  dem  Punkte,  wo  der  „Maximal wert h"  erreicht  ist,  eine 
schräg  ansteigende  Gerade,  nach  Hermann  eine  nach  der  Abscisse 
concave  Curve  darstellen. 

Da  es  sich  bei  der  Nerveureizung  ohne  Zweifel  ganz  ebenso  wie 
bei  der  directen  Muskelreizung,  ja  wohl  überhaupt  bei  einer  irgendwie 
bewirkten  Erregung  einer  lebenden  Substanz  stets  um  Auslösung 
von  Spannkräften  handelt ,  so  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  zwischen 
Reizgrösse  und  Wirkung  kein  constantes  Verhältniss  bestehen  kann. 
Es  lässt  sich  daher  auch  nur  in  der  Weise  die  Erregbarkeit  eines 
Nerven  mit  der  anderer  Organe  oder  Nerven  oder  verschiedener  Nerven- 
stellen untereinander  vergleichen,  dass  man  den  „Schwellen- 
werth"  des  elektrischen  Reizes  als  (reciproken)  Maassstab  der  Er- 
regbarkeit benützt.  Auf  diese  Weise  konnte  z.  B.  Rosen thal  (41) 
die  von  vornherein  sehr  einleuchtende  Thatsache  feststellen,  dass  die 
specifische  Erregbarkeit  der  Nervensubstanz  grösser  ist,  als  die  des 
quergestreiften  Muskels  oder,  wie  man  es  wohl  auch  ausdrücken  kann, 
die  indirecte  Erregbarkeit  des  Muskels  grösser  als  die 
directe.  R.  legte  den  Nervus  ischiadicus  der  Länge  nach  auf  einen 
curarisirten  Gastrocnemius.  Durch  Nerv  und  Muskel  werden  dann 
Inductionsströme  geleitet,  welche,  da  der  Leitungswiderstand  beider 
annähernd  gleich  ist,  sich  den  Querschnitten  proportional  vertheilen, 
also  in  beiden  mit  gleicher  Dichte  fliessen.  Bei  allmählicher  Steigerung 
der  Stromstärke  durch  Annäherung  der  secundären  Spirale  an  die 
primäre  zuckt  zuerst  der  indirect  gereizte  Muskel,  der  Nerv  bedarf 
also  schwächerer  elektrischer  Erregung.  Von  grossem  Interesse  sind 
die  Resultate  der  Untersuchungen,  welche  nach  der  erwähnten  Methode 
an  verschiedenen  Punkten  eines  und  desselben  Nerven 
angestellt  werden. 

Schon  Budge  (42)  beobachtete,  „dass  die  Schenkelnerven  nahe 
ihrem  Austritte  aus  dem  Rückenmarke  reizbarer  sind,  als  ein  Stück, 
welches  weiter  unten  liegt,  und  dies  wieder  reizbarer,  als  das  folgende 
u.  s.  w.".  Er  schloss  daraus,  „dass  man  eine  um  so  grössere  Kraft 
anwenden  muss,  um  Zuckung  hervorzubringen,  je  entfernter  vom 
Ursprünge  (Rückenmark)  oder,  was  dasselbe  ist,  je  näher  der  Insertion 
in  den  Muskel  man  einen  Nerv  reizt".  Ausserdem  fand  Budge  bei 
seinen  Versuchen  gewisse  Stellen  am  Nerven,  „welche  viel  erregbarer 
sind,  als  andere,  die  sowohl  über  als  unter  diesen  Stellen  liegen,  und 
wiederum  andere,  welche  sich  durch  ihre  grosse  Reizlosigkeit  aus- 
zeichnen". Letztere  belegt  er  mit  dem  Namen  der  „Knoten stellen" 
oder  Knotenpunkte.  Oft  sei  zu  constatiren,  dass  Reizung  einer  Nerven- 
stelle bei  einer  gewissen  Stromstärke  deutliche  Zuckungen  auslöst, 
während  1  mm  davon  entfernt  bei  derselben  Stromstärke  auch  nicht 
eine  Spur  von  Zuckung  sich  zeigt.  Eine  in  dieser  Beziehung  am 
meisten  ausgezeichnete  Stelle  liegt  etwa  im  mittleren  Drittel  des 
Oberschenkels  gerade  da,  wo  ein  starker  Nervenast  abgeht.  Eine 
andere  befindet  sich  sehr  gewöhnlich  nahe  dem  Abgang  der  motorischen 
Wurzeln.  In  der  Folge  fasste  Pflüg  er  (43)  alle  hierhergehörigen 
Thatsachen   in    dem    Satze   zusammen,    dass    ,.ein   und   dei'selbe  Reiz, 


520  I^iß  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

welcher  nacheinander  zwei  verschiedene  Stellen  des  Nerven  trifft,  den 
Muskel  nicht  auf  gleiche  Weise  erregt,  sondern  diejenige  Reizung 
wirkt  heftiger,  welche  die  vom  Muskel  entferntere  Stelle  angreift". 
Nur  die  alleroberste ,  dem  Querschnitt  nächste  Strecke  war  relativ 
weniger  erregbar.  Die  Erregbarkeitscurve  auf  den  Nerven  als  Ab- 
scissenaxe  bezogen  würde  demnach  nach  Pflüger  die  Gestalt  wie  in 
Fig.  163  besitzen.  Wie  man  sieht,  zeigt  dieselbe  an  der  Stelle  des 
Abgangs  der  Oberschenkeläste  eine  Knickung.  Es  fragt  sich  nun,  ob 
die  Ordinatenwerte  dieser  Curve  wirklich  als  directe  Maasse  der  Er- 
regbarkeit betrachtet  werden  dürfen.  Offenbar  drücken  dieselben  nur 
die  relative  Grösse  des  Reizerfolges  an  den  verschiedenen  Nervenstellen 
aus,  wobei  für  die  Abnahme  nach  der  Peripherie  hin  zwei  Gründe 
denkbar  sind.  Entweder  ist  die  Erregbarkeit  des  Nerven  um  so 
grösser,  je  näher  die  gereizte  Stelle  dem  Centrale rgan  Hegt,  oder  ein 
und  derselbe  Reiz  ruft  von  jedem  beliebigen  Punkt  der  Nerven  aus 
eine  Erregung  von  derselben  Stärke  hervor,  die  Erregung  selbst  aber 
wächst  mit  der  Länge  des  Weges,  welchen  sie  bis  zum  Erfolgsorgan 
(dem   Muskel)    durchläuft.     Pflüger    entschied    sich   für    die   letztere 


Fig.  163. 

Annahme  und  folgerte  aus  den  oben  angeführten  Thatsachen,  dass 
die  Erregung  beim  Ablauf  durch  den  Nerven  „lawinen- 
artig anschwelle",  während  man  von  vorneherein  eher  das  Gegen- 
theil  vermuthen  möchte.  Das  lawinenartige  Anschwellen  würde,  wie 
Hermann  hervorhebt  (Handbuch  IL,  1.  p.  113),  den  wichtigen  Schluss 
begründen,  „dass  die  Leitung  nicht  einfach  auf  einer  wellenartig  von 
Theilchen  zu  Theilchen  sich  übertragenden  Bewegung,  sondern  auf 
der  Auslösung  selbständiger  Spannkräfte  der  Nerven  beruhe,  bei  der 
die  ausgelösten  Kräfte  in  jedem  folgenden  Nervenelement  um  etwas 
grösser  ausfallen,  als  im  vorhergehenden."  Bei  der  Tragweite  dieser 
Folgerung  war  es  von  grösster  Wichtigkeit,  die  zu  Grunde  liegende 
Thatsache  weiter  zu  untersuchen.  Wie  Heidenhain  (44)  fand, 
liegt  die  Ursache  der  stärkeren  Wirkung  höher  ge- 
legener Strecken  durchschnittener  Nerven  in  der  Nähe 
des  künstlichen  Querschnittes  begründet.  „Man  kann 
sofort  dem  unteren  Nervenende  denselben  hohen  Grad  von  Wirksam- 
keit ertheilen,  den  eben  das  obere  Ende  hatte,  wenn  man  weiter  unten 
einen  Querschnitt  anlegt;  der  Querschnitt  erhöht  in  seiner  Nähe  die 
Erregbarkeit.  Also  nicht  der  Abstand  vom  abgeschnittenen  Ende  ist 
für  die  Grösse  der  Wirkung  maassgebend,"  und  zwar  gilt  dies  für 
jedes  Stadium  des  Ueberlebens  markhaltiger  Nerven.  Auf  die  eigent- 
liche Ursache  dieser  auffallenden  Wirkung  des  Querschnittes  kann 
erst  später  näher  eingegangen  werden,  Avenn  von  dem  Einfluss  elek- 
trischer Durchströmung  auf  die  Erregbarkeit  des  Nerven  die  Rede 
sein  wird. 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  521 

Wenn  es  nun  auch  als  sicher  gelten  darf,  dass  am  durch- 
schnittenen Nerven  die  ungleiche  Erregbarkeit  verschiedener 
Punkte  vor  Allem  durch  den  Querschnitt  bedingt  wird,  so  liegen  doch 
andererseits  Angaben  vor,  wonach  auch  am  un durchschnittenen 
Nerven  regelmässige,  locale  Erregbarkeitsunterschiede  vorkommen,  und 
zwar  sollen  es  insbesondere  die  Abgangsstellen  von  Nerven- 
zweigen sein,  die  sich  durch  eine  verschiedene  Erregbarkeit  aus- 
zeichnen. Nach  Heidenhain  1,  c.  ist  am  Ischiadicus  vom  Frosch 
die  Erregbarkeit  der  2  oberen  Drittel  im  Allgemeinen  höher  als  die 
des  unteren  Drittels.  Die  Curve  zeigt  einen  Wendepunkt  etwas  ober- 
halb der  Theilung  des  Ischiadicus  in  Peronaeus  und  Tibialis.  An 
dieser  selbst  ist  sie  am  kleinsten,  in  der  Nähe  der  Abgangsstelle  der  Ober- 
schenkeläste am  grössten  (Fig.  164).  Noch  complicirter  würde  sich  nach 
Hermann  und  Fleischl  (45)  die  Erregbarkeitscurve  unversehrter 
Nerven  gestalten,  indem  auch  die  Richtung  der  reizenden  Ströme 
von  ausserordentlicher  Wichtigkeit  für  die  Grösse  des  Erfolges  ist; 
an  den  oberen  Stellen  des  Hüftnerven  sind  absteigende,  an  den  unteren 


Fig.  164.    Ciu-ve  der  Erregbarkeiten  längs   des  Ischiadicus.     (Nach  Heidenhain.) 

dagegen  aufsteigende  Inductionsströme  vorzugsweise  wirksam;  ja  die 
Sache  wird  dadurch  noch  verwickelter,  dass  v.  Fleischl  den  ganzen 
Nerven  in  mehrfache  derartige  Strecken  theilt,  in  deren  oberen  Ab- 
schnitten wesentlich  die  absteigenden,  in  deren  unteren  dagegen  die 
aufsteigenden  und  in  deren  mittleren  Stellen  (den  „Aequatoren"  oder 
Folgepunkten)  beiderlei  Ströme  gleich  wirksam  sind. 

Allen  diesen  Angaben  gegenüber  erscheint  es  von  vorneherein  am 
wahrscheinlichsten,  dass  der  normale  Nerv  des  lebenden  Thieres  an  allen 
Stellen  seines  Verlaufes  von  gleicher  Erregbarkeit  ist.  Zur  Constatirung 
dieser  Thatsache  eignet  sich  aus  später  zu  erörternden  Gründen  der 
elektrische  Reiz  weniger  als  chemische  oder  mechanische  Reizung. 
Mittels  letzterer  hat  Tiegerstedt  (46)  in  der  That  die  gleiche  Er- 
regbarkeit aller  Punkte  des  unversehrten  Nerven  festgestellt.  Es 
existirt  demgemäss  auch  kein  lawinenartiges  Anschwellen  der  Erregung, 
wenigstens  ist  keine  Thatsache  bekannt,  welche  ein  solches  anzunehmen 
zwingen  würde. 

Gewisse  Verschiedenheiten,  die  sich  aber  nicht  sowohl  als  locale 
Unterschiede  der  eigentlich  erregbaren  Substanz  des  Axencylinders, 
als  vielmehr  durch  eine  local  verschiedene  Entwicklung  der  umhüllenden 
Markscheide  bedingt  erweisen,  scheinen  nichtsdestoweniger  zwischen  den 
centraler  gelegenen  Nervenstrecken  und  peripheren  zu  bestehen.  Darauf 
deuten  nicht  nur  gewisse  histologische  Befunde  (Clara  Haiperson, 
47),  sondern  auch  der  Umstand  hin,  dass  das  obere  Ende  des  Ischiadicus 
vom  Frosche  Giftwirkungen  (Alkohol  etc.)  leichter  zugänglich  ist,  als 
tiefere  Abschnitte. 

Durch  die  Untersuchungen  von  Clara  Haiperson  erscheint  es 
für   den   elektrischen,    durch   die  Beobachtungen  von  Efron  (48)  für 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  34 


522  I^iß  Nerven  und  ihi-e  physiologische  Function. 

andersartige  (chemische,  thermische,  mechanische)  Reize  sichergestellt, 
dass  die  Anspruchsfähigkeit  oberer  Nervenstrecken  an  sich  wesentlich 
grösser  ist  und  dui'ch  erregbarkeitssteigernde  Substanzen,  sowie  durch 
Wärme  viel  rascher  und  stärker  erhöht  wird,  als  die  unterer  Abschnitte. 
Auch  bei  Anwendung  schädlich  wirkender  Substanzen  oder  von  Kälte 
zeigt  sich  eine  frühere  Beeinträchtigung  oberer  Strecken.  So  fand 
Efron,  dass,  wenn  von  2  gleichlangen  und  gleich  erregbaren  Nerven 
eines  Frosches  der  eine  nur  oben,  der  andere  nur  unten  mit  ver- 
dünntem Amylalkohol  behandelt  wird,  die  Erregbarkeit  der  oberen 
Nervenstrecke  schon  völlig  erloschen  ist,  während  sie  unten  noch 
besteht.  Bei  dem  innigen  Zusammenhang,  welcher  zweifellos  zwischen 
Erregbarkeit  und  Leitungsvermögen  angenommen  werden  muss,  er- 
scheint es  nicht  auffallend^  dass  ebenso  wie  die  Erregbarkeit  der 
höheren  und  tieferen  Stellen  auch  deren  Leitungsvermögen  verschieden 
schnell  beeinflusst  wird.  Nach  Efron,  welcher  durch  Behandlung 
mit  Amylalkohol  die  Erregbarkeit  in  einer  mittleren  Strecke  des 
Nerven  herabsetzte  und  sowohl  die  örtliche  Anspruchsfähigkeit  wie 
die  Erregbarkeit  einer  höher  oben  und  einer  tiefer  unten  gelegenen 
Stelle  vergleichend  prüfte,  nimmt  die  erstere  zunächst  rascher  ab,  als 
die  Leitungsfähigkeit,  indem  wie  im  Grünhage n'schen  Versuch  mit 
localer  Kohlensäurenarkose  die  Erregbarkeit  der  geschädigten  Stelle 
schon  erheblich  abgenommen  hat,  während  sie  oberhalb  noch  unver- 
ändert erscheint.  In  einem  späteren  Stadium  dagegen  beobachtet  man 
ein  umgekehrtes  Verhalten :  das  Leitungsvermögen  ist  gänzlich  er- 
loschen, die  örtliche  Erregbarkeit  aber  noch  in  geringem  Grade  er- 
halten. 

Alle  bisher  besprochenen  Thatsachen  betreffs  der  Erregbarkeit 
der  Nerven  im  Verlaufe  beziehen  sich  auf  das  gewöhnlich  benützte 
Nervmuskelpräparat  vom  Frosch,  d.  i.  den  Musculus  gastrocnemius  in 
Verbindung  mit  dem  Nervus  ischiadicus.  Benützt  man  jedoch  den 
ganzen  Schenkel  und  prüft  auch  die  Reaction  der  andern  von  dem- 
selben Nervenstamm  versorgten  Muskeln  bei  Anwendung  verschiedener 
Stromstärken,  so  stellt  sich  das  bemerkenswerthe  Resultat  heraus,  dass 
bei  einer  und  derselben  Stromstärke  keineswegs  alle  Muskeln  gleich- 
zeitig in  den  Zustand  der  Erregung  gerathen;  vielmehr  zeigt  sich, 
dass  am  Froschschenkel  bei  schwachen  Reizen,  welche  den  gemein- 
samen Nervenstamm  treffen,  eine  Bewegung  im  Sinne  einer  functionell 
bestimmten  Gruppe  von  Muskeln,  die  also  die  mehr  erregbaren  sind, 
auftritt,  während  bei  stärkeren  Reizen  eine  Bewegung  im  Sinne  einer 
anderen  functionell  bestimmten ,  aber  minder  erregbaren  Gruppe  von 
Muskeln  erfolgt.  Der  ersteren  Gruppe  von  Muskeln  gehören,  wie 
Ritter  schon  im  Anfange  des  Jahrhunderts  beobachtete,  die  Beuger, 
der  letzteren  die  Strecker  an.  Seine  vielfach  unklaren,  mit  der  Mystik 
naturphilosophischer  Betrachtungen  verwebten  Auseinandersetzungen 
gipfeln  in  der  Annahme  einer  „beschränkten,  bedingten,  endlichen" 
Erregbarkeit  der  Beuger  und  einer  „unbeschränkten,  unbedingten,  un- 
endlichen" der  Strecker.  Diesen  Behauptungen  Ritte  r's  wurde  viel- 
fach widersprochen,  und  auch  Du  Bois  Reymond,  der  in  seinem 
grossen  Werke  auf  die  Arbeiten  Ritter's  zu  sprechen  kam,  hält 
dessen  Angaben  für  sehr  unwahrscheinlich  und  meint,  man  solle  sie 
so  lange  für  beseitigt  ansehen,  bis  erneute,  unzweideutige  Untersuchungen 
darüber  angestellt  seien. 


Die  Nerven  uud  ihre  physiologische  Function.  523 

Dieser  Aufgabe  hat  sich  im  Jahre  1874  Rolle tt  (49)  unterzogen, 
welcher  die  Ritter'schen  Beobachtungen  wieder  der  Vergessenheit 
entriss  und  sie  durch  zahlreiche  neue  Versuche  bestätigte.  Er  bediente 
sich  nicht  wie  Ritter  des  Kettenstromes,  sondern  rasch  aufeinander- 
folgender, tetanisirender  Inductionsströme.  Es  ist  nun  in  der  That 
sehr  leicht  sich  davon  zu  überzeugen,  dass  bei  schwächsten  Reizen 
zunächst  diejenigen  Muskeln  in  tetanische  Contr actio n 
g  e  r  a  t  h  e  n ,  welche  den  F  u  s  s  und  die  Zehen  nach  vor-  und 
aufwärts  bewegen,  sowie  die  Zehen  abduciren  (M.  tibialis 
antic,  peronaeus,  flexor  tarsi  anterior  und  posterior,  M.  extensores, 
abductores  digit.  und  Interossei) ;  bei  stärkerer  Reizung  des  ge- 
meinsamen Nervenst am m e s  werden  dagegen  die  Strecker 
des  Fusses  nach  rück-  und  abwärts,  sowie  die  Adduc- 
toren  der  Zehen  erregt.  Die  erstere  Gruppe  („Beuger")  versorgt 
vorzugsweise,  wenn  nicht  ausschliesslich  der  Nervus  peronaeus, 
die  letztere  der  Nervus  tibialis,  so  dass  an  dem  gewählten  Präparat 
(Unterschenkel  des  Frosches)  der  günstige  Fall  der  Vereinigung  aller 
oder  doch  der  meisten  für  antagonistische  Muskelgruppen  bestimmten 
Fasern  eines  Nervenstammes  in  zwei  besondere  Aeste  der  nächsten 
Ordnung  vorliegt.  Bei  weiteren  Versuchen  Hess  Rollett  isolirt 
die  Contraction  der  antagonistischen  Muskelgruppen  sich  verzeichnen, 
wobei  sich  herausstellte,  dass  im  Anfang  wirklich  nur  die  Beuger  sich 
verkürzten,  die  Strecker  aber  nicht,  und  dass  für  anwachsende  Reize 
dann  zu  einer  stärkeren  Beugung  eine  schwache  Streckung  sich  ge- 
sellte, worauf  endlich  die  Contraction  der  Strecker  mehr  zunahm,  als 
jene  der  Beuger.  Dadurch,  dass  Rollett  die  antagonistischen  Muskeln 
an  einem  und  demselben  Hebel  gegen  einander  wirken  Hess  (Ant- 
agonistograph)  und  den  Erfolg  der  Gegenwirkung  graphisch  verzeichnete, 
gelangte  er  schHessHch  auch  zu  der  Ueberzeugung,  dass  bei  d er  Er- 
regung vom  Nerven  aus  die  Beuge  raufschwächere  Reize 
ein  höheres  Maass  der  Leistung  ergaben,  als  die  Strecker. 
Im  Sinne  der  Beuger  erfolgt  bei  allmähHch  gesteigerter  Reizstärke 
die  Bewegung  bis  zu  einem  bestimmten  Wendepunkte,  wo  sie  von  den 
Streckern  überwunden  werden;  zwischendurch  liegt  ein  Stadium  des 
„Kampfes"  beider  antagonistischen  Wirkungen,  Derselbe  Unterschied 
in  der  Erregbarkeit  der  Beuger  und  Strecker  ist,  wie  Frl,  Völklin 
(Hermann's  Handb,  I,  1,  p.  113)  fand,  auch  beim  Kaninchen  nach- 
weisbar. Es  hat  sich  ferner  herausgestellt,  dass  ausser  dem  elek- 
trischen Reize  auch  mechanische  und  chemische  Reizung 
das  Phänomen  hervorzurufen  geeignet  ist.  (Osswald  50.) 
Durch  vorsichtige  Abstufung  der  Stärke  der  Schläge  eines  dem 
Heidenhain'schen  Tetanomotor  nachgebildeten  Apparates  gelang 
es  Osswald,  bei  schwächster  Reizung  des  Nervenstammes,  sowohl  an 
Fröschen  wie  insbesondere  an  den  hierzu  sehr  geeigneten  Kröten, 
zunächst  deutliche  Beugungen  zu  erzielen,  die  bei  allmählicher  Ver- 
stärkung der  Reize  mit  Streckungen  abwechselten;  schliesslich  über- 
wogen aber  völlig  die  Strecker,  und  es  trat  Tetanus  in  Streckung  ein. 
Dieselbe  Erscheinung  wiederholte  sich  auch  bei  chemischer  Reizung 
mit  Chlornatrium  und  anderen  Salzen, 

Auch  an  anderen  mit  antagonistisch  wirkenden  Muskeln  ausge- 
statteten Theilen  ist  man  auf  analoge  Unterschiede  der  Erregbarkeit 
der   betreffenden  Nervmuskelapparate   gestossen.     So  fand  Grützner 

34* 


524 


Die  Nerven  ixncl  ihre  physiologische  Function. 


(51),  dass  bei  Reizung  des  Nervus  vagus  mit  schwachen  Strömen  sich 
wesentlich  die  Verengerer  der  Stimmritze,  bei  starker  Reizung  regel- 
mässig die  Erweiterer  derselben  contrahiren.  Fränkel  und  Gad 
(52)  zeigten,  dass  die  Wirkung  allmählicher  Abkühlung  des  Nervus 
recurrens  darin  besteht,  den  Muskulus  crico-arytänoideus  posticus  früher 
als  die  Glottisschliesser  zu  lähmen,  und  Semon  und  Horsley  (53) 
constatirten  einen  peripheren  differenzirenden  Einfluss  des  Aethers  auf 
die  Kehlkopfmuskeln  in  demselben  Sinne. 

Am  alleraufFallendsten  machen  sich  jedoch  Unterschiede  der  Er- 
regbarkeit functionell  verschiedener  Nervmuskelapparate  geltend  bei 
gewissen  Wirbellosen,  so  vor  Allem  an  der  Krebsscheere,  Hier 
war  es  schon  Riebet  und  Luchsinger  (54)  aufgefallen,  dass  eine 
schwache  Reizung  des  Scheerennerven  zu  einer  Oeffnung,  eine  starke 


Fig.   165.     Coutractionscurven  des   vom   gemeinsamen   Nerven   aus    mit   tetanisirenden 
Inductionsströmen  zunehmender  Stärke  gereizten  Schliessmuskels  (oben)  und  Oeffnungs- 
muskels  (unten)  der   Krebsscheere.     Die  über   den   Eeizmarken   stehenden  Zahlen   ent- 
sprechen dem  Rollenabstand  in  Centimeter. 


dagegen  zu  einer  Schliessung  der  Scheere  führt.  Fick  (55),  welcher 
schon  gegen  Rollett's  erste  Versuche  am  Froschschenkel  Bedenken 
geltend  gemacht  hatte,  die  sich  später  als  unbegründet  erwiesen,  ver- 
suchte auch  die  Beobachtungen  Richet's  und  Luchsinge r's  rein 
mechanisch,  durch  die  anatomischen  Verhältnisse  der  bewegenden 
Muskeln,  zu  erklären.  Indessen  lässt  sich  dies  leicht  als  irrig  er- 
weisen (Biedermann  56).  Reizt  man  den  Scheerennerv  mit  den 
Wechselströmen  eines  Schlittenapparates,  indem  man  zwei  Platinspitzen 
durch  das  zweite  oder  dritte  Armglied  einsticht,  nachdem  eine  Ein- 
richtung getroffen  wurde,  um  die  Gestaltveränderungen  beider  anta- 
gonistischen Muskeln  des  Präparates  gleichzeitig  graphisch  zu  ver- 
zeichnen, indem  jeder  Muskel  seine  Bewegung  auf  einen  besonderen 
Hebel  überträgt,  so  macht  sich  zunächst  die  schon  erwähnte,  auch  an 
der  ganzen,  unversehrten  Scheere  hervortretende  Thatsache  geltend, 
dass  im  Allgemeinen  der  Oeffnungsmuskel  bei  schwacher,  der  Schliess- 
muskel  bei  starker  Reizung  des  Nerven  sich  contrahirt. 

Wenn   man    die  Stromstärke   durch    allmähliches  Verschieben  der 
secundären  Rolle  verstärkt  und  bei  jeder  neuen   Lage   die  Reizerfolge 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  525 

prüft,  so  sieht  man,  falls  es  sich  um  tonusfreie  Muskeln  handelt,  in 
der  Regel  bei  einem  gewissen  Rollenabstand  zunächst  nur  den  OefFnungs- 
muskel  allein  reagiren.  Die  Wirkungen  nehmen  dann  bei  Verstärkung 
der  Reizung  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  zu  und  wieder  ab,  um 
gänzlich  zu  verschwinden,  ohne  dass  der  Schliessmuskel  während  dieser 
Zeit  merkliche  Grestaltveränderungen  erkennen  lässt.  Man  kann  unter 
Umständen  die  Rollen  einander  noch  beträchtlich  nähern,  ohne  an 
einem  der  beiden  Muskeln  während  der  Reizung  irgendwelche  Er- 
regungserscheinungen wahrzunehmen.  Erst  über  eine  gewisse  Grenze 
der  Stromstärke  hinaus  beginnt  der  Schliessmuskel  zu  reagiren,  dessen 
Contractionen  dann  bis  zu  dem  erreichbaren  Maximum  der  Strom- 
stärke jede  Reizung  begleiten,  ohne  dass  dabei  auch  der  Oeflfner 
merklich  reagirte.  Sehr  oft  hat  man  jedoch  Gelegenheit,  zu  beobachten, 
dass  bei  geringem  Rollenabstande  nach  Ende  der  Reizung  eine  Zu- 
sammenziehung des  Oeflfnungsmuskels  eintritt  (Fig.  165  und  166). 


1  ^  .  ■  ■  i  .  ■  ■  ■  1  .  ■  .  .  1  .  .  .  .  I 


Fig.  166.     CoHtractionscurven  bei  indirecter,  tetanisirender  Eeizung  des  Schliess-  (oben) 

und  Oeffnungsmuskels  (unten)  der  Krebsscheere  bei  allmählicher  Annäherung  der  secun- 

dären  Eolle  des  Schlittenapparates. 

In  jedem  solchen  Falle  giebt  es  also  ein  gewisses  Intervall  der  Strom- 
stärke, wo  weder  der  eine  noch  der  andere  der  beiden  antagonistischen 
Muskeln  auf  Reizung  des  zugehörigen  Nerven  reagirt.  Die  Grösse 
dieser  „neutralen  Zone"  scheint  in  verschiedenen  Fällen  sehr  ver- 
schieden zu  sein.  Es  ist  indessen  besonderer  Nachdruck  auf  den 
Umstand  zu  legen,  dass  eine  neutrale  Strecke  im  strengen  Sinne  des 
Wortes  durchaus  nicht  immer  nachweisbar  ist,  ja  dass  ihr  Vorkommen 
nicht  einmal  die  Regel  zu  sein  scheint,  wenn  man  darunter  ein  Inter- 
vall der  Stromstärke  versteht,  bei  welchem  keiner  der  beiden  Muskeln 
auch  nur  spurweise  reagirt.  Es  lässt  sich  allerdings  immer  ein  Rollen- 
abstand auffinden,  wo  die  Contraction  des  (3effners  sowohl  wie  die 
des  Schliessers  sehr  schwach  ist,  allein  es  gelingt  nicht  immer,  die 
Reizung  ganz  erfolglos  zu  machen.  Auch  genügt  in  einem  solchen 
Falle  meist  eine  sehr  geringe  Verschiebung  der  secundären  Spirale 
in  der  einen  oder  anderen  Richtung,  um  entweder  maximale  Con- 
tractionen des  Schliessers  oder  solche  des  Oeffners  auszulösen. 

Um  sich  von  dem  Vorhandensein  oder  Fehlen  einer  „neutralen 
Strecke"  rasch  und  sicher  zu  überzeugen,  ist  es  am  zweckmässigsten, 
den  Nerven  dauernd  zu  reizen  und  dabei  die  Rollen  des  Inductions- 
apparates  allmählich  und  stetig  zu  nähern.  Man  sieht  dann  zuerst 
den  Oeffnungsmuskel  sich  contrahiren  und  wieder  erschlaffen,  dann 
folgt    entweder    die    neutrale  Sti'ecke,    oder    es    schliesst   sich   an  die 


526  I^iß  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

Erschlaffung  des  Oeffners  unmittelbar  die  Zusammenzieliung  des 
Schliessmuskels  an  (Fig.  166). 

Obschon  daher,  wie  aus  den  geschilderten  Untersuchungen  hervor- 
geht, die  Wechselbeziehung  zwischen  beiden  Antagonisten  nicht  eine 
derartige  ist,  dass  die  Erregung  des  einen  die  des  anderen  unter 
allen  Umständen  ausschliessen  würde,  so  ist  dies  doch  thatsächlich 
oft  genug  der  Fall.  Ausnahmslos  aber  findet  man,  dass  bei  stärk- 
ster Erregung  des  Schliessmuskels  der  Oeffnungs- 
muskel  in  Ruhe  verharrt  und  umgekehrt  bei  stärkster 
Erregung  des  Oeffnungsmuskels  der  Schliessmuskel. 

Wie  bei  dem  gewöhnlichen  Ritter-Rollett'schen  Phänomen  lässt  sich 
auch  hier  die  analoge  Wirkung  mechanischer  und  chemischer  Reize 
demonstriren.  So  ist  stets  leicht  zu  beobachten,  dass  unmittelbar 
nach  dem  Abschneiden  der  Scheere  regelmässig  die  Wirkung  des 
Oeffnungsmuskels  überwiegt,  nachdem  im  Momente  der  Schnittführung 
eine  rasch  vorübergehende  Schliessung  eingetreten  ist. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass  es  sich  hier  um 
eine  complicirte  Wirkung  des  mechanischen  Reizes  auf  die  Nerven 
beider  Muskeln  handelt,  über  die  sich  ein  sicheres  Urtheil  erst  bei 
weiteren  Untersuchungen  wird  gewinnen  lassen ;  nicht  minder  auf- 
fallend ist  die  Thatsache,  dass  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  bei  chemi- 
scher Reizung  des  Scheerennerven  (dui'ch  Eintauchen  eines  frisch  an- 
gelegten Querschnittes  des  Scheerenarmes  in  concentrirte  NaCl-Lösung) 
die  Wirkung  des  Oeffners  überwiegt,  während  doch  andererseits  auch 
der  Schliessmuskel  durch  dasselbe  Reizmittel  in  kräftigste  Contraction 
versetzt  werden  kann,  wie  sich  insbesondere  dann  zeigt,  wenn  der 
Oeffnungsmuskel  vorher  durchschnitten  wurde. 

Die  Innervationsverhältnisse  der  antagonistischen  Scheerenmuskeln 
des  Krebses  gestalten  sich  nun  aber  dadurch  noch  wesentlich  com- 
plicirter,  dass  jeder  der  beiden  Muskeln  ausser  von  motorischen  auch 
sicher  noch  von  hemmenden  Nervenfasern  innervirt  wird,  welche 
hinsichtlich  ihrer  Erregbarkeitsverhältnisse  sich  ge- 
rade entgegengesetzt  verhalten,  wie  die  motorischen 
Nerven.  Es  muss  hierbei  vorausgeschickt  -werden,  dass  sowohl  der 
Schliessmuskel  wie  der  Oeffnungsmuskel  oft,  ja  in  der  Regel,  eine 
Art  von  Tonus  erkennen  lassen,  der  in  jedem  Falle,  besonders  deut- 
lich nach  Durchschneidung  des  Antagonisten  hervortritt.  Reizt  man 
nun  in  einem  solchen  Falle  (nach  Durchschneidung  des  Oeffners)  den 
Nerven  des  Scheerenarmes  mit  tetanisirenden  Wechselströmen,  während 
die  secundäre  Rolle  der  primären  allmählich  genähert  wird,  so  sieht 
man  regelmässig  als  ersten  Erfolg  der  Reizung  des  Nerven 
eine  Oeffnung  der  Scheere  eintreten,  welche  unter  den  gegebenen  Be- 
dingungen nur  durch  eine  Erschlaffung  und  dadurch  bewirkte 
stärkere  Dehnung  des  Schliessmuskels  bedingt  sein  kann.  Ver- 
stärkt man  hierauf  vorsichtig  die  Reizung  durch  langsames  Nähern 
der  Rollen,  so  nimmt  in  der  Regel  zunächst  der  gleiche  Erfolg 
noch  an  Stärke  zu,  bis  endlich  bei  einem  gewissen,  meist  geringen 
Rollenabstand  jeder  Reizung  eine  kräftige  Schliessung  der  Scheere 
folgt,  die  während  der  ganzen  Dauer  des  Tetanisirens  anhält. 
Schwächt  man  hierauf  wieder  die  Intensität  der  Inductionsströme  ab, 
so  tritt  abermals  der  entgegengesetzte  Erfolg,  d.  i.  Erschlaffung  des 
Muskels,  ein.  Mit  dem  allmählichen  Schwinden  der  tonischen  Ver- 
kürzung werden  natürlich   auch   die   sichtbaren  Reizerfolge   einsinnig 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function,  527 

und  bestehen  nur  mehr  in  Schliessung  der  Scheere,  d.  i.  Verkürzung 
des  Muskels.  Das  Gleiche  ist  selbstverständlich  auch  bei  solchen 
Präparaten  der  Fall,  deren  Schliessmuskel  von  vornherein  keinen  merk- 
lichen Tonus  zeigt.  Entsprechend  dem  Charakter  dieses  Muskels  als 
eines  quergestreiften  erfolgen  die  erwähnten  Gestaltsveränderungen  im 
Allgemeinen  ziemlich  rasch.  Verzeichnet  man  dieselben  graphisch 
(Fig.  167),  so  sinkt  die  Curve  bei  langsamer  Bewegung  der  Schreib- 
fläche im  Beginne  des  Tetanisirens  fast  rechtwinkelig  ab,  indem  der 
Muskel  plötzlich  stark  und  oft  sogar  maximal  erschlafft.  An  der 
Grenze  der  Stromstärke,  bei  welcher  die  hemmende  Wirkung  der 
Nervenreizung  in  ihr  Gegentheil  umschlägt,  sind  die  Reizerfolge  nicht 
selten    doppelsinnig,    und  treten  mannigfache  Unregelmässigkeiten  auf. 

Auch  in  Fällen,  wo  der  natürliche 
Tonus  fehlt,  lassen  sich  unter  Umständen 
die  hemmenden  Wirkungen  der  Nerven- 
reizung nachweisen,  wenn  der  erschlaffte, 
ruhende  Muskel  künstlich  in  einen 
dauernden  oder  rhythmisch  unterbro- 
chenen Erregungszustand  versetzt  wird. 
Dies  gelingt  leicht,  wenn  man  bei  schwin- 
gendem Hammer  des  Schlittenapparates  Fig.  167.  Tetanisirende  Eeizung 
in  den  Kreis  der  secundären  Spirale  ein     Jes   dauernd    tonisch   verkürzten 

HT    i  •        1     li.   .  11  j    .i    ,        öchliessmuskels  der  Krebsacheere ; 

Metronom  einschaltet,  welches  gestattet,  wiederholte  kurzdauernde  Hem- 
dem  Schliessmuskel  direct  mittels  zwei  mung(Erschlaffung)  während  jedes- 
durch   die   Chitinschaale    der   Scheere    ge-  maliger  Reizung  des  Nerven. 

stochener     Platinspitzen     in     beliebigem 

Rhythmus  Gruppen  von  Inductionsschlägen  zuzuführen  und  so  regel- 
mässige, rhythmische  Contractionen  auszulösen,  die  nun  durch  gleich- 
zeitige Nervenreizung  in  ähnlicher  Weise  beeinflusst  werden  können, 
wie  die  natürlichen  Herzpulse  durch  den  Nervus  vagus.  Handelt  es 
sich  um  ein  Präparat,  dessen  Schliessmuskel  in  Folge  der  directen  rhyth- 
mischen Reizung  in  einem  Zustand  mittlerer  Zusammenziehung  dau- 
ernd verharrt  und  so  zu  sagen  nur  um  seine  neue  Gleichgewichtslage 
im  Rhythmus  der  Metronomschläge  schwankt,  so  beobachtet  man  im 
Beginn  einer  wirksamen,  hemmenden  Nervenreizung  mittels  tetani- 
sirender  Inductionsströme,  ganz  wie  beim  Vorhandensein  eines  natür- 
lichen Tonus ,  eine  mehr  oder  minder  rasch  eintretende  Erschlaffung, 
welche  sich  je  nach  Umständen  bei  graphischer  Verzeichnung  bald 
nur  durch  eine  massige,  flache  Einbiegung,  bald  durch  einen  steilen, 
der  völligen  Erschlaffung  des  Muskels  entsprechenden  Abfall  der  Curve 
verräth.  Ersterenfalls ,  wie  fast  immer  bei  schwächster,  nur  eben 
wirksamer  Reizung  des  Nerven,  bleibt  die  Grösse  der  aufgesetzten 
rhythmischen  Schwankungen  in  der  Regel  unverändert  oder  erleidet 
doch  nur  unwesentliche  Veränderungen.  Ganz  anders  verhält  sich 
dies  jedoch  bei  stärkerer  Reizung,  Dann  beobachtet  man  fast  immer 
gleichzeitig  mit  der  Erschlaffung  des  Muskels  und  dem  dadurch  be- 
dingten Absinken  der  Curve  eine  merkliche  und  in  der  Regel  sogar 
sehr  beträchtliche  Verkleinerung  der  Höhe  der  einzelnen  Contractionen, 
ohne  dass  selbstverständlich  deren  Rhythmus  geändert  würde.  Es 
kann  dies  soweit  gehen,  dass  im  Zustande  der  stärksten  Erschlaffung 
die  Gestaltveränderungen  des  Muskels  ganz  unmerklich  werden  oder 
nur  als  leichte,  wellenförmige  Erhebungen  der  Curve  angedeutet  er- 
scheinen  (Fig.  168).     Es    gewinnen    dann    derartige   graphische   Dar- 


528  I^iö  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

Stellungen  der  in  Rede  stehenden  Hemmungswirkung  oft  eine  gewisse 
äusserliche  Aehnlichkeit  mit  kymographischen  Curven,  welche  den 
hemmenden  Einfluss  des  gereizten  Vagus  auf  die  Herzbewegung  dar- 
stellen. 

Wenn  sich  schon  aus  solchen  Versuchen  mit  aller  Sicherheit  er- 
giebt,  dass  neben  oder  besser  mit  der  Erschlaffung  des  Muskels  gleich- 
zeitig auch  eine  Verkleinerung  der  künstlich  bewirkten  rhythmischen 
Contractionen  einhergeht,  so  lässt  sich  diese  Thatsache  doch  noch  viel 
besser  in  allen  den  Fällen  constatiren,  wo  der  Muskel  Zeit  hat, 
zwischen  je  zwei  aufeinanderfolgenden  Reizen  wieder  vollständig  zu 
erschlaffen.  Denn  es  verräth  sich  dann  der  Erfolg  wirksamer  Hemmung 
überhaupt  nur  durch  eine  mehr  oder  minder  beträchtliche  Abnahme 
der    Höhe    der    einzelnen    Zuckungen    oder    richtiger    kurzen    Tetani 


1  ■  I  .  )  >  .  I  I  I  1 


I   .  ■  1  ^.   .  .  i  1  .  1  I  i  ■  1  I  ■  1  ,  .  >  ,  i  ,  ,  I  1  i  i  i  ,  Fig.  169.     AVie  in  Fig.  168. 

Vorwiegende  Verkleinerung 
Fig.  168.    Hemmung  der  künstlich  durch  directes,  ryth-  t^ei"  Einzelcontractionen. 

misch  unterbrochenes  Tetanisiren  bewirkten  Erregung 
des  tonusfreien  Schliessmuskels  der  Krebsscheere  durch 
gleichzeitige  Keizung  des  Scheerennerven. 

(Fig.  169).  Es  erinnern  solche  Curvenreihen  unmittelbar  an  die  von 
Hei  den  ha  in  und  Löwit  mitgetheilten  Beispiele,  welche  die  Erfolge 
schwächster  Vagusreizungen  auf  die  rhythmischen  Contractionen  des 
Fi'oschherzens  darstellen,  und  aus  denen  zu  ersehen  ist,  dass  als  erster 
Effect  der  hemmenden  Wirkung  eine  Verkleinerung  der  Einzelpulse 
eintritt. 

Das  geschilderte  Verhalten  der  Muskeln  der  Krebsscheere,  welches 
wohl  kaum  anders  als  durch  die  Annahme  von  zwei  verschiedenen, 
antagonistisch  wirkenden  Fasergattungen,  welche  in  einem  und  dem- 
selben Nervenstamm  vereinigt  zum  Schliessmuskel  hinziehen,  erklärt 
werden  kann,  steht  keineswegs  ohne  Analogie  da.  Schon  vor  längerer 
Zeit  th eilte  Pawlow  (57 j  Beobachtungen  an  den  Schliessmuskeln 
der  Schaalen  von  Anodonta  mit ,  aus  denen  sich  ergiebt ,  dass 
zu  demselben  ebenfalls  2  Arten  von  Nervenfasern  gehen,  die  einen 
motorische,  welche  Verkürzung  des  Muskels  veranlassen,  die  anderen 
hemmende,  mit  jenen  gemeinsam  verlaufend,  welche  den  verkürzten 
Zustand  des  Muskels  aufheben  und  Erschlaffung  desselben  herbei- 
führen. Durch  geeignete  Reizung  kann  man  auch  hier  bald  die  eine, 
bald  die  andere  Wirkung  deutlicher  hervortreten  sehen.  Doch  bietet 
die  Krebsscheere  der  Untersuchung  insoferne  wesentliche  Vortheile,  als 
es  sich  hier  um  quergestreifte  Muskeln  handelt,  deren  Reactionen 
unvergleichlich  rascher  erfolgen,   als  die  des  trägen,  glatten  Muschel- 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  529 

muskels,  bei  welchem  letzteren  ausserdem  auch  noch  der  Umstand  zu 
berücksichtigen  bleibt,  dass  zwischen  Nerv  und  Muskel  Ganglienzellen 
eingeschaltet  liegen,  deren  Einfluss  sich  nur  schwierig  ausschliessen  lässt. 
Auch  der  Herzmuskel  wird  von  functionell  verschiedenen,  ant- 
agonistisch wirkenden  Nervenfasern  versorgt,  welche  bei  manchen  Wirbel- 
thieren  in  einem  Stamme  vereinigt,  bei  anderen  getrennt  verlaufend 
Unterschiede  der  Erregbarkeit  erkennen  lassen ,  die  in  mancher  Be- 
ziehung den  im  Vorstehenden  besprochenen  vergleichbar  sind.  So 
haben  Heiden  ha  in  (58)  und  später  Löwit  gezeigt,  dass  bei  den 
schwächsten,  eben  Avirksamen  Strömen,  die  auf  den  Nervus  vagus  des 
Frosches  einwirken,  immer  zunächst  die  hemmende  \\'irkung  hervor- 
tritt, dass  es  nie  gelingt,  unter  diesen  Umständen  eine  Beschleunigung 
der  Herzthätigkeit  zu  erzielen.  Immer  kommt  eine  solche  erst  bei 
höheren  Stromstärken  zur  Beobachtung,  als  die  Hemmung,  so  dass 
unter  der  Voraussetzung  von  zweierlei  Fasern  den  hemmenden  im 
Allgemeinen  eine  leichtere  Anspruchsfähigkeit  zuzuschreiben  wäre,  als 
den  accelerirenden.  [Aehnliche  Verhältnisse  findet  man  auch  bei 
Warmblütern  (Vagus,  Accellerans) ^  (vergl.  Meltzer  58).]  Dagegen 
fand  Löwit  (1.  c),  dass  die  erster en  durch  gewisse  che- 
mische Substanzen  früher  geschädigt  werden,  als  die 
letzteren.  Wird  der  Vagusstamm  beim  Frosch  mit  KNOg  (^W^io) 
behandelt,  so  lässt  sich  ein  Stadium  finden,  wo  Reizung  des  Nerven 
stets  nur  Beschleunigung  der  Herzthätigkeit  auslöst,  während  unter- 
halb der  kalisirten  Stelle  gleiche  Reizung  nur  Hemmung  bewirkt. 
Durch  Auslaugen  des  Nerven  mit  0,6  ^/o  NaCl-Lösung  gelingt  es  in  allen 
Fällen,  diese  Wirkung  des  Kali  wieder  zum  Verschwinden  zu  bringen,  und 
man  kann  so  die  Umwandlung  des  Vagus  in  einen  Beschleunigungsnerven 
und  aus  diesem  wieder  in  einen  Hemmungsnerven  einige  Mal  an  dem- 
selben Präparat  Aviederholen.  Aehnlich  wie  KNO3  wirken  auch  noch 
andere  Substanzen  (1.  c.  p.  493),  sowie  starke  Abkühlung  (Eis).  Auch 
in  nächster  Nähe  eines  künstlichen  Querschnittes 
scheinen  Veränderungen  Platz  zu  greifen,  welche  sich 
durch  ein  verschieden  rasches  Sinken  d  e  r  E  r  r  e  g  b  a  r  k  e  i  t 
der  beiden  antagonistischen  Fasergattungen  kundgeben. 
Legte  Löwit  die  Elektroden  bei  geringer  Spannweite  (I  mm)  derart 
an  den  durchschnittenen  Vagus,  dass  die  eine  Elektrode  unmittelbar 
am  Querschnitt  sich  befindet,  so  zeigte  sich  bei  einer  gewissen  Strom- 
stärke und  aufsteigender  Richtung  der  einzelnen  Inductionsströme 
stets  eine  deutliche  Beschleunigung  der  Herzthätigkeit,  während  ein- 
fache Umkehr  der  Stromesrichtung  eine  exquisite  Hemmung  hervor- 
ruft. Es  ist  dies  zweifellos  darauf  zu  beziehen,  dass,  wie  später  ge- 
zeigt werden  wird,  in  beiden  Fällen  die  Erregung  thatsächlich  an 
verschiedenen  Stellen  des  Nerven  erfolgt  (im  ersteren  Falle  näher  dem 
Querschnitt) ,  deren  verschiedene  Anspruchsfähigkeit  auch  eine  Ver- 
schiedenheit der  Reizerfolge  bedingt.  Kann  es  also  einerseits  nicht 
zweifelhaft  sein,  dass  im  Nervus  vagus  des  Frosches  besondere  be- 
schleunigende und  hemmende  Nervenfasern  vorhanden  sind,  so  ist  auf 
der  anderen  Seite  nicht  minder  sicher,  dass  die  Erregbarkeit 
bei  d  erFaser  arten  eine  verschiedene  ist,  und  zwar  haben  wir 
Grund,  anzunehmen,  dass  d  i  e  B  e  s  c  h  1  e  u  n  i  g  u  n  g  s  ( V  e  r  s  t  ä  r  k  u  n  g  s  -) 
Fasern  minder  erregbar  als  die  hemmenden  Fasern,  da- 
gegen resistenter  gegen  alle  Vorgänge  sind,  welche  die 
Erregbarkeit   b  ei  der  Faser  arten    zu    vernichten    drohen. 


530  Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

Man  wird  durch  dieses  Verhalten  sofort  an  die  analogen  Erregbar- 
keitsverhältnisse der  gefäss verengernden  Fasern  er- 
innert in  einem  Stamme,  der  gefässverengernde  und 
gefässerweiternde  Fasern  gleichzeitig  führt. 

Bemerkenswerth  ist  nur,  dass  es  keineswegs  die  functionell  gleich- 
werthigen  Fasern  sind,  welche  auch  in  Bezug  auf  ihre  Erregbarkeits- 
verhältnisse bez.  ihre  Resistenzfähigkeit  übereinstimmen,  indem  sich 
Analogien  zwischen  den  Herzhemmungsfasern  und  den  Vasoconstric- 
toren  einerseits,  den  Accelleratoren  des  Herzens  und  den  Vasodilata- 
toren  anderei-seits  herausstellen,  ein  gegensätzliches  Verhältniss,  welches 
seinen  schärfsten  Ausdruck  in  den  Erregbarkeitsverhältnissen  der 
motorischen  und  hemmenden  Fasern  der  antagonistischen  Scheeren- 
muskeln  des  Krebses  findet,  wo  man  sich  zu  der  Annahme  gezwungen 
sieht  (auf  Grund  der  mitgetheilten  Thatsachen),  dass  jeder  der  beiden 
Muskeln  von  zweierlei,  functionell  verschiedenen  (motorischen  und 
hemmenden)  Fasern  versorgt  w^ird,  die  sich  hinsichtlich  ihrer  Erreg- 
barkeit nicht  nur  quantitativ  verschieden  verhalten,  indem  je  nach 
der  Stärke  der  Reizung  die  eine  Wirkung  immer  früher  als  die  andere 
in  durchaus  bestimmter  und  gesetzmässiger  Weise  hervortritt,  sondern 
dass  auch  qualitative  Unterschiede  bestehen,  indem  die  Hem- 
mungsfasern des  einen  Muskels  hinsichtlich  ihrer  Er- 
regungsbedingungen den  motorischen  Fasern  der  Ant- 
agonisten  im  Allgemeinen   entsprechen. 

Dass  ähnliche  Unterschiede  der  Erregbarkeit,  wie  sie  im  Vor- 
stehenden für  centrifugal  leitende  Nervenfasern  beschrieben  wurden, 
auch  bei  centripetal  leitenden  Fasern  vorkommen,  dafür  scheint  der 
mit  der  Stärke  der  Reizung  wechselnde  Erfolg  der  Erregung  des 
centralen  Vagusstumpfes  zu  sprechen.  Es  darf  als  sicher  bewiesen 
gelten,  dass  im  Vagus  zweierlei  Faserarten  enthalten  sind,  welche  das 
Athmungscentrum  in  entgegengesetztem  Sinne  beeinflussen;  während 
die  einen  bei  ihrer  Erregung  inspiratorisch  wirken,  ist  bei  den  anderen 
das  Gegentheil  der  Fall.  Reizt  man  mit  Inductionsströmen ,  deren 
Intensität  möglichst  vorsichtig  abgestuft  wird,  so  beobachtet  man  (bei 
Kaninchen)  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  als  ersten  Reizerfolg  das  Ein- 
treten längerer  oder  kürzerer  exspira  torisch  er  Pausen  oder  eine 
Abflachung  der  Athmung  bei  Exspirationsstellung ,  während  stärkere 
Reizung  stets  inspiratorisch  wirkt.  Vielleicht  beruht  auch  die 
ausgeprägt  exspiratorisch  e  W^irkung  chemischer  Reize  vor 
Allem  auf  ihrer  geringeren  Intensität.  Nach  Meltzer  (1.  c.  p.  385) 
hätte  man  sogar  Grund,  im  Vagusstamm,  ähnlich  wie  im  Scheerennerven 
des  Krebses,  4  verschiedene  Faserarten  anzunehmen :  a)  inspiratorische, 
b)  inspirationshemmende,  c)  exspiratorische,  d)  exspirationshemmende. 
Es  ist  sehr  bemerkenswerth,  dass  auch  in  diesem  Falle  eine  Ab- 
stufung der  Reizbarkeit  zu  bestehen  scheint,  die  unmittelbar  an  das 
Verhalten  der  Scheerenmuskeln  erinnert,  indem  die  exspirations- 
hemmenden  Fasern  vornehmlich  bei  einer  Reizstärke 
erregt  werden,  welche  gleichzeitig  ausreicht,  die  In- 
spiratoren zu  erregen.  Bei  fast  derselben  Reizstärke  würden 
hiernach  die  Inspiratoren  erregt  und  die  Antagonisten  derselben  ge- 
hemmt. 

In  allen  den  besprochenen  Fällen,  wo  sich  bei  verschiedener  Reiz- 
intensität Unterschiede  der  Reizerfolge  in  den  von  einem  und  dem- 
selben Nervenstamm  versorgten  peripheren  oder  centralen  Endorganen 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  531 

geltend  machen,  bleibt  es  vorerst  immer  noch  fraglich,  ob  die  beob- 
achteten Verschiedenheiten  der  Reactionsweise  nur  auf  entsprechenden 
Unterschieden  der  Erregbarkeit  der  zugehörigen  Nervenfasern  oder 
auch  der  Endorgane  selbst  oder  beider  beruhen.  RoUett  neigt  sich 
für  den  von  ihm  untersuchten  Fall  der  Ansicht  zu,  dass,  da  bei  directer 
Reizung  der  Muskeln  der  Unterschied  nicht  hervortritt,  die  Ursache  des 
Ritter-Rollett'schen  Phänomens  lediglich  in  Eigenschaften  der  Nerven 
gelegen  ist,  wobei  er  freilich  unentschieden  lässt,  ob  nur  in  einer  ver- 
schiedenen Erregbarkeit  der  für  verschiedene  Muskeln  bestimmten  Fasern. 
Dagegen  hält  es  Grützner(59)  für  wahrscheinlich,  dass  bei  dem  in 
Rede  stehenden  Phänomen  auch  phy  sio  logische  Verschied en- 
h  e  i  t  e  n  der  M  u  s  k  e  1  g  r  u  p  p  e  n  der  Beuger  und  Strecker, 
also  wohl  des  gesammten  Nervmuskelapparates  beider 
in  Betracht  kommen. 

Er  stützt  sich  dabei  hauptsächlich  auf  eine  Reihe  schon  früher 
erwähnter  Thatsachen,  welche  zeigen,  dass  physiologische  Verschieden- 
heiten der  betreffenden  Muskelgruppen  thatsächlich  bestehen  und  vor 
Allem  darauf,  dass  es  gelingt,  das  Ritter-RoUett'sche  Phänomen  auch 
nach  Ausschaltung  der  Nerven  und  ihrer  Endigungen  (durch  Curare) 
zu  erzeugen  (1.  c.  p.  231). 

Wie  die  vorstehenden  Beispiele  genügend  darthun,  unterliegt  es 
grossen,  ja  kaum  zu  überwindenden  Schwierigkeiten,  die  speciiische 
Erregbarkeit  verschiedener  Nerven  vergleichend  zu  untersuchen ,  da 
man  lediglich  auf  die  Reaction  der  in  Bezug  auf  ihre  Erregbarkeits- 
verhältnisse so  sehr  verschiedenen  peripheren  oder  centralen  End- 
apparate angewiesen  ist.  Macht  sich  dies  schon  bei  functionell  gleich- 
artigen Endorganen,  wie  z.  B.  quergestreiften  und  glatten  Muskeln, 
geltend,  so  ist  eine  Vergleichung  der  Erregbarkeit  von  Nerven,  deren 
Wirkungsenden  mit  functionell  verschiedenen  Endorganen  verknüpft 
sind,  vollends  ganz  unmöglich.  Es  zeigt  sich  dies  auf  das  deutlichste, 
wenn  man  etwa  die  Bedingungen  für  die  Auslösung  reflectorischer 
Muskelcontractionen  mit  jenen  der  directen  Reizung  motorischer 
Nerven  vergleicht.  Die  grossen  Unterschiede,  welche  in  beiden  Fällen 
hervortreten,  werden,  wenn  überhaupt,  nur  zum  kleinsten  Theil  auf 
specifische  Verschiedenheiten  der  Nervenfasern  selbst  zu  beziehen 
sein,  sondern  vielmehr  in  den  schon  früher  hervorgehobenen,  beson- 
deren Eigenschaften  der  Nervenzellen  gesucht  werden  müssen. 

Die  allerauffallendste  Thatsache  auf  diesem  ganzen  Gebiete  ist 
die,  dass  ein  einmaliger,  kurzer  Reizanstoss,  gleichviel  ob  es  sich  um 
mechanische  oder  elektrische  Reizung  handelt,  zwar  mit  Sicherheit 
eine  Zuckung  auslöst,  wenn  der  motorische  Nerv  eines  quergestreiften 
Muskels  direct  getroffen  wird,  aber  nicht  annähernd  mit  gleicher 
Sicherheit,  wenn  es  sich  um  eine  reflec torische  Erregung  handelt. 
Ja  es  gilt  im  letzteren  Falle  sogar  als  Regel,  dass  ein  kurzdauernder, 
einmaliger  Reiz,  wenn  überhaupt,  nur  bei  sehr  hoher  Intensität  sich 
wirksam  erweist.  Dass  die  Ursache  hierfür  nicht  sowohl  in  besonderen 
Eigenschaften  der  centripetal  leitenden  Nervenfasern,  als  vielmehr  in 
den  abweichenden  Erregbarkeitsverhältnissen  der  re- 
flectirenden  Centralorgane  (Nervenzellen)  gesucht  werden 
muss,  lässt  sich  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  schon  auf  Grund  der 
früher  besprochenen  Thatsachen  betreffs  der  Erregungsleitung  inner- 
halb der  Fasern  und  Zellen  erwarten.  Es  wurde  dort  wahrscheinlich 
gemacht,  dass  die  Nervenzellen  der  Fortleitung  des  Erregungsprocesses 


532  I^ie  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

und  daher  wohl  auch  der  Erregung  selbst  einen  gewissen  Widerstand 
darbieten,  der  sich  einerseits  in  einer  mehr  oder  minder  erheblichen 
Verzögerung  der  Leitung,  andererseits  aber  in  der  noch  zu  besprechen- 
den geringeren  Labilität  der  Gangliensubstanz  gegen  kurze  Reizan- 
stösse  geltend  macht.  So  sehr  daher  auf  der  einen  Seite  die  grosse 
Empfindlichkeit  der  Nervenzellen  gegen  irgendwelche  Schädlichkeiten 
in  die  Augen  springt,  so  sehr  muss  andererseits  betont  werden,  dass 
dieselben  in  Bezug  auf  ihre  Erregbarkeitsverhältnisse  vielmehr  den 
minder  reizbaren,  trägeren,  glatten  Muskeln,  als  den  rasch  reagiren- 
den,  quergestreiften,  gleichen.  Wir  werden  später  sehen,  wie  sehr  die 
Erregung  der  trägeren  irritablen  Gebilde  von  der  Dauer  des  Reizes 
abhängt,  was  vielleicht  den  schlagendsten  Ausdruck  in  der  Thatsache 
findet,  dass  ein  und  derselbe  Inductionsschlag,  der  mit  absoluter  Sicher- 
heit eine  Zuckung  des  quergestreiften  Muskels  bewirkt,  auf  dessen 
Nerven  er  einwirkt,  keine  merkliche  Contraction  glatter  Muskel- 
fasern zur  Folge  hat,  wenn  er  deren  Nervenfasern  trifft  und  ebenso- 
wenig im  Stande  ist,  eine  Reflexzuckung  der  ersteren  auszulösen. 
In  ersterer  Beziehung  hat  Langend  or ff  (60)  gezeigt,  dass  bei 
Reizung  des  Halssympathicus  mit  einzelnen  Inductionsschlägen  keine 
merklichen  Veränderungen  der  Pupillen  weite  eintreten,  Avährend  da- 
gegen schnell  wiederholte  Schläge  „durch  Summation"  wirksam 
werden.  Bei  entsprechender  Vergrösserung  konnte  übrigens  M  u  h  1  e  r  t 
(61)  auch  bei  Anwendung  einzelner  Schläge  manchmal  eine  deutliche 
Erweiterung  der  Pupille  constatiren,  sowie  auch  Piotrowsky  (62) 
diese  Art  der  Reizung  in  Bezug  auf  die  Verengerung  der  Ohrgefässe 
wirksam  fand.  Immerhin  ist  die  Wirkung  der  Einzelschläge  eine 
äusserst  geringe,  während  tetanisirende  Reizung  in  beiden  Fällen  be- 
kanntlich einen  sehr  ausgeprägten  Erfolg  hat. 

Wird  bei  gleichbleibender  Stromesintensität  die  Reizfrequenz  ver- 
ändert, so  lässt  sich  leicht  zeigen,  dass  innerhalb  weiter  Grenzen  die 
Reizwirkung  (Pupillenerweiterung)  mit  steigender  Frequenz  zunimmt. 
Bei  einem  Reizintervall  von  etwa  2  Secunden  konnte  Mulert  bei 
einer  Stromstärke  von  85,19  E.  eine  Summation  der  Reizwirkung 
selbst  bei  62  aufeinander  folgenden  Reizen  nicht  nachweisen.  Wenn 
Reizzahl  und  Reizintervall  so  gewählt  werden,  dass  überhaupt  eine 
Wirkung  erwartet  werden  kann,  so  lässt  sich  auch  leicht  der  Einfluss 
der  Stromstärke  in  dem  Sinne  feststellen,  dass  erst  über  einen  ge- 
wissen Grenzwerth  hinaus  die  Pupillenerweiterung  beginnt,  um  dann 
mit  wachsender  Intensität  anfangs  rasch,  später  langsamer  einem 
Maximum  zuzustreben.  Man  sieht  leicht,  dass  die  glatten  Mukel- 
eleraente,  in  denen  zweifellos  die  Summation  stattfindet,  sich  in  diesem 
Falle  ganz  ähnlich  verhalten,  wie  unter  analogen  Verhältnissen  die 
Reflexcentren  des  Rückenmarkes  bei  Reizung  von  centripetal  leitenden 
Nerven  aus.  Auch  trägere,  quergestreifte  Muskeln  scheinen  sich  ganz 
ähnlich  zu  verhalten.  So  beobachtete  Piotrowsky  (56)  bei  Reizung 
des  Scheerennerven  vom  Krebs  mit  einzelnen  an  sich  unwirksamen 
Inductionsschlägen,  die  sich  in  einem  Intervall  von  Vs  See.  folgten,  nach 
je  7  Reizen  jedesmal  eine  schwache  Contraction. 

Die  auffallende  Unempfindlichkeit  centripetal  leitender  (sensibler) 
Nerven  oder  richtiger  ihrer  centralen  Endapparate  gegen  einzelne 
Inductionsschläge  ist  seit  lange  bekannt. 

Schon  Munk  (63)  bemerkte,  dass  man  an  Fröschen  auf  einzelne 
Inductionsschläge,  welche  einen  sensiblen  Nervenstamm  treffen,  keine 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  533 

Reflexzuckungen  folgen  sieht,  was  mit  einiger  Sicherheit  erst  nach 
vorheriger  schwacher  Strychninvergiftung  der  Fall  ist.  Auch  Set- 
schenow  (64)  constatirte,  dass  Inductionsströme,  welche  bei  schwin- 
gendem Hammer  auf  der  Zunge  schon  eine  starke  Empfindung  hervor- 
riefen, vom  centralen  Ischiadicusstumpf  aus  keine  Reflexe  auslösten. 
Indem  er  hierauf  die  obere  Grenze  der  Stromstärke  bestimmte,  bei 
welcher  einzelne  Schläge  das  Thier  noch  ruhig  Hessen  und  darauf  bei 
spielendem  Hammer  die  niedrigsten  Stromstärken  bestimmte,  welche 
das  Thier  zu  erregen  anfingen,  ergab  sich  immer  ein  sehr  grosser 
Unterschied  der  Rollenabstände,  „weil  der  gegen  die  einzelnen  In- 
ductionsschläge  so  unempfindliche  sensible  Nerv  (d.  h.  eigentlich  die 
centralen  Uebertragungsapparate)  gegen  eine  Reihe  derselben  fast  die- 
selbe Empfindlichkeit  wie  der  motorische  (resp.  der  quergestreifte 
Muskel)  zeigt".  Auch  an  den  dünnen  sensiblen  Rückenhautnerven 
des  Frosches  tritt,  wie  schon  Fick  (65)  zeigte,  dieselbe  Thatsache 
hervor.  „Wenn  man,  statt  einzelne  Schläge  zu  geben,  die  Feder  des 
Inductionsapparates  in  Schwingung  versetzt,  dann  bedarf  es  bei  Weitem 
keiner  so  enormen  Stromstärken,  um  (reflectorische)  Muskelzusammen- 
ziehungen zu  erhalten."  In  neuerer  Zeit  hat  u.  A.  Ward  (66)  diese 
Summationserscheinungen  näher  untersucht  und  fand  am  enthirnten 
Frosch,  dass  bei  Anwendung  elektrischer  Reize,  welche  nach  Qualität 
und  Intensität  möglichst  gleichartig  waren,  von  denen  aber  einer  für 
sich  nicht  ausreichte,  eine  Reflexzuckung  hervorzurufen,  eine  solche 
nach  einer  gewissen  Anzahl  von  Reizen  eintrat,  wenn  dieselben  bei- 
spielsweise   in  Intervallen  von  0,5  See.  folgten. 

Die  erforderliche  Reizfrequenz  blieb  denn  auch  annähernd  gleich, 
wenn  das  Intervall  bis  zu  0,4  See.  gesteigert  wurde. 

Es  lässt  sich  diese  wie  alle  anderen  hierhergehörigen  Erschei- 
nungen offenbar  nur  unter  der  Voraussetzung  erklären ,  dass  ein  an 
sich  unwirksamer  Reiz  in  der  Ganglienzelle  (wie  in  anderen  Fällen 
im  Muskel ,  der  Drüsenzelle  u.  s,  w.)  eine  gewisse  Veränderung  be- 
wirkt, welche  das  Zustandekommen  einer  wirksamen  Erregung  be- 
günstigt oder  richtiger  selbst  eine  schwache  Erregung  ist,  zu  der  sich 
die  gleichartigen  Veränderungen  durch  die  nächstfolgenden  Reize  sum- 
miren,  bis  endlich  schliesslich  eine  wirksame  Auslösung  erfolgt.  Dass 
das  Zeitintervall  innerhalb  der  von  Ward  angegebenen  Grenzen 
gleichgiltig  ist,  würde  darauf  hinweisen,  dass  die  durch  eine  Reizung 
hervorgerufene  Veränderung  im  Laufe  von  0,4  See.  merklich  die- 
selbe Grösse  behält.  Im  Princip  unterscheiden  sich  diese  centralen 
Summationswirkungen  in  keiner  Weise  von  denen,  welche  unter  Um- 
ständen in  peripheren  Organen  hervortreten,  und  nur  gradweise  zeich- 
nen sich  die  gangliösen  Elemente  vor  Muskeln,  Drüsenzellen  u.  s.  w.  aus. 

Dies  macht  sich  unter  Umständen  auch  durch  eine  sehr  auffallende 
Nachwirkung  tetanisirender  Reizung  geltend.  So  findet  man  oft,  dass 
nach  Beendigung  einer  längere  Zeit  hindurch  fortgesetzten  tetanisirenden 
Reizung  des  durchschnittenen  Froschrückenmarkes  (in  der  Nähe  des 
Querschnittes)  dieselben  vorher  absolut  unwirksamen  (absteigenden) 
Oeffnungsströme  mächtige  Zuckungen  auslösen,  welche  Wirkung  erst 
allmählich  innerhalb  eines  Zeitraumes  von  mehreren  Secunden  abklingt 
(Fig.  170).  Diese  Erscheinung  steht  offenbar  in  nächster  Beziehung  zu  den 
von  Exner  als  „Bahnung"  im  Gegensatz  zur  „Hemmung"  bezeichneten 
Wechselwirkungen  der  Erregungen  im  Centralnervensystem.  Wenn  es 
sich,    was   kaum  zu  bezweifeln  sein  dürfte,   hier  im  Wesentlichen  um 


534 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 


Erregbarkeitsveränderungen  der  übertragenden  Elemente  der  grauen 
Substanz  des  Lendenmarkes  handelt,  so  waren  analoge  Erscheinungen 
der  „Bahnung"  auch  in  dem  Falle  zu  erwarten,  wenn  der  modi- 
ücirende  und  der  Prüfungsreiz  nacheinander  an  den  beiden  verschie- 
denen Polen  des  Reflexcentrums  einwirken,  so  dass  im  einen  Falle 
die  directe  Erregbarkeit  der  motorischen  Rückenmarksfasern  infolge 
eines  vorhergehenden,  durch  Reizung  des  centralen  Ischiadicusstumpfes 
ausgelösten  Reflextetanus  scheinbar  erhöht,  anderenfalls  aber  die  Reflex- 
function  des  Lendenmarkes  durch  eine  vorhergehende,  tetanisirende 
Reizung  des  Rückenmarkes  begünstigt  werden  würde.  In  der  That 
zeigt  sich  nun,  dass  absteigend  gerichtete,  in  nächster  Nähe  eines 
frischen  Querschnittes  an  der  Ventralfläche  des  Froschrückenmarkes 
einwirkende,  an  und  für  sich  unwirksame,  einzelne  Oeffnungsströme 
starke  Reizwirkungen  entfalten,  wenn  vorher  durch  Reizung  des  cen- 
tralen Ischiadicusstumpfes  ein  länger  anhaltender  Reflextetauus  erzeugt 


Fig.  170.  a — h  unvollkommener  Tetanus  des  Gastrocnemius  vom  Frosch  bei  Reizung 
des  oben  querdurchschnittenen  Rückenmarkes  mit  rasch  sich  folgenden  Inductions- 
schlägen.  Darnach  wirken  auch  einzelne,  vorher  gänzlich  unwirksame  Oeffnungs- 
schläge  stark  erregend,  wenn  sie  derselben  vorher  tetanistrten  Stelle  des  Rücken- 
markes durch  dieselben  Elektroden  zugeleitet  werden. 


wurde,  und  ebenso  gelingt  es  umgekehrt,  vorher  unwirksame  Reflex- 
reize durch  längeres,  unmittelbar  vorhergehendes  Tetanisiren  des 
Rückenmarkes  wirksam  zu  machen  (Biedermann  37). 

Nicht  minderen  Schwierigkeiten  wie  die  Feststellung  der  specifischen 
Erregbarkeit  der  Nerven  begegnet  die  Untersuchung  der  Frage,  ob, 
wie  es  wohl  von  vorneherein  als  das  Wahrscheinlichste  anzunehmen 
sein  dürfte,  der  Ablauf  des  Erregungsprocesses  im  Nerven 
mit  Stoff  verbrauch  verknüpft,  und  in  welchem  Maasse 
dies  der  Fall  ist;  zwei  Wege  sind  hier  denkbar:  man  könnte  ver- 
suchen, direct  etwaige  Veränderungen  der  chemischen  Zu- 
sammensetzung der  Nervensubstanz  infolge  anhaltender 
Erregung  nachzuweisen ,  oder  man  schlägt  den  indirecten  Weg  ein 
und  untersucht  die  Gesetze  der  Ermüdung  (und  Erholung) 
des  Nerven.  Was  zunächst  die  erste  Frage  betriß't,  so  ist  dieselbe 
für  Nerven  noch  viel  schwieriger  zu  entscheiden,  als  für  Muskeln, 
was  theils  in  der  geringen  Masse,  theils  im  Bau  der  Nervenfasern 
seinen  Grund  hat.  Die  einzige  functionelle,  chemische  Veränderung 
der  Nerven,  welche,  wenn  auch  nicht  unbestritten,  auf  Grund  von 
Untersuchungen    behauptet    wird,    ist    die   Reaction.      Unmittelbar 


Die  Nerven  und  ihre  lihysiologisclie  Function.  535 

nachdem  Du  Bois  Reyiuond  die  functionelle  Reactionsänderung 
des  Muskels  entdeckt  hatte,  machte  Funke  (67)  ganz  entsprechende 
Angaben  für  markhaltige  Nerven  und  fand  die  Querschnitte  sowohl 
l^eripherer  Nervenstämme,  wie  besonders  auch  die  leichter  zu  prüfenden 
des  Rückenmarkes  von  curarisirten  Kaninchen  und  Fröschen  neutral, 
eine  gewisse  Zeit  nach  dem  Tode  aber,  sowie  nach  Strychninvergiftung 
sauer.  Beide  Angaben  wurden  von  Heidenhain  (67)  bestritten, 
von  Ranke  (67)  dagegen  bestätigt.  Nach  Gr  s  c  h  e  i  d  1  e  n  u.  E  d  i  n  g  e  r 
(67)  reagirt  die  graue  Substanz  des  Rückenmarkes  und  Gehirns  schon 
im  ganz  frischen  Zustande  sauer,  die  weisse  dagegen  neutral,  auch 
Moleschott  u.  Battistini  linden  die  erstere  immer  stärker  sauer 
als  die  letztere,  und  zwar  sowohl  während  der  Ruhe,  wie  nach  starker 
Erregung.  In  directem  Widerspruch  hiermit  behauptet  Langen  dorff 
(67),  dass  das  Centralnervensystem  des  Frosches  als  Ganzes  normaler 
Weise  alkalisch  reagirt,  und  dass  das  Gleiche  auch  hinsichtlich  der 
lebenden  Grosshirnrinde  von  Kaninchen  oder  Meerschweinchen  gilt. 
Sowohl  durch  Erstickung,  wie  Anämie  schlägt  aber  die  Reaction  sehr 
rasch  in  die  saure  um.  Die  auffallenden  Widersprüche  dieser  Angaben 
erklären  sich  zum  grossen  Theil  dadurch,  dass  ganz  vorwiegend  die 
so  ausserordentlich  leicht  zersetzliche  gangliöse  Substanz  der  Nerven- 
centren  geprüft  wurde,  deren  Reaction  sich  dementsprechend  voraus- 
sichtlich ungemein  rasch  ändern  wird.  In  der  That  beobachtete 
Pflüger  selbst  nach  möglichst  beschleunigter  Durchspülung  des  Gehirns 
mit  eiskalter,  physiologischer  Kochsalzlösung  eine  rasch  zunehmende 
postmortale  Säuerung  der  grauen  Substanz.  Bei  der  vollkommenen 
Verschiedenheit  der  Lebensbedingungen  von  Nervenzellen  und  -Fasern 
kann  es  daher  auch  nicht  überraschen,  den  Stoffverbrauch  der  beiden 
wesentlichsten  Structurelemente  des  Nervensystems  gänzlich  verschieden 
zu  finden.  In  keinem  Falle  aber  sind  die  Befunde  an  gangliösen 
Theilen  irgend  maassgebend  für  das  Verhalten  der  Nervenfasern. 
Hier  dürfte  es  kaum  zweckmässig  sein,  wie  es  bisher  wohl  ausschliess- 
lich geschehen  ist,  markhaltige  Nerven  zur  Prüfung  einer  even- 
tuellen Reactionsänderung  zu  benützen,  da  es  ja  wohl  nur  auf  die 
Substanz  des  Axencylinders  als  des  physiologisch  wesentlichsten  Be- 
standtheils  jeder  Nervenfaser  ankommt.  Es  wäre  leicht  möglich,  dass 
die  beim  Erregungs-  und  Leitungsvorgang  wohl  kaum  direct  betheiligten 
Markscheiden  am  Querschnitt  eine  eventuelle  Reactionsänderung  des 
Axencylinders  verdeckten. 

Ebensowenig,  wie  sich  mit  Sicherheit  chemische  Veränderungen 
der  Nervenfasern  bei  und  infolge  der  Erregung  nachweisen  lassen, 
ist  es  gelungen,  thermische  Vorgänge  festzustellen.  Weder 
Helmholtz  noch  Heidenhain  vermochten  ungeachtet  der  grossen 
Empfindlichkeit  der  angewendeten  Methoden  ein  dem  Muskel  analoges 
Verhalten  peripherer  Nervenstämme  zu  constatiren,  während  allerdings 
Schiff  positive  Resultate  verzeichnet  (69).  Auch  hier  wird  man 
zwischen  der  gangliösen  Substanz  der  Centralorgane  und  den  Nerven- 
fasern an  sich  unterscheiden  müssen  und  in  Uebereinstimmung  mit 
der  unzweifelhaften  Verschiedenheit  des  Chemismus  auch  Unterschiede 
im  thermischen  Verhalten  erwarten  dürfen. 

Bei  dem  gänzlichen  Mangel  an  hinreichend  begründeten  Thatsachen 
betreffs  des  Stoffwechsels  der  Nervenfasern  ist  man  bis  auf  Weiteres 
genöthigt,  auf  gewisse  Wahrscheinlichkeiten  hinzuweisen.  Der  functio- 
nelle Umsatz  ist  aber  unter  allen  Umständen  (von  der  grauen  Substanz 


536  Diß  Nerven  und  ihre  physiologische  Function. 

der  Centren  abgesehen)  höchst  geringfügig,  wie  unter  Anderem  auch 
die  geringe  Versorgung  mit  Blut,  sowie  die  aussergewöhn- 
liche  Lebenszähigkeit  wenigstens  der  markhaltigen  Nervenfasern 
beweist.  In  gleichem  Sinne  sprechen  nun  auch  die  Untersuchungen 
über  E  r  m  ü  d  u  n  g  u  n  d  E  r  h  o  1  u  n  g  der  Nerven,  Hier  liegt  die  Haupt- 
schwierigkeit in  der  relativ  sehr  grossen  Ermüdbarkeit  der  Erfolgs- 
organe (Muskeln,  Ganglienzellen),  an  welchen  ja  allein  die  Reactions- 
fähigkeit,  beziehungsweise  Veränderungen  derselben,  sich  constatiren 
lassen.  Die  Existenz  einer  Nervenermüdung  konnte  in  der  That  lange 
Zeit  nur  aus  unzureichenden  Analogiegründen  vermuthet  werden,  denn 
alle  Erfahrungen  über  Ermüdung  des  Gehirns,  der  Retina  u.  s.  w. 
sagten  über  das  Verhalten  der  Nervenfasern  selbst  nichts  aus. 
Bernstein  (70)  versuchte  zuerst  am  Nerv-Muskel-Präparat  eine  Er- 
müdung des  anhaltend  gereizten  Nerven  nachzuweisen. 

Will  man  die  Wirkung  lang  andauernder  Reizung  einer  Nerven- 
stelle auf  die  Erregbarkeit  derselben  untersuchen,  so  kommt  offenbar 
Alles  darauf  an,  den  Reiz  während  des  grössten  Theiles  der  Zeit  der 
Erregung  vom  Erfolgsorgan  (Muskel)  abzublenden.  Bernstein  er- 
reichte dies,  indem  er  sich  des  Kunstgriffs  bediente,  einen  constanten 
Strom  durch  eine  Nervenstrecke  zwischen  der  gereizten  Stelle  und 
dem  Muskel  hindurchfliessen  zu  lassen.  Wie  später  gezeigt  werden 
wird,  kann  hierdurch  unter  Umständen  die  Leitungsfähigkeit  örtlich 
ohne  dauernde  Schädigung  derselben  aufgehoben  werden.  Aus  dem 
Verhalten  des  Muskels  nach  Oeffnung  des  absperrenden  Stromes  schloss 
Bernstein  auf  den  Zustand  der  mit  Inductionsströmen  gereizten  Nerven- 
stelle. Reagirte  der  Muskel  nicht  mehr  auf  den  am  freien  Nervenende 
fortwirkenden  Reiz,  so  nahm  Bernstein  eine  locale  Ermüdung  an  und 
fand,  dass  diese  in  einer  Zeit  von  5 — 15  Min.  eintrete.  Die  schädigende 
Wirkung  des  längere  Zeit  geschlossenen  Kettenstromes  suchte  später 
We  d  e  n  s  k  i  dadurch  zu  vermeiden,  dass  er  zunächst  einen  starken  auf- 
oder  absteigenden  Kettenstrom  für  kurze  Zeit  schloss,  sodass  die  be- 
treffende Nervenstrecke  leitungsunfähig  wurde  (70).  Es  genügten  dann 
sehr  schwache  Ströme,  um  diesen  Zustand  zu  erhalten.  Bei  Oeffnung 
derselben  erhält  der  Nerv  fast  sofort  seine  Leitungsfähigkeit  wieder. 
Unter  diesen  Umständen  konnte  Wedenski  selbst  nach  einer  Reiz- 
dauer von  6  Stunden  keine  Ermüdung  des  Nerven  an  der  Reizstelle 
nachweisen.  Maschek  (70),  welcher  diese  Resultate  Wedenski 's 
bestätigte,  gelang  es,  die  Versuche  bis  auf  12  Stunden  auszudehnen, 
ohne  dass  eine  merkliche  Ermüdung  eintrat.  Auch  mittels  localer 
Aethernarkose ,  die  sich  bekanntlich  jederzeit  rasch  wieder  aufheben 
lässt,  konnte  Maschek  zeigen,  dass  eine  viele  Stunden  fortgesetzte 
dauernde  Reizung  keine  merkliche  Ermüdung  der  Reizstelle  selbst 
bewirkt.  Mit  Hülfe  der  Curare  Vergiftung,  deren  Folgen  sich  allmählich 
wieder  verlieren,  gelang  auch  Bowditch  (70)  derselbe  Nachweis 
beim  Warmblüter  (Katze).  (Vergl.  auch  Szana  70.)  „W^enn  die 
volle  Wirkung  des  Curare,  nachdem  sie  3 — 4  Stunden  hindurch  be- 
standen hatte,  nachliess,  so  wirkten  auch  die  Inductionsströme  wieder, 
welche  von  der  Einführung  des  Giftes  an  ununterbrochen  den  peripheren 
Stumpf  des  N.  ischiadicus  durchsetzt  hatten." 

Die  Erfahrung,  dass  der  Nerv,  ohne  merklich  zu  ermüden, 
viele  Stunden  hindurch  gereizt  werden  kann,  lässt  wie  Bowditch 
bemerkt,  die  Vorstellung  aufkommen,  dass  die  Erregung  sich  ohne 
jeglichen    Verbrauch    an    Stoffen    fortpflanzen    könne.      Doch 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  537 

wird  es  mit  Rücksicht  auf  später  mitzutheilende  Thatsachen  wohl 
richtiger  sein,  vorläufig  daran  festzuhalten,  dass  ein,  wenn  auch  für 
unsere  Mittel  unmessbar  geringer  Kraftaufwand  aus  der  Nerven  Substanz 
selbst  bei  Fortpflanzung  der  Erregung  bestritten  wird. 


LITERATUR. 

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17 


19, 


22.  { 


28.  S.  Exner.  .   ^^^  ^^.^  ^^^^    ^g^^ 

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Biedermann  ,IElektrophy  siologie.  35 


37 


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Piotrowsky,  Joum.  of  Physiol.    XIV. 
57.  J.  Pawlow,  Pflügers  Arch.     37.  Bd. 

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59.  P.  Grützner,  Pflügers  Arch.     50.  Bd.     p.  230. 

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62.  Piotrowsky,  Pflügers  Arch.     55.  Bd.     p.  284. 

63.  Munk,  Arch.  f.  Anat.  u.  Phys.     1862.     p.  12.     Anmerkung. 


67 


Die  Nerven  und  ihre  physiologische  Function.  539 

64.  Setsehenow,  Ueber  d.  elektr.  u.  ehem.  Reizung  der  sensiblen  Kückenmarksnerven 

des  Frosches.     Graz.     1868.     p.  14. 

65.  A.  Fiek,  Pflügers  Archiv.     III.     1870.     p.  329. 

66.  A.  Ward,  Du  Bois  Arch.     1880.     p.  72. 
Funke,  Arch.  f.  Anat.  u.  Physiol.     1859.     p.  825. 

,  Chi.  f.  med.  Wiss.  1869.     p.  721. 

J.  Eanke,  Cbl.  f.  d.  med.  Wiss.     1868.     p.  769  und  1869.     p.  97. 

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,  Cbl.  f.  med.  Wiss.     1868.     p.  833. 

Gseheidlen,  Pflügers  Arch.     VIII.     1874.    p.  171. 

Liebreich,  Tagebl.  d.  Naturf.  Vers,  zu  Frankfurt.     1867.     p.  73. 

Ii.  Edinger,  Pflügers  Arch.     29.  Bd.     p.  247. 

Moleschott   und   A.  Battistini,   M.'s.   Untersuchungen   z.    Naturlehre.     XIII. 

p.  275.     Archive«  italiennes.     VIII.     p.  90. 
LangendorflF,  Neurolog.  Cbl.     1885.     Nr.  24. 

68.  E.  Pflüger,  Pflügers  Arch.     X.     1875.     p.  312. 

69.  M.   Schiff",   Pflügers   Arch.     IV.     1871.     p.  230    und   Arch.   d.   physiol.   norm,   et 

pathol.     1869.    p.  157,  330  und  1870. 
Bernstein,  Pflügers  Arch.     XV.     p.  289. 
Wedenskii,  Cbl.  f.  d.  med.  Wiss.     1884.     Nr.  5. 

70.  {   Maschek,     Sitzungsber.  d.  Wiener  Akademie.     XCV.     III.  Abth.     1887. 
Bowditch,  Du  Bois  Arch,     1890.     p.  505. 
Szana,  Du  Bois  Arch.     1891.     p.  315. 


35  = 


H.    Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


Unter  allen  zu  Gebote  stehenden  künstlichen  Reizmitteln  bean- 
sprucht aus  bekannten  Gründen  auch  hier  wieder  der  elektrische 
Strom  in  erster  Linie  unser  Interesse.  Seit  alter  Zeit  ist  gerade 
auf  diesem  Forschungsgebiet  eine  ausserordentlich  grosse  Reihe  von 
Erfahrungen  gesammelt  worden,  deren  Erörterung  zu  den  interessantesten 
Capiteln  der  Physiologie  gehört. 

Gleich  beim  Betreten  dieses  Gebietes,  dessen  Geschichte  von 
D  u  Bois  Reymo  nd  in  unübertrefflicher  Weise  geschildert  wurde  (1), 
drängt  sich  wieder  die  Thatsache  auf,  dass,  wie  der  quergestreifte 
Muskel,  so  auch  der  zugehörige  motorische  Nerv,  ja  in  noch  höherem 
Maasse  als  jener,  in  der  Regel  scheinbar  nur  im  Momente 
des  Entstehens,  bez.  Verschwinden s  eines  Kettenstromes 
erregt  wird.  Und  in  der  That  wurde  das  allgemeine  Gesetz 
der  elektrischen  Nervenerregung  von  Du  Bois  auch  seiner- 
zeit nur  als  für  die  indirecte  Muskelreizung  geltend  aufgestellt 
und  erst  später  auch  auf  die  directe  Muskelreizung  ausgedehnt.  Das 
Gesetz  lautet  in  seiner  ursprünglichen  Fassung  bekanntlich  folgender- 
maassen:  „Nicht  der  absolute  Werth  der  Stromdichtigkeit  in  jedem 
Augenblicke  ist  es,  auf  den  der  Bewegungsnerv  mit  Zuckung  des  zu- 
gehörigen Muskels  antwortet,  sondern  die  Veränderung  dieses  Werthes 
von  einem  Augenblicke  zum  andern,  und  zwar  ist  die  Anregung  zur 
Bewegung,  die  diesen  Veränderungen  folgt,  um  so  bedeutender,  je 
schneller  sie  bei  gleicher  Grösse  vor  sich  gingen,  oder  je  grösser  sie 
in  der  Zeiteinheit  waren." 

Brückt  man  einen  motorischen  Nerven,  der  mit  dem  zugehörigen 
Muskel  in  Verbindung  steht,  über  unpolarisirbare  Elektroden  und 
reizt  durch  Schliessung  oder  OefFnung  eines  genügend  starken  Ketten- 
stromes, so  sieht  man  gewöhnlich  den  Muskel  bei  der  Schliessung  und 
oft  auch  bei  der  OefFnung  eine  einmalige  rasche  Zuckung  vollführen, 
worauf  er  vollkommen  in  seine  Ruhelage  zurückkehrt.  Auch  die 
schärfste  Beobachtung  vermag  keine  dauernde  Verkürzung  desselben 
während  der  Schliessungsdauer  des  Stromes  oder  nach  der  Oeffnung 
zu   constatiren.     Bekanntlich   verhält   sich   der   direct  gereizte  Muskel 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  541 

insofern  anders,  als  er  unter  Umständen  auch  während  der  Dauer 
der  Stromschliessung  und  einige  Zeit  nach  der  Oeffnung  merklich, 
wenngleich  nur  local,  verkürzt  bleibt  (Schliessungsdauercontraction, 
Oeffnungsdauercontraction).  Unter  gewissen,  gleich  näher  zu  erörternden 
Umständen  tritt  nun  aber  auch  bei  indirecter  Muskelreizung  eine  sicht- 
bare Dauerwirkung  des  Stromes  ein,  und  zwar  sowohl  während  der 
Schliessung,  Avie  nach  der  Oeffnung.  Dieselbe  stellt  sich  dar  als  eine 
scheinbar  ganz  stetige,  oder  wohl  auch  von  einzelnen  Zuckungen 
unterbrochene,  mehr  oder  weniger  lang  anhaltende  Contraction  des 
vom  Nerven  aus  gereizten  Muskels,  die  man  wegen  ihrer  Aehnlichkeit 
mit  der  durch  unterbrochene,  rhythmische  Reizung  bewirkten,  tetanischen 
Verkürzungsform  als  Schliessungstetanus,  bezw.  Oeffnungs- 
tetanus  zu  bezeichnen  pflegt.  Dass  ein  indirect  gereizter  Muskel 
nach  längerer  Schliessungsdauer  eines  starken  Kettenstromes  bei  Oeffnung 
des  Kreises  bisweilen  in  eine  lang  anhaltende  tetanische  Erregung 
geräth,  wurde  zuerst  von  Ritter  (1798)  beobachtet,  und  man  be- 
zeichnet daher  diese  Erscheinung  nach  ihrem  Entdecker  als  den  soge- 
nannten „Ritter'schen  Oeffnungs tetanus".  Wir  werden  uns 
später  noch  mehrfach  mit  demselben  zu  beschäftigen  haben,  vorläufig 
genügt  es,  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Thatsache  zu  lenken,  dass 
der  Nerv  gerade  wie  der  Muskel  nach  Oeffnung  eines 
Kettenstromes  unter  Umständen  in  einen  länger  an- 
dauernden Erregungszustand  geräth,  so  dass  es  naheliegt, 
den  Oeffnungstetanus  und  die  Oeffnungsdauercontraction  als  gleich- 
werthige  Erscheinungen  anzusehen.  Eine  solche  Dauererregung  kommt 
nun,  wie  zuerst  Pflüg  er  fand  (2),  auch  während  der  Schliessungs- 
zeit des  Stromes  bisweilen  zu  Stande,  und  zwar  unter  Umständen  in 
einer  ganz  gesetzmässigen  Weise.  Pflüg  er  sah  diese  „tetanisirende" 
Wirkung  schon  bei  äusserst  schwachen  Strömen  beginnen,  mit  fernerem 
Wachsen  der  Intensität  eine  Zeit  lang  zunehmen,  von  einer  gewissen 
Grenze  ab  aber  wieder  erlöschen.  Unter  den  günstigsten  Umständen, 
d.  h.  bei  höchster  Erregbarkeit  des  Nerven,  tritt  alaer  Schliessungs- 
tetanus bei  jeder  beliebigen,  überhaupt  wirksamen  Stromstärke  ein. 
Dies  ist  insbesondere  der  Fall  bei  Fröschen,  die  längere  Zeit  vor  Her- 
stellung der  Präparate  einer  niederen  Temperatur  ausgesetzt  waren 
(bei  „Kaltfröschen"). 

Die  ausserordentliche  Reizbarkeit  solcher  Präparate  ist  eine  allen 
Physiologen  bekannte  Thatsache,  und  es  wird  sich  noch  oft  Grelegen- 
heit  finden,  auf  dieselbe  hinzuweisen.  Im  Allgemeinen  lässt  sich  sagen, 
dass  die  Nerven  jedes  Frosches,  der  in  einerTemperatur 
unter  10 '^  C.  lebt,  in  kürzerer  oder  längerer  Zeit  die 
Fähigkeit  gewinnen,  durch  den  Ketten  ström  tetanisch 
erregt  zu  werden   (v.  Frey,  3,  Fig.  171). 

Einen  ähnlichen  Grad  der  Erregbarkeit  erlangen  die  Nerven,  wie 
Engelmann  (4)  zeigte,  auch  bei  höherer  Temperatur,  wenn  sie  sich 
in  einem  gewissen  Stadium  der  Vertrocknung  (durch  Verdunstung  oder 
Behandlung  mit  NaCl)  befinden.  In  beiden  Fällen  tritt  früher  oder 
später  eine  spontane  Erregung  der  Nervenfasern  ein ,  welche  sich 
zunächst  durch  fibrilläre  Zuckungen,  dann  durch  tetanische  Contrac- 
tionen  des  ganzen  Muskels  verräth.  ( Ve rtrocknungs-  und  Koch- 
salztetanus.) Prüft  man  von  Zeit  zu  Zeit  mit  derselben  Strom- 
stärke die  Erregbarkeit  eines  solchen  Nerven,  so  findet  man  dieselbe 
immer  zunehmend,  bis  endlich  unmittelbar  vor  dem  Eintritt  der  Ver- 


542  ^i^  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

trocknungskrämpfe  jede  Schliessung  (bezw.  Oeffnung)  kräftige,  aber 
meist  wenig  regelmässige  Tetani  auslöst.  Dagegen  ist  der  Schliessungs- 
tetanus bei  Reizung  von  Kaltnerven  in  der  Regel  ganz  ruhig  und 
gleichmässig,  und  es  rindet  sich,  wenn  man  eine  solche  Curve  mit  einer 
wahren,  durch  intermittirende  Reizung  gewonnenen  Tetanus-Curve 
vergleicht,  in  der  Regel  kein  merklicher  Unterschied.  Die  Vermuthung, 
dass  der  Schliessungs-  bezw.  OefFnungs-Tetanus  durch  eine  gewisse 
ab  n  orme  Beschaffenheit  des  Nerven  bedingt  Averde,  wird  vollkommen 
hinfällig  durch  die  Erfahrung,  dass  die  motorischen  Nerven 
anderer  Thiere  überhaupt  nur  und  unter  allen  Umständen 
tetani  seh  reagiren.  Dies  gilt  nach  den  Erfahrungen  von  Eck- 
hardt (5)  vor  Allem  von  den  Nerven  der  Wa  r  m  b  1  ü  t  e  r ,  wenn 
dieselben  mit  nicht  allzu  schwachen  absteigenden  Strömen  gereizt 
werden,  sowie,  nach  meinen  eigenen  Erfahrungen,  auch  von  den 
marklosen  motorischen  Nerven  mancher  Wirbellosen 
(Scheerennerv  des  Krebses).     In  beiden  Fällen   bildet   der  S  c  blies - 


Fig.  171.     Tetanische  Contractionscurve  des  Gastrocnemius  bei  Schliessung  eines  Ketten- 
stromes (Schliessungstetanus).    Präparat  von  einem  Kaltfrosch.    (Nach  M.  v.  Frey.) 

sungstetanus  Regel  und  nicht  Ausnahme ,  und  es  hat  daher 
das  Du  Bois'sche  allgemeine  Gesetz  der  Erregung  für 
die  indirecte  Muskelreizung  ebensowenig  Geltung  wie 
für  die  directe;  wir  müssen  vielmehr  behaupten,  dass,  obschon 
die  sichtbaren  Folgen  der  fortgeleiteten  Erregung  vor  allem  ab- 
hängen von  den  Schwankungen  der  Dichte  des  den  Nerven  durch- 
fliessenden  Stromes,  dieser  doch  während  seiner  ganzen  Dauer 
den  Vorgang  der  Erregung  örtlich  auslöst,  und  dass  es  von  anderen 
Umständen  abhängt,  ob  sich  diese  Dauererregung  am  Erfolgsorgane 
(Muskel)  ausprägt  oder  nicht.  Ganz  dasselbe  gilt  natürlich  auch  von 
dem  Erregungszustande  nach  Oeffnung  eines  Stromes.  Dass  auch 
dieser  unter  Umständen  ein  dauernder  sein  kann,  beweist  unmittelbar 
der  Ritter'sche  Tetanus. 

Bei  der  Gleichheit  der  Erscheinung  des  Schliessungs-  bezw. 
Oeffnungstetanus  und  des  durch  discontinuirliche  Reizung  erzeugten 
w  a  h  r  e  n  Tetanus  erhebt  sich  naturgemäss  die  Frage,  ob  es  sich  auch 
dort  um  das  Resultat  einer  Verschmelzung  aus  einzelnen,  rasch  auf- 
einander folgenden  Reizanstössen  handelt,  ob  mit  anderen  Worten  der 
stetige,  continuirliche  Reiz  während  der  Schliessungsdauer  bezw.  nach 
der  Oeffnung  unter  den  erwähnten  Umständen  zu  einer  discontinuir- 
lichen  rhythmischen  Erregung  des  Nerven  führt.    Die  Frage  lautet  also: 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  543 

Ist  der  Schliessungstetanus  bezw.  Oeffnungstetanus  ein 
wahrer,  echter  Tetanus  oder  nicht?  Wir  haben  die  Schwierig- 
keiten der  Beantwortung  in  ähnlichen  Fällen  bereits  kennen  gelernt, 
als  es  sich  darum  handelte,  zu  entscheiden,  ob  die  tetanische  Con- 
traction  des  intermittirend  direct  oder  vom  Nerven  aus  gereizten  Muskels 
ein  wirklich  stetiger  Vorgang  ist,  oder  ob  während  desselben  discon- 
tinuirliche,  unsichtbare  Veränderungen  in  demselben  ablaufen.  Der 
Gesichtssinn  giebt  hierüber  keinen  unmittelbaren  Aufschluss.  Zwar 
können  wir  aus  dem  Umstände,  dass  zwischen  unregelmässigen,  durch 
einzelne  Zuckungen  unterbrochenen  (klonischen)  und  vollkommen 
stetigen  (glatten)  Tetani  alle  denkbaren  Uebergänge  bestehen,  welche 
deutlich  aus  einer  um  so  grösseren  Zahl  von  Einzelzuckungen 
in  der  Zeiteinheit  zusammengesetzt  erscheinen,  je  ähnlicher  sie  dem 
ruhigen  Tetanus  werden,  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  schliessen, 
dass  auch  der  letztere  aus  verschmolzenen  Zuckungen  besteht:  Mit 
demselben  Rechte  pflegt  man  ja  auch  aus  dem  Zittern ,  mit  welchem 
ein  langer  willkürlicher  Tetanus  endet,  auf  seine  discontinuirliche 
Natur  zu  schliessen.  Indessen  sicher  entschieden  ist  die  Frage  hier- 
durch nicht. 

Nebst  der  Form  der  Muskelcurve  kann  über  die  Natur  einer 
andauernden  Verkürzung  noch  Auskunft  ertheilen  der  M  u  s  k  e  1 1  o  n 
und  das  elektrische  Verhalten  des  thätigen  Muskels.  In 
Bezug  auf  den  ersteren  Punkt  ist  nun  die  Untersuchung  bei  einer  so 
kleinen  Masse  wie  einem  Froschmuskel  begreiflicherweise  eine  recht 
schwierige  (an  Warmblütermuskeln  sind  solche  Versuche  noch  nicht 
ausgeführt).  In  der  That  sind  denn  auch  alle  diesbezüglichen  Be- 
strebungen, die  etwa  vorhandenen  Schwingungen  auf  die  Platte  eines 
Mikrophons,  oder  nach  Helmholtz's  Vorgang  auf  mitschwingende 
Federn  zu  übertragen,  resultatlos  geblieben  für  die  Zeit,  während  deren 
ein  Froschmuskel  im  Schliessungstetanus  verharrte. 

Dagegen  haben  Untersuchungen  mit  dem  Capillarelektrometer 
über  das  elektrische  Verhalten  des  Muskels  unter  diesen  Umständen 
bestimmtere  Aufschlüsse  gegeben  (M.  v.  Frey,  3)  und  zu  dem  Resul- 
tate geführt,  dass  der  Schliessungstetanus  in  der  That  discon- 
tinuirlichen,  rhythmischen  Anstössen  (10 — 15  p.  See.)  seine  Entstehung 
verdankt,  und  dass  demnach  der  Nerv  wie  der  Muskel  unter 
gewissen  Bedingungen  durch  den  in  constauter  Dichte 
fliessenden  Strom  dauernd  rhythmisch  erregt  wird. 
(Die  Unfähigkeit  des  Schliessungs-  und  Oeffnungstetanus,  ein  zweites 
Nerv-Muskelpräparat  in  secundären  Tetanus  zu  versetzen ,  wovon  be- 
reits im  ersten  Theil  die  Rede  war,  kann  hiergegen  natürlich  nichts 
beweisen.)  Da  der  Herzmuskel  und  der  Ureter  bekanntlich  ein  ganz 
analoges  Verhalten  erkennen  lassen,  so  scheint  es  sich  hier  um  ein 
allgemeines,  wahrscheinlich  für  alle  irritablen  Substanzen  geltendes 
Gesetz  zu  handeln.  Die  zeitlichen  Verhältnisse,  d.  i.  die  Aufeinander- 
folge der  einzelnen  Erregungsimpulse  ist  allerdings  in  den  erwähnten 
Beispielen  sehr  verschieden  und  zeigt  eine  gradweise  Abstufung.  Im 
Gegensatze  zu  Du  Bois  allgemeinem  Erregungsgesetze  müssen  wir 
daher  (wenigstens  örtlich)  die  dauernde  Erregung  durch  den  in 
gleicher  Dichte  fliessenden  elektrischen  Strom  als  Regel  aufstellen,  und 
haben  vielmehr  zu  untersuchen,  weshalb  sich  dieselbe  nicht  immer 
auch  fortpflanzt,  und  wenn,  weshalb  sie  sich  nicht  immer  auch  am 
Erfolgsorgan  in  stetiger  Weise  ausprägt.    Dass  hierbei  die  Beschafl*en- 


544 


Die  elektrische  Errewunij  der  Nerven. 


lieit  des  letzteren  in  erster  Linie  mit  in  Betracht  kommt,  kann  keinem 
Zweifel  unterworfen  sein.  Dies  zeigt  sich  vor  Allem  auch  an  den 
centripetalleitenden  Nerven. 

Von  diesen  wussten  schon  die  älteren  Galvaniker,  dass  sie  unter  der 
Einwirkung  constanter  Ströme  ausser  einer  heftigeren  Schliessungs-  und 
Oeffnungsempfindung  b  e  s  t  ä  n  d  i  g  e  Empfindungen  verursachen,  welche 
bei  genügender  Stromstärke  sich  bis  zur  Unerträglichkeit  steigern  können. 
Dabei  ist  freilich  zu  berücksichtigen,  dass  fast  immer  die  peripheren, 
sensiblen  Endorgane  mitgereizt  werden,  während  nur  ganz  vereinzelte 
Angaben  vorliegen  betreffs  dauernder  Erregung  sensibler  Nerven- 
stämme durch  unmittelbare  Einwirkung  des  Kettenstromes.  Hierher 
gehört  die  schon  Volta  bekannte  Erfahrung  einer  excentri.schen  Aus- 
strahlung des  Schmerzes,  wenn  und  solange  die  Elektroden  unterhalb 
des  Ellbogengelenkes  aufgesetzt  werden.  Sowohl  aufsteigende  wie  ab- 
steigende Ströme  erwiesen  sich  ferner  Grützner  (6)  während  ihrer 
Dauer  wirksam,  wenn  beim  Hunde  nach  vorgängigem  Curarisiren  und 
einseitiger  Vagusdurchschneidung  der  centrale  Ischiadicusstumpf  gereizt 


Fig.   172.     Athmungscurven  (Kaninchen).     Einschleichen  des  Vagus  in   die  Kette,    auf- 
steigender  Strom.     1  Dan.     Bei   S   Schliessung,  bei    Oe    Oeifnung   des    Stromes.     Das 
Vorrücken   des   Rheochordschiebers   beginnt  bei   a  und  endet  bei  b.     (Nach  Langen- 
dorff  und  R.  Oldag.) 


wurde.  Es  trat  bei  und  während  der  Schliessung  eine  beträchtliche 
Blutdrucksteigerung  mit  gleichzeitiger  Pulsbeschleunigung  auf,  welche 
nach  Schluss  oder  schon  am  Ende  der  Reizung  in  das  Gegentheil, 
d.  h.  Verlangsamung  des  Pulses,  umschlägt.  Aehnliche  Erfolge  sah 
Grützner  auch  bei  entsprechender  Reizung  des  centralen  Vagus- 
stumpfes, wobei  sich  ausserdem  noch  Wirkungen  auf  die  Athmung 
zeigten,  die  stets  in  einem  Stillstand  des  Zwerchfells  in  Exspiration 
oder  verlangsamter  Athmung  mit  exspiratorischen  Pausen  bestanden. 
Neuerdings  wurden  diese  Versuche  von  Langen dorff  und  R.  Oldag 
(7)  bestätigt  und  erweitert.  Sie  bedienten  sich  als  ein  Mittel,  um  die 
Dauerwirkung  des  Stroms  sicher  darzuthun ,  des  Einschleichens  des 
Nerven  in  die  Kette,  und  fanden  dasselbe  in  der  That  wirksam,  indem 
bei  aufsteigender  Stromesrichtung  eine  exspiratorische  Verlangsamung 
resp.  Stillstand  der  Athmung  eintrat,  obschon  ein  im  Kreise  befindlicher 
Froschschenkei  nicht  ein  einziges  Mal  zuckte  (Fig.  172). 

Dass  der  Kettenstrom  auch  secretorische  Nerven  dauernd  zu 
erregen  vermag,  konnte  ich  selbst  (8)  an  der  Froschzunge  durch  die 
Veränderungen  des  Schleimhautstromes  bei  Reizung  des  Glossopharyn- 


st  s) 


^"^^^MAA/v^jyvvx 


Fiff.  173. 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  545 

geus  sicher  constatiren.  Beim  Herzvagus  fand  Grützner  lediglich 
die  früheren  Angaben  von  v.  Bezold  (Unters,  über  die  Innerv.  des 
Herzens.  Leipzig  1863.  p.  72)  bestätigt,  indem  bei  Einwirkung  eines 
Stromes  von  12  Pincus-Elementen  wesentlich  nur  die  Schliessung  und 
Oeffnung  sich  wirksam  erwiesen,  wie  die  untenstehende  Curve  zeigt 
(Fig.  173). 

Dass  der  elektrische  Strom  nicht  nur  im  Augenblicke  des  Ent- 
stehens (bez.  Verschwindens)  oder  bei  Dichtigkeits-Schwankungen, 
sondern  auch  während  seiner  Dauer  erregend  wirkt,  geht  übrigens, 
ganz  abgesehen  von  dem  eben  Mitgetheilten,  auch  schon  aus  der  That- 
sache  hervor,  dass  bei  einer  gegebenen  und  unveränderlichen  Strom- 
stärke eine  Schliessungszuckung  nur  dann  zu  Stande 
kommt,  wenn  die  Stromesdauer  eine  gewisse  Grenze 
überschreitet,  wie  zuerst  A.  F i c k  feststellte.  Wir  haben  die 
gleiche  Thatsache  auch  beim  Muskel,  insbesondere  dem  glatten,  wo  sie 
leicht  zu  constatiren  ist,  kennen  gelernt.  Schwieriger  gelingt  der 
Nachweis  beim  Nerven,  und  zwar  aus  dem  Grunde,  weil  die  Zeitwerthe, 
um  die  es  sich  hier  handelt, 
ausserordentlich  klein  sind. 
Während  z.  B.  beim  glatten 
Muschelschliessmuskel  das  Ma- 
ximum der  bei  einer  gegebenen 
Stromstärke  möglichen  Wir- 
kung selbst  bei  einer  Strom- 
dauer von  ^/4 — ^li  See.  noch 
nicht  erreicht  wird,  finden  wir  dasselbe  bei  Nervenreizung  nach  König 
(10)  stets  schon  bei  einer  Schliessungsdauer  von  0,017 — 0,018  See. 
erreicht.  Wir  haben  also  unter  allen  Umständen  mit  der  Thatsache 
zu  rechnen,  dass  Ströme  von  sehr  kurzer  Dauer  bei  ihrer 
Einwirkung  aufmarkhaltige,  motorische  Nerven  keine 
Muskelzuckung  hervorzubringen  vermögen.  Mit  wachsen- 
der Schliessungsdauer  über  eine  gewisse  Grenze  hinaus  wachsen  dann 
auch  die  Zuckungen  und  erreichen  bei  einer  immer  noch  sehr  ge- 
ringen Stromdauer  ein  Maximum,  das  weder  durch  Verlängerung  der 
Stromdauer,  noch  auch  durch  Vergrösserung  der  Stromstärke  zu 
steigern  ist,  soferne  von  vorneherein  eine  erhebliche  Stromesintensität 
angewendet  wurde. 

Wenn  man  die  Empfindlichkeit  der  verschiedenen  irritablen  Sub- 
stanzen für  Ströme  von  sehr  kurzer  Dauer  untereinander  vergleicht,  so 
findet  man  dieselbe  am  geringsten  an  dem  nicht  fibrillär  differenzir- 
ten  Plasma  der  Protisten  und  an  den  glatten  Muskelfibrillen ,  am 
grössten  bei  markhaltigen  Nervenfasern ;  in  der  Mitte  stehen  der  Herz- 
muskel und  die  quergestreiften  Stammesmuskeln.  Sehr  schlagend  lässt 
sich  dies  durch  Versuche  mit  einzelnen  Inductionsschlägen  demonstriren, 
deren  Wirkung  ja  im  Wesentlichen  mit  der  äusserst  kurz  dauernder 
Kettenströme  übereinstimmt.  Während  der  markhaltige  Nerv  quer- 
gestreifter Wirbelthiermuskeln  sich  für  dieselben  ausgezeichnet  empfind- 
lich erweist,  gilt  dies  schon  weniger  für  die  letzteren  selbst  (bes.  im 
curarisirten  Zustande)  und  noch  viel  weniger  für  glatte  Muskelzellen, 
zu  deren  Erregung  durch  einzelne  Inductionsschläge  diese  oft  eine 
ganz  enorme  Intensität  haben  müssen.  Sehr  bemerkenswerth  ist  die 
Thatsache ,  dass  zwischen  markhaltigen  und  marklosen 
Nervenfasern  einganzanaloge 


546  I^ie  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

hinsichtlich  ihrer  Empfindlichkeit  für  einzelne  sehr 
kurz  dauernde  (insbesondere  inducirte)  Ströme  zu  be- 
stehen scheint,  wie  zwischen  quergestreiften  und  glatten 
Muskeln.  Wenigstens  gelingt  es,  an  den  Scheerennerven  des  Krebses 
durch  einzelne  Inductionsschläge  bei  Weitem  nicht  so  leicht  Zuckungen 
auszulösen,  wie  mit  Kettenströmen. 

Wir  haben  jetzt  noch  den  zweiten  Satz  des  Du  Bois' sehen 
allgemeinen  Erregungsgesetzes  zu  prüfen ,  welcher  aussagt ,  dass  eine 
positive  oder  negative  Stromesschwankung  stets  eine  gewisse  Plötzlich- 
keit besitzen  müsse,  um  zu  erregen,  und  dass  unter  sonst  gleichen 
Umständen  die  Erregung  um  so  sicherer  eintritt,  und  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  auch  um  so  stärker  ausfällt,  je  rascher  die  Intensitäts- 
schwankung erfolgt. 

So  sehr  dies  für  den  markhaltigen  Nerven  in  Verbindung  mit 
zuckenden,  quergestreiften  Muskeln  von  Wirbelthieren  richtig  ist,  so 
wenig  handelt  es  sich  auch  hier  um  ein  allgemeines,  für  alle  irritablen 
Substanzen  geltendes  Gesetz.  Nichts  ist  leichter,  als  für  das  gewöhn- 
lich benutzte  Nervmuskelpräparat  vom  Frosch  (das  „physiologische 
Rheoskop")  zu  zeigen,  dass  selbst  sehr  schwache  elektrische  Ströme 
noch  erregend  Avirken,  wenn  sie  sich  nur  hinreichend  schnell  abgleichen, 
wenn  also  die  Intensitätsschwankung  eine  möglichst  steile  ist.  Daher 
kommt  es,  dass  diese  Nerven  so  ausserordentlich  empfindlich  sind, 
selbst  gegen  Spuren  von  Reibungselektrizität,  da  es  sich  hier  eben  um 
Ströme  von  ausserordentlich  steilem  zeitliehen  Verlauf  handelt,  und 
dasselbe  gilt  auch  für  inducirte  Ströme,  die  aus  dem  gleichen  Grunde 
selbst  bei  geringer  Intensität  sehr  kräftige  Erregungswirkungen  zeigen. 
Diese  Eigenthümlichkeit  des  gewöhnlichen  Nervmuskelpräparates,  selbst 
auf  ausserordentlich  schwache  Ströme  noch  zu  reagiren,  wenn  ihre 
Abgleichung  nur  genügend  plötzlich  erfolgt,  macht  das- 
selbe zu  einem  für  den  Physiologen  höchst  werthvollen  Mittel,  um 
derartige  schwache  Ströme  von  raschem  Verlaufe  nachzuweisen  (Actions- 
ströme  von  Muskeln). 

Eine  interessante,  hierhergehörige  Thatsache,  die  ebenfalls  im 
Wesentlichen  auf  dem  Einfluss  der  Steilheit  einer  Stromesschwankung 
auf  deren  erregende  Wirkung  beruht,  ist  die  ungleiche  Wirk- 
samkeit der  Schli  essungs-  und  Oeffnungs schlage  eines 
Inductionsap parates.  Ausnahmslos  zeigt  sich  die  er- 
regende Wi rkung  des  Schliessungsschlages  viel  geringer 
als  die  des  O  effnungs Schlages.  Man  kann  dies  sehr  deutlich 
nachweisen,  wenn  man  die  secundäre  Rolle  von  der  primären  weit 
entfernt.  Es  findet  sich  dann  stets  eine  Lage,  wo  der  Oefi'nungsschlag 
schon  wirksam  ist,  während  der  Schliessungsschlag  nicht  wirkt ;  nähert 
man  hierauf  die  Rollen,  so  wird  auch  der  letztere  Avirksam. 

Da  nun,  wie  sich  mittels  des  Galvanometers  leicht  zeigen  lässt, 
die  Menge  der  sich  abgleichenden  Elektrizität  in  beiden  Momenten 
gleich  ist,  so  dürfte  die  Verschiedenheit  der  physiologischen  Wirkung 
hauptsächlich  im  Unterschied  des  zeitlichen  Verlaufes  der  beiden  Induc- 
tionsströme  begründet  sein,  der  seinerseits  bekanntlich  durch  die  Ent- 
stehung des  Extrastromes  bei  der  Schliessung  des  primären  Kreises 
bedingt  wird.  Da  infolge  dessen  der  inducirende  Strom  in  diesem  letz- 
teren nicht  sofort  seine  volle  Stärke  erreicht,  sondern  nur  allmählich 
ansteigt,  während  er  bei  der  Oeffnung  plötzlich  verschwindet,  muss 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


547 


nothwendig  auch  der  letzterenfalls  inducirte  Strom  steiler  ansteigen^ 
als  bei  der  Schliessung  des  primären  Kreises  (Fig.  174).  Dem  ent- 
spricht es,  dass,  wie  Grützner  bemerkt,  der  Oeffimngsschlag  im 
Telephon  einen  scharfen  Knack,  der  Schliessungsschlag  dagegen  einen 
dumpfen,  matten  Ton  erzeugt. 

Um  die  durch  die  Verschiedenheit  des  zeitlichen  Verlaufes  bedingte 
Verschiedenheit  der  physiologischen  Wirkung  des  Oeffnungs-  und 
Schliessungsschlages  auszugleichen,  was  auch  durch  die  an  den  meisten 
Inductionsapparaten  angebrachte  „Helmholtz'sche  Vorrichtung"  nur  in 
ungenügender  Weise  geschieht,  hat  man  später  versucht,  auf  andere 
Weise  Inductionsströme  zu  erzeugen,  welche  jener  Anforderung  besser 
entsprechen.      So   liess  Hering  (11)    die   secundäre  Spirale   um   eine 


Fig.  174.  Schema  der  Inductionsströme; 
Pi  Abscissenaxe  des  primären  Stromes ; 
S  Abscissenaxe  des  secundären  Stromes. 
A  Anfangs-,  ^  Endströme.  1  Ciirve  der 
Entstehung  des  primären  Stromes  (ver- 
zögert durch  Extracurrent);  3  Oeftnung 
desselben;  2  und  4  entsprechende  secun- 
däre Ströme.  (Nach  Hermann,  Hand- 
buch II.  1.) 


p, 

f' 

A 

3 

E 

, 

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u 

k-; 

^^si»» 

Fig.   176.     (Nach  Grützner.J 


175. 


vertikale  Axe  vor  der  primären ,  von  einem  constanten  Strom  durch- 
flossenen  Rolle  rotiren,  wobei  ganz  gleichartige  Inductionsströme  ent- 
stehen müssen,  da  bei  senkrechter  Stellung  der  Gewinde  die  inducirende 
Wirkung  gleich  Null  ist,  während  zwischendurch  bestimmten  Stellungen 
der  Spiralen  auch  bestimmte  Inductionsströme  entsprechen.  Grützner 
(12)  untersuchte  hierauf  die  physiologische  Wirkung  der  Ströme  einer 
Stöhrer'schen  Maschine,  bei  der  sich  zwei  Drahtspulen  mit  Eisenkernen 
vor  einem  kräftigen  Hufeisenmagneten  drehten. 

Jede  Umdrehung  liefert  hierbei  4  Ströme,  deren  zeitlicher  Ver- 
lauf paarweise  gleich  ist.  Seien  S  und  ^  (Fig.  175)  die  Pole  des  Magneten 
und  /und  11  die  um  die  Axe  A  sich  drehenden  Spulen,  so  wird,  wenn 
sie  sich  aus  dieser  Stellung  um  eine  Vierteldrehung  im  Sinne  des 
Uhrzeigers  bewegt  haben,  und  1  gegenüber  iV  steht,  der  erste  Strom 
allmählich    von  Null  anwachsen.     Entfernt  sich  dann  7  von  iV,    so 


548  I^ie  elektrische  Ei-regimg  der  Nerven. 

schlägt  augenblicklich  der  absteigende  Strom  in  die  entgegengesetzte 
Richtung  um.  Jäh  enstanden  sinkt  er  allmählich  auf  Null  herab,  um 
ebenso  allmählich,  wenn  die  Spule  7,  den  3.  Quadranten  durchlaufend, 
sich  dem  Südpol  S  nähert,  noch  einmal  wieder  auf  seine  alte  Höhe 
anzusteigen.  Wieder  folgt  dann  schliesslich  ein  jäh  ansteigender  Strom 
von  umgekehrter  Richtung,  so  dass,  wie  es  die  beistehenden  Curven 
darstellen  (Fig.  176),  bei  jeder  Umdrehung  zwei  allmählich  und  zwei 
jäh  ansteigende  Ströme  entstehen.  In  eleganter  Weise  lässt  sich  dies  nach 
Grützner  zeigen,  wenn  man  während  der  Drehung  des  Apparates 
die  Elektroden  (Platinspitzen)  mit  gleichmässiger  Geschwindigkeit  über 
feuchtes  Jodkaliumkleisterpapier  hinbewegt.  Die  so  entstehenden 
elektrolytischen  Curven  erscheinen  als  Linien,  welche  den  Curven- 
gipfeln  entsprechend  dicker  sind,  als  im  übrigen  Verlaufe.  Den  all- 
mählich ansteigenden  Strömen  entsprechen  Linien,  welche  schmal  be- 
ginnen und  dick  enden  ,  während  sich  die  rasch  ansteigenden  Ströme 
umgekehrt  verhalten ,  indem  die  Zersetzung  gleich  anfangs  stark 
ist  und  hierauf  abnimmt  (Fig.  177).     Mittels    derselben    elektrolytisch- 


Fig.  177. 

graphischen  Methode  fand  Grützner  auch,  dass  der  steil  ansteigende 
Oeffnungsinductionsstrom  eines  gewöhnlichen  Du  Bois'schen  Schlitten- 
apparates viel  stärker  elektrolytisch  wirkt,  als  der  allmählich  an- 
steigende Schliessungsinductionsstrom. 

Am  Nervmuskelpräparat  vom  Frosch  zeigen  sich  bei  geringer 
Stromstärke  immer  zunächst  die  rasch  ansteigenden  Ströme  wirksamer 
(je  nach  der  Lage  der  Elektroden  am  Nerven  bald  der  eine,  bald  der 
andere).  Bei  Verstärkung  der  Ströme  gesellt  sich  dann  bald  eine  zweite 
kleinere  Zuckung  hinzu,  welche  dem  andern  steil  ansteigenden  (ent- 
gegengesetzt gerichteten)  Strom  entspricht.  Bei  weiterem  Wachsen 
der  Stromstärke  werden  die  Reizerfolge  dann  noch  complicirter,  indem 
sich  bei  aufsteigend  gerichteten  Strömen  die  anodische  Hemmung  be- 
merkbar macht.  In  seltenen  Fällen  kann  jeder  der  vier  Inductionsströme 
erregend  wirken,  und  man  erhält  dann  bei  jeder  Umdrehung  zwei  starke 
und  zwei  schwache  Zuckungen,  wobei  natürlich  immer  eine  starke  mit 
einer  schwachen  Zuckung  abwechselt.  Als  wesentlichstes  Ergebnis 
der  Untersuchung  von  Grützner  muss  auch  hier  die  ganz  vor- 
wiegende Wirkung  der  steilansteigenden  Ströme  gelten, 
deren  Richtung  wieder  insoferne  von  Bedeutung  ist,  als  im  Sinne  der 
schon  erwähnten  Angaben  von  Hermann  und  Fleischl  an  oberen 
Nervenstrecken  immer  zuerst  der  absteigende,  an  unteren  dagegen  der 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


549 


aufsteigende  Strom  erregend  wirkt,  und  nur  an  einem  „Aequator"  beide. 
Erst  bei  viel  höheren  Stromstärken  werden  auch  die  langsam  ansteigenden 
Ströme  wirksam. 

Der  günstige  Einfluss  einer  grossen  Steilheit  der  Intensitäts- 
schwankung zeigt  sich  u.  A.  auch  darin ,  dass  man  selbst  sehr 
starke  Ströme  ohne  merkliche  Erregungserscheinungen 
in  eine  Nervenstrecke  „einzuschleichen"  vermag,  Avenn 
nur  das  Anwachsen  ganz  allmählich  und  möglichst 
gleichmässig  erfolgt.  Die  gleiche  Thatsache  lässt  sich,  wie  früher 
erwähnt  wurde,  noch  leichter  für  den  Muskel  feststellen. 

Untersucht  man  die  Wirkungen  von  Schliessungs-  und  Oeffnungs- 
inductionsströmen  an  Nervmuskelpräparaten  anderer  Thiere,  so  gelangt 
man,   wie   neuerdings   Schott  (13)   gezeigt   hat,    zu   wesentlich   ver- 


Fig.  178.     Wadenmuskel    der  Kröte,     a    Schliessungsinductionszuckung;    b    Oeffnungs- 
inductionszuckung.     (Nach  J.  Schott.) 


schiedenen  Resultaten,  und  es  zeigt  sich 
auch  hier  wieder,  wie  ungerechtfertigt 
es  ist,  ein  allzu  grosses  Gewicht  That- 
sachen  beizulegen,  welche  durch  Unter- 
suchung einer  einzigen  Thierart  ge- 
wonnen wurden. 

Am  Nervmuskelpräparat  der  Kröte 
fand  Schott  (13)  die  steiler  ansteigen- 
den OefFnungsinductionsschläge  verhält- 
nissmässig  viel  weniger  wirksam,  als 
beim  Frosch,  indem  ein  erheblicher 
Unterschied  des  Rollenabstandes,  bei 
welchem  Schliessungs-  und  Oeffnungs- 
schlag  wirken,  dort  kaum  vorhanden  ist. 
Während  der  indirect  gereizte  Frosch- 
muskel    stets    viel    höhere    Zuckungen 

(mittlerer  Grösse)  zeichnet,  wenn  Oeffnungsschläge  benützt  werden, 
ist  dies  bei  Präparaten  der  Kröte  nicht  der  Fall,  oder  es  zeigen 
sich  sogar  umgekehrt  die  Schliessungsschläge  wirksamer  (Fig.  178). 
Nach  Grützner  (13)  kann  man  einzelne  Inductionsschläge  von 
verschiedenem  zeitlichen  Verlauf  auch  in  folgender  Weise  erzeugen. 
Man    denke    sich    einen    auf    einer    Messingscheibe    befestigten    Ring 


Fig.  179, 


550 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


von  Eisenblech  in  der  Form  der  beistehenden  Figur  (Fig.  179). 
Derselbe  besteht  aus  den  beiden  Theilen  M  und  iV,  von  welchen 
der  letztere  (bei  Drehung  der  Scheibe  nach  rechts)  von  seiner  Basis 
bei  H  auf  der  Messingscheibe  ganz  flach  bis  zu  seiner  grössten 
Höhe  ansteigt,  während  M  in  der  Richtung  des  Scheibenradius  ab- 
geschnitten ist.  Wird  dann  das  ringartige  Eisenstück  MN  zwischen 
den  Polen  eines  Hufeisenmagneten  gedreht,  welche  mit  Drahtspulen 
umgeben  sind,  so  tritt  (bei  Rechtsdrehung  der  Scheibe)  vom  Punkte 
iZ"  aus  ein  immer  höheres  Stück  des  Eisenringes  zwischen  die  Pole 
des  Magneten ,  und  dessen  magnetische  Kraft  wird  immer  mehr  ge- 
bunden. Dieser  langsamen  Abschwächung  des  Magnetismus  entspricht 
ein  in  den  Spulen  verlaufender  Magnetoinductionsstrom ;  es  wird  der- 
selbe um  so  langsamer  ansteigen,  je  flacher  der  Eisenring  sich  erhebt, 
und  je  langsamer  die  Scheibe  rotirt.  Anderseits  wird  der  Theil  M 
des  Ringes  unter  denselben  Bedingungen  mit  seiner  scharf  abschneidenden 
Kante  einen  fast  momentan  ansteigenden  Strom  induciren.  Während 
nun   beim  Froschpräparat   der  Strom   des  scharfen  Zahnes  (ähnlich 


Fig.  180.     a    Wadenmuskel    der    Kröte, 

Zuckung  durch  Reizung  mit  dem  flachen 

Zahn,     b  Reizung  mit  scharfem  Zahn. 


wie  der  Oeffnungsschlag)  stets  wirksamer  blieb,  als  der  des  flachen 
Zahnes,  zeigte  sich  das  Gegentheil  beim  Kröten präpa rat, 
welches  durch  den  langsam  ansteigenden  Strom  aus- 
nahmslos besser  gereizt  wird,  als  durch  den  schnell 
ansteigenden  (Fig.  180). 

Es  ist  fraglich,  ob  es  sich  hierbei  nur  um  die  uns  schon  bekannte 
Eigenschaft  des  Kröten musk eis  handelt,  träger  zu  reagiren  als  der 
Froschmuskel,  oder  ob  auch  dementsprechende  Verschiedenheiten  der 
zugehörigen  Nervenfasern  vorhanden  sind.  Sicher  aber  ist,  dass 
das  von  DuBoisReymond  formulirte  Gesetz,  dass  nicht  die  absolute 
Dichte  eines  Stromes,  sondern  die  möglichst  schnelle  und  möglichst 
bedeutende  Veränderung  derselben  erregend  wirkt,  nicht  für  alle  loco- 
motorischen  Apparate  gilt.  Während  die  rasch  zuckenden  Muskeln 
des  Frosches  dem  Gesetze  entsprechend  reagiren,  ist  dies  schon  nicht 
der  Fall  bei  Präparaten  der  Kröte,  und  noch  viel  weniger  gilt  der 
Satz,  wie  schon  längst  bekannt,  für  noch  trägere  contractile  Substanzen 
(glatte  Muskeln,  viele  Protisten  etc.).  „Indem  diese  vermöge  ihrer 
Langsamkeit  eine  grössere  physiologische  Zeit  haben,  sind  sie  von 
Haus  aus  auch  wesentlich  für  langsam  verlaufende  und  langsam 
ansteigende    Reize    eingestellt."      Es    ist    nach    einem    Gleichniss    von 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


551 


Grützner  (13,  p.  384)  wie  mit  der  Bewegung  grosser,  träger,  durch 
andere  bewegter  Massen.  „Schiesst  man  mit  einer  Flintenkugel  gegen 
eine  grosse,  sich  aber  sonst  leicht  in  ihren  Angeln  drehende,  schwere 
Thüre  von  Holz,  so  durchschlägt  die  Kugel  die  Thüre,  ohne  sie  irgend- 
wie in  ihren  Angeln  zu  drehen.  Lassen  wir  aber  ganz  dieselbe  Energie- 
menge, welche  in  der  bewegten  Flintenkugel  enthalten  ist,  in  der 
Weise  auf  die  Thüre  wirken,  dass  wir  die  Masse  der  Kugel  bedeutend 
vergrössern,  ihre  Geschwindigkeit  aber  bedeutend  verkleinern,  so  würde 
eine  derartig  bewegte  Kugel  die  Thüre  mit  Leichtigkeit  in  ihren  Angeln 
drehen.  So  schädigt  auch  ein  jäh  ansteigender  Inductionsschlag  träge 
(glatte)  Muskeln  viel  eher,  als  er  sie  zur  Contraction  bringt,  während 
dieselbe  Elektrizitätsmenge  auf  längere  Zeit  vertheilt,  ihn  vielleicht  zu 
kräftiger  Zusammenziehung  veranlasst,  ohne  ihn  zu  schädigen."  Für 
langsam  sich  abspielende  Vorgänge  sind  eben  nach  Grützner  natur- 
gemäss  langsam  verlaufende  Reize  die  adäquaten. 

Gleichwohl  scheint  die  Verschiedenheit  der  physiologischen  Wirkung 
von  Schhessungs-  und  OefFnungsinductionsschlägen  nicht  allein  auf 
ihrem  verschiedenen  zeitlichen  Verlaufe  zu  beruhen,  sondern  ausserdem 
auch  auf  der  allerdings  nicht  hinlänglich  erklärten  Verschiedenheit 
ihrer  elektrolytischen  Wirkung.  Wie  Grützner  (14)  fand, 
wirken  ganz  allgemein  rasch  ansteigende  Ströme  und  daher  auch  der 
Oeffnungsinductions-  ^ 

Strom  viel  stärker  elek- 
trolytisch ,  als  solche 
von  langsamerem  An- 
stieg. Darauf  dürfte  es 
beruhen,  dass  auch  bei 
directer  Reizung  von 
gleichartigen ,  quer- 
gestreiften oder  selbst 
glatten  Muskeln  (wie 
z.  B.  der  Schaalen- 
schliessrauskeln  von 
Anodonta)  die  durch 
einen  Oeffnungsschlag 
ausgelöste  Contraction 
im  allgemeinen  an 
Grösse  überwiegt,  be- 
ziehungsweise früher 
hervortritt. 

Die  vorstehend  erörterten  Thatsachen  lassen  erwarten,  dass  auch 
die  Form  der  S  c  h  w  a  n  k  u  n  g  s  c  u  r  v  e  eines  elektrischen 
Stromes  für  die  erregende  Wirkung  desselben  nicht  ohne  Belang 
isti  doch  würde  es  sich  zum  Zwecke  einer  genaueren  Untersuchung 
vor  Allem  darum  handeln,  die  Art  des  Anstiegs  der  Intensität  (resp. 
Dichte)  eines  Ketten  ström  es  beliebig  gestalten  und  variiren  zu 
können.  Das  Problem,  einen  galvanischen  Strom  in  einem  Leitungs- 
kreis von  Null  aus  in  verschiedener  Steilheit  zu  einem  gewissen  End- 
werthe  anschwellen  zu  lassen,  hat  zuerst  Fleischl  (15)  zu  lösen 
versucht. 

Mittels  des  von  ihm  construirten  „Orthorheonoms"  gelingt  es, 
den  Reizstrom  in  einer  der  Zeit  genau  proportionalen  Weise  und  inner- 
halb  gewisser  Grenzen   mit  beliebiger  Geschwindigkeit   wachsen   oder 


Fig.  181.     Schema  des  Orthorheonoms  von  Fleischl. 
(Nach  EUenberger,  Physiologie  II.) 


552  ^^^  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

abnehmen  zu  lassen.  Der  Apparat,  welchem  das  Princip  der  Wheatstone'- 
schen  Brücke  zu  Grunde  liegt,  besteht  im  Wesentlichen  aus  einem  kreis- 
förmigen homogenen  Leiter  (einer  mit  Zn804-Lösung  gefüllten  Flüssig- 
keitsrinne). Den  zwei  Endpunkten  eines  Durchmessers  entsprechend 
erfolgt  die  Zuleitung  des  Stromes  bei  a  b.  Im  Mittelpunkte  drehbar, 
befindet  sich  ein  metallischer  Leiter  in  der  Richtung  eines  Durchmessers 
(Fig.  181  z  z),  dessen  mit  amalgamirten  Zinkspitzen  versehene  Enden 
in  die  Rinne  R  tauchen.  Der  zu  reizende  Nerv  wird  in  die  Leitung 
dieses  rotirenden  Durchmessers  eingeschaltet  (zwischen  c  d).  So  oft 
sich  nun  dieser  in  der  Richtung  der  Eintrittsstellen  des  Stromes  A  B 
befindet,  geht  ein  gewisser  Antheil  des  Stromes  durch,  Avährend  nach 
einer  Drehung  um  90^  (in  der  Lage  C  D)  dieser  Antheil  =  Null  ist. 
Zwischendurch  nimmt  derselbe  mit  der  Grösse  des  Winkels  (a)  in 
regelmässiger  Weise  ab,  wenn  der  Widerstand  des  Kreises  gegen  alle 
übrigen  verschwindet.  Fleischl  zeigte,  dass  sich  bei  gleichmässiger 
Drehung  des  Rheonoms  die  Stromschwankungen  durch  eine  gebrochene 
Linie  von  der  Form  (Fig.  182)  darstellen  lassen.  Gleiche  Abschnitte  der 
Abscisse    entsprechen    gleichen    Zeiten,    während    die    Ordinaten    der 


Fig.  182. 

Stromstärke  proportional  sind.  Die  über  der  Abscisse  gelegenen  Ordi- 
naten entsprechen  Strömen,  welche  im  Nerven  absteigend  gerichtet  sind, 
die  unter  der  Abscisse  gelegenen  dagegen  aufsteigenden  Strömen.  Das 
Curvenstück  (ab  c  de)  entspricht  einer  ganzen  Umdrehung  der  Brücke. 
Es  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  es  auf  diese  Weise  leicht  gelingt, 
die  Amplitude,  Dauer  und  Steilheit  der  Schwankung  innerhalb  weiter 
Grenzen  zu  variiren;  auch  lässt  es  sich  ermöglichen,  dem  Nerven 
etwa  nur  einen  dem  Stück  (a  b  c)  entsprechenden  Strom  zuzuführen. 
Die  Wirkung  einer  einmaligen  linearen  Stromschwankung  wurde  hier- 
auf von  Fuhr  (15)  untersucht,  der  sich  dabei  eines  ähnlichen  Apparates 
bediente  wie  Fleischl.  Besondere  Unterschiede  im  Ablauf  der  indirect 
ausgelösten  Muskelzuckung,  gegenüber  dem  gewöhnlichen  Reizverfahren, 
wobei  die  Stromesintensität  so  zu  sagen  unendlich  steil  ansteigt,  haben 
sich  dabei  nicht  ergeben.  Stets  sah  Fleischl  die  Zuckungen  erst 
bei  einer  gewissen  Umdrehungsgeschwindigkeit  des  Rheonoms,  d,  h. 
bei  einer  gewissen  Steilheit  der  Stromesschwankungen  auftreten;  sie 
dauern  ferner  nicht  während  der  ganzen  Zeit  des  Ansteigens  der  In- 
tensität an,  sondern  beginnen  bei  einer  gewissen  Intensität  und  er- 
reichen schon  ihr  Ende,  während  die  Schwankungscurve  noch  weiter 
anwächst  und  hierauf  ebenso  steil  absinkt.  Die  scharfen  Wendepunkte 
(Knickungen)  der  Curve  wirken  nicht  erregend.  Es  besteht  daher 
die  Reaction  des  Muskels  während  der  ganzen  Dauer 
der  Stromschwankung  in  einer  einzigen  Zusammen- 
Ziehung. 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  553 

Nach  einem  Avesentlich  verschiedenen  Princip  hat  dann  noch 
K  r  i  e s  ein  „F e d  e r  r  h  e o  n  o m"  construirt  und  mittels  desselben  lineare 
Stromschwankungen  von  wechselnder  Steilheit  erzielt,  wobei  aber 
die  erreichte  Intensität  _c_onstant  erhalten  blieb,  also 
Schwankungen  von  der  Form  _/  .  Sei  (ah)  (Fig.  183)  ein  von  einem 
Kettenstrom  durchflossener  fester  oder  flüssiger  Leiter,  so  herrscht  an 
je  zwei  Punkten  eine  ihrem  Abstand  proportio- 
nale Spannungsdifferenz.  Verbindet  man  daher 
c  und  cl  mit  einem  Leiter,  dessen  Widerstand 
im  Vergleich  zu  dem  Widerstand  von  (c  d) 
sehr  gross  ist  (etwa  einem  Nerven),  so  wird 
derselbe  von  einem  Strom  durchflössen,  dessen 
Intensität  man  leicht  in  der  gewünschten  Weise 
linear  ansteigen  lassen  kann,  wenn,  wie  dies 
bei  dem  Kries'schen  Apparat  der  Fall  ist, 
die   eine    ableitende    Elektrode    etwa    mit  dem 

Punkt  (c)  fest  verbunden  ist,  während  die  andere  mit  constanter  Ge- 
schwindigkeit an  dem  Drahte  a  b  entlang  gleitet  und  schliesslich  an 
einem  gewissen  Punkte  des  durchströmten  Leiters  (Kries  benützte 
wie  Fleischl  eine  Flüssigkeitsrinne)  festgehalten  wird. 

In  Uebereinstimmung  mit  Fleischl  fand  auch  v.  Kries,  dass 
die  durch  „Zeitreize"  (d.  h.  lineare  Stromschwankungen)  ausge- 
lösten Zuckungen  sich  im  Allgemeinen  in  ihrem  Verkuf  nicht  wesent- 
lich von  den  durch  „Momentreize"  bedingten  unterscheiden.  Doch 
zeigen  sich  in  einzelnen  Fällen  deutliche  Unterschiede,  indem  die 
Zuckungen  bei  Zeit  reizen  merklich  gedehnter  verlaufen. 
Es  muss  aber  hierbei  berücksichtigt  werden,  dass  die  mechanischen 
Gestaltveränderungen  bei  der  indirect  ausgelösten  Muskelzuckung  nur 
in  sehr  unvollkommener  Weise  ein  Bild  von  dem  wirklichen  zeitlichen 
Verlauf  der  Erregung  am  Orte  der  directen  Reizung  des  Nerven  geben. 
Wenn  daher  v.  Kries  aus  seinen  Versuchen  den  Schluss  zieht,  dass 
eine  einsinnige,  lineare  Stromschwankung  immer  nur  ziemlich  kurze 
Zeit  auf  den  Nerven  erregend  wirkt,  so  scheint  dies  ebensowenig  ge- 
rechtfertigt, wie  die  Aufstellung  des  allgemeinen  Erregungsgesetzes 
auf  Grund  der  Beobachtung  der  Schliessungs-  und  Oeifnungszuckung. 

In  der  Regel  muss,  um  durch  einen  Zeitreiz  eine  ebenso  hohe 
Zuckung  auszulösen,  wie  durch  einen  Momentreiz,  die  bei  einer  ge- 
gebenen Anstiegsdauer  (D)  schliesslich  erreichte  Intensität  (ig)  grösser 
sein,  als  die  Intensität  bei  der  den  gleichen  Effekt  gebenden  Moment- 
reizung  (ii„)-     Das   für  jeden  Werth  von  (D)  verschiedene  Verhältniss 

(— )  bezeichnet  v.  Kries  als  Reizungsdivisor.    Er  wächst  natür- 

lieh  mit  zunehmenden  Werthen  von  (D)  und  bietet  unmittelbar  ein 
Maass  für  die  durch  die  zeitliche  Ausdehnung  der  Schwankung  be- 
dingte Schwächung  des  Reizeflfektes.  Für  das  Nervmuskelpräparat 
vom  Frosch  fand  ihn  Kries  fast  ausnahmslos  grösser  als  1.  Doch 
kamen  auch  Fälle  vor,  wo  starke  Zeitreize  grössere  Zuckungen 
lieferten,  als  sie  bei  Momentanschliessungen  überhaupt  erreichbar  sind. 
Dies  dürfte  bei  träger  reagirenden,  irritablen  Substanzen  überhaupt 
die  Regel  sein.  Ein  Reizungsdivisor  ist  in  solchem  Falle  natürlich 
nicht  angebbar. 

Wie  sehr  die  Reactionsweise  des  Nerven  von  der  Beschaffenheit, 
sozusagen    der  Beweglichkeit   seiner  Substanz  abhängt,   geht  sehr  klar 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  36 


)54 


Die  elektrische  Erregimg-  der  Nerven. 


aus  dem  von  v.  K  r  i  e  s  beobachteten  Verhalten  hervor,  dass  abgekühlte 
Nerven  besser  bei  langer,  warme  dagegen  besser  bei  kurzer  Anstiegs- 
dauer des  Stromes  reagiren. 

Bemerkenswerth  ist  die  secundäre  Unwirksamkeit  der  Rheonom- 
zuckungen,  die  schon  v,  Fl  ei  sc  hl  auffiel,  und  welche  v.  Kries  be- 
stätigte. Erst  bei  sehr  starken  übermaximalen  Reizen  treten  secundäre 
Wirkungen  ein.  v.  Kries  constatirte  ausserdem  mittels  des  Capillarelektro- 
meters  stärkere  Ausschläge  desselben  bei  Zeitreizen  bei  gleichzeitiger 
Unwirksamkeit  auf  das  secundäre  Präparat.  Es  geht  hieraus  mit  voller 
Sicherheit  hervor,  dass  die  Schwankungswelle  bei  Moment-  und  Zeit- 
reizung einen  verschiedenen  zeitlichen  Verlauf  besitzt,  derart,  dass  die 
der  letzteren  entsprechende  durch  geringere  Steilheit  und  gestreckteren 
zeitlichen  Verlauf  charakterisirt  ist.  Man  darf  mit  Bestimmtheit  be- 
haupten, dass  durch  lineare  Stromschwankungen  von  end- 
licher Steilheit  Nerven  und  Muskeln  in  einen  erheblich 
längeren  Erregungszustand  versetzt  av  e  r  d  e  n  können, 
a  1  s  d  u  r  c  h  M  0  m  e  n  t  r  e  i  z  e. 

Dies  ist  vielleicht  auch  bei  der  physiologischen  Innervation  der 
Fall.    Die  auffallend  geringe  Zahl  von  Oscillationen  des  Muskelstromes, 


--^-•x.jm^  -^IM 


Fig.  184.     Schema  der  Methoden   zur  queren  Durchströmung  des  Nerven. 
(Nach  L.  Hermann.) 


welche  L  o  v  e  n  sowohl  bei  Strjchnin-Tetanus  wie  bei  Willkürinnervation 
mittels  des  Capillarelektrometers  beobachtete,  würde  es  dann  begreif- 
lich erscheinen  lassen,  dass  demungeachtet  ein  vollkommener  Tetanus 
des  Froschmuskels  zu  Stande  kommen  kann,  Avährend  Inductions- 
schläge  zu  demselben  Effekt  in  erheblich  grösserer  Frequenz  einwirken 
müssen. 

Abgesehen  von  der  Intensität,  Dichte,  Dauer,  sowie  der  Art  des 
Ansteigens  des  Reizstromes  hängt  wie  beim  Muskel  der  Erfolg  der 
elektrischen  Nervenreizung  auch  von  der  Richtung  des  Stromes 
einerseits  in  Bezug  auf  die  Faserung,  andererseits  in  Bezug  auf  das 
Erfolgsorgan  am  Wirkungsende  des  Nerven  ab.  In  ersterer  Beziehung 
war  es  schon  Galvani  bekannt,  dass  quere  Durchströmung  eines 
motorischen  Nerven  möglichst  senkrecht  zur  Axe  der  Fasern  unwirksam 
bleibt.  Galvani  brückte  denselben  über  einen  nicht  zu  dicken, 
feuchten  Faden  (Fig.  184  a),  durch  welchen  ein  Kettenstrom  hindurch- 
geleitet wurde.  In  Folge  der  geringen  Breite  der  Strombahn  in  dem 
Nerven  ist  hier  die  Gelegenheit  zur  Bildung  von  Längscomponenten 
verhältnissmässig  gering,  ohne  natürlich  gänzlich  ausgeschlossen  zu 
sein.  Auf  der  anderen  Seite  ist  es  aber  fraglich,  ob  überhaupt  ein 
erheblicher  Stromantheil  den  Nerven  durchsetzt,  wenn  nicht  sehr  starke 


üie  elektrische  Erregung  der  Nerven.  555 

Ströme  verwendet  werden.  Da  aber  letzterenfalls  häufig  Zuckungen 
eintreten,  so  erscheint  die  aus  Versuchen  mit  schwächeren  Strömen 
abgeleitete  Folgerung  betreifs  mangelnder  Quererregbarkeit  des  Nerven 
noch  weiterer  Beweise  bedürftig.  Hitzig  (16)  und  Filehne  (16)  be- 
dienten sich  zum  Zuführen  des  Stromes  zweier  Streifen  aus  plastischem 
Thon,  der  mit  1  ^lo  Kochsalzlösung  angeknetet  war;  die  breiten  dünnen 
Kanten  der  Thonplättchen  wurden  von  beiden  Seiten  her  dem  Nerven 
angelegt  und  die  Stromstärke  entsprechend  abgestuft.  Es  ergab  sich 
ebenfalls  Unerregbarkeit  für  quere  Durchströmung. 

Als  das  geeigneteste  Verfahren  erweist  sich  jedoch  auch  hier 
wieder  wie  beim  Muskel  die  Lagerung  des  Nerven  innerhalb  eines 
mit  indifferenter,  leitender  Flüssigkeit  (physiologische  NaCl-Lösung) 
gefüllten  „Reizkästchens",  welches  von  zwei  gegenüberliegenden  Punkten 
oder  Flächen  her  durchströmt  wird  (Fig.  184.)  Die  Resultate  und 
Folgerungen,  zu  welchen  verschiedene  Autoren  gelangten,  sind  unge- 
achtet derselben  angewendeten  Versuchsmethode  auffallend  verschieden. 
Während  A.  Fick  jun.  (16)  aus  seinen  Versuchen  in  der  That  eine 
vollkommene  Unerregbarkeit  des  Nerven  für  rein  quere  Durchströmung 
ableiten  zu  können  glaubte  und  damit  die  Vermuthung  Du  Bois 
Reymond's  (16)  bestätigte,  dass  bei  möglichst  gleichen  Bedingungen 
der  Einfluss  des  Durchströmungswinkels  sich  etwa  seinem  Cosinus 
entsprechend  gestalten  würde,  hielt  sich  Tschirj  e  w  (16)  für  berechtigt, 
jeden  Einfluss  des  Durchströmungswinkels  gänzlich  zu  läugnen  und 
die  Erregbarkeit  des  Nerven  für  quere  Durchströmung  der  „Längs- 
erregbarkeit" völlig  gleichzusetzen.  Hierbei  war  vor  Allem  der 
Umstand  maassgebend,  dass,  Avie  zuerst  Hermann  (17)  zeigte,  der 
L e i  t u n g s  w i d  e r s t a n d  d e s  N e r  v e n  in  d e  r  L ä n  g s -  u n d  Q u e r - 
r  i  c  h  t  u  n  g  grosse  Verschiedenheiten  darbietet,  und  zwar 
im  letzteren  Falle  viel  grösser  ist,  als  im  erst  er  en. 
Wurde  eine  Schichte  parallel  zu  einander  liegender  Froschnerven 
zwischen  zwei  quadratische  Glasplatten  einmal  der  Länge  und  dann  der 
Quere  nach  durchströmt,  so  war  letzterenfalls  der  nach  der  Wheatstone- 
schen  Methode  gemessene  Querwiderstand  etwa  5  mal  so  gross  als 
der  Längswiderstand  (nach  Hermann  übertrifft  der  eine  den  Wider- 
stand des  Quecksilbers  annähernd  um  das  12 V2 millionenfache,  der 
andere  ist  nur  2V'2  Millionen  Mal  so  gross).  Analoge  Unterschiede 
ergaben  sich  auch  für  quergestreifte  Muskeln  und  scheinen  in  beiden 
Fällen  an  die  normalen  Lebenseigenschaften  der  Gewebe  gebunden 
zu  sein,  da  ihre  Grösse  nach  dem  Absterben  sich  in  ganz  auffallender 
Weise  vermindert  zeigt.  (Beim  Nerven  sinkt  nach  Hermann  das  Ver- 
hältniss  schon  durch  Erwärmen  auf  SO*'  C,  von  1  :  5  auf  1  :  2 — 4  herab.) 

Mit  Rücksicht  auf  die  eben  angeführten  Thatsachen  ist  nun  ohne 
Weiteres  klar,  dass  bei  Längsdurchströmung  eines  im  Reizkästchen 
befindlichen  Nerven  ein  grösserer  Stromantheil  denselben  durchsetzen 
wird,  als  bei  dazu  senkrechter  Richtung  der  Stromfäden,  und  es  fragt 
sich  nur,  ob  dieser  Umstand  in  der  That  ausreichend  ist,  um  die  An- 
nahme Tschirjew's  gerechtfertigt  erscheinen  zu  lassen.  Dies  ist 
einerseits  schon  aus  rein  theoretischen  Gründen  nicht  wahrscheinlich, 
andererseits  sprechen  aber  auch  Versuche,  welche  unter  Hermann's 
Leitung  von  Alb  recht  und  A.  Meyer  (16)  ausgeführt  wurden,  auf 
das  entschiedenste  dagegen.  In  ersterer  Beziehung  sei  nur  darauf 
hingewiesen,  dass  sowohl  für  Pseudopodien  von  Rhizopoden  (Ac tino- 
sphaerium),  wie  insbesondere  auch  für  den  (quergestreiften)  Muskel 


556  Diß  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

die  Thatsache  der  Unerregbarkeit  für  senkrecht  zur  Längsaxe  der 
Elemente  gerichtete  Durchsti'ömung  über  jeden  Zweifel  sicliergestellt 
erscheint.  Bei  der  sonstigen  weitgehenden  Uebereinstimmung  zwischen 
Nerven  und  Muskeln  in  Bezug  auf  ihr  Verhalten  dem  Strome  gegen- 
über würde  es  Avunderbar  sein,  wenn  hinsichtlich  des  betreffenden 
Punktes  eine  Ausnahme  stattfände.  Die  Herren  Albrecht  und 
A.  Meyer  zeigten  aber  ausserdem,  dass,  wenn  es  sich  nur  wirk- 
lich um  eine  reine  Qu  er  durch  Strömung  des  Nerven 
handelt,  selbst  die  stärksten  Ketten-  und  Inductions- 
ströme  wirkungslos  bleiben,  obschon  die  geringste  Verlagerung 
des  Nerven  Zuckung  macht.  Ausgehend  von  gewissen  schon  er- 
wähnten Erfahrungen  an  local  alkoholisirten  Nerven,  denen  zufolge  es 
den  Anschein  hat,  als  ob  innerhalb  der  betreffenden  Strecke  die  Er- 
regbarkeit bei  gleichzeitig  gesunkenem  Leitungsvermögen  gesteigert 
wäre,  haben  ganz  neuerdings  Gad  und  Piotro wsky  (16)  wieder  die 
Quererregbarkeit  des  Nerven  behauptet  und  als  Beweis  hauptsächlich 
den  Umstand  geltend  gemacht,  dass  die  örtliche  Steigerung  der  Reiz- 
barkeit durch  Alkohol  bei  vorwiegender  Querdurchströmung  (inner- 
halb einer  Rinne  zwischen  zwei  Thonplättchen,  die  mit  unpolarisirbaren 
Elektroden  in  Verbindung  standen)  stärker  hervortritt  als  bei  Längs- 
durchströmung.  Ohne  auf  eine  Kritik  dieser  Versuche  hier  näher 
einzugehen ,  glaufee  ich  nicht,  dass  sie  geeignet  sind,  gegenüber  den 
früheren  Erfahrungen  als  vollgiltige  Beweise  für  das  Vorhandensein 
einer  Quererregbarkeit  des  Nerven  angesehen  zu  werden. 

Was  nun  die  Verschiedenheiten  des  Reizerfolges  bei,  in  Bezug  auf 
das  Erfolgsorgan,  Avechselnder  Richtung  eines  der  Länge  nach  den 
Nerven  durchfliessenden  Stromes  anlangt,  so  handelt  es  sich  hier  um 
ein  Gebiet,  welches  seit  den  ältesten  Zeiten  des  Galvanismus  vielfach 
und  von  den  verschiedensten  Gesichtspunkten  aus  durchforscht  wurde. 
Aber  erst  der  neueren  Zeit  war  es  vorbehalten,  der  Lösung  der  sich 
hier  darbietenden  Fragen  näher  zu  treten  und  die  theoretische  Be- 
deutung derselben  zu  würdigen.  Als  allgemeines  Gesetz  haben  wir 
bisher  die  Thatsache  kennen  gelernt,  dass  ein  constanter  elektrischer 
Strom  einen  motorischen  Nerven  im  Allgemeinen  vorwiegend  bei 
Schliessung  oder  Oeffnung  des  Kreises  erregt,  obschon  unter  Umständen 
auch  der  in  gleicher  Dichte  fliessende  Strom  Erregungserscheinungen 
am  Muskel  bedingt.  So  alt  nun  diese  Erfahrung  ist,  so  alt  ist  anderer- 
seits auch  die  Beobachtung,  dass  die  Grösse  der  Schliessungs-  und 
Oeffnungszuckungen ,  ja  sogar  überhaupt  das  Hervortreten  der  einen 
oder  anderen,  auch  davon  abhängt,  wie  der  Strom  im  Nerven  ge- 
richtet ist,  ob  er  von  einem  dem  Muskel  näher  gelegenen  zu  einem 
davon  entfernteren  Punkte  aufsteigend  oder  in  umgekehrter  absteigender 
Richtung  fliesst.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  eine  ausführliche  ge- 
schichtliche Darstellung  der  Bestrebungen  zahlreicher  älterer  Forscher 
auf  dem  vorliegenden  Gebiete  zur  geben ,  zumal  dies  in  ebenso  er- 
schöpfender wie  trefflicher  Weise  von  Seite  Du  Bois  geschehen  ist. 
Es  sei  daher  nur  kurz  erwähnt,  dass,  nachdem  bereits  Pf  äff  gewisse 
regelmässige  Unterschiede  in  der  Wirkungsweise  auf-  und  absteigender 
Ströme  wahrgenommen  hatte,  zuerst  Ritter  ein  „Zuckungsgesetz"  auf- 
stellte ,  welches  später  von  N  o  b  i  1  i  im  Wesentlichen  bestätigt  wurde. 
Wie  aus  der  folgenden  Tabelle  ersichtlich  ist,  spielt  hier,  abgesehen 
von  der  Stromesrichtung,  auch  die  jeweilige  Erregbarkeit  des  Prä- 
parates eine  wichtige  Rolle  für  den  Erfolg  der  Reizung. 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

Ritte r-Nobili's  Zu ckungsgesetz. 


557 


Erregbarkeitsstufen 

Aufsteigender  Strom 

Absteigender  Strom 

I  (Ritter) 

S. 

ö. 

Zuckung 
Ruhe 

S. 
Ö. 

Ruhe 
Zuckung 

II  (Ritter) 

s. 
ö. 

Zuckung- 
schwache  Zuckung 

s. 
ö. 

schwache  Zuckung 
Zuckung 

III  (Ritter) 
I  (Nobili) 

s. 
ö. 

Zuckung 
Zuckung 

s. 
ö. 

Zuckung 
Zuckung- 

IV  (Ritter) 
II  (Nobili) 

s. 
ö. 

schwache  Zuckung  (Ruhe) 
Zuckung 

s. 
ö. 

Zuckung 
schwache  Zuckung 

V  (Ritter) 
III  (Nobili) 

s. 
ö. 

Ruhe 
Zuckung 

s. 
ö. 

Zuckung 
Ruhe 

VI  (Ritter) 
IV  (Nobili) 

ö. 

Ruhe 
Ruhe 

s. 
ö. 

schwache  Zuckung 
Ruhe 

Ritter  unterscheidet  6,  Nobili  4  Erregbarkeitsstufen.  Besonders 
auffallend  ist  hier  der  vollkommene  Gegensatz  dei;  Wirkung  gleich- 
gerichteter Ströme  auf  der  1.  (höchsten)  Erregbarkeitsstufe  und  später 
(5.  Stufe  Ritter's),  was  übrigens  Nobili  in  Abrede  stellt.  Nach  ihm 
giebt  es  für  jede  Stromesrichtung  nur  eine  starke  Zuckung,  und  zwar 
ist  dies  für  den  aufsteigenden  Strom  die  Oeffnungs- 
zuckung,  für  den  absteigenden  die  Schliessungszuckung. 
In  neuerer  Zeit  haben  sich,  wie  schon  erwähnt,  zahlreiche  Forschor 
bemüht,  einerseits  die  dem  Zuckungsgesetze  zu  Grunde  liegenden  That- 
sachen  genauer  festzustellen  und  andererseits  zugleich  eine  theoretische 
Erklärung  derselben  anzubahnen.  Dabei  war  es  wohl  der  folgenreichste 
und  wichtigste  Schritt,  als  Heidenhain  und  Pflüger  fast  gleich- 
zeitig darauf  hinwiesen,  dass  das  „Zuckungsgesetz"  nicht  bloss  eine 
Function  der  Stromesrichtung  und  Erregbarkeit,  sondern 
auch  der  Stromstärke  ist.  Mit  den  schwächsten  Strömen  beginnend, 
hat  Heidenhain  (18)  folgende  Reihenfolge  der  Wirkungen  am  frisch- 
präparirten  Nerv  beobachtet: 


Stromstärke 

Absteigender  Strom 

Aufsteigender  Strom 

Schliessung 

Oelfnung 

Schliessung 

Oetfnung 

I 

Ruhe 

Ruhe 

Zuckung 

Ruhe 

II 

Ruhe 
(seltener  Zuckung) 

Zuckung 
(seltener  Ruhe) 

Zuckung 

Ruhe 

III 

Zuckung 

Zuckung 

Zuckung 

Ruhe 

IV 

Zuckung 

Zuckung 

Zuckung 

Zuckung 

Ueber  gewisse  mittlere  Stromstärken  scheint  Heidenhain  nicht 
hinausgegangen  zu  sein,  da  die  5.  Stufe  Ritter's  (und  3,  Nobili's), 
nämlich  Schliessungszuckung  allein  bei  absteigender,  Oeffnungszuckung 
bei    aufsteigender    Stromesrichtung    am   frischen  Nerven    nicht  hervor- 


558 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


trat.  Alle  späteren  Beobachter  constatirten  übereinstimmend,  dass  bei 
einer  gewissen  mittleren  Stromstärke  sowohl  Schliessung  wie  OefFnung 
bei  absteigender  wie  aufsteigender  Stromesrichtung  wirksam  sind. 
Erst  bei  starken  Strömen  macht  sich  der  erwähnte  Gegensatz  des 
Erfolges  verschieden  gerichteter  Ströme  bemerkbar.  Hinsichtlich 
der  allerschwächsten  Ströme  lauten  dagegen  die  Angaben  nicht  über- 
einstimmend. Während  Heidenhain  als  erste  auftretende  Zuckung 
Schliessungszuckung  des  aufsteigenden  und  als  zweite  Oeffnungszuckung 
des  absteigenden  Stromes  beobachtete,  geben  die  meisten  späteren 
Beobachter  Schliessungs Zuckungen  bei  beiden  Stromes- 
richtungen als  ersten  Reizerfolg  schwächster  Ströme  an  (Litteratur- 
angaben  in  Herm.  Handb.  H,  1.  p.  61.),  wobei  nur  Verschiedenheiten 
hinsichtlich  des  Umstandes  hervortreten,  ob  zuerst  der  absteigende  oder 
aufsteigende  Strom  wirksam  wird.  Als  der  ohne  jeden  Zweifel 
richtigste  Ausdruck  des  Zuckungsgesetzes  muss  zur  Zeit  die  von 
Pflüger  (2)  gegebene  Formulirung  gelten: 


Stromstärke 


Aufsteigender  Strom 


Schliessung 


Oeffnung 


Absteigender  Strom 
Schliessung  Oeffnung 


Schwach 

Mittelstark 

Stark 


Zuckung 

Zuckung 

Kühe 


Ruhe 
Zuckung 
Zuckung 


Zuckung 
Zuckung 
Zuckung 


ßuhe 

Zuckung 

Ruhe 
(schwache  Zuckung) 


Man  sieht,  dass  bei  frischen,  leistungsfähigen,  motorischen  Frosch- 
nerven die  Schliessung  schwacher  Ströme  sowohl  bei  aufsteigender 
wie  absteigender  Richtung  zuckungserregend  wirkt,  während  ebenso 
die  Oeffnung  in  beiden  Fällen  erfolglos  bleibt.  (1.  Stufe  des  Zuckungs- 
gesetzes.) Allmählich  tritt  dann  bei  wachsender  Stromesintensität  die 
Oeffnungszuckung  hinzu,  so  dass  die  2.  Stufe  dadurch  charakterisirt 
ist,  dass  Schliessung  und  Oeffnung  des  aufsteigenden  wie  absteigenden 
Stromes  von  Zuckungen  des  Muskels  begleitet  erscheinen.  Zu  eine m 
Gegensatz  der  \\'irkungsweise  verschieden  gerichteter 
Ströme  kommt  es  immer  erst  dann,  wenn  die  Intensität 
eine  gewisse  Grenze  überschritten  hat,  und  zwar  gilt 
dann  ausnahmslos  die  Regel,  dass  nur  die  Schliessung 
des  absteigenden  und  die  Oeffnung  des  aufsteigenden 
Stromes  zuckungserregend  wirken,  während  Schliessung  des 
aufsteigenden  und  Oeffnung  des  absteigenden  Stromes  stets  erfolglos 
bleiben.  Es  sind  diese  Wirkungen  so  sicher  und  gesetzmässig,  dass 
man  sich  derselben  geradezu  als  eines  Mittels  bedienen  kann,  um  auf 
physiologischem  Wege  durch  den  stromprüfenden  Froschschenkel  die 
Stromesrichtung  zu  bestimmen.  Bei  Demonstration  des  Zuckungs- 
gesetzes ist  es  Avesentlich ,  dass  Avomöglich  an  einem  und  demselben 
Präparat  nur  die  Wirkungsweise  verschieden  starker  Ströme  einer 
Richtung  geprüft  wird,  ohne  dabei  die  Lage  des  Nerven  auf  den 
Elektroden  zu  verändern,  und  erscheint  es  daher  am  zweckraässigsten, 
zwei  demselben  Frosch  entnommene  Nervmuskelpräparate  gleichzeitig 
zu  reizen,  indem  man  die  beiden  Nerven  in  entgegengesetzter  Richtung 
über  dieselben  unpolarisirbaren  Elektroden  brückt;  man  hat  dann 
Gelegenheit,  die  bei  wachsender  Stromstärke  aufeinander  folgenden  Ver- 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  559 

änderungen  der  Reaction  des  Muskels  gleichzeitig  zu  beobachten  und 
sieht  auf  der  3.  Stufe  bei  Schliessung  des  Stromes  nur  das  eine,  bei 
Oeffnung  nur  das  andere  Präparat  zucken. 

Pflüg  er  ist  es  auch  zuerst  gelungen,  eine  ausreichende  und  be- 
friedigende Erklärung  der  dem  Zuckungsgesetze  zu  Grunde  liegenden, 
auf  den  ersten  Blick  so  auffallenden  Erfahrungsthatsachen  zu  geben. 
Es  handelt  sich  dabei  vor  Allem  um  den  merkwürdigen  Gegensatz  der 
Wirkung  der  Schliessung  und  Oeffnung  auf  der  3.  Stufe.  Offenbar 
ist  die  blosse  Richtungsänderung  des  elektrischen  Stromes  an  sich 
nicht  im  Stande,  denselben  ausreichend  zu  erklären ,  und  Avenn,  was 
von  vorneherein  kaum  zu  bezweifeln  ist,  eine  Erregung  des  Nerven 
auch  bei  Schliessung  des  aufsteigenden  und  bei  Oeffnung  des  abstei- 
genden Stromes  stattfindet,  so  kann  die  Wirkungslosigkeit  der  Reizung 
wohl  nur  in  dem  Umstände  begründet  sein,  dass  diese  in  irgend  einer 
Weise  verhindert  Avird,  sich  am  anhängenden  Muskel  geltend  zu 
machen.  Es  muss,  mit  anderen  ^^'orten,  irgendwo  innerhalb  der  durch- 
flossenen  Strecke  eine  Veränderung  platzgegriffen  haben ,  welche  es 
verhindert,  dass  der  Erregungsvorgang  sich  im  einen  Falle  bei  der 
Schliessung,  im  andern  bei  der  ( Jeffnung  zum  Muskel  fortpflanzt. 

Mit  Rücksicht  auf  die  früher  mitgetheilten  Erfahrungen  an  quer- 
gestreiften und  glatten  Muskeln  liegt  nichts  näher  als  die  Vermuthung, 
dass  es  sich  auch  beim  Nerven  um  antagonistische, 
polare  Wirkungen  des  Stromes  handelt,  in  dem  Sinne, 
dass  die  Erregung  bei  der  Schliessung  von  der  Kathode, 
bei  der  Oeffnung  dagegen  nur  von  der  Anode  ausgeht. 
Wenn  daher  bei  Schliessung  eines  starken  absteigenden  bezw.  bei 
Oeffnung  eines  starken  aufsteigenden  Stromes  Zuckung  erfolgt,  so  ist 
dies  ohne  Weiteres  verständlich,  da  in  beiden  Fällen  der  Fortleitung 
der  von  der  betreffenden  Elektrode  ausgehenden  Erregung  zum  Muskel 
nichts  entgegensteht.  Wenn  dagegen  ersterenfalls  die  Oeffnungszuckung, 
letzterenfalls  die  Schliessungszuckung  ausbleibt,  so  wird  man  mit 
Wahrscheinlichkeit  annehmen  dürfen,  dass  bei  aufsteigender  Stromes- 
richtung die  oberhalb  der  Anode  ausgelöste  kathodische  Erregung  an 
dieser  selbst  brandet  und  sich  daher  am  Muskel  nicht  zu  äussern  ver- 
mag. Umgekehrt  scheint  die  Oeffnungserregung,  welche  bei  absteigen- 
dem Strom  oberhalb  der  Kathode  ausgelöst  wird,  an  der  kurz  zuvor 
kathodischen  Stelle  des  Nerven  zu  erlöschen.  So  wären  wir  denn  auch 
hier  wieder  durch  eine  genauere  Analyse  der  bei  elektrischer  Reizung 
motorischer  Nerven  hervortretenden  Erscheinungen  zu  demselben 
fundamentalen  Satze  wie  bei  den  contractilen  Substanzen  gekommen, 
dass  nämlich  der  e  1  e  k  t  r  i  s  c  h  e  S  t  r  o  m  nicht  a  u  f  d  e  r  g  a  n  z  e  n 
durchflossenen  Strecke  gleich  massig  an  jedem  Punkte 
den  Vorgang  der  Erregung  auslöst,  sondern  „polare" 
Veränderungen  bewirkt,  welche  sich  theils  als  Er- 
reg ungs-,  theils  als  antagonistische  Hemmungser- 
scheinungen geltend  machen  und  ihren  Ausdruck  vor  Allem 
in  der  3.  Stufe  des  Zuckungsgesetzes  finden.  Wir  befinden  uns  aber 
hier  in  einer  weniger  günstigen  Lage,  als  bei  der  directen  Erregung 
contractiler  Substanzen ,  wo  sich  die  polaren  Wirkungen  des  Stromes 
günstigenfalls  unmittelbar  durch  entsprechende  Gestaltveränderungen 
am  Orte  der  physiologischen  Pole  verrathen,  während  man  beim  Nerven 
lediglich  auf  die  Reactionen  des  von  dem  Reizorte  mehr  oder  weniger 


560  ^i®  elektrische  Erregung  der  Nerveu. 

entfernten  P^rfolgsorgans  angewiesen  ist,  das  in  der  Regel  einer  Ver- 
änderung nur  in  einem  ganz  bestimmten  Sinne  fähig  ist. 

Bei  der  fundamentalen  Bedeutung  des  von  Pflüger  zunächst 
nur  als  eine  inductive  Folgerung  aus  dem  „Zuckungsgesetze"  abge- 
leiteten Satzes  von  der  polaren  Erregung  durch  den  elektrischen 
Strom  erschien  es  wünschenswerth,  noch  weitere  directe  Beweise  für 
die  Richtigkeit  desselben  beizubringen.  Wie  für  den  quergestreiften 
Muskel,  so  sehen  wir  auch  für  den  (motorischen)  Nerven  v.  Bezold 
(19)  bestrebt,  das  in  Rede  stehende  Gesetz  durch  zeitmessende  Ver- 
suche zu  bestätigen.  Die  angewendete  Methode,  welche  in  beiden 
Fällen  auf  der  Messung  des  Latenzstadiums  der  Muskelzuckung  beruht, 
gestaltet  sich  bei  indirecter  Muskelreizung  noch  wesentlich  einfacher 
als  bei  directer.  Wird  durch  eine  nicht  zu  kleine  Strecke  des  Nerven 
eines  Nervmuskelpräparates  ein  aufsteigender  Strom  von  mittlerer 
Dichte  hindurchgeleitet,  so  muss  offenbar,  wenn  die  Erregung  bei 
Schliessung  des  Stromes  an  der  vom  Muskel  entfernteren  Kathode  aus- 
gelöst wird  und  daher  einen  längeren  Weg  zu  durchlaufen  hat,  als 
die  anodische  Oeffnungserregung,  das  Latenzstadlum  der  Schliessungs- 
zuckung merklich  grösser  ausfallen ,  als  unter  sonst  gleichen  Um- 
ständen die  Latenzzeit  der  0  effnungszuckung.  Umgekehrt  muss 
es  sich  natürlich  beim  absteigenden  Strom  verhalten.  Der  Unterschied 
entspricht  in  beiden  Fällen  offenbar  der  Zeit,  welche  die  Erregung 
braucht,  um  sich  durch  die  intrapolare  Strecke  hindurch  fortzupflanzen. 
Diesen  Voraussetzungen  entsprachen  nun  in  der  That  die  Versuchs- 
resultate von  Bezold.  Die  Zeit,  Avelche  zwischen  dem  Moment  der 
Reizung  und  dem  Beginn  der  Muskelzuckung  verging,  war  grösser 
bei  Schliessung  des  aufsteigenden  und  bei  Oeffnung  des  absteigenden 
als  bei  der  Oeffnung  des  aufsteigenden  und  der  Schliessung  des  ab- 
steigenden Stromes. 

Einen  weiteren  Beweis,  wenigstens  für  die  Localisation  der  der 
O  e  f  f  n  u  n  g  s  e  r  r  e  g  u  n  g  zu  Grunde  liegenden  Veränderungen  des 
Nerven,  hat  Pflüger  selbst  geliefert,  indem  er  zeigte,  dass,  w^enn  unter 
günstigen  Umständen  bei  absteigender  Stromesrichtung  ein  Ritter'scher 
Oeffnungstetanus  ausgebrochen  ist,  derselbe  sofort  erlischt,  sobald  der 
Nerv  etwa  in  der  Mitte  der  intrapolaren  Strecke  durchschnitten  und 
so  der  Muskel  dem  Einfluss  der  Anode  entzogen  wird.  Derselbe 
Versuch  bleibt  natürlich  ohne  Erfolg,  wenn  es  sich  um  Ritter'schen 
Tetanus  nach  aufsteigender  Durchströmung  handelt. 

Um  die  Erscheinungen  des  Pflüger'schen  Zuckungsgesetzes  voll- 
ständig zu  erklären,  sieht  man  sich  durch  die  Thatsachen  zu  der  An- 
nahme gedrängt,  dass  der  elektrische  Strom  nebst  der  erregenden 
Wirkung,  welche  bei  der  Schliessung  von  der  Kathode,  bei  der 
Oeffnung  dagegen  von  der  Anode  ausgeht,  auch  zugleich  erregungs- 
hemmende  Wirkungen  entfaltet,  über  deren  Localisirung  wir  uns 
zunächst  nur  vermuthungsweise  aussprachen.  Wenn  man  nach  Analogie 
der  erregenden  Vorgänge  auch  die  hemmenden  als  Polwirkungen  auf- 
fasst,  so  würde  von  vorneherein  und  nach  Analogie  des  Muskels  an- 
zunehmen sein,  daas  bei  der  Schliessung  an  der  Anode,  nach  der 
Oeffnung  dagegen  an  der  Kathode  Veränderungen  der  Nervensubstanz 
platzgreifen,  welche  sich  durch  eine  mehr  oder  weniger  ausgesprochene 
Herabsetzung  der  Erregbarkeit  wie  auch  des  Leitungsvermögens  ver- 
rathen.  Unter  dieser  Voraussetzung  und  unter  Zuhilfenahme  des 
weiteren  Satzes,    dass    die  Entwicklung    der  Erregung  und  Hemmung 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  561 

nicht  ganz  parallel  geht,  indem  zur  Auslösung  der  ersteren  im  All- 
gemeinen schwächere  Ströme  genügen  als  zu  einer  entsprechenden 
Ausbildung  der  letzteren,  lassen  sich  alle  Erscheinungen  des  Zuckungs- 
gesetzes leicht  und  befriedigend  erklären.  Denn  es  erscheint  nun 
verständlich,  weshalb  mittelstarke  Ströme  sowohl  bei  aufsteigender  wie 
absteigender  Richtung  Schliessungszuckung  und  Oeffnungszuckung 
bewirken ;  die  durch  sie  bewirkte  Hemmung  an  der  Anode  bezw.  Ka- 
thode reicht  offenbar  nicht  hin,  um  die  bei  aufsteigender  Schliessung  von 
der  letzteren,  bei  absteigender  Oeffnung  dagegen  von  der  Anode  herab- 
kommende Erregung  vom  Muskel  abzublenden.  Der  einheitliche  Reiz- 
effect  bei  schwacher  aufsteigender  oder  absteigender  Durchströmung 
endlich  erklärt  sich  ungezwungen  durch  die  Annahme,  dass  die  Grösse 
der  beiden  vom  Strome  ausgehenden  Reizimpulse  verschieden  ist,  indem 
speciell  das  Verschwinden  des  Stromes  den  schwächeren  Reiz  bildet. 
Bei  allmählichem  Anwachsen  der  Stromesintensität  wird  sich  daher 
zunächst  der  mächtigere  Schliessungsreiz  der  Katliode  für  jede  Strom- 
richtung Geltung  verschaffen  und  erst  bei  weiterer  Steigerung  auch 
der  geringfügigere  Oeffnungsreiz  der  Anode  merkbar  werden. 

Es  bleiben  jetzt  noch  jene  Thatsachen  näher  zu  erörtern,  welche 
der  Annahme,  dass  bei  der  Schliessung  eines  Kettenstromes  die  Anode, 
nach  der  Oeffnung  die  Kathode  hemmend  wirkt,  zu  Grunde  liegen. 
Auch  hier  verdanken  wir  Pflüger  die  entscheidenden  Beweise. 
Während  sich  beim  Muskel  die  polaren  Hemmungsvorgänge  in  zwei- 
facher Weise  durch  G  e  s  t  a  1 1  v  e  r  ä  n  d  e  r  u  n g  e  n ,  sowie  durch  eine 
gleichzeitige  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  verriethen,  sind 
wir  für  den  Nerven  lediglich  auf  den  Nachweis  der  letzteren  beschränkt 
und  werden  daher  im  Sinne  der  obigen  Voraussetzungen  erwarten 
müssen ,  bei  Anwendung  genügend  starker  Ströme  eine  Hei-absetzung 
der  Erregbarkeit  des  Nerven  an  der  Anode  während  der  Schliessungs- 
dauer, dagegen  an  der  Kathode  nach  Oeffnung  des  Stromes  zu  finden. 
Hier  macht  sich  aber  sofort  ein  sehr  wesentlicher  Unterschied  vom 
quergestreiften  Muskel  bemerkbar;  denn  während  bei  diesem  die 
„elektrotonischen''  Erregbarkeitsänderungen  im  Wesentlichen  locale, 
auf  die  physiologischen  Pole  beschränkte  sind,  zeigt  sich,  dass  unter 
gleichen  Verhältnissen  beim  markhaltigen  Nerven  nicht  nur 
die  ganze  i  n  t  r  a  p  o  1  a  r  e ,  sondern  auch  b  e  t  r  ä  c  h  1 1  i  c  h  e  A  b  - 
schnitte  der  extrapolaren  Strecken  während  und  nach 
der  D  u  r  c  h  s  t  r  ö  m  u  n  g  einen  veränderten  E  )■  r  e  g  b  a  r  k  e  i  t  s  - 
zustand  darbieten,  der  im  Bereiche  beider  Pole  dem 
Sinne  nach  verschieden  und  entgegengesetzt  ist.  Nach- 
dem bereits  die  älteren  Galvaniker  Andeutungen  eines  solchen  Ver- 
haltens bei  Durchströmung  ganzer  Glieder  beobachtet  hatten,  bewies 
zuerst  Eckhardt  (20)  durch  einwandfreie  Versuche,  dass  ein  Nerv, 
wenn  eine  Strecke  desselben  von  einem  constanten  Strom  dauernd 
durchflössen  Avird,  weithin  in  einen  veränderten  Zustand  geräth,  der 
sich  durch  eine  Steigerung  oder  Herabsetzung  der  Anspruchsfähigkeit 
von  Punkten  der  intra-  und  exti'apolaren  Strecken  gegen  künstliche 
Reize  äussert.  Das  Erstere  sollte  ganz  allgemein  jenseits  der  Kathode, 
das  Letztere  jenseits  der  Anode  der  Fall  sein.  In  einer  meisterhaft 
durchgeführten  Experimentaluntersuchung,  deren  Resultate  nebst  den 
daran  sich  knüpfenden  theoretischen  Folgerungen  den  Inhalt  des  schon 
mehrfach  erwähnten  classischen  Werkes  über  den  „Elektrotonus"  bilden, 
hat  hierauf  Pflüger  alle  einschlägigen  Thatsachen  auf  das  Genaueste 


562  ^^^  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

untersucht    und    die    Durchforschung    dieses    Gebietes    zum    Abschluss 
gebracht. 

Wird  der  mittleren  Strecke  eines  motorischen,  am  einen  Ende 
mit  dem  Muskel  noch  in  Verbindung  stehenden  Nerven  ein  Ketten- 
strom mittels  unpolarisirbarer  Elektroden  zugeführt,  so  lassen  sicli  die 
durch  denselben  bewirkten  Erregbarkeitsveränderungen  am  leichtesten 
innerhalb  der  zwischen  Muskel  und  polarisirendem  Strom  gelegenen 
Nervenstrecke  nachweisen.  Man  kann  sich  dann  entweder  eines  in 
seiner  Grösse  leicht  und  genau  abstuf  baren  elektrischen  oder  wohl  auch 
eines  chemischen  oder  mechanischen  Reizes  als  „Prüfungsreiz"  be- 
dienen, wobei  natürlich  die  Höhe  der  Muskelcontraction  als  Maass  der 
Erregbarkeit  gilt.  Handelt  es  sich  um  den  Nachweis  einer  Steigerung 
der  Anspruchsfähigkeit,  so  muss  selbstverständlich  die  durch  den 
Prüfungsreiz  vor  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  ausgelöste 
Zuckung  eine  untermaximale  sein.  Ist  nun  der  Letztere  aufsteigend 
gerichtet  und  erfolgt  die  Reizung  an  einem  von  der  Anode  nicht  all- 
zuweit muskelwärts  gelegenen  Punkte  des  Nerven ,  so  lässt  sich  stets 
eine  mehr  oder  Aveniger  ausgeprägte  Herabsetzung  der  Erregbarkeit 
constatiren,  deren  Grösse  mit  wachsender  Stärke  des  polarisirenden 
Stromes  stetig  zunimmt.  Es  kann  unter  diesen  Umständen  ein  Strom, 
welcher  vorher  eine  maximale  Zuckung  auslöste,  völlig  unwirksam  werden 
und  ebenso  lässt  sich  ein  kräftiger,  durch  elektrische  oder  chemische 
Reizung  (concentrirte  NaCl-Lösung)  ausgelöster  Tetanus  momentan 
unterbrechen,  wenn  oberhalb  der  gereizten  Stelle  ein  starker  auf- 
steigender Strom  geschlossen  wird.  Reizt  man  in  möglichst  gleicher 
Weise  verschiedene  Punkte  der  „myopolaren"  (zwischen  Muskel  und 
polarisirenden  Strom  eingeschlossenen)  Strecke  des  Nerven,  so  kann 
man  sich  einerseits  leicht  davon  überzeugen ,  dass  mit  wachsender 
Stromstärke  die  Erregbarkeitsherabsetzung  sich  über  einen  immer 
grösseren  Theil  der  myopolaren  Strecke  ausbreitet,  während  anderer- 
seits der  Grad  der  Veränderung  von  der  Anode  aus  rasch  abnimmt. 
Ein  vollkommen  gegensätzliches  Verhalten  zeigen  die  Erregbarkeits- 
verhältnisse der  myopolaren  Strecke,  bei  absteigender  Richtung  des 
polarisirenden  Stromes.  Hier  zeigt  sich  die  Anspruchsfähigkeit  unter 
allen  Umständen  gesteigert,  und  zwar  wieder  in  einem  um  so  höheren 
Maasse,  je  näher  der  Prttfungsreiz  an  die  Kathode  heranrückt  und  je 
stärker  unter  sonst  gleichen  Umständen  der  polarisirende  Strom  ist. 
Tetanisirende  Reize,  welche  vorher  keine  oder  höchstens  Spuren  von 
Erregung  bewirkten,  lösen  sofort  einen  heftigen  Tetanus  aus,  weim 
oberhalb  der  gereizten  Nervenstelle  ein  absteigender  Strom  von  hin- 
reichender Stärke  geschlossen  wird.  Viel  schwieriger  gestaltet  sich 
die  Untersuchung  der  Erregbarkeit  der  extrapolaren  („centropolaren") 
Nervenstrecke  oberhalb  eines  aufsteigend  oder  absteigend  gerichteten 
polarisirenden  Stromes,  ganz  besonders  im  ersteren  Falle.  Hier  kommt 
die  Erregbarkeitssteigerung,  wie  Pflüger  gezeigt  hat,  bei  schwächeren 
Strömen  zwar  stets  deutlich  zur  Geltung,  schlägt  aber  bei  starken  in's 
Gegentheil  um,  indem  bei  einer  gewissen  Stärke  des  polarisirenden 
Stromes  ein  Reiz  von  bestimmter  Grösse  eine  schwächere  Muskelcon- 
ti'action  auslöst  als  vorher  und  endlich  sogar  sehr  starke  Reize,  welche 
vor  der  Schliessung  das  Zuckungsmaximum  bedingten,  nach  der 
Schliessung  ganz  unwirksam  werden.  Es  ist  dieser  Umstand  aber  nicht 
sowohl  einer  Abnahme  des  Erregbarkeitszuwachses  oberhalb  der  Kathode, 
also    einer    (centropolaren)  Erregbarkeitsverminderung,    zuzuschreiben, 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  563 

sondern  vielmehr  auf  die  Abnahme  der  Erregbarkeit  und  des  Leitungs- 
vermögens  an  der  unterhalb  gelegenen  Anode  zu  beziehen,  welche  sich 
mit  wachsender  Stärke  des  polarisirenden  Stromes  mehr  und  mehr 
geltend  machen  muss  und  jede  oberhalb  ausgelöste  Erregung  in  ihrer 
Wirkung  auf  den  Muskel  mehr  oder  weniger  beeinträchtigt.  Darauf 
ist  es  auch  wesentlich  zu  beziehen,  dass  Valentin  und  Eckhardt 
die  extrapolare  Erregbarkeitssteigerung  oberhalb  der  Kathode  nicht 
nachzuweisen  vermochten.  Wir  werden  daher  annehmen  dürfen,  dass 
oberhalb  des  aufsteigenden  Stromes  ganz  ebenso  wie  unterhalb  des 
absteigenden  die  Erregbarkeitserhöhung  mit  der  Stromstärke  stetig 
zunimmt;  wie  hier  ist  sie  auch  um  so  beträchtlicher,  je  näher  die  ge- 
prüfte Stelle  der  polarisirten  Nervenstrecke  liegt;  in  einer  bestimmten, 
zunächst  von  dfer  Stromstärke  abhängigen  Entfernung  von  der  Kathode 
wird  sie  gleich  Null.  Auch  in  Bezug  auf  das  Verhalten  der  extra- 
polaren Erregbarkeit  oberhalb  der  Anode  des  absteigenden  Stromes 
hat  sich  vollkommene  Uebereinstimmung  mit  den  unterhalb  des  auf- 
steigenden Stromes  zu  beobachtenden  anodischen  Erregbarkeits- 
änderungen herausgestellt.  Es  bliebe  jetzt  nur  noch  das  Verhalten 
der  Erregbarkeit  innerhalb  der  vom  Strome  selbst  absteigend  oder 
aufsteigend  durchflossenen  intrapolaren  Strecke  zu  besprechen.  Hier 
gilt  nun,  wie  sofort  ersichtlich  ist,  hinsichtlich  der  Schwierigkeiten 
der  Untersuchung  und  der  eventuell  verwendbaren  Methoden  Alles, 
was  früher  bereits  ausführlich  bezüglich  der  gleichen  Aufgabe  beim 
Muskel  hervorgehoben  wurde. 

Von  der  irrigen  Voraussetzung  ausgehend,  dass  ein  Inductions- 
strom  auf  der  ganzen  durchflossenen  Strecke  erregend  wirkt,  ver- 
suchte es  Pflüger,  auch  hier  zunächst  die  „Totalerregbar- 
keit" der  intrapolaren  Strecke  in  ihrer  Abhängigkeit  von  der  Stärke 
des  polarisirenden  Stromes  zu  bestimmen,  indem  er  nach  einem 
schon  von  Eckhardt  angewendeten  Verfahren  durch  die  polari- 
sirenden Elektroden  zugleich  auch  den  als  Prüfungsreiz  benützten 
Inductionsstrom  zuführte,  wie  dies  bereits  früher  für  den  Muskel  ge- 
schildert wurde.  Da  sich  jedoch  seither  herausgestellt  hat,  dass  auch 
inducirte  Ströme  polar  erregend  wirken,  so  ist  klar,  dass  die  Er- 
gebnisse der  betreffenden  Versuche  in  dem  ursprünglich  beabsichtigten 
Sinne  nicht  verwerthet  wei'den  können.  Indessen  hat  Pflüger  selbst 
auch  schon  Versuche  mit  chemischer  Reizung  einzelner  Stellen  der 
intrapolaren  Nervenstrecke  angestellt,  wobei  sich  ergab,  dass  dieselbe 
in  zwei  durch  einen  „Indifferenzpunkt"  getrennte  Ab- 
schnitte zerfällt,  in  deren  einem  die  Erregbarkeit 
herabgesetzt  ist,  während  sie  im  anderen  gesteigert 
erscheint,  und  zwar  ist  das  Erstere  Avieder  in  der  Nach- 
barschaft d  e  r  A  n  o  d  e ,  d  a  s  L  e  t  z  t  e  r  e  z  u  r  S  e  i  t  e  d  e  r  K  a  t  h  o  d  e 
der  Fall.  Mit  wachsender  Stromstärke  verschiebt  sich 
der  Indifferenzpunkt  aus  der  Gegend  der  Anode  nach 
d  e  r  K  a  t  h  o  d  e  hin,  und  zwar  u  n  a  b  h  ä  n  g  i  g  v  o  n  d  e  r  R  i  c  h  t  u  n  g 
des  Stromes  in  um  so  höherem  Grade,  je  stärker  der 
p 0 1  a r i s i r e n d e  Strom  ist.  Es  verbreitet  sich  also  die  anodische 
Erregbarkeitsherabsetzung  mit  wachsender  Stromstärke  über  einen 
immer  grösseren  Theil  der  durchflossenen  Nervenstrecke.  Die  zuletzt 
erwähnten  Thatsachen  betrefl's  der  Erregbarkeitsveränderungen  der 
intrapolaren  Strecke  wurden  neuerdings  auch  wieder  von  Tiger- 
st e  d  t    ( 20)   mittels   mechanischer  Einzelreize   festgestellt ,  welcher 


5g4  I'iß  elektrische  Erregnag  der  Nerven. 

übrigens  auch  alle  anderen  Resultate  Pflüger's  vollinhaltlich  be- 
stätigte. 

Von  nicht  minderer  Wichtigkeit  und  nicht  geringerem  Interesse 
als  die  während  der  Schliessungsdauer  eines  polarisirenden  Stromes 
hervortretenden  Erregbarkeitsveränderungen  sind  auch  die  Nach- 
wirkungen des  Constanten  Stromes  auf  die  Erregbarkeit 
des  Nerven,  als  deren  unmittelbare  Folge  unter  Anderem  die  Oeff- 
nungserregung  selbst  aufzufassen  ist.  Auch  auf  diesem  Gebiete  begegnen 
wir  einzelnen  Angaben  schon  aus  den  ersten  Zeiten  des  Galvanismus, 
welche  von  Pflüg  er  sorgfältig  gesammelt  wurden  (vergl.  Elektrotonus 
p.  72  ff.),  die  sich  jedoch  hauptsächlich  auf  die  Bedingungen  des  Hervor- 
tretens,  sowie  die  Deutung  der  Oeffnungserregung  beziehen.  Wie 
jedoch  Pflüger  selbst  gezeigt  hat,  äussern  sich  die  Nachwirkungen 
der  Durchströmung  nicht  nur  in  sichtbaren  Erregungserscheinungen, 
sondern  auch  in  gesetzmässigen  Veränderungen  der  Anspruchsfähigkeit 
aller  derjenigen  Nervenstrecken,  welche  auch  während  der  Zeit  des 
Geschloss'enseins  des  polarisirenden  Stromes  eine  veränderte  Erregbar- 
keit zeigten.  In  Kürze  lässt  sich  der  Thatbestand  so  ausdrücken,  dass 
man  sagt :  Im  Allgemeinen  herrscht  an  allen  Punkten,  wo 
während  der  Dauer  der  Durchströmung  ein  Zustand  er- 
höh t  e  r  E  r  r  e  g  b  a  r  k  e  i  t  nachweisbar  war,  u  n  m  i  1 1  e  1  b  a  r  n  a  c  h 
Oeffnung  des  Stromkreises  verminderte  Anspruchs- 
fähigkeit und  umgekehrt.  Dabei  ist  jedoch  zu  bemerken,  dass 
die  positive  Modilication  (Erregbarkeitssteigerung)  beiderseits  von  der 
Kathode  des  polarisirenden  Stromes  nur  vorübergehend  nach  der 
Oeffnung  sich  in  ihr  Gegentheil  verkehrt  und  schliesslich  mit  einer 
neuerlichen  Steigerung  der  Anspruchsfähigkeit  abklingt,  während  die 
negative  Modilication  (Erregbarkeitsherabsetzung)  in  der  Umgebung 
der  Anode  dauernd  einer  positiven  Modilication  Platz  macht  und 
auch  als  solche  abklingt.  Die  Dauer  der  ersten  Phase  des  Abklingens 
der  kathodischen  Erregbarkeitsveränderung  (der  negativen  Modifieation) 
ist  unter  sonst  gleichen  Umständen  um  so  kürzer,  je  stärker  der 
polarisirende  Strom  war,  so  dass  bisweilen  deren  Nachweis  mit 
Schwierigkeiten  verbunden  erscheint  (vergl.  Obernier,  21)  und  nur 
möglich  ist,  wenn  der  Prüfungsreiz  gleichzeitig  mit  oder  unmittelbar 
nach  der  Oeffnung  des  polarisirenden  Stromes  einwirkt.  Im  Uebrigen 
hängt  jedoch  die  Stärke  und  Dauer  der  Nachwirkungen  durchaus 
von  der  Stärke  der  ursprünglich  vorhandenen  Veränderungen  und 
damit    natürlich    auch  von  der  Stärke  des  modificirenden  Stromes  ab. 

Fassen  wir  die  vorstehend  mitgetheilten  Thatsachen  zusammen, 
so  ergiebt  sich  Folgendes  als  gesichertes  Resultat:  Wird  ein  Theil 
eines  markhaltigen  Nerven  dauernd  von  einem  Kette n- 
strom  durchflössen,  so  geräth  der  Nerv  nicht  nur  an  und 
zwischen  den  Elektroden,  sondern  auch  extrapolar 
weithin  in  einen  veränderten  Zustand  (Elektrotonus), 
der  sich,  abgesehen  von  anderen  später  zu  besprechen- 
den Erscheinungen,  auch  durch  Veränderungen  der 
Anspruchsfähigkeit  für  beliebige  Reize  äussert,  und 
zwar  herrscht  während  der  Dauer  der  Durchströmung 
im  Bereich  der  Kathode  eine  Erhöhung,  im  Bereich  der 
Anode  dagegen  eine  Herabsetzung  der  Erregbarkeit. 
Für  den  ersteren  Zustand  hat  man  den  Namen  „Katelek- 
trotonus",    für    den    letzteren     „Anelektrotonus"     einge- 


Die  elektrische  Erregung-  der  Nerven.  565 

führt,  wobei  aber  ausdrücklich  bemerkt  sei,  dass  beide 
Ausdrücke  nicht  allein  für  die  veränderte  Erregbar- 
keit, sondern  überhaupt  für  den  veränderten  Zustand 
der  Nerven Substanz  gebraucht  werden,  welcher  durch 
einen  elektrischen  Strom  im  Bereiche  beider  Pole  ver- 
ursacht wird  und  sich,  wie  wir  sehen  werden,  auch  noch 
anders  zu  äussern  vermag. 

In  sehr  anschaulicher  Weise  lassen  sich  die  elektrotonischen  Er- 
regbarkeitsveränderungen durch  eine  graphische  Darstellung  erläutern. 
Denkt  man  sich  auf  den  Nerven  als  Abscissenaxe  die  Erregbarkeit  jedes 
Punktes  als  Ordinate  aufgetragen,  so  würde,  wenn  man  von  der  Steige- 
rung der  Anspruchsfähigkeit  in  der  Nähe  des  Querschnittendes  absieht, 
die  Verbindungslinie  der  Gipfelpunkte  aller  einzelnen  Ordinaten  im 
Allgemeinen  eine  der  Abscisse  parallel  verlaufende  Gerade  darstellen. 
Wird  nun  aber  durch  eine  mittlere  Strecke  ein  Strom  geleitet,  so 
herrscht  an  der  Stelle  der  Kathode  selbst  ein  Zustand  gesteigerter,  an 
der  Anode  dagegen  verminderter  Erregbarkeit.  Drückt  man  das 
Erstere  durch  eine  nach  Oben  gezogene  (positive)  Ordinate  aus,  so  lässt 
sich  das  Letztere  durch  eine  nach  Unten  gehende  (negative)  Ordinate 
andeuten.     Von  beiden  Stellen  aus  nimmt,  Avie  gezeigt  wurde,  die  Er- 


Fig.  185. 

regbarkeit  soAVohl  extra-  wie  intrapolar  ab  und  verbreitet  sich  über 
um  so  grössere  Strecken  des  Nerven,  je  stärker  der  polarisirende  Strom 
ist.  Bezeichnet  dahe  rg  i  (Fig.  185)  den  Nerven,  an  welchen  die  Elektroden 
A  und  B  angelegt  wurden,  so  lässt  sich  der  Erregbarkeitszustand  der 
einzelnen  Punkte  für  schwache,  mittelstarke  und  starke  Ströme  während 
der  Schliessung  durch  die  drei  Curven  {ahc)  (def)  und  (ghi)  darstellen. 
Auch  hier  muss  wieder  bemerkt  werden,  dass  die  wahre  Gestalt  der 
Curven  nicht  genauer  bekannt  ist,  so  dass  dieselben  die  betreffenden 
Verhältnisse  nur  im  Allgemeinen  ausdrücken.  Wie  die  Curve  {ahc) 
zeigt,  befindet  sich  bei  den  schwächsten  Strömen  fast  die  ganze  intra- 
polare Strecke  im  Zustand  erhöhter  Erregbarkeit  (Katelektrotonus), 
indem  der  IndifFerenzpunkt  in  diesem  Falle  nahe  bei  der  Anode  ge- 
legen ist.  Man  sieht  ferner,  dass  von  dem  genannten  Punkte  aus  die 
Erregbarkeit  nach  der  einen  Seite  hin  allmählich  wächst,  nach  der 
andern  entsprechend  abnimmt ;  die  Veränderung  erreicht  ihr  Maximum 
in  nächster  Nähe  der  beiden  Elektroden,  um  von  da  aus  wieder  bis 
auf  Null  abzunehmen.  Im  Vergleich  zu  dieser  Curve  ist  die  Strömen 
mittlerer  Stärke  entsprechende,  im  Allgemeinen  gleich  gestaltete  Curve 
{def)  vor  Allem  dadui-ch  charakterisirt,  dass  sie  eine  viel  grössere 
Strecke  des  Nerven  umfasst  und  wesentlich  höhere  Ordinatenwerthe 
darbietet,  während  andererseits  der  Indifferenzpunkt  etwa  in  der  Mitte 
der  intrapolaren   Strecke  liegt.     Es   entsprechen    diese  Abweichungen 


5(36  Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

dem  Umstände,  dass  die  elektrotonischen  Erregbarkeitsveränderungen 
einerseits  an  Intensität,  andererseits  auch  an  Ausbreitung  gewinnen, 
wenn  die  Stärke  des  polarisirenden  Stromes  wächst.  Dasselbe  lässt 
auch  wieder  die  dritte,  starken  Strömen  entsprechende  Curve  ighi)  er- 
kennen, die  insofern  mit  (abc)  contrastirt,  als  der  IndifFerenzpunkt 
ganz  nahe  der  Kathode  liegt,  so  dass  hier  fast  die  ganze  intra- 
polare Strecke  sich  im  Zustand  des  Anelektrotonus  befindet.  Es  würde 
leicht  sein ,  auch  die  oben  erwähnten  Nachwirkungen  des  An-  und 
Katelektrotonus  graphisch  darzustellen,  indem  sich  die  Erregbarkeit 
jedes  Punktes  wenigstens  unmittelbar  nach  der  Oeffnung  gerade  entgegen- 
gesetzt verhält,  wie  während  der  Schliessung. 

Es  war  bisher  nur  von  dem  Einfluss  der  Stärke  des  polari- 
sirenden Stromes  auf  die  Grösse  und  Ausbreitung  der  elektrotonischen 
Erregbarkeitsänderungen  die  Rede,  doch  spielt,  wie  ebenfalls  schon 
Pflüger  festgestellt  hat,  auch  die  Länge  der  durchflossenen 
N  e  r  V  e  n  s  t r  e  c  k  e ,  sowie  die  zeitlichen  Verhältnisse  der  Durchströmung 
eine  nicht  unwesentliche  Rolle.  In  ersterer  Beziehung  liegen,  abgesehen 
von  älteren  Angaben  Humboldt's,  Ritter' s  u.  A. ,  insbesondere 
Bemerkungen  von  Du  Bois  Reymond  vor.  Nach  dem  Ohm'schen 
Gesetze  ist  die  Intensität  eines  elektrischen  Stromes  direct  proportional 
der  elektromotorischen  Kraft  und  umgekehrt  proportional  dem  Wider- 
stand des  Kreises.  Will  man  daher  den  Einfluss  der  Streckenlänge 
auf  die  Erregung  selbst  oder  die  elektromotorischen  Erregbarkeits- 
änderungen untersuchen ,  so  muss  bei  dem  grossen  Widerstand  des 
Nerven  vor  Allem  gesorgt  werden,  dass  mit  der  Vergrösserung  der 
durchströmten  Strecke  der  Gesammtwiderstand  sich  nicht  erheblich 
ändert.  Du  Bois  Reymond  erreichte  dies,  indem  er  als  Widerstand 
einen  Alkoholrheostaten  einschaltete,  dem  gegenüber  der  Widerstand 
der  durchströmten  Nervenstrecke  als  verschwindend  betrachtet  werden 
konnte.  Dabei  zeigte  sich,  dass  der  extrapolare  Elektrotonus  (d.  h. 
dessen  galvanische  Wirkungen)  und  die  negative  Schwankung  als 
Ausdruck  der  Erregung  sich  stärker  entwickeln,  wenn  die  Länge  der 
intrapolaren  Strecke  zunahm.  Zu  demselben  Resultat  gelangte  später 
auch  Pflüger. 

Willy  (22)  prüfte  dann  auch  die  unter  gleichen  Umständen  hervor- 
tretenden Unterschiede  der  Zuckungsgrösse.  Er  bediente  sich  zweier 
Nerven,  von  denen  der  eine  in  kurzer,  der  andere  in  langer  Strecke 
vom  Strome  durchsetzt  wurden.  Es  stellte  sich  dabei  heraus,  dass  die 
stärkere  Erregung  der  längeren  Strecke  nur  für  die  Schliessung  ab- 
steigender Ströme  gilt,  während  bei  Schliessung  aufsteigender  Ströme 
ein  umgekehrter  Erfolg  als  Regel  gilt.  Willy  formulirt  daher  seine 
Beobachtungen  folgendermaassen :  „Die  Erregbarkeit  ist  ceteris  paribus 
um  so  stärker,  je  näher  dem  Muskel  die  Kathode,  je  weiter  von  ihm 
die  Anode  ist." 

Unter  Fick's  Leitung  untersuchte  hierauf  Marcus  e  (22)  dasselbe 
Problem,  indem  er  den  Nerven  in  einen  mit  physiologischer  NaCl-Lösung 
gefüllten  kleinen  parallelepipedischen  Glastrog  legte.  Ein  Paar  gegen- 
überstehende Wände  desselben  bestanden  aus  amalgamirtem  Zink  und 
vermittelten  die  Zuleitung  des  inducirten  Stromes.  Je  nachdem  nun 
eine  kürzere  oder  längere  Strecke  des  Nerven  eintauchte,  wurde  die- 
selbe vom  Strom  mit  gleicher  Dichte  durchsetzt;  mit  wachsender  Länge 
nahm  dann  die  kleinste,  merklich  reizend  wirkende  Stromstärke  anfangs 
rapid,  dann  immer  langsamer  ab  „und  scheint  sich  assymptotisch  einem 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  567 

Grenzwerthe  zu  nähern  oder  nach  Ueberschreitimg  eines  Minimums 
wieder  zu  wachsen".  Auch  bei  Anwendung  des  constanten  Stromes 
fand  M  a  r  c  u  s  e  sowohl  bei  aufsteigender  wie  bei  absteigender  Richtung 
einen  begünstigenden  Einfluss  der  längeren  intrapolaren  Strecke,  indem 
die  erste  merkliche  Zuckung  früher  eintrat,  als  bei  kurzer  Strecke. 
Zu  wesentlich  gleichen  Resultaten  gelangte  auch  Tschirjew  (16)  und 
Clara  Haiperson  (23). 

Von  den  Verhältnissen  der  zeitlichen  Entwicklung  aller  den 
Elektrotonus  charakterisirenden  Veränderungen  der  Nervensubstanz, 
also  auch  der  hier  in  Rede  stehenden  Erregbarkeitsänderungen,  wird 
später  im  Zusammenhang  zu  handeln  sein.  Hier  sei  nur  erwähnt,  dass 
nach  Pflüger  die  katelektrotonische  Erregbarkeits- 
steigerung sofort  nach  der  Schliessung  des  Kette  n- 
stromes  nachweisbar  ist,  um  dann  langsam  wieder  abzunehmen, 
während  der  An  elektrotonus  sich  vergleichsweise  lang- 
sam entwickelt  und  ausbreitet;  d  a  s  M  a  x  i  m  u  m  tritt  unter 
allen  Umständen  erst  einige  Zeit  nach  der  Schliessung 
ein.  Wir  werden  später  sehen,  dass  in  dieser  Beziehung  volle  Ueber- 
einstimmung  mit  den  galvanisclien  Veränderungen  des  Nerven  im 
Zustand  des  Elektrotonus  herrsclit. 

Wenn  das  Leitungsvermögen,  um  mit  Gad  zu  sprechen,  nur  der 
Ausdruck  der  „Längserregbarkeit"  des  Nerven  ist,  d.  h.  der  Fähigkeit 
desselben,  eine  örtlich  ausgelöste  Erregung  der  Länge  nach  von 
Querschnitt  zu  Querschnitt  fortzupflanzen,  so  erscheint  von  vorneherein 
die  Annahme  am  wahrscheinlichsten,  dass  den  elektrotonischen  Er- 
regbarkeitsveränderungen auch  gleichsinnige  Aenderungen  des  Leitungs- 
vermögens entsprechen.  In  der  That  scheinen  ja  auch  die  Thatsachen 
des  Zuckungsgesetzes  ganz  unmittelbar  darauf  hinzuweisen,  dass  der 
bestehende  Anelektrotonus  (bei  aufsteigender  Stromesrichtung),  sowie 
der  schwindende  Katelektrotonus  (bei  absteigender  Stromesrichtung) 
eine  Leitungshemmung  für  die  im  ersteren  Falle  von  der  Kathode,  im 
letzteren  von  der  Anode  kommende  Erregung  bedingt.  Mit  Rücksicht 
auf  die  L  und  2.  Stufe  des  Zuckungsgesetzes  würde  man  ferner  an- 
nehmen müssen,  dass  die  Herabsetzung  des  Leitungsvermögens  erst 
bei  relativ  starken  polarisirenden  Strömen  ausreichend  wird,  um  eine 
wirksame  Hemmung  zu  bedingen.  Die  Angaben  v.  Bezold's,  welchem 
wir  eine  ausführliche  Untersuchung  über  die  Erregungsleitung 
des  Nerven  im  elektrotonischen  Zustande  verdanken  (19), 
entsprechen  den  gemachten  Voraussetzungen  nur  theilweise.  Es  wurde 
früher  schon  hervorgehoben,  dass  jede  oberhalb  einer  aufsteigend 
oder  absteigend  durchflossenen  Nervenstrecke  ausgelöste  Erregung 
bei  einer  gewissen  Intensität  des  polarisirenden  Kettenstromes  wirkungs- 
los bleibt,  weil  dann,  wie  wir  annahmen,  die  Herabminderung  der 
Erregbarkeit  (und  des  Leitungsvermögens)  in  der  ganzen  anelektro- 
tonischen  Strecke  so  beträchtlich  ist,  dass  dadurch  ein  wirksames 
Hinderniss  für  die  Fortleitung  des  Reizes  zum  Muskel  gegeben  ist. 
Bevor  es  aber  soweit  kommt,  macht  sich  dies,  wie  v.  Bezold  zeigte, 
schon  durch  eine  mehr  oder  Aveniger  beträchtliche  Verzögerung 
im  Eintritt  der  Muskelzuckung  geltend,  die  um  so  grösser  ist, 
je  stärker  der  polarisirende  Strom  war  und  je  länger  er  geschlossen 
blieb.  Um  den  Antheil,  welchen  hierbei  die  polarisirte  Strecke,  die 
beiden  Pole,  sowie  die  extrapolaren  Nervenstrecken  haben,  näher  fest- 
zustellen, reizte  v.  Bezold    zunächst   den  Muskel   direct   imd    hierauf 


568 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


den  Nerven  an  drei  verschiedenen  Stellen  (a  b  c)  seines  Verlaufes  durch 
je  einen  einzelnen  Inductionsschlag  (Fig.  186);  aus  der  beobachteten  Ver- 
schiedenheit der  Latenzstadien  Hess  sich  die  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit der  Erregung  von  a  zum  Muskel,  von  h  zu  a  und  von  c  zu  & 
berechnen ;  wurde  dann  durch  die  Strecke  (c)  ein  aufsteigender  Ketten- 
strom dauernd  hindurch  geleitet,  in  dessen  Kreis  zugleich  die  secundäre 
Spirale  eines  Schlittenapparates  eingeschaltet  war,  so  musste  sich  bei 
Wiederholung  der  genannten  vier  Zuckungen  der  eventuelle,  verzögernde 
Einfluss  des  extrapolaren  Anelektrotonus  auf  die  Geschwindigkeit  der  Er- 
regungsleitung erkennen  lassen.  In  der  That  zeigte  sich  dies  ausnahms- 
los bestätigt,  und  zwar  war,  abgesehen  von  dem  schon  erwähnten 
Einfluss  der  Schliessungsdavier,  der  Werth  dieser  Verzögerung  in  jedem 
einzelnen  Nervenquerschnitte  um  so  beträchtlicher,  je  näher  sich  der- 
selbe am  positiven  Pole  des  polarisirenden  Stromes  befand.  Wenn  dieses 
Resultat    kaum    überraschen   konnte,    indem  es  sich  in  vollster  Ueber- 

einstimmung  mit  dem 
früher  geschildertenVer- 
halten  der  Erregbarkeit 
an  den  einzelnen  Punk- 
ten der  im  Anelektro- 
tonus belindlichen  extra- 
polaren Nervenstrecke 
steht,  so  muss  dagegen 
die  weitere  Beobachtung 
V.  Bezold's  auf  den 
ersten  Blick  sehr  auf- 
fallend erscheinen,  der 
zufolge  ein  ganz  gleich- 
artiges Verhalten  der 
Erregungsleitung  auch 
dann  hervortritt,  wenn 
der  polarisirende  Strom 
bei  (c)  absteigend  ge- 
richtet, die  myopolare 
Strecke  des  Nerven  da- 
her im  Katelektrotonus 
befindlich  ist.  Auf  Grund 
des  Gegensatzes,  welcher  sich  in  allen  übrigen  Beziehungen  zwischen 
den  anelektrotonischen  und  katelektrotonischen  Veränderungen  des 
Nerven  ausprägt,  würde  man  von  vorneherein  eher  das  Gegentheil, 
d.  h.  eine  Beschleunigung  der  Leitung  oder  Avenigstens  ein  Gleich- 
bleiben erwartet  haben.  Indessen  wird  die  Thatsache  minder  be- 
fremdlich, wenn  man  erwägt,  dass  v.  Bezold  sehr  starke  Ketten- 
ströme verwendete  und  die  Schliessungsdauer  bis  zu  13  Minuten  aus- 
dehnte. Unter  diesen  Umständen  äussert  sich  aber  auch  der  polar 
beschränkte  Katelektrotonus  des  Muskels  durch  eine  starke  Herab- 
setzung der  Erregbarkeit  und  wohl  auch  des  Leitungsvermögens,  die 
dann  auch  die  Oeffnung  des  polarisirenden  Kreises  noch  lange  über- 
dauert (locale  Ermüdung).  In  der  That  ist  es  Rutherford  (24) 
bei  AnAvendung  schwächerer  polarisirender  Ströme  und  kürzerer  Ein- 
wirkungsdauer derselben  gelungen  nachzuweisen,  dass  nur  im  An- 
elektrotonus die  Leitung  verzögert,  im  Katelektrotonus  dagegen  be- 
schleunigt ist;  nur  bei  starken  Strömen   oder  nach  langer  Einwirkung 


Fig.  186.     Einfluss  der  Elektrotonus  auf  die  Erregung 
leitung  im  Nerven.     (Nach  v.  Bezold.) 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  569 

geht  diese  Beschleunigung  in  ihr  Gegentheil  über.  Dass  bei  längerer 
Schliessungsdauer  stärkerer  Ströme  auch  die  anfangs  gesteigerte  Er- 
regbarkeit der  kathodisehen  Nervenstellen  einer  sich  allmählich 
entwickelnden  Unerregbarkeit  weicht,  welche  bis  zu  völliger  Undurch- 
dringlichkeit derselben  selbst  für  die  Erregung  mit  stärksten  In- 
ductionsschlängen  gehen  kann,  wurde  schon  von  Hermann  (25) 
und  Grünhagen  (25)  gezeigt,  und  später  auch  wieder  von  Werigo 
(25)  bestätigt.  Dieser  Zustand  entwickelt  sich  wie  beim  Muskel  um 
so  schneller,  je  stärker  der  polarisirende  Strom  ist  und  kann  dann 
intra-  und  extrapolar  so  rasch  auftreten,  dass  es  kaum  möglich  ist,  die 
vorhergehende  Erregbarkeitssteigerung  nachzuweisen.  Bei  schwachen 
Strömen  dauert  es  dagegen  stundenlang,  ehe  diese  secundäre  Erreg- 
barkeitsänderung hervortritt.  Wird  der  polarisirende  Strom  in  dem 
Augenblick  geöffnet,  wo  eben  die  Kathode  undurchgängig  geworden 
ist,  so  kehrt  fast  in  demselben  Momente  auch  die  Erregbarkeit  (Leitungs- 
fähigkeit) wieder,  um  bei  neuerlicher  Schliessung  des  Stromes  sofort 
wieder  zu  schwinden,  v.  Bezold  versuchte  es  auch,  sich  über  das 
Leitungsvermögen  innerhalb  der  intrapolaren  Strecke  selbst  Aufschluss 
zu  verschaffen  und  gelangte  zu  der  Annahme  eines  in  seiner  Lage 
von  der  Stromstärke  unabhängigen,  die  durchflossene  Strecke  halbiren- 
den  Indifferenzpunktes,  von  dem  aus  die  Leitungsfähigkeit  nach  beiden 
Polen  hin  gleichmässig  abnimmt. 

In  nächster  Beziehung  zu  den  vorstehend  besprochenen  Ver- 
änderungen der  Erregbarkeit  des  Nerven  im  Zustande  des  Elektro- 
tonus  und  insbesondere  auch  zu  dessen  unmittelbaren  Nachwirkimgen 
stehen  eine  Reihe  von  Erregungs-  und  Hemmungserscheinungen, 
welche  nun  noch  in  Kürze  erörtert  werden  müssen.  Hinsichtlich  der 
Oeffnungserregung  wurde  schon  früher  bemerkt,  dass  sie  als  eine 
Nachwirkung  der  Durchströmung  im  Sinne  Ritter's,  d.  h.  als  eine 
Reaction  des  Nerven  gegen  gewisse,  durch  den  Strom 
bewirkte  Veränderungen  aufzufassen  ist.  Ritter  drückt  sich 
in  dieser  Beziehung  sehr  charakteristisch  folgenderweise  aus  (Beiträge 
zur  näheren  Kenntniss  des  Galvanismus,  I.  p.  78  ff.  1802):  „Wir  haben 
die  Phänomene  bei  der  Trennung  galvanischer  Batterien  einen  Gegen- 
stand von  ganz  eigenthümlicher  Wichtigkeit  genannt.  Wir  kommen 
daran,  dies  zu  rechtfertigen.  Es  geschieht  in  der  einzigen  Erwägung 
des  grossen  Umstandes,  dass  sie  eintreten  im  Augenblicke,  wo  der 
organische  Körper  und  seine  Theile  dem  Einfluss  der  Batterie  soeben 
entzogen  werden.  Sie  können  also  auf  keine  Weise  eine  directe 
Wirkung  der  Batterie  mehr  sein,  denn  wie  sollte  doch  diese  der- 
gleichen vermögen,  da  sie  nicht  mehr  gegenwärtig  ist?  —  Der  in 
ihrer  Kette  gewesene  Organismus  selbst  muss  sie  geben, 
und  dass  er  sie  giebt,  kann  blos  darin  liegen,  dass  er 
eben  in  jener  Kette  war,  denn  ohne  dies  hätte  er  sie 
nicht  gegeben." 

In  der  That  dürfte  es,  wie  Pflüger  bemerkt,  schwer  sein,  für 
das  eigentliche  Wesen  der  Oeffnungserregung  einen  richtigeren  und 
treffenderen  Ausdruck  zu  finden,  und  wenn  in  neuerer  Zeit  versucht 
worden  ist,  dieser  ursprünglichen  Auffassung  der  Oeffnungserregung, 
wonach  dieselbe  auf  dem  Verschwinden  eines  durch  den  Strom  er- 
zeugten eigenthümlichen  Zustandes  beruht,  einen  anderen  Sinn  unter- 
zulegen, so  kann  man  dem,  wie  noch  zu  zeigen  sein  wird,  nur  theil- 
weise  zustimmen. 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  37 


570  I^iö  elektrische  Erregung-  der  Nerven. 

Mit  Rücksicht  auf  die  späteren  Ermittelungen  insbesondere 
Pflüg  er 's  hat  man  dann  den  Sachverhalt  gewöhnlich  so  ausgedrückt, 
dass  man  sagte :  So  wie  die  Schliessungserregung  durch  das  Entstehen 
des  Katelektrotonus  (d.  h.  der  Gesammtheit  der  an  der  Kathode  durch 
den  Strom  bewirkten  Veränderungen  der  Nervensubstanz)  bedingt 
wird,  so  ist  die  Oeffnuugserregung  die  unmittelbare  Folge  des 
Schwindens  der  anelektrotonischen  Veränderungen.  Die  den  Elektro- 
tonus  bezw.  sein  Schwinden  begleitenden  Erregbarkeitsänderungen  ge- 
statten nun  aber,  wie  mir  scheint,  noch  einen  Schritt  weiter  zu  gehen 
in  der  Erklärung  der  betreffenden  Phänomene.  Man  muss  sich  dabei 
vor  Allem  erinnern,  dass,  wie  dies  mehrfach  auch  schon  von  anderer 
Seite  ausgesprochen  Avorden  ist,  eine  scharfe  Grenze  zwischen  Er- 
regbarkeitssteigerung und  Erregung  nicht  wohl  angenommen  werden 
kann.  Eine  über  eine  gCAvisse  Grenze  hinausgehende  Erregbarkeits- 
steigerung kann  unmittelbar  in  Erregung  übergehen,  und  umgekehrt 
äussert  sich  eine  schwache  dauernde  latente  Erregung,  die  noch  nicht 
zu  sichtbaren  Folgewirkungen  führt,  nur  durch  eine  gesteigerte  An- 
spruchsfähigkeit. Nun  ist  sowohl  das  Entstehen  des  Katelektrotonus 
wie  das  Verschwinden  des  Anelektrotonus  von  einer  immer  leicht 
nachweisbaren  starken  Erregbarkeitssteigerung  begleitet,  die  an  den 
Polen  selbst  die  grösste  Intensität  erreicht  und  hier  in  der  That  zur 
Auslösung  einer  wirksamen  Erregung  führt,  wenn  sonst  die  Bedingungen 
günstig  sind.  Nach  dieser  Auffassung  stehen  daher  die  nur  eine  Theil- 
erscheinung  des  „Elektrotonus"  ausmachenden  Veränderungen  der  Er- 
regbarkeit beim  Nerven  ebenso  wie  beim  Muskel  in  einer  ganz  un- 
mittelbaren Beziehung  zu  den  die  beiden  Momente  des  Entstehens 
und  Verschwindens,  der  Schliessung  und  Oeffnung  des  Stromes 
markirenden  Erregungserscheinungen.  Nicht  um  eine  besondere 
der  Erregung  zu  Grunde  liegende  Veränderung  der 
lebendigen  Substanz  handelt  es  sich,  welche  ihrer 
Natur  nach  verschieden  wäre  von  den  Veränderungen, 
deren  Ausdruck  die  Erregbarkeitssteigerung  ist, 
sondern  Beides  sind  nur  verschiedene  Aeusserungen 
einer  und  derselben  Zustandsänderung,  welche  die  er- 
regbare Substanz  unter  dem  Einfluss  des  elektrischen 
Stromes  im  einen  Falle  an  der  Kathode,  im  andern  an 
der  Anode  erleidet. 

Ein  wie  es  scheint  für  alle  irritablen  Substanzen  geltendes  Gesetz 
bezieht  sich  auf  die  Thatsache,  dass  nach  länger  andauernder  oder 
oft  wiederholter  Schliessung  eines  Kettenstromes  bei  unveränderter 
Lage  der  Elektroden  und  unveränderter  Richtung  des  Stromes  der 
Erfolg  der  Schliessungsreizung  mehr  und  mehr  abnimmt  und  schliess- 
lich gänzlich  ausbleibt.  Es  wurde  schon  beim  Muskel  darauf  hin- 
gewiesen, dass  es  sich  hier  nicht  um  eine  sich  allmählich  entwickelnde 
Unerregbarkeit  der  ganzen  durchflossenen  Sti'ecke  handelt,  sondern 
vielmehr  um  eine  locale  Veränderung  derjenigen  Stelle  (bezw. 
Stellen),  an  welcher  oder  an  welchen  primär  der  Vorgang  der  Er- 
regung, und  zwar  während  der  ganzen  Schliessungsdauer  des  Stromes, 
ausgelöst  wird,  d.  h.  nämlich  an  der  physiologischen  Kathode.  Der 
einfachste  Beweis  hiefür  ist  durch  dem  Umstand  gegeben,  dass  der 
Muskel  bei  Wendung  des  Stromes  auf  das  Lebhafteste  reagirt,  in  der 
Regel  sogar  deutlich  stärker  als  vordem.  Ganz  dasselbe  gilt  nun 
auch  für  indirecte  Muskelreizung  vom  Nerven  aus.    Schon  Volta  und 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  571 

nach  ihm  Marianini  waren  hier  zu  dem  Resultate  gekommen,  dass 
jede  Stromesrichtung  die  Erregbarkeit  für  sich  herab- 
setzt, für  die  entgegengesetzte  aber  erhöht.  „Denn  leite 
man  einen  Strom  durch  ein  galvanisches  Präparat  so,  dass  der  eine 
Schenkel  aufsteigend,  der  andere  absteigend  durchflössen  ist,  so  ver- 
lieren sich  allmälilich  um  so  mehr  die  Zuckungen  in  beiden  Schenkeln, 
je  länger  die  Kette  geschlossen  war.  Kehrt  man  aber  dann  den  Strom 
um,  so  erscheinen  in  beiden  Schenkeln  wiederum  die  lebhaftesten 
Zusammenziehungen  des  Muskels."  Wie  schon  früher  erwähnt,  be- 
zeichnet man  diese  Erscheinungen  demgemäss  als  „Volta'sche 
Alternativen"  oder  „Abwechselungen".  In  neuerer  Zeit  hat 
insbesondere  Rosenthal  (26)  die  einschlägigen  Thatsachen  zum 
Gegenstande  einer  eingehenderen  Untersuchung  gemacht,  deren  wesent- 
lichstes Resultat  er  in  dem  folgenden  Satze  zusammenfasst :  „Jeder 
Consta nte  Strom,  welcher  eine  Zeit  lang  einen  moto- 
rischen Nerven  durchströmt,  versetzt  denselben  in 
einen  Zustand,  worin  die  Erregbarkeit  für  die  Oeffnung 
des  einwirkenden  und  Schliessung  des  entgegengesetzten 
Stromes  erhöht,  dagegen  für  die  Schliessung  des  ersteren 
und  die  Oeffnung  des  letzteren  herabgesetzt  ist."  Schon 
Ritter  war  es  bekannt,  dass  der  Oeffnungstetanus  sofort  verschwindet 
und  der  Muskel  augenblicklich  erschlafft,  wenn  der  auslösende  Ketten- 
strom in  derselben  Richtung  wie  vorher  geschlossen  wird,  ganz  ebenso 
wie  auch  bei  directer  Muskelreizung  die  anodische  Oeffnungsdauercon- 
traction  durch  Schliessung  des  gleichgerichteten  Stromes  unterdrückt  wird. 
R 0 s e n t h a  1  fügte  dem  weiter  hinzu,  dass  Schliessung  des  Stromes 
in  entgegengesetzter  Richtung  den  Ritter'schen  Tetanus  nicht  nur 
nicht  beseitigt,  sondern  sogar  erheblich  verstärkt,  während 
dann  Oeffnung  des  Kreises  so  wirkt,  wie  Schliessung 
des  gleichgerichteten  Stromes,  d.  h.  den  Tetanus  auf- 
hebt. Ein  bereits  erloschener  Oefi'nungstetanus  lässt  sich  durch 
Schliessung  eines  entgegengesetzt  gerichteten  Stromes  auch  selbst  dann 
noch  wieder  hervorrufen,  wenn  Schliessung  und  schnelle  Wiederöffnung 
des  gleichgerichteten  Stromes  dies  nicht  vermag.  Hat  man  den  nach 
Oeffnung  eines  auf-  oder  absteigenden  Stromes  eingetretenen  Tetanus 
durch  Schliessung  des  entgegengesetzt  gerichteten  verstärkt,  und  lässt 
man  nun  diesen  letzteren  dauernd  geschlossen,  so  verschwindet  der 
anfangs  verstärkte  Tetanus  allmählich.  Bleibt  aber  der  Strom  auch 
nach  dem  Verschwinden  noch  länger  geschlossen,  so  tritt  endlich  bei 
der  Oeffnung  desselben  wieder  Tetanus  ein,  und  das  Präparat  verhält 
sich  nun  gegen  diesen  Strom  wie  vorher  gegen  den  entgegengesetzten, 
d.  h.  so,  als  ob  dieser  Strom  ursprünglich  auf  den  Nerven  eingewirkt 
hätte.  Der  neue  Strom  hat  also  dann  die  vom  ursprünglichen  erzeugte 
Modification  zunächst  aufgehoben  und  fängt  nun  von  vorne  an,  dieselbe 
Modification  in  seinem  Sinne  zu  erzeugen. 

Alle  diese  Thatsachen  erklären  sich,  wie  man  leicht  sieht,  un- 
mittelbar aus  den  oben  geschilderten  polaren  Erregbarkeitsänderungen, 
beziehungsweise  Erregungs-  und  Hemmungswirkungen  am  Nerven,  ja 
sie  hätten  sogar  auf  Grund  derselben  vorhergesagt  werden  können. 
In  diesem  Sinne  ist  das  Rosenthal'sche  Gesetz  nichts  weiter  als  eine 
Folgerung  aus  dem  polaren  Erregungsgesetze  in  der  oben  besprochenen 
erweiterten  Form,  eine  nothwendige  Folge  des  gleichzeitigen  Antago- 
nismus der  an  beiden  Polen  durch  den  Strom  erzeugten  Veränderungen 

37* 


572  I^'ß  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

und  des  successiven  Contrastes  derselben  an  einem  und  demselben 
Pole  während  der  Schliessung  und  nach  Oeffnung  des  Stromes.  So 
erscheint  es  fast  selbstverständlich,  dass  Wiederschliessung  des  gleich- 
gerichteten Stromes  eine  dauernde  Oeffnungserregung  sofort  aufhebt, 
da  ja  im  gleichen  Augenblick  wieder  Anelektrotonus  an  allen  den 
Stellen  des  Nerven  herrscht,  deren  Erregbarkeit  noch  eben  gesteigert 
war.  Umgekehrt  muss  natürlich  Schliessung  des  entgegengesetzt 
gerichteten  Stromes  wirken,  wobei  die  Erregung  in  Folge  des  schwin- 
denden Anelektrotonus  durch  den  an  gleicher  Stelle  entstehenden  Kat- 
elektrotonus   unterstützt  wird. 

Bei  der  Bedeutung,  welche  die  Anwendung  des  elektrischen 
Stromes  in  der  praktischen  Heilkunde  gCAvonnen  hat,  erschpinen  die 
zahlreichen  Bestrebungen  begreiflich,  die  elektrotonischen  Erregbar- 
keitsänderungen und  das  Zuckungsgesetz  auch  am  lebenden  Menschen 
zu  prüfen.  Es  ist  jedoch  von  vorneherein  ersichtlich,  dass  die 
Schwierigkeiten  der  Untersuchung  hier  ganz  unverhältnissmässig 
grössere  sind,  indem  die  complicirten  und  zum  Theil  unübersehbaren 
Verhältnisse  der  Stromverzweigung  und  -Leitung  einen  directen  Ver- 
gleich der  Resultate  mit  den  Erfahrungen  bei  Reizung  frei  präparirter 
Nerven  ausserordentlich  erschweren  und  oft  genug  ganz  unmöglich 
machen.  Unter  allen  Umständen  erscheint  aber  bei  Beurtheilung  des 
Werthes  der  am  Menschen  gewonnenen  Erfahrungen  die  grösste  Vor- 
sicht geboten. 

In  der  älteren  Litteratur  des  Galvanismus  findet  sich  betreffs 
Erregbarkeitsänderungen  menschlicher  Nerven  unter  dem  Ein- 
fluss  elektrischer  Durchströmung  nur  eine  oft  citirte  Angabe  von 
Ritter  (1802).  Tauchte  er  beide  Hände  in  2  Wassergefässe,  welche 
mit  den  Polen  einer  starken  Batterie  verbunden  waren,  so  entstand 
nach  längerer  Zeit  —  Ritter  blieb  V2  Stunde  mit  der  Batterie  in 
Verbindung  —  in  dem  aufsteigenden  durchströmten  Arm  eine  merk- 
liche Zunahme  der  Beweglickeit,  in  dem  absteigenden  durchflossenen 
dagegen  eine  immer  grösser  werdende  Abnahme  derselben.  Nach  Oeff- 
nung des  Kreises  dauerten  diese  Verändei'ungen  noch  eine  kurze  Zeit 
an.  Pflüg  er  erblickte  in  diesem  Versuch  eine  vollkommene  Be- 
stätigung seiner  am  Froschpräparate  gCAVonnenen  Ergebnisse.  Schliessen 
wir  eine  Kette  durch  beide  Arme,  .,so  Averden  die  Armnerven  von 
ungleich  dichteren  Strömen  durchflössen,  als  das  Armgeflecht  oder 
gar  das  Rückenmark  mit  seinen  motorischen  Wurzelnerven,  weil  hier 
der  Querschnitt  der  Strombahn  so  ausserordentlich  gross  ist,  dass  wir 
im  Allgemeinen  die  Stromdichte  für  verschwindend  ansehen  dürfen. 
Aus  diesem  Grunde  kann  man  den  absteigend  durchflossenen  Arm 
sich  so  vorstellen,  als  ob  die  positive  Elektrode  auf  die  Schulter,  die 
negative  auf  die  Hand  aufgesetzt  sei.  Für  den  aufsteigend  durch- 
flossenen findet  demnach  die  umgekehrte  Vertheilung  statt."  Da  nun 
Reize  oberhalb  eines  absteigenden  Stromes  schAvächere  Zuckungen 
als  normal  auslösen,  oberhalb  eines  aufsteigenden  dagegen  stärkere, 
so  scheint  die  Uebereinstimmung  mit  den  Gesetzen  des  Elektrotonus 
in  der  That  eine  vollständige  zu  sein,  wenn  man  berücksichtigt,  dass 
hier  „das  Sensorium  selber  das  Geschäft  der  Reizung  einmal  oberhalb 
einer  positiven  Elektrode,  dann  oberhalb  einer  negativen  übernimmt". 
Erst  viel  später  versuchte  wieder  Fick  (27),  elektrotonische  Erreg- 
barkeitsveränderungen am  Menschen  zu  erzielen.  Er  wollte  den 
Ulnaris    an    der  hinteren  Seite  des  Condylus  internus  polarisiren,    um 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  573 

den  Anelektrotonus  zu  prüfen,  aber  es  gelang  nicht.  „Bei  einer  fast 
unerträglichen  Stromstärke  (lü— 14  Bunsen)  war  keine  Spur  von  Läh- 
mung in  den  vom  Ulnaris  abhängigen  Muskeln  wahrnehmbar."  Fick 
bezieht  den  Misserfolg  auf  die  Unmöglichkeit,  hinreichend  starke 
Ströme  anzuwenden,  was  um  so  unwahrscheinlicher  ist,  als  die  elektro- 
tonischen  Erregbarkeitsänderungen  sonst  schon  bei  äusserst  schwachen 
Strömen  hervortreten. 

Es  folgten  Untersuchungen  von  Eulen  bürg  (27),  Erb  (27), 
»Samt  (27)  und  Anderen,  welche  zum  Theil  widersprechende  Resul- 
tate ergaben,  anderentheils  die  Pflüger'schen  Sätze  bestätigten.  Das 
Letztere  glaubte  Eulenburg  aus  seinen  Versuchen  folgern  zu  dürfen, 
indem  er  durchwegs  im  Bereich  der  Anode  eine  Abnahme,  in  dem 
der  Kathode  eine  Zunahme  der  Erregbarkeit  fand.  Erb  dagegen  be- 
obachtete anfangs  an  seinem  eigenen  Nervus  Ulnaris  in  der  Nähe  der 
Kathode  eine  Abnahme,  an  der  Anode  eine  Zunahme  der  Erregbar- 
keit, was,  wieHelmholtz  später  hervorhob  und  Erb  bestätigt  fand, 
im  Wesentlichen  auf  die  durch  die  Leitungsverhältnisse  im  Arm  be- 
dingte Bildung  secundärer  Elektrodenstellen  zurückzuführen  ist. 
Samt  wieder  gelangte  in  verschiedenen  Fällen  zu  ganz  widersprechen- 
den Resultaten  und  führte  diese  scheinbare  Inconstanz  der  Reaction 
auf  eine  Inconstanz  des  Nerven 
selbst  zurück. 

Für  jeden  Unbefcingenen 
dürfte  es  ungeachtet  der  an- 
gedeuteten Widersprüche  von 
vorneherein  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dass,  wenn  es 
möglich  wäre ,  menschliche 
motorische  Nerven  in  derselben 
einwandfreien  Weise  zu  prüfen,  Fig.  187.  Schema  der  Stromvertheilimg  bei 
wie   den   Nerven   eines  Frosch-       einem  in  situ  befindlichen  Nei-ven;  kk  virtuelle 

schenkeis,  sich  auch  im  Wesent-  ^'^^^«^*^"'  "^ «  ^'"'''f.ltnf'  ^^^'^  ^  '  '" ' 
liehen  dasselbe  Verhalten  der 
Erregbarkeit  unter  dem  Ein- 
flüsse eines  Kettenstromes  lierausstellen  würde,  und  dass  am  lebenden 
Menschen  oder  am  unversehrten  Thier  der  eigentliche  Thatbestand 
nur  dadurch  verdeckt  wird,  weil  die  den  Nerven  umgebenden  Gewebe- 
massen und  die  Art  der  Elektrodenanlage  so  viele  unberechenbare  Com- 
plicationen  schaffen.  In  der  That  fand  neuerdings  auch  A.  de  Watte- 
ville(27)  bei  genauer  Berücksichtigung  aller  möglichen  P'ehlerquellen 
eine  vollkommene  Uebereinstimmung  der  elektrotonischen  Erregbarkeits- 
änderungen am  Nerven  des  lebenden  Menschen  mit  jenen  am  Nerven 
des  Frosches,  und  zwar  sowohl  in  Bezug  auf  die  Wirkungen  während 
der  Schliessungsdauer  des  modificirenden  Kettenstromes,  wie  auch  hin- 
sichtlich der  Nachwirkungen  bei  Oeffnung  des  Kreises. 

Dieselben  Erwägungen,  welche  soeben  mit  Bezug  auf  die  Schwierig- 
keiten und  Fehlerquellen  bei  Untersuchung  des  Elektrotonus  am  lebenden 
Menschen  geltend  gemacht  wurden,  kommen  nicht  minder  auch  bei  allen 
jenen  Versuchen  in  Betracht,  welche  zum  Nachweis  des  Zuckungsgesetzes 
an  unversehrten  lebenden  Thieren  angestellt  worden  sind.  Auch  hier 
herrscht  eine  ganz  ähnliche  Unsicherheit  der  Angaben  verschiedener  Au- 
toren, die  sich  ebensosehr  in  der  Verschiedenheit  der  Resultate  wie  in 
der  angewendeten  Methodik  ausprägt.    Vor  Allem  scheint  es  unmöglich, 


574  ^^®  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

von  einer  bestimmten  Richtung  des  Stromes  im  Nerven  zu  sprechen^ 
solange  sich  derselbe  noch  in  situ  befindet,  da,  wie  auch  Hermann 
hervorhebt,  „der  Strom  sich  dann  nothwendig  so  verzweigt,  dass  er 
beide  scheinbar  extra^jolare  Strecken  ebenfalls  und  zwar  in  einer  der 
intrapolaren  entgegensetzen  Richtung  durchfliesst"  (H.  Handb.  II.  1. 
p.  62)  (Fig.  187).  Man  hat  daher  vielfach  auch  hier  zu  der  sogenannten 
„unipolaren"  (oder  richtiger  monopolaren)  Reizmethode  seine  Zuflucht 
genommen,  deren  Anwendung,  wie  früher  gezeigt  wurde,  für  die  directe 
Muskelreizung  unter  Umständen  Vortheil  gewährt,  wo  es  nur  darauf 
ankommt,  die  localen  sichtbaren  Wirkungen  des  Stromes  an  Stelle 
seiner  grössten  Dichte  zu  untersuchen.  Für  den  Nerven  muss  es  aber 
als  durchaus  illusorisch  bezeichnet  werden,  bei  nur  irgend  erheblicher 
Stromstärke  die  Wirkung  des  einen  Poles  sozusagen  isolirt  für 
sich  zur  Geltung  zu  bringen.  Zunächst  ist  klar,  dass,  wenn  auch 
nur  der  eine  Pol  möglichst  begrenzt  dem  Nerven  anliegt,  während 
der  andere  mit  breiter  Fläche  eine  entfernte  (indifferente)  Körperstelle 
berührt,  dadurch  zwar  erreicht  wird,  dass  die  Dichte  des  Stromes  an 
der  physiologischen  Anode  und  Kathode  des  Nerven  ungleich  ausfällt, 
keineswegs  aber,  dass  nur  der  eine  Pol  in  Bezug  auf  seine  physio- 
logische Wirkung  in  Betracht  kommen  kann.  Dies  wird  unter  Um- 
ständen bei  schwächsten  Strömen  der  Fall  sein  können,  allein  schon 
bei  geringer  Steigerung  der  Stromesintensität  wird  dann  auch  jedesmal 
die  Wirkung  des  anderen  Pols  zur  Geltung  kommen  müssen.  Jeder 
Nerv,  der  eine  Anode  hat,  muss  eben  auch  eine  Kathode  haben,  auch 
wenn  nur  eine  Elektrode  mit  ihm  in  directer  Verbindung  steht,  und 
es  kommt  immer  nur  auf  das  Verhältniss  der  Dichte  des  Stromes  an 
beiden  Polen  an,  ob  die  eine  oder  andere  Wirkung  überwiegt  oder 
allein  hervortritt.  Hiermit  steht  auch  die  Erfahrung  in  Ueberein- 
stimmung ,  dass  bei  monopolarer  Reizung  eines  motorischen  Nerven 
mit  der  Anode  ganz  ebenso  wie  mit  der  Kathode,  nur  vielleicht  bei 
etwas  höherer  Stromstärke,  Schliessungszuckung  (die  „Anoden- 
schliessungszuckung"  der  Pathologen)  beobachtet  wird.  Wenn 
unter  den  Pathologen  vielfach-  die  Meinung  verbreitet  war  (vergl. 
z.  B.  Brenner  27),  es  seien  die  Resultate  der  monopolaren 
Nervenr3izung  in  Bezug  auf  ihre  theoretische  Verwerthbarkeit  un- 
mittelbar den  Ergebnissen  der  gewöhnlichen  bipolaren  Erregung  an 
die  Seite  zu  stellen,  und  wenn  diese  Auffassung  neuerdings  auch 
physiologischerseits  getheilt  wird  (vergl.  Jofe  28),  so  kann  dies  bei 
aller  Berechtigung,  die  monopolare  Reizmethode  in  einzelnen  Fällen 
mit  Vorsicht  zu  verwerthen,  am  allerwenigsten  für  das  Studium  der 
elektrischen  Nervenreizung  zugegeben  werden.  Hier  kommt  man, 
wie  die  erwähnte  Untersuchung  von  Jofe  zeigt,  zu  unzweifelhaft 
falschen  Schlussfolgerungen,  denen  gegenüber  die  durch  zahllose 
Thatsachen  und  Erfahrungen  festbegründeten  Fundamentalsätze  der 
Elektrophysiologie  nach  wie  vor  die  Grundlage  aller  weiteren  For- 
schungen bilden  werden.  Ich  darf  daher  hier  auch  alle  jene  Unter- 
suchungen unberücksichtigt  lassen,  welche  es  sich  zur  Aufgabe 
stellten,  das  Zuckungsgesetz  am  Menschen  oder  am  unversehrten 
Thier  nachzuweisen,  zumal  irgendwelche  neue  Gesichtspunkte  dabei 
nicht  gewonnen  wurden. 

Wie  leicht  ersichtlich  ist,  werden  die  dem  Pflüger'schen  Zuckungs- 
gesetze zu  Grunde  liegenden  Erscheinungen  durch  örtliche  oder  allge- 
meine Veränderungen  der  Erregbarkeit  des  Nerven  mehr  oder  weniger 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  575 

beeinflusst  werden  müssen ,  so  class  es  nicht  verwundern  kann ,  wenn 
unter  gewissen  Bedingungen  scheinbare  Ausnahmen  von  der  Regel 
sich  geltend  machen.  Hier  ist,  abgesehen  von  der  bekannten  Neigung 
der  Präparate  von  „Kaltfröschen"  zu  tetanischer  Dauererregung,  welche 
dieselben  zur  Demonstration  des  Zuckungsgesetzes  fast  ganz  ungeeignet 
erscheinen  lässt,  vor  Allem  des  Einflusses  zu  gedenken,  av eichen 
die  Nähe  eines  künstlichen  Querschnittes  nicht  nur  im 
Allgemeinen  auf  die  Erregbarkeit,  sondern  auch  be- 
sonders auf  die  Wirkungsweise  von  Kettenströmen 
ausübt. 

In  ersterer  Beziehung  sei  schon  hier  erwähnt,  dass  die  erhöhte 
Anspruchsfähigkeit  des  Querschnittendes  eines  markhaltigen  Nerven 
im  Wesentlichen  als  eine  Folge  des  Katelektrotonus  aufzufassen  ist, 
welcher  innerhalb  einer  gewissen  Strecke  vom  Querschnitt  aus  durch 
innere  Nebenschliessung  des  Nervenstromes  erzeugt  wird,  eine  That- 
sache,  auf  welche  später  noch  näher  einzugehen  sein  wird.  Hier  soll 
zunächst  nur  von  dem  Einfluss  des  Querschnittes  auf  die 
polaren  Wirkungen    des  Stromes    die  Rede  sein. 

Legt  man  an  das  Querschnittende  eines  motorischen  Frosch- 
nerven unpolarisirbare  Elektroden  derart  an,  dass  die  untere,  den 
„Längsschnitt"  berührende  Elektrode  der  oberen,  am  Querschnitt  ge- 
legenen hinreichend  genähert  ist  und  so  die  intrapolare  Strecke  sehr 
kurz  wird,  so  erhält  man  selbst  mit  schwächsten  Strömen  immer  nur 
der  dritten  Stufe  des  Zuckungsgesetzes  entsprechende  Erfolge.  Bei  etwas 
grösserem  Abstände  der  peripher  gelegenen  Elektrode  (intrapolare 
Strecke  =  1 — 2  cm)  tritt  dagegen  als  Reizerf9lg  mit  schwachen 
Strömen  in  der  Regel  Schliessungszuckung  bei  aufsteigender, 
Schliessungs-  und  Oeffnungszuckung  bei  absteigender  Stromesrichtung 
hervor.  Hierher  gehört  offenbar  auch  der  von  H  e  i  d  e  n  h  a  i  n  (29) 
angegebene  Versuch',  den  Nerven  zwischen  den  Elektroden  zu  durch- 
schneiden und  die  Schnittenden  wieder  zu  verkleben,  wobei,  wenn 
der  Schnitt  hinreichend  nahe  an  der  myopolar  gelegenen  Elektrode 
geführt  wurde,  nur  die  Wirkungen  dieser  letzteren  übrig  bleiben.  Es 
scheint,  dass  die  Zone  herabgesetzter  Erregbarkeit  in  der  Nähe  der 
Schnittfläche  an  Nerven  warmblütiger  Thiere  beträchtlich  grösser  ist, 
als  an  solchen  von  Kaltblütern.  Wenigstens  gelingen  die  in  Rede 
stehenden  Versuche  im  ersteren  Falle  bei  einer  viel  grösseren  Distanz 
der  Elektroden,  als  im  letzteren.  Legt  man  den  Nervus  ischiadicus 
eines  Säugethieres  oder  Vogels  in  möglichst  grosser  Ausdehnung  blos 
und  durchschneidet  denselben,  nachdem  man  sich  vorher  von  der  aus- 
schliesslichen Wirksamkeit  der  Schliessung  nicht  zu  starker,  auf- 
oder  absteigender  Ströme  überzeugt  hat,  auf  der  dem  Centrum  näher 
gelegenen  Elektrode,  so  beobachtet  man  bei  geringem  Abstände  der 
Elektroden  (etwa  1  cm)  unter  den  gleichen  Bedingungen  wie  früher 
bei  absteigender  Stromesrichtung  nur  Schliessungszuckung ,  bei  auf- 
steigender nur  Oeffnungszuckung.  Aehnliche  Erfolge  lassen  sich  bei 
Froschnerven  durch  Erwärmung  des  Schnittendes  auf  40 — 60  **  C.  oder 
durch  Gefrieren  in  einer  Ausdehnung  von  etwa  1  cm  erzielen.  Durch 
allmähliches  Verschieben  der  Elektroden  bei  einer  Spannweite  von 
1  —  2  cm  findet  man  dann  immer  leicht  die  Lage  derselben  heraus, 
bei  welcher,  von  den  schwächsten  Strömen  angefangen,  bei  aufsteigen- 
der Stromesrichtung  nur  Oeffnungszuckung,  bei  absteigender  nur 
Schliessungszuckung   ausgelöst  wird.     Es  liegt  hierin ,    wie  man  leicht 


576  Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

sieht,    ein  neuer  und  sehr  schlagender  Beweis  für  die  Richtigkeit  des 
polaren  Erregungsgesetzes. 

Wie  früher  gezeigt  wurde,  wirkt  bei  Durchströmung  eines  regel- 
mässig parallelfaserigen  Muskels  die  Schliessung  oder  Oeffnung  eines 
Stromes  nur  dann  in  normaler  Weise  erregend,  wenn  die  wirksame 
Elektrode  an  dem  unversehrten  Muskelende  sich  befindet.  Die  Er- 
klärung, welche  ich  von  dieser  Erscheinung  gegeben  habe,  legt  bei 
der  weitgehenden  Uebereinstimmung  in  dem  Verhalten  von  Muskeln 
und  Nerven  gegen  den  elektrischen  Strom  die  Vermuthung  nahe, 
dass  analoge  Erscheinungen  auch  an  partiell  verletzten  Nerven  hervor- 
treten würden.  Wie  jedoch  die  vorstehend  erwähnten  Thatsachen 
zeigen,  genügt  es  nicht,  die  eine  Elektrode  an  den  Querschnitt  eines 
sonst  frischen  Nerven  zu  legen,  während  die  andere  beliebige  Punkte 
der  Längsoberfläche  berührt,  sondern  es  muss,  um  einen  der  dritten  Stufe 
des  Pflüger'schen  Gesetzes  entsprechenden  Erfolg  zu  erzielen,  vom 
Querschnitt  aus  eine  beträchtliche  Strecke  des  Nerven 
unter  möglichster  Erhaltung  der  feineren  histologischen  Structur  ab- 
getödtet  Averden.  Es  hat  dies,  wie  später  noch  ausführlich  zu  erörtern 
sein  wird,  seinen  Grund  in  dem  Umstände,  dass  beim  markhaltigen 
Nerven  in  Folge  einer  eigenartigen  Ausbreitung  des  Reizstromes  so- 
wohl zu  beiden  Seiten  der  Kathode,  wie  auch  beiderseits  von  der 
Anode  zahlreiche  Aus-  bezw.  Eintrittsstellen  von  Stromfäden  vor- 
handen sind,  so  dass  sich  die  „physiologische  Kathode"  resp.  Anode 
über  einen  nach  der  jeweiligen  Stärke  des  Stromes  verschieden  grossen 
Abschnitt  des  Nerven  erstreckt.  Es  zerfällt  daher  nicht  nur  die  intra- 
polare Nervenstrecke  in  2  je  nach  der  Länge  derselben  und  der  Stärke 
des  Stromes  verschieden  grosse  Abschnitte,  welche  man  als  den  katho- 
dischen und  anodischen  bezeichnen  kann,  sondern  jeder  derselben  uni- 
fasst  auch  noch  einen  grösseren  oder  kleineren  Theil  der  extrapolaren 
Nervenstrecken.  Beide  Abschnitte,  in  deren  einem  (dem  kathodischen) 
bei  der  Schliessung,  in  dem  andern  bei  der  Oeffnung  des  Stromes 
gleichzeitig  an  vielen  Stellen  der  EiTegungsvorgang  ausgelöst  wird, 
sind  durch  einen  Punkt  von  einander  getrennt,  den  man  als  „In- 
di  fferenzpunkt"   bezeichnet  hat. 

Tödtet  man  den  Nerven  in  möglichst  beschränkter  Ausdehnung 
und  ohne  wesentliche  Aenderung  der  Structur  an  der  Stelle  ab,  welche 
dem  Berührungspunkte  der  vom  Muskel  entfernteren  Elektrode  ent- 
spricht, so  hat  man  dadurch  allerdings  den  extra  polaren  Antheil 
des  nach  der  jeweiligen  Stromesrichtung  kathodischen  oder  anodischen 
Abschnittes  ausgeschaltet;  allein  die  erregende  Wirkung  des  intra- 
polaren  Antheiles  ist  durch  den  genannten  Eingriff  keineswegs  be- 
seitigt, solange  nicht  auch  die  Erregbarkeit  jener  Stellen  beträchtlich 
herabgesetzt  ist,  welche  dem  erwähnten  Indiflferenzpunkt  zunächst  ge- 
legen sind.  Denn  nur  diese  spielen  selbstverständlich  in  dem  hier  vor- 
ausgesetzten Falle  mit  Rücksicht  auf  das  Zustandekommen  oder 
Fehlen  der  von  der  oberen  Elektrode  ausgehenden  Erregung  dieselbe 
Rolle,  wie  die  Faserenden  des  durchströmten  und  an  einem  Ende  ver- 
letzten, parallelfaserigen  Muskels  (Biedermann  30). 

Auch  gewisse  chemische  Substanzen  lassen  sich  zur  partiellen  Ab- 
tödtung  markhaltiger  Nerven  gut  verwenden,  und  schon  Harless  (30) 
theilte  gelegentlich  seiner  Untersuchungen  über  die  Wirkungen  des 
Ammoniak  auf  die  Nervenstämme  Versuche  mit,  deren  Ergebnisse  mit 
den    eben   erwähnten  Resultaten    der   localen  Abtödtung   eines  Nerven 


Die  elektrische  Erreg-ung  der  Nerven.  577 

im  Wesentlichen  übereinstimmen.  Bekanntlich  zeichnet  sich  das 
Ammoniak  dadurch  aus,  dass  es,  in  concentrirter  Lösung  angewendet, 
ausserordentlich  rasch  die  Lebenseigenschaften  des  Nerven  am  Orte 
der  Einwirkung  zerstört,  ohne  denselben  zu  erregen  und  (wenigstens 
in  der  ersten  Zeit)  die  Structurverhältnisse  wesentlich  zu  alteriren. 
Man  ist  daher  in  den  Stand  gesetzt,  durch  Auftragen  von  Ammoniak 
mittels  eines  kleinen  Pinsels,  wie  dies  Harless  that,  auf  Stellen  der 
intrapolaren  Strecke  den  kathodischen ,  beziehungsweise  auodischen 
Abschnitt  eines  durchströmten  Nerven,  d.  i.  die  Gesammtheit  aller  jener 
Punkte,  welche  bei  einer  gegebenen  Stromstärke  und  Elektrodenstellung 
als  Aus-,  beziehungsweise  Eintrittsstellen  des  Stromes  betrachtet  werden 
müssen,  functionell  abzutrennen,  die  intrapolare  Strecke  sozusagen 
ohne  Veränderung  der  Structur  im  Indifferenzpunkte  zu  durchschneiden, 
so  dass  im  betreifenden  Falle  immer  nur  jene  Reizwirkung  zur  Geltung 
kommen  kann,  welche  der  nach  der  Peripherie  hin  gelegenen  Elek- 
trode entspricht,  also  Schliessungserregung  bei  absteigender,  Oeffnungs- 
erregung  bei  aufsteigender  Stromesrichtung.  Da  sich  die  Wirkung  des 
Ammoniaks  (und  in  geringerem  Grade  auch  die  jeder  anderen  chemischen 
Substanz  in  gelöstem  Zustande)  auch  bei  möglichst  vorsichtiger  localer 
Application  mit  der  Zeit  über  jene  Stelle  hinaus  erstreckt,  welche  ur- 
sprünglich mit  demselben  in  Berührung  gekommen  war,  jedoch  um  so 
schwächer  wird,  je  Aveiter  man  sich  von  dem  Orte  der  directen  Ein- 
wirkung entfernt,  so  ist  klar,  dass  nach  dem  Auftragen  von  Ammoniak 
im  Bereich  der  central  gelegenen  Elektrode  die  Abstufung  der  Erreg- 
barkeit in  auf  einander  folgenden  Querschnitten  der  Nerven  eine  sehr 
allmähliche  sein  wird.  Es  ist  in  Folge  dessen  auch  gar  nicht  nöthig, 
das  Ammoniak  auf  die  intrapolare  Strecke  selbst  aufzutragen,  vielmehr 
genügt  es,  insbesondere  bei  nicht  zu  grosser  Distanz  der  Elektroden, 
diejenige  Stelle  der  Nerven  mit  Ammoniak  zu  benetzen,  welche  der 
centralen  Elektrode  aufliegt  oder,  wenn  die  Reizung  in  der  Continuität 
des  Nerven  erfolgt,  gar  sghon  jenseits  derselben  innerhalb  der  „centro- 
polaren"  Strecke  sich  befindet.  Wenn  die  fortschreitende  Ammoniak- 
wirkung  bereits  in  das  Bereich  der  unteren  wirksamen  Elektrode 
vorgedrungen  sein  sollte,  so  erscheint  es  natürlich  nöthig,  mit  den  in 
gleichem  Abstand  erhaltenen  Elektroden  etwas  weiter  am  Nerven 
herabzurücken.  Befinden  sich  aber  die  Elektroden  in  richtiger  Stellung, 
so  dass  die  Stromvertheilung  den  oben  erörterten  Bedingungen  ent- 
sprechend sich  gestaltet,  so  besteht  der  Reizerfolg  ausnahmslos  in  dem 
alleinigen  Auftreten  der  Schliessungszuckung  bei  absteigender  Stromes- 
richtung. Hinsichtlich  der  Wirkung  aufsteigender  schwacher  Ströme 
macht  sich  ein  Unterschied  bemerkbar  gegenüber  den  früher  be- 
sprochenen Fällen  partieller  Abtödtung  des  Nerven,  Denn  während 
dort  stets  schon  bei  sehr  schwachen  aufsteigenden  Strömen  und  bei 
einer  Elektrodenstellung,  bei  welcher  dieselben  Ströme  absteigend  ge- 
richtet nur  Schliessungszuckung  auslösen,  deutliche,  den  letzteren  an 
Grösse  kaum  nachstehende  Oeffnungszuckungen  beobachtet  werden, 
fehlen  dieselben  nach  örtlicher  Aramoniakwirkung  entweder  ganz  oder 
treten  nur  spurweise  im  Beginn  der  Einwirkung  oder  bei  beträchtlicher 
Verstärkung  des  Stromes  hervor. 

Als  Pflüger  im  Jahre  1859  sein  Zuckungsgesetz  aufstellte,  schien 
es  kaum  zweifelhaft,  dass  das  Wirksamwerden  des  Oeffnungsreizes  am 
motorischen  Nerven  in  erster  Reihe  von  der  jeweiligen  Stromstärke 
abhänge.    Diese  Ansicht  wurde,   wie  es  scheint,  auch  von  der  Mehrzahl 


578  ^i®  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

der  späteren  Arbeiter  auf  diesem  Gebiete  angenommen.  Als  zweiten, 
hier  in  Betracht  kommenden  Factor  hatten  jedoch,  wie  erwähnt,  bereits 
Ritter  und  später  Nobili  verschiedene  „Erregbarkeitszustände"  des 
Nerven  kennen  gelehrt.  Rosenthal  und  v.  Bezold  (32)  haben 
sodann  in  neuerer  Zeit  ein  mit  dem  Pflüger 'sehen  Zuckungsgesetz 
völlig  übereinstimmendes  Zuckungsgesetz  des  absterbenden  Nerven 
aufgestellt,  dem  zufolge  bei  unveränderter  (geringer)  Stromstärke  an 
derselben  Nervenstelle  in  drei  aufeinanderfolgenden  Stadien  des  Ab- 
sterbens  dieselben  Avechselnden  Reizerfolge  beobachtet  werden,  Avelche 
dem  Pflüger '  sehen  Gesetze  entsprechend  am  frischen  Nerven  bei 
schwachen,  mittelstarken  und  starken  Strömen  auftreten.  Die  Erklärung 
dieser  Erscheinung  schien  sich  unter  Berücksichtigung  der  von  Pflüg  er 
aufgestellten  theoretischen  Gesichtspunkte  einfach  aus  dem  Verlauf  der 
Erregbarkeitsveränderungen  zu  ergeben,  welche  den  herrschenden  An- 
schauungen zufolge  die  einzelnen  Nervenstellen,  und  zwar  früher  die 
central  gelegenen  als  die  peripheren ,  im  Verlauf  des  Absterbens  er- 
leiden sollen. 

Pflüger  hatte  sein  Gesetz  zunächst  abgeleitet  aus  Untersuchungen, 
welche  ausschliesslich  an  dem  vom  übrigen  Organismus  losgetrennten 
Nerv-Muskelpräparate  des  Frosches  angestellt  worden  waren,  dessen 
Erregbarkeitsverhältnisse  als  vom  normalen  Verhalten  nicht  wesentlich 
verschieden  betrachtet  werden  durften.  Für  dieses  Präparat  behielt 
denn  auch  in  der  Folge  das  Pflüg  er 'sehe  Gesetz  ziemlich  unbestritten 
Geltung. 

Allein  es  fehlte  nicht  an  Stimmen,  welche  die  Giltigkeit  des- 
selben wenigstens  in  dem  Falle  bestritten,  wo  der  gereizte  Nerv  mit 
den  Centralorganen  des  lebenden  Thieres  noch  in  Zusammenhang  steht. 

Bernard,  Schiff  und  Valentin  (33)  haben  übereinstimmend 
hervorgehoben,  dass  man  bei  elektrischer  Reizung  undurchschnittener 
Nerven  „eine  Muskelverkürzung  nur  bei  dem  Schluss,  nicht  aber  bei 
der  OefFnung  der  Kette  erzeugt,  der  Strom  sei  wie  er  wolle  gerichtet", 
vorausgesetzt,  dass  er  nicht  übermässig  stark  ist.  Der  letzterwähnte 
Forscher,  welcher  dieses  Verhalten  als  dem  eigentlichen  „Zuckungs- 
gesetz des  kräftigen  und  unveränderten,  lebenden  Nerven"  entsprechend 
bezeichnet,  hatte  seine  diesbezüglichen  Versuche  allerdings  unter  Be- 
dingungen angestellt,  welche  eine  völlig  klare  Uebersicht  der  Strom- 
vertheilung  nicht  gestatteten,  indem  er  die  (metallischen)  Elektroden 
in  den  Oberschenkel  des  unversehrten  Thieres  einführte.  Indessen 
verliert  dieser  Umstand  um  so  mehr  an  Bedeutung,  als  bereit:,  Bernard 
und  Schiff  auch  bei  Reizung  des  blosgelegten,  mit  dem  Centralorgan 
in  Zusammenhang  stehenden  Nerven  von  Wirbelthieren  aus  ver- 
schiedenen Klassen  zu  analogen  Resultaten  gelangt  waren.  Es  scheint, 
dass  Bernard  sich  schon  der  Ansicht  zuneigte,  die  nervösen  Centren 
übten  auf  die  abgehenden  Nervenstämme  einen  eigenartigen  Einfluss 
aus,  vermöge  dessen  ihre  normale  Erregbarkeit  erhalten  bleibt,  die 
sie  befähigt,  nur  bei  dem  Entstehen  (nicht  allzu  starker)  Ströme  in 
Erregung  zu  gerathen.  In  diesem  Sinne  glaube  ich  wenigstens  die 
nachstehende  Bemerkung  Bernard's  auffassen  zu  dürfen:  „Le  nerf 
moteur  tire  ainsi  ses  proprietes  de  la  moelle.  II  les  perd  a  l'air;  mais 
il  peut  les  reprendre,  pourvu  qu'il  communique  encore  avec  le  centre 
nerveux."  Das  Experiment,  welches  als  Beweis  hiefür  dienen  soll, 
dürfte  gegenwärtig  eine  solche  Schlussfolgerung  kaum  mehr  recht- 
fertigen.   Es  besteht  einfach  darin,  dass  ein  nur  zum  Theil  freigelegter 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  579 

Ischiadicus  vom  Frosch  seine  normale  Erregbarkeit  wieder  gewinnt, 
wenn  man  die  betreffende  Stelle  befeuchtet,  nachdem  sie  vorher  durch 
Austrocknen  verändert  worden  war. 

Die  Ansicht,  dass  das  Fehlen  der  Oeffnungszuckung  bei  Reizung 
undurchschnittener  Nerven  mit  selbst  starken  Strömen  durch  einen 
von  dem  Centralorgan  ausgehenden,  hemmenden  Einfluss  bedingt 
werde,  hat  ihren  bestimmtesten  Ausdruck  in  einer  neueren  Arbeit  von 
Th.  Rumpf  (33)  gefunden.  Die  Versuche  sind  zumeist  an  demselben 
Präparate  angestellt,  dessen  sich  bereits  Bern ard  bedient  hatte.  Der 
N.  ischiadicus  bildete  die  einzige  Verbindung  zwischen  dem  einen 
Unterschenkel  und  dem  sonst  unversehrten  Frosche.  Aus  dem  Um- 
stände nun,  dass  hier  „an  dem  mit  dem  Centralorgan  verbundenen 
Nerven  die  Oeffnungszuckung  des  aufsteigenden  Stromes  bedeutend 
später  (d.  i.  erst  bei  stärkeren  Strömen)  auftritt,  als  an  dem  vom 
Centralorgan  getrennten",  eine  Thatsache,  welche  noch  deutlicher 
hervortreten  soll,  wenn  das  Rückenmark  durch  äusserliche  Application 
einer  Kältemischung  abgekühlt  wurde,  schliesst  Rumpf,  dass  „indem 
mit  dem  Centralorgan  verbundenen  motorischen  Nerven  ständige  Ein- 
wirkungen sich  geltend  machen,  die  sich  durch  Veränderung  der  elek- 
trischen Erregbarkeit  ausdrücken  und  in  dem  vom  Centralorgan  ge- 
trennten Nerven  jedenfalls  nicht  nachweisbar  sind,  „da  in  diesem  Falle 
die  Oeffnungszuckung  entweder  fast  gleichzeitig  oder  kurz  nach  der 
Schliessungszuckung  auftrat".  Die  letztere  sollte  aber  durch  die  Durch- 
schneidung „nicht  modificirt"  werden. 

Hermann  (84)  weist  endlich  auf  die  Möglichkeit  hin,  „dass  die 
Oeffnungserregung,  welche  auf  dem  Schwinden  einer  Veränderung  des 
Nerven  beruht,  durch  eine  gewisse  Resistenz  des  Nerven  gegen  tiefere 
Einwirkungen  des  Stromes  (auf  einer  ersten  Stufe  der  Erregbarkeit) 
beeinträchtigt  wird". 

Es  ist  bemerkenswerth,  dass  auch  für  den  vom  Centrum  getrennten 
Nerven  die  Angaben  verschiedener  Forscher  bezüglich  des  ersten  Auf- 
tretens der  Oeffnungserregung  bei  Reizung  mit  schAvachen  Strömen, 
also  auf  der  ersten  Stufe  des  P  f  lüg  er '  sehen  Zuckungsgesetzes, 
durchaus  nicht  übereinstimmend  lauten.  Pflüger  selbst  giebt  als 
Regel  an,  dass  Schliessungszuckung  bei  beiden  Stromesrichtungen  der 
erste  Erfolg  der  Reizung  sei,  und  hiermit  belinden  sich  die  Beobachtungen 
von  Bernard,  Schiff,  v.  Bezold  und  Rosenthal  in  Ueberein- 
stimmung.  Dagegen  fand  Heidenhain  (18)  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  Schliessungszuckung  bei  aufsteigender  und  Oeffnungszuckung 
bei  absteigender  Stromesrichtung  als  ersten  Erfolg  der  Reizung  mit 
schwächsten  Strömen.  Bisweilen  jedoch  beobachtete  er  ebenfalls  nur 
Schliessungszuckung  bei  beiden  Stromesrichtungen.  Aehnliche  Angaben 
liegen  vor  von  Wundt  (35). 

Die  durchaus  gesetzmässigen  Reizerfolge,  welche  man  bei  einer 
bestimmten  Lagerung  und  Distanz  der  Elektroden  an  durchschnittenen 
oder  partiell  abgetödteten  Nerven  wahrnimmt,  lassen  schon  vermuthen, 
dass  die  erwähnten  Differenzen  sich  vielleicht  durch  Verschiedenheiten 
der  Lage  der  Elektroden  an  einem  vom  Centrum  getrennten  Nerven 
erklären  lassen. 

Wie  schon  früher  bemerkt  wurde,  beobachtet  man  bei  Reizung 
des  Schnittendes  eines  frisch  präparirten  Nerven,  wenn  die  eine  Elek- 
trode an  dem  Querschnitt  selbst  oder  eine  demselben  sehr  nahe  liegende 
Stelle    des    Nerven    angelegt    wurde,    zunächst    bei    Schliessung    der 


580  I^ie  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

schwächsten  absteigenden  Ströme  eine  Zuckung  des  Muskels.  Bei 
geringer  Verstärkung  des  Stromes  gesellt  sich  dazu  Schliessungszuckung 
bei  aufsteigender  und  gleichzeitig  auch  Oeffnungszuckung  bei  absteigender 
Stromesrichtung.  Beide  sind  meist  ziemlich  gleich  stark  und  schwächer 
als  die  absteigende  Schliessungszuckung  bei  gleicher  Stromstärke,  Die 
aufsteigende  Oeffnungszuckung  tritt  in  diesem  Falle  erst  bei  sehr  viel 
stärkeren  Strömen  hervor.  Wesentlich  verschieden  gestalten  sich  unter 
sonst  gleichen  Verhältnissen  die  Reizerfolge  bei  schwachen  und  selbst 
mittelstarken  Strömen,  wenn  man  beide  Elektroden  an  einem  nur 
wenig  tiefer  gelegenen  Abschnitt  desselben  Nerven  anlegt.  Dann 
sieht  man  ausnahmslos  nur  Schliessungszuckung  bei 
beiden  Stromesrichtungen  erfolgen,  worauf  bereits  Rosenthal 
und  B  e  z  0 1  d  aufmerksam  machten. 

Man  kann  mit  den  Elektroden  bis  in  die  unmittelbare  Nähe  des 
Muskels  herabrücken  oder  auch  mittlere  Nervenparthien  reizen ,  so- 
lange sich  die  centralwärts  gelegene  Reizstelle  nur  in  genügender  Ent- 
fernung (etwa  1  cm)  von  dem  Querschnitt  befindet,  erleidet  das  er- 
wähnte Verhalten  keine  oder  nur  in  dem  Sinne  eine  Aenderung,  dass 
die  an  verschiedenen  Stellen  des  Nerven  bei  gleichbleibendem  Abstand 
der  Elektroden  und  gleicher  Stromstärke  ausgelösten  Schliessungs- 
zuckungen verschieden  gross  ausfallen,  entsprechend  dem  Umstände, 
dass  die  Erregbarkeit  eines  durchschnittenen  Nerven  nicht  nur  im 
Allgemeinen  in  der  Nähe  des  Schnittes  grösser  ist,  als  nach  der  Peri- 
pherie hin,  sondern  dass  bisweilen  auch  gewisse  bevorzugte  Punkte  in 
der  Continuität  vorhanden  sind,  die  durch  eine  höhere  Erregbarkeit 
sich  auszeichnen. 

Wenn  sich  bei  absteigender  Stromesrichtung  die  centralwärts  ge- 
legene Elektrode  in  unmittelbarer  Nähe  des  Querschnittes  befindet,  so 
beobachtet  man  bei  beliebigem  Abstände  der  andern  Elektrode  aus- 
nahmslos neben  der  Schliessungszuckung  auch  Oeffnungszuckung,  und 
zwar  bei  sehr  geringer,  die  Grenze  der  Wirksamkeit  nur  wenig  über- 
steigender Intensität  des  Reizstromes ;  bei  aufsteigender  Stromesrichtung 
dagegen  muss  man  die  peripher  gelegene  Elektrode  der  am  Querschnitt 
befindlichen  Kathode  bis  auf  wenige  Millimeter  nähern,  um  ausser  dem 
Schliessungsreiz  auch  den  Oeffnungsreiz  wirksam  zu  finden.  Die 
Schliessungszuckung  ist  dann  bei  geringer  Intensität  des  Stromes  meist 
sehr  klein  und  fehlt  oft  ganz ;  dasselbe  gilt  nach  Wendung  des  Stromes 
und  der  Oeffnungszuckung. 

Die  Abhängigkeit  der  Oeffnungserregung  von  der 
Nähe  des  Querschnittes  eines  Nerven  an  der  Anode  tritt 
besonders  deutlich  hervor ,  wenn  man,  wie  H  e i  d  e  n h a  i  n  (29)  zuerst 
zeigte,  die  Elektroden  irgendwo  in  der  Continuität  eines  Nerven  anlegt 
und  die  „centropolare"  Strecke  durch  Abschneiden  so  weit  verkürzt, 
bis  man  mit  dem  Querschnitt  in  unmittelbare  Nähe  der  oberen  Elektrode 
gelangt  ist.  Man  sieht  dann  ebenfalls  die  Oeffnungszuckung  zunächst 
nur  bei  absteigender  Stromesrichtung  auftreten,  und  erst  bei  Verkürzung 
der  intrapolaren  Strecke,  sei  es,  dass  man  die  untere  Elektrode  der 
oberen  sehr  nahe  bringt  oder,  wie  bereits  früher  erwähnt  wurde,  den 
Querschnitt  innerhalb  der  intrapolaren  Strecke  selbst  anlegt  und  die 
Schnittenden  des  Nerven  wieder  aneinanderlegt,  erscheint  die  Oeffnungs- 
zuckung auch  bei  aufsteigender  Stromesrichtung,  während  zugleich  die 
Schliessungszuckung  kleiner  wird  oder  fehlt. 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  581 

Die  nächstliegende  Deutung  des  Wirksarawerdens  selbst  sehr 
schwacher  OeflFnungsreize  in  nächster  Nähe  des  Querschnittes  eines 
Nerven  scheint  sich  auf  den  ersten  Blick  aus  dem  Umstände  zu  er- 
geben, dass  den  bekannten  Beobachtungen  Heidenhain's  (29)  zufolge 
durch  Anlegen  eines  Querschnittes  sowohl  an  frischen  Nerven  wie 
auch  an  solchen ,  deren  Erregbarkeit  bereits  im  Sinken  begriffen  ist, 
die  Anspruchsfähigkeit  jeder  nicht  zu  Aveit  entfernten  .Stelle  für  den 
elektrischen  Reiz  sehr  bedeutend  gesteigert  wird.  Es  geht  dies  ohne 
Weiteres  daraus  hervor,  dass  sowohl  aufsteigende  wie  absteigende 
Ströme,  welche  nur  minimale  Reizeffecte  bei  der  Schliessung  hervor- 
bringen, wenn  sie  durch  unpolarisirbare  Elektroden  unteren  Nerven- 
parthien  zugeführt  werden,  fast  maximale  Schliessungszuckungen  aus- 
lösen, wenn  man  den  Nerven  in  nicht  zu  grosser  Entfernung  von  der 
centralwärts  gelegenen  Elektrode  durchschneidet.  In  demselben  Sinne 
scheint  aber  auch  auf  den  ersten  Blick  das  Auftreten  der  Oeffnungs- 
zuckung  gedeutet  werden  zu  müssen,  indem  dieselbe  bei  geringer 
Intensität  des  Heizstromes  nur  dann  beobachtet  wird,  Avenn  die  Anode 
in  das  Bereich  der  durch  den  Querschnitt  offenbar  am  stärksten  beein- 
flussten  Nervenstrecke  fällt. 

So  sicher  nun  aber  auch  die  Thatsache  steht,  dass  die  Oeffnungs- 
erregung  schon  bei  sehr  geringer  Intensität  des  Stromes  wirksam  wird, 
wenn  die  Anode  in  nächster  Nähe  des  an  einem  Nerven  angelegten 
(mechanischen ,  chemischen  oder  thermischen)  Querschnittes  sich  be- 
findet, so  wenig  dürfte  die  vorerwähnte,  bisher  wohl  allgemein  an- 
genommene Deutung  dieser  Thatsache  genügen.  Ich  will  davon  ab- 
sehen, dass,  wie  ich  mich  oft  überzeugt  habe,  die  Oeffnungszuckung 
gerade  an  solchen  Nerv-Muskelpräparaten,  welche  frisch  aus  einem 
kalten  Raum  in  das  Arbeitszimmer  gebrachten  Thieren  entnommen 
werden,  und  deren  Erregbarkeit  eine  sehr  hohe  ist,  erst  bei  verhältniss- 
mässig  starken  Strömen  deutlich  hervortritt,  während  umgekehrt  an 
Präparaten  minder  erregbarer  Frösche  bisweilen,  wenn  auch  nur  selten, 
bei  geringen  Stromstärken  Oeffnungserregung  erfolgt,  ohne  dass  ein 
Querschnitt  angelegt  worden  wäre,  denn  der  im  ersteren  Falle  regel- 
mässig eintretende  Schliessungstetanus  verhindert  das  Erkennen 
schwächerer  Oeffnungswirkungen ,  die  sich  dann  nur  durch  eine  Ver- 
zögerung der  Wiederverlängerung  des  Muskels  verrathen  konnten. 

Entscheidend  scheint  mir  jedoch  gegen  die  ausschliessliche  Be- 
deutung der  Erregbarkeitserhöhung  für  das  Hervortreten  der  Oeffnungs- 
zuckung die  Thatsache  zu  sprechen,  dass  die  Durchschneidung  eines 
Nerven  in  der  Nähe  der  Anode  selbst  dann  das  sofortige  Auftreten 
der  Oeffnungszuckung  zur  Folge  hat,  wenn  die  Erregbarkeit  desselben 
im  Verlaufe  des  Versuches  durch  irgendwelche  Einflüsse  sehr  be- 
trächtlich gesunken  ist,  so  dass  dieselbe,  soweit  sich  dies  nach  der 
Höhe  der  dann  ausgelösten  Schliessungszuckungen  beurtheilen  lässt, 
auch  in  der  Nähe  eines  frisch  angelegten  Querschnittes  bei  Weitem 
nicht  so  gross  gefunden  wird,  als  sie  der  betreffenden  Stelle  vorher 
am  unversehrten  Nerven  zukam.  Nichtsdestoweniger  fehlt  bei  gleicher 
Stromstärke  die  Oeffnungszuckung  im  Beginn  des  Versuches  vollständig, 
während  sie  unmittelbar  nach  Anlegung  des  Querschnittes  ungeachtet 
der  absolut  geringeren  Erregbarkeit  vorhanden  ist. 

Sehr  instructiv  sind  in  dieser  Beziehung  besonders  Reizversuche 
an  Nerven,  welche  Präparaten  angehören,  die  mehrere  Stunden  in 
einer    feuchten   Kammer    bei    Zimmertemperatur   aufbewahrt    Avurden, 


582  I^i^  elektrische  Erregung-  der  Nei-ven. 

und  deren  Erregbarkeit  in  Folge  dessen  bedeutend  herabgesetzt  er- 
scheint. Unmittelbar  nach  der  Durchschneidung  eines  solchen  Nerven 
in  nächster  Nähe  der  vom  Muskel  entfernteren  Elektrode  löst  ein  ab- 
steigend gerichteter  schwacher  Strom  nebst  der  in  ihren  Grössenver- 
hältnissen  durch  den  Schnitt  nicht  wesentlich  veränderten  Schliessungs- 
zuckung auch  OefFnungszuckung  aus.  Die  aufsteigende  Schliessungs- 
zuckung erscheint  dann  zwar  in  der  Regel  etwas  grösser  als  vorher, 
erreicht  jedoch  bei  Weitem  nicht  ihre  ursprüngliche  Höhe.  Es  scheint 
also ,  dass  in  der  Nähe  einer  Schnittstelle  noch  andere  Momente  ins 
Spiel  kommen,  welche  unabhängig  von  der  Erregbarkeitssteigerung 
das  Hervortreten  der  Oeifnungszuckung  begünstigen. 

Es  drängt  sich  hier  die  Frage  auf,  ob  überhaupt  die  Oeffnungs- 
erregung  des  Nerven  von  dem  jeweiligen  Erregbarkeitszustande  des- 
selben in  ähnlicher  Weise  abhängig  ist,  wie  dies  von  der  Schliessungs- 
erregung als  bewiesen  gelten  darf,  ob  es  mit  andern  Worten  möglich 
ist,  bei  Anwendung  schwacher  Ströme  durch  künstliche  Steigerung 
der  Anspruchsfähigkeit  für  Schliessungsreize  OefFnungszuckungen  aus- 
zulösen, 

Es  könnte  scheinen,  als  sei  diese  Frage  bereits  entschieden  durch 
die  mehrfach  erwähnten  Versuche  von  Rosen thal  und  v.  Bezold 
(32),  indem  den  Erfahrungen  dieser  Forscher  zufolge  die  Oeffnungs- 
zuckung  wegen  der  im  Verlauf  des  spontanen  Absterbens  des  Nerven 
angeblich  eintretenden  Erregbarkeitserhöhung  schon  bei  Reizung  mit 
schwachen  Strömen  auftreten  soll.  Indessen  scheint  dies  nur  unter 
gewissen,  unten  genauer  zu  erörternden  Bedingungen  der  Fall  zu  sein. 
Wenigstens  gelang  es  mir  bei  Wiederholung  der  diesbezüglichen  Ver- 
suche nicht,  mich  von  der  regelmässigen  Aufeinanderfolge  der  drei 
Stadien  des  sogenannten  Zuckungsgesetzes  absterbender  Nerven  bei 
Reizung  einer  und  derselben  Stelle  mit  gleichbleibenden,  schwachen 
Strömen  zu  überzeugen ,  sobald  das  Präparat  durch  Einschliessen  in 
einer  feuchten  Kammer  auf  das  Sorgsamste  vor  Schädlichkeiten  und 
insbesondere  vor  Verdunstung  geschützt  war.  Ich  habe  bereits  oben 
bemerkt,  dass  unter  diesen  Umständen  auch  das  von  R  o  s  e  n  t  h  a  1  be- 
schriebene primäre  Stadium  der  Erregbarkeitserhöhung  am  absterbenden 
Nerven  nicht  nachweisbar  ist,  vielmehr  ein  ganz  allmähliches 
Absinken  d  e  r  E  r  r  e  g  b  a  r  k  e  i  t  a  1  s  R  e  g  e  1  betrachtet  werden 
darf.  Hierbei  ist  bemerkensAverth ,  dass  bei  unveränderter  Lage  der 
Elektroden  zunächst  immer  die  Schliessung  des  aufsteigend  gerichteten 
Stromes  unwirksam  wird,  so  dass  in  einem  gewissen  Stadium  des  Ab- 
sterbens die  absteigende  Schliessungzuckung  den  einzigen  Reizerfolg 
schwacher  Ströme  darstellt.  Diese  Thatsache  würde  als  mit  dem 
sogenannten  Ritter  -Valli'  sehen  Gesetze  in  Uebereinstimmung 
stehend  zu  betrachten  sein,  demzufolge  die  Erregbarkeit  dem  Centrum 
näher  gelegener  Nervenstellen  früher  erlöschen  soll,  als  die  peripher 
gelegener  Punkte,  Es  scheint  jedoch,  dass  es  sich,  wie  schon  erwähnt, 
bei  jenen  Thatsachen,  welche  zur  Aufstellung  des  erwähnten  Gesetzes 
führten,  nicht  sowohl  um  eine  ungleiche  Abnahme  der  Erregbarkeit 
verschiedener  Nervenstellen  handelt,  sondern  vielmehr  um  eine  Be- 
einträchtigung des  Leitungs Vermögens, 

Dagegen  ist  es  eine  längst  bekannte  und  leicht  zu  bestätigende 
Thatsache .  dass  die  Anspruchsfähigkeit  eines  Nerven  für  schwache 
elektrische  Reize  durch  Wasserverlust  ausserordentlich  gesteigert  wird, 
und  zwar,  wie  besonders  Harless  undBirkner  (36)  gezeigt  haben, 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  583 

schon  zu  einer  Zeit,  wo  die  den  sogenannten  Vertrocknungstetanus 
einleitenden  spontanen  Zuckungen  noch  vollständig  fehlen.  Grün- 
hagen  und  Mommsen  (36)  wiesen  in  neuerer  Zeit  ebenfalls  darauf 
hin,  dass  „ein  Nerv  gegen  die  Wirkung  des  galvanischen  Stromes  um 
so  empfindlicher  wird,  je  mehr  er  vertrocknet,  namentlich  wenn  die 
bekannten  spontanen  Zuckungen  eintreten".  Es  war  daher  von  Interesse, 
zu  untersuchen,  ob  in  diesem  Falle  die  OefFnung  eines  Kettenstromes 
von  geringer  Intensität  als  zureichender  Reiz  Avirkt.  In  der  That  liegt 
bereits  von  Harless  die  Angabe  vor,  dass  nach  partiellem  Wasser- 
verlust eines  Nerven  schwache,  sowohl  auf-  wie  absteigende  Ströme 
Oeffnungserregung  auslösen,  und  nichts  ist  leichter,  als  sich  von  der 
Richtigkeit  dieser  Thatsache  durch  den  einfachen  Versuch  zu  über- 
zeugen, einen  über  unpolarisirbare  Elektroden  gebrückten  Froschnerven 
bei  nicht  zu  hoher  Zimmertemperatur  der  allmählichen  Verdunstung 
auszusetzen  und  von  Zeit  zu  Zeit  in  nicht  zu  grossen  Zwischenräumen 
mit  auf-  oder  absteigenden  Strömen  zu  reizen.  Es  ist  zweckmässig, 
sich  bei  diesen  Versuchen  eines  Nerv-Muskelpräparates  zu  bedienen, 
das  mit  dem  Rückenmark  noch  in  Zusammenhang  steht*),  um  den 
Einfluss  des  Querschnittes  vollkommen  auszuschliessen ,  obschon  man 
ganz  dieselben  Resultate  auch  bei  Reizung  peripherer  Strecken  durch- 
schnittener Nerven  erhält.  Uebrigens  kann  man  im  letzteren  Falle 
nach  M  0  m  m  s  e  n  '  s  Vorgang-  die  Präparate  mit  durchschnittenen  Nerven 
vor  dem  Gebrauche  einige  Stunden  in  0.6  "/o  NaCl-Lösung  „ausruhen" 
lassen,  wobei  die  durch  den  Querschnitt  verursachten  Erregbarkeits- 
änderungen sich  so  ziemlich  ausgleichen. 

Die  erste  Wirkung  der  beginnenden  Vertrocknung  macht  sich  bei 
graphischer  Verzeichnung  der  Muskelcontractionen  dadurch  bemerkbar, 
dass  die  Höhe  der  ausgelösten  Schliessungszuckungen  mehr  oder 
weniger  beträchtlich  zunimmt.  In  einem  späteren  Stadium  kommt  es 
dann  bekanntlich  bei  Schliessung  selbst  schwacher  Ströme  zu  tetanischer 
Verkürzung  des  Muskels.  Alsbald  tritt  aber  neben  der 
Schliessungszuckung  auch  die  Oeffnungszuckung  hervor. 
Bei  welcher  Stromesrichtung  dies  zuerst  geschieht,  hängt  nicht  sowohl 
von  dieser  ab,  als  vielmehr  davon,  an  welcher  Stelle  der  in  das  Bereich 
der  beiden  Elektroden  fallenden  Nervenstrecke  sich  der  Einfluss  des 
Wasserverlustes  früher  und  in  höherem  Maasse  geltend  macht.  Hat 
man  an  einen  undurchschnittenen  Nerven  die  Elektroden  derart  an- 
gelegt, dass  der  Plexus  sacralis  zum  grössten  Theil  in  das  Bereich 
der  oberen  Elektrode  fällt,  so  sieht  man  fast  regelmässig  wegen 
der  langsameren  Vertrocknung  dieses  dicksten  Nervenabschnittes  die 
Oeffnungszuckung  zuerst  bei  aufsteigender  Stromesrichtung  hervor- 
treten, während  bei  Lagerung  der  Elektroden  etwa  in  der  Mitte  des 
Nerven  bei  beiden  Stromesrichtungen  meist  annähernd  gleichzeitig 
neben  der  verstärkten  Schliessungszuckung  auch  Oeffnungszuckung 
erfolgt,  wenn  nicht  etwa  absichtlich  die  eine  oder  andere  Nervenstrecke 
durch  öfteres  Benetzen  mit  0.6*^/o  NaCl-Lösung  vor  Wasserverlust 
geschützt  wird. 

Wenn  man  sich  auf  Reizung  mit  schwachen  Strömen  beschränkt 
und  jedesmal  nur  so  lange  geschlossen  lässt,  als  zur  Auslösung  deut- 

*)  Wenn  im  Folgenden  von  einem  mit  dem  Centrum  noch  zusammenhängenden 
Nerven  die  Eede  ist,  so  ist  dabei  immer  ein  Präparat  gemeint,  das,  einem  chloralisirten 
Frosch  entnommen,  aus  der  isolirten  Wirbelsäule  nach  Abtrennung  des  Schädels,  dem 
N.  ischiadicus  der  einen  Seite  und  dem  zugehörigen  M.  gastrocnemius  besteht. 


584  Die  elektrische  Erregung:  der  Nerven. 

lieber  Oeffnungserregung  iiothwendig  ist  (es  genügen  in  der  Regel 
wenige  Secunden) ,  so  beobachtet  man  ganz  regelmässig  ein  mehr 
oder  weniger  deutlich  verspätetes  Eintreten  der  Oeff- 
nungszuckung,  und  ausserdem  fällt  sofort  auf,  dass  die 
Grösse  derselben  in  hohem  Grade  von  der  Schliessungs- 
dauer des  Stromes  abhängt. 

Ist  die  letztere  sehr  kurz,  so  kann  die  Oeffnungszuckung  voll- 
ständig fehlen ,  selbst  wenn  die  Erregbarkeit  des  Nerven  bedeutend 
gesteigert  erscheint,  während  mit  unfehlbarer  Sicherheit  eine  kräftige 
Zuckung  ausgelöst  wird,  wenn  der  Strom  um  Weniges  länger  ge- 
schlossen blieb.  Es  ist  bemerkenswerth ,  dass  auch  die  Form  der 
Zuckungscurve  Avesentlich  von  der  Schliessungsdauer  des  Stromes 
abhängt,  indem  alle  Uebergänge  vorkommen  zwischen  einer  einfachen, 
in  ihrem  Vei'laufe  von  der  Schliessungszuckung  sich  nicht  unter- 
scheidenden Muskelcontraction  und  lang  anhaltender  tetanischer  Ver- 
kürzung  (Ritter'  scher  (,)effnungstetanus). 

Dass  in  diesem  Falle  der  Oeifnungstetanus,  welcher  in  einem  vor- 
gerückteren Stadium  der  Vertrocknung  leicht  und  schon  nach  kurzer 
Schliessung  schwacher  Ströme  auftritt,  der  Oeffnungszuckung  früherer 
Stadien  insoferne  als  gleichwerthig  betrachtet  werden  darf,  als  beide 
einer  und  derselben  später  zu  erörternden  Ursache  ihre  Entstehung 
verdanken,  geht,  abgesehen  von  dem  Vorhandensein  der  eben  erwähnten 
Uebergangsformen,  auch  daraus  hervor,  dass  der  Oeffnungtetanus  ganz 
ebenso  ein  verspätetes  Eintreten  erkennen  lässt,  wie  die  anfängliche 
Oeffnungszuckung. 

Der  Erste,  welcher  bezüglich  der  Oeffnungszuckung  auf  diesen 
wichtigen  Umstand  aufmerksam  gemacht  hat,  war  Pflüg  er  (2.  p.  75) 
welcher  bei  Reizung  der  tieferen  Theile  des  Ischiadicus  von  Rana 
esculenta  mit  schwachen  absteigenden  Strömen  wiederholt  beobachtete, 
„dass  die  Oeffnungszuckung  dem  Augenblick  der  Oeffnung  des  ab- 
steigenden Stromes  um  eine  sehr  lange  Zeit  nachfolgt,  die  oft  mehrere 
Secunden  beträgt". 

Ich  habe  zwar  eine  so  bedeutende  Verzögerung  nur  in  seltenen 
Fällen  und  niemals  an  Nerven  gesehen,  deren  Erregbarkeit  durch 
Wasserverlust  gesteigert  wurde,  gleichwolil  kann  ich  jedoch  in  Hinblick 
auf  die  verhältnissmässig  geringe  Zahl  meiner  diesbezüglichen  Ver- 
suche, sowie  die  Möglichkeit  individueller  Verschiedenheiten  den  Ver- 
dacht nicht  unterdrücken,  dass  Pflüg  er  in  den  erwähnten  Fällen 
Präparate  vor  sich  gehabt  hat,  welche  sich  im  ersten  Stadium  der 
Vertrocknung  befanden,  da  ich  sonst  niemals  die  in  Rede  stehende 
Erscheinung  beobachtet  habe,  ausser  wenn  die  Erregbarkeit  des  Nerven 
künstlich  durch  gewisse,  sofort  zu  erwähnende  Eingriffe  über  die  Norm 
gesteigert  wurde. 

Bekanntlich  erklärte  Eckhardt  (37)  die  Erregungserscheinungen, 
welche  man  bei  Einwirkung  neutraler  Alkalisalze  und  insbesondere 
des  NaCl  in  Substanz  oder  in  stärkeren  Lösungen  auf  Nerven  beob- 
achtet, als  bedingt  durch  Wasserentziehung,  und  vergleicht  dieselben 
direct  mit  den  die  Vertrocknung  eines  Nerven  begleitenden  Reiz- 
erscheinungen. Und  in  der  That  besteht  eine  grosse  Uebereinstimmung 
in  dem  Verlauf  der  Erscheinungen  im  ersteren  wie  letzteren  Falle, 
sowohl  hinsichtlich  der  Veränderung  der  Erregbarkeit  im  Allgemeinen, 
wie  auch  betreffs  des  Auftretens  und  Charakters  der  Oeffnungs- 
erregung. 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  585 

Die  Versuche  mit  NaCl  in  concentrirter  Lösung  gewähren  zwar 
einerseits  den  Vortheil,  dass  es  besser  als  bei  der  Vertrocknung  gelingt, 
die  Einwirkung  auf  eine  bestimmte  Nervenstrecke  zu  localisiren,  allein 
andererseits  haben  dieselben  wieder  den  Nachtheil,  dass  bei  elektrischer 
Reizung  eines  mit  NaCl  behandelten  Nervenabschnittes  die  Neigung 
zu  tetanischer  Verkürzung  des  Muskels  schon  bei  den  schwächsten 
Schliessungs-  oder  Oeffnungsreizen  bei  weitem  ausgesprochener  ist, 
als  im  Verlaufe  der  Vertrocknung,  so  dass  man  fast  immer  nur 
OefFnungstetanus  und  nur  selten  Oeffnungszuckungen  auszulösen  im 
Stande  ist. 

Da  ausserdem  bei  Behandlung  der  Nerven  mit  NaCl  in  seiner 
ganzen  Ausdehnung  der  alsbald  auftretende,  von  der  Stromesrichtung 
(so  lange  es  sich,  wie  hier  durchwegs,  um  schwache  Ströme  handelt) 
unabhängige  Schliessungstetanus  das  Erkennen  der  Erregungser- 
scheinungen bei  Oeffnung  des  Stromes  vielfach  beeinträchtigen  Avürde, 
so  thut  man  gut,  die  Einwirkung  des  NaCl  so  viel  als  thunlich  auf  das 
Gebiet  der  Anode  zu  beschränken. 


Fig.  188.     Einfluss  localer  Kochsalzbeliandlung  an  der  Kathode   auf  die   Erregbarkeit. 
Uebergang  der  absteigenden  Schliessungszuckung  in  Schliessungstetanus. 

Es  ist  am  bequemsten,  sich  bei  derartigen  Versuchen  derjenigen 
Form  unpolarisirbarer  Rührenelektroden  zu  bedienen,  welche  zuerst 
von  Engel  mann  (38)  beschrieben  wurde.  Man  braucht  dann  nur 
ein  kleines,  mit  der  betreffenden  Salzlösung  getränktes  BaumwoU- 
bäuschchen  auf  die  eine  oder  andere  Elektrode  zu  legen,  so  dass  eine 
etwa  der  Breite  der  Glasröhrchen  entsprechende  Nervenstrecke  davon 
bedeckt  ist.  Das  ganze  Präparat  nebst  den  Elektroden  bringt  man 
zweckmässig  in  eine  feuchte  Kammer,  um  bei  längerer  Dauer  des  Ver- 
suches das  Austrocknen  der  frei  liegenden  Nervenabschnitte  zu  ver- 
hüten. Der  Muskel  steht  vermittels  eines  um  eine  Rolle  gehenden 
Fadens  mit  einem  ausserhalb  der  Kammer  befindlichen  Schreibstift  in 
Verbindung,  welcher  die  Gestaltveränderungen  auf  dem  mit  wechselnder 
Geschwindigkeit  rotirenden  Cylinder  eines  Kymographions  zu  ver- 
zeichnen gestattet.  Bei  Reizung  mit  schwachen  Strömen  beobachtet  man 
schon  nach  wenigen  Minuten  eine  deutliche  Zunahme  des  Schliessungs- 
reizerfolges,  wenn  der  Austritt  des  Stromes  in  der  mit  dem  NaCl 
behandelten  Nervenstrecke  erfolgt.  Die  Zuckungen  werden  aber  bald 
tetanisch,  und  nach  kurzer  Zeit  kommt  es  bei  jeder  Schliessung  des 
Stromes  in  der  angedeuteten  Richtung  zu  einem  kräftigen  Tetanus 
(Fig.  188),  der  anfangs  bei  der  Oeffnung  wieder  vollständig  verschwindet, 
in  späteren  Stadien  der  NaCl- Wirkung  jedoch  dauernd  wird,  womit 
natürlich  allen  weiteren  Beobachtungen  ein  Ziel  gesetzt  ist.    Zu  einer 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  38 


586  ^i^  elektrische  Erregun,^  der  Nerven. 

Zeit,  wo  nach  Application  von  NaCl  auf  die  dem  Muskel  näher  ge- 
legene Elektrode  ein  absteigend  gerichteter  schwacher  Strom  bereits 
kräftigen  Schliessungstetanus  auslöst,  beobachtet  man  in  der  Regel 
bei  Schliessung  desselben  Stromes  in  umgekehrter  Richtung  nur  eine 
einfache  Zuckung,  deren  Verlauf  und  Grösse  sich  nicht  von  jenen 
Schliessungszuckungen  unterscheidet,  welche  unter  denselben  Versuchs- 
bedingungen  vor  der  localen  NaCl-Behandlung  ausgelöst  wurden.  Es 
dürfte  dieser  Umstand  insoferne  nicht  ohne  Interesse  sein,  als  er  zu 
beweisen  scheint,  dass  es  für  die  Grösse  des  Enderfolges  der  Reizung 
einer  Nervenstelle  gleichgiltig  ist,  wenn  die  ausgelöste  „Reizwelle" 
eine  Nervenstrecke  durchläuft,  welche  sich  im  Zustande  erhöhter 
Erregbarkeit  befindet. 

Die  Oeffnung  schwacher,  aufsteigender  Ströme  bleibt  nach  localer 
NaCl-Behandlung  an  der  Anode  in  der  Regel  noch  ohne  Erfolg,  wenn 
nach  Wendung  des  Stromes  die  Schliessung  bereits  kräftigen  Tetanus 
auslöst.      Man    muss   dann    entweder   den   aufsteigenden    Strom   etwas 

v>v  ^  Fig.  189.   Nerv-Muskelpräpa- 

rat    vom    Frosch.      Reizung 
in  der  Mitte    der  Länge    des 
Nerven.      Aufsteigende    Stro- 
mesrichtung.     3    Min.    nach 
Auflegen    eines    mit   concen- 
trirter  NaCl-Lösung  getränk- 
ten Bauwollbäuschchens   auf 
die  Anode   bewirkt  Oetfnung 
eines    schwachen  Kettenstro- 
mes     schon      nach      kurzer 
Schliessungsdauer    Tetanus,     welcher     verspätet    eintritt    (//).       Nach     einmaliger 
Schliessung    eines    stärkeren   »Stromes    schiebt    sich    bei   Oeffnung    eines    Stromes    von 
gleicher  Intensität   wie   früher   in   die  Phase    zwischen  dem  Moment  der  Oeffnung  und 
dem  Beginn  des  Tetanus  die  Oefihungszuckung  /  ein. 

verstärken  oder  die  Schliessungsdauer  entsprechend  vergrössern,  um 
wirksame  (meist  tetanische)  Oeffnungserregung  zu  erzielen.  Beides 
erscheint  überflüssig  in  einem  etwas  vorgerückteren  Stadium  der  ört- 
lichen NaCl- Wirkung.  Dann  dauert  es  aber  auch  in  der  Regel  nicht 
lange,  bis  der  Muskel  in  Unruhe  geräth,  an  welche  sich  unmittelbar 
der  bekannte  Kochsalztetanus  anschliesst  und  weitere  Reizversuche 
unmöglich  macht,  wenn  man  nicht  vorher  nach  Entfernung  des  Baum- 
wollbausches die  betreffende  Nervenstelle  durch  Auswaschen  mit  0,5  °/o 
NaCl-Lösung  in  den  Zustand  zurückversetzt,  in  welchem  sie  zwar  noch 
eine  gesteigerte  Erregbarkeit  erkennen  lässt,  ohne  dass  jedoch  spontane 
Erregungserscheinungen  ausgelöst  werden. 

Im  Uebrigen  entspricht  der  Charakter  der  nach  NaCl-Behandlung 
zu  beobachtenden  Oeffnungswirkungen  fast  vollkommen  dem  Verhalten 
der  analogen,  oben  geschilderten  Erscheinungrn  am  vertrocknenden 
Nerven,  und  ist  insbesondere  das  verspätete  Eintreten  der  Oeffnungs- 
contraction,  sowie  deren  Abhängigkeit  von  der  Schliessungsdauer  des 
Stromes  in  den  meisten  Fällen  sehr  deutlich  wahrnehmbar  (Fig.  189). 
Ich  brauche  mich  daher  auch  unter  Hinweis  auf  die  beigegebenen 
Curven  nicht  weiter  bei  der  Beschreibung  der  hierher  gehörigen  That- 
sachen  aufzuhalten,  gehe  vielmehr  sofort  zur  Besprechung  der  besonders 
interessanten  Wirkungsweise  des  Alkohols  in  hohen  Verdünnungs- 
graden über. 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


587 


Mo  mm  seil  zeigte  in  der  oben  erwähnten  Arbeit,  dass  die 
Erregbarkeit  motorischer  Nerven  durch  Application  einer  schwach 
alkoholhaltigen  (1 — 2  Volum  '^/o)  NaCl-Lösung  erheblich  zunimmt, 
welche  Steigerung  erst  nach  lange  dauernder  Einwirkung  einer  Ab- 
nahme der  Erregbarkeit  bis  zur  völligen  Unerregbarkeit  Platz  macht. 
Selbst  dann  ist  aber  noch  eine  Restitution  durch  Auswaschen  mit  0,6  ^/o 
NaCl-Lösung  möglich. 

Wenn  man  den  Ischiadicus  eines  Nerv-Muskelpräparates  vom 
Frosche  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  mit  alkoholischer  NaCl-Lösung 
behandelt  und  von  Minute  zu  Minute  mit  einem  schwachen  auf- 
steigenden oder  absteigenden  Kettenstrom  reizt,  so  bemerkt  man 
wieder  zunächst  eine  sehr  bedeutende  Zunahme  der  Höhe  der 
Schliessungszuckungen,  ohne  dass  dieselben  jedoch  tetanisch  würden. 
Fast  gleichzeitig  (gewöhnlich  schon  nach  2 — 4  Minuten)  erfolgt 
aber  auch  bei  Oeffnung  des  Stromes  eine,  meist  sehr 
verspätet  eintretende  Muskelzuckung,  vorausgesetzt, 
dass  die  Schliessungsdauer  nicht  allzu  kurz  war  (Fig.  190). 


Fig.  190.  Nerv-Muskelpräparat  vom  Frosch.  Reizung  in  der  Mitte  der  Nervenlänge. 
Aufsteigende  Stromesrichtung.  Nach  30  See.  langem  Eintauchen  des  Nerven  in  alko- 
holische Kochsalzlösung  (10  Vol.  °/o)  löst  der  Strom  nebst  der  Schliessungszuckung 
verspätete  Oeffnungszuckung  (//)  aus,  welcher  nach  längerer  Alkoholwirkung  die  Oeff- 
nungszuckung  /  vorangeht,  die  je  nach  der  Schliessungsdauer  isolirt  oder  mit  Oeffnungs- 
zuckung //  theilweise  oder  ganz  verschmolzen  auftritt. 


Wie  lange  aber  ein  Strom  unter  den  gegebenen  Bedingungen  ge- 
schlossen bleiben  muss,  um  bei  der  Oeffnung  erregend  zu  wirken, 
hängt  natürlich,  abgesehen  von  der  Intensität  desselben,  auch  von 
dem  Grade  der  Alkoholwirkung  ab,  also  einerseits  von  der  Stärke 
der  angewendeten  Lösung,  andererseits  von  der  Dauer  der  Einwirkung 
derselben. 

Im  Allgemeinen  erfolgt  das  Ansteigen  der  Erregbarkeit  eines 
Nerven  bei  Behandlung  mit  einer  nicht  zu  schwach  alkoholischen 
Kochsalzlösung  ziemlich  rasch  und  tritt  dann  dementsprechend  auch 
die  Oeffnungszuckung  selbst  bei  Anwendung  schwacher  Ströme  sehr 
bald  und  schon  nach  kurzer  Schliessungsdauer  auf.  Zu  bemerken 
wäre  noch,  dass  die  Oeffnung  aufsteigend  gerichteter  Ströme  in  der 
Regel  etwas  früher  erregend  wirkt,  als  die  absteigender,  was  wohl 
mit  dem  Auftreten  der  sogenannten  „negativen  Moditication"  des  Kat- 
elektrotonus  im  letzteren  Falle  zusammenhängen  dürfte. 

Da  es  bei  Alkoholbehandlung  des  Nerven  niemals  zu  spontanem 
Tetanus    kommt   und,    wie    auch  Mommsen    hervorhebt,    vereinzelte 

38* 


588  I^i^  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

Muskelzuckiingen  nur  bei  Anwendung  stark  alkoholhaltiger  Salzlösung 
(bis  zu  20*^0  Vol.)  bisweilen  eintreten,  so  ist  es  hier,  wie  in  keinem 
anderen  mir  bekannten  Falle  möglich,  die  Abhängigkeit  der  Oeffnungs- 
erregung  von  dem  Erregbarkeitszustande  des  Nerven,  sowie  deren 
besondere  Eigenschaften  mit  Bequemlichkeit  zu  untersuchen,  zumal 
die  Steigerung  der  Erregbarkeit  lange  Zeit  hindurch  gieichmässig  anhält. 

Als  charakteristische  Eigenthümlichkeiten  der  Oeffnungserregung, 
welche  bei  künstlich  gesteigerter  Erregbarkeit  eines  Nerven  durch 
schwache  Kettenströme  ausgelöst  werden  kann,  wurde  bereits  in  zwei 
Fällen  erstlich  das  mehr  oder  weniger  ausgesprochene, 
immer  aber  merkliche,  verspätete  Eintreten  derMuskel- 
verkürzung  constatirt ,  und  zweitens  die  Abhängigkeit  der 
Grösse  und  Form  der  Zuck ungs cur ve  von  der  Schliessungs- 
dauer des  Stromes. 

Beides  tritt  in  ausserordentlich  klarer  und  überzeugender  Weise 
hervor  bei  graphischer  Verzeichnung  der  OefFnungszuckungen,  welche 
bei  Einwirkung   schwacher  Ströme   auf  alkoholisirte  Nerven  ausgelöst 


h  A  A A A A- 


Fig.  191.     Alkoholbehandlung  des  Nerven.     Versuchsverfahren  wie  bei  Fig.  190.  Einfluss 

der    Schliessungsdauer  auf  die    Höhe   der   Oeffoungszuckung  II.     Oeffnuugszuckung  I 

zeigt  sich  davon  ganz  unabhängig. 

werden.  Was  zunächst  die  Verspätung  anbelangt,  so  ist  zu  erwähnen, 
dass  dieselbe  innerhalb  ziemlich  weiter  Grenzen  schwankt. 

Bisweilen  nur  eben  merklich,  kann  die  Verzögerung  des  Beginns 
der  Muskelverkürzung  in  anderen  Fällen  mehrere  Secunden  betragen. 
Als  bestimmende  Momente  kommen  hier  vor  allem  in  Betracht  die 
Schliessungsdauer  und  Intensität  des  Stromes,  mit  deren  Zunahme  die 
Grösse  der  „Latenzzeit"   im  Allgemeinen  abnimmt. 

In  gleichem  Sinne  wird  das  „Latenzstadium  der  Oeffnungserregung" 
bei  Reizung  alkoholisirter  Nerven  auch  durch  den  Grad  der  Erregbar- 
keitssteigerung beeinflusst,  so  dass  dasselbe  im  Beginn  einer  Versuchs- 
reihe gewöhnlich  merklich  grösser  erscheint,  als  im  Verlaufe  derselben, 
wenn  auch  hier  vielleicht  der  Einfluss  der  in  kurzen  Pausen  sich 
folgenden  Einzelreize  (bei  durchwegs  gleicher  Schliessungsdauer)  von 
grösserer  Bedeutung  ist,  zumal  bereits  Pflüg  er  darauf  hinweist, 
„dass  das  Phänomen  (der  Verspätung)  nach  mehrmals  wiederholtem 
Schliessen  sich  änderte,  indem  die  Oeffnungszuckung  dann  immer 
schneller  und  schneller  der  Oeffnung  folgte,  bis  endlich  kein  Intervall 
mehr  zu  bemerken  war". 

Ein  Blick  auf  die  mit  II  bezeichneten  Oeffnungszuckungscurven 
der  Fig.  191  lässt  sofort  auch  die  höchst  auffallende  Abhängigkeit 
der  Oeffnungserregung  von  der  Schliessungsdauer  des  Keizstromes  unter 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  589 

den  gegebenen  Versuchsbedingungen  erkennen  und  zeigt,  wie  rerhältniss- 
mässig  geringfügige  Aenderungen  der  letzteren  genügen,  um  die  erstere 
entweder  vollkommen  zu  unterdrücken  oder  umgekehrt  maximale 
Zuckungen  auszulösen.  Soweit  stimmen  die  Ergebnisse  der  elektrischen 
Reizung  alkoholisirter  Nerven  und  solcher,  deren  Anspruchsfähigkeit 
durch  partiellen  Wasserverlust  oder  Kochsalzbehandlung  erhöht  wurde, 
fast  vollkommen  überein ;  dagegen  macht  sich  ein,  allerdings  nur  un- 
wesentlicher, Unterschied  bemerkbar  hinsichtlich  des  vorwiegenden 
Charakters  der  Zuckungscurve  (Fig.  192  ZZ).  Während  nämlich  am  ver- 
trocknenden Nerven  die  Auslösung  einfacher  Oeffnungs Zuckungen 
in  einem  gewissen,  dem  Auftreten  spontaner  Erregungserscheinungen 
unmittelbar  vorausgehenden  Stadium  selbst  bei  Anwendung  sehr  schwa- 
cher Ströme  nicht  mehr  gelingt,  und  es  dann  immer  nur  zu  tetanischer 
Contraction  des  Muskels  (Ritter'  scher  Oeffnungstetanus )  kommt,  was 
in  noch  höherem  Maasse  bei  Kochsalzbehandlung  eines  Nerven  gilt, 
bedarf  es  umgekehrt  ziemlich  andauernder  Dui-chströmung  bei  nicht  zu 
geringer  Intensität  des  Stromes,  um  nach  Alkoholbehandlung  des  Nerven 
einen  ausgesprochenen  Oeffnungstetanus  zu  erzielen.     Meist   kommt  es 


Fig'.  192.    Nerv-Muskelpräparat  vom  Frosch.    Aufsteigende  Stromesrichtung,  im  Uebrigeu 

gleiche  Versuchsanorduung  wie  in  den  vorhergehenden  Figuren.     Einfluss  beginnender 

Vertrocknung  auf  den  Reizerfolg  bei  Oeffnung  eines  mittelstarken  Kettenstromes :  Oeff- 

nungszuckung  I  tritt  als  "Vorschlag  zu  dem  verspäteten  Oeffnungstetanus  II  auf. 

nach  etwas  längerer  Schliessungsdauer  nur  zu  gedehnt  verlaufenden 
Zuckungen,  die  als  Uebergangsformen  zwischen  einer  einfachen 
Oeffnungszuckung  und  andauernder  tetanischer  Verkürzung  des  Muskels 
betrachtet  werden  müssen. 

Hiermit  steht  in  Uebereinstimmung,  dass  auch  das  Auftreten  des 
Schliessungstetanus  bei  schwacher  elektrischer  Reizung  alkoholisirter 
Nerven  als  Ausnahme  betrachtet  werden  muss,  obschon  die  Curven, 
sowohl  der  Schliessungs-  wie  auch  der  Oeffnungszuckungen  sich  durch 
den  meist  abgerundeten  Gipfel  von  solchen  unterscheiden,  welche  bei 
Erregung  normaler  Nerven  durch  Momentanreize  (einzelne  Inductions- 
schläge)  oder  auch  durch  Schliessung  eines  Kettenstromes  erhalten 
werden. 

Aus  den  vorstehend  beschriebenen  Versuchen  geht  nun  mit  aller 
Sicherheit  hervor,  dass,  während  es  am  normalen,  unversehrten 
Nerven  niemals  gelingt,  durch  schwächere  Ströme  Oeffnungserregung 
auszulösen,  dies  allerdings  möglich  ist,  wenn  die  Erregbarkeit  desselben 
künstlich  gesteigert  wird,  und  es  würde  daher  von  dieser  Seite  die 
Annahme  durchaus  berechtigt  erscheinen,  dass  auch  das  Auftreten 
der  Oeffnungszuckung  nach  Anlegung  eines  Querschnittes  am  Nerven 
als  Folge  der  dadurch  bedingten  Erregbarkeitserhöhung  zu  be- 
trachten sei. 


590  I^iß  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

Ausser  den  schon  früher  angeführten  und,  wie  mir  scheint,  triftigen 
Gegengründen  ergiebt  jedoch  schon  die  einfache  Vergieichung  der  in 
beiden  Fällen  zu  beobachtenden  OefFnungsreizerfolge ,  dass  nicht  nur 
keine  Uebereinstimmung  der  wesentlichsten  Eigenschaften  derselben 
besteht,  wie  es  doch  wohl  der  Fall  sein  müsste,  wenn  der  Oeffnungs- 
erregung  in  beiden  Fällen  die  gleiche  Ursache  zu  Grunde  liegen  würde, 
sondern  es  drängt  sich  bei  genauerer  Untersuchung  der  betreffenden 
Erscheinungen  mehr  und  mehr  die  Ueberzeugung  auf,  dass  es  sich 
hier  um  zwei  von  einander  streng  zu  sondernde  Wirkungen  des  elek- 
trischen Stromes  handelt,  verschieden  nicht  nur  hinsichtlich  der  Be- 
dingungen ihres  Eintretens,  sondern  auch  in  der  Art  und  Weise,  wie 
sie  sich  am  Muskel  äussern. 

Als  charakteristische  Eigenthümlichkeiten  der  Oeffnungszuckungen, 
welche  bei  Einwirkung  schwächerer  Ströme  auf  Nerven  ausgelöst 
werden,  deren  Erregbarkeit  beträchtlich  gesteigert  wurde,  macht  sich 
den  oben  mitgetheilten  Erfahrungen  zufolge  vor  allem  das  verspätete 
Eintreten  derselben ,  sowie  deren  Abhängigkeit  von  der  Schliessungs- 
dauer bemerkbar ,  und  sie  unterscheiden  sich  in  dieser  Beziehung 
wesentlich  von  jenen  C)effnungszuckungen,  welche  unter  sonst  gleichen 
Versuchsbedingungen  in  nächster  Nähe  eines  Querschnittes  an  sonst 
normalen  Nerven  ausgelöst  werden.  Au  der  Curve  dieser  letzteren 
las  st  sich  ohne  Zuhilfenahme  feinerer,  zeitmessender 
Untersuchungsmethoden  niemals  ein  merkliches  Inter- 
vall zwischen  dem  Moment  der  Oeffnung  des  Stromes 
und  dem  Beginn  der  Muskelverkürzung  wahrnehmen-, 
auch  verläuft  die  Curve  viel  steiler  und  zeigt  stets  einen  spitzen  Gipfel, 
ohne  jemals  an  Höhe  den  Oeffnungszuckungen  gleich  zu  kommen, 
welche  in  Folge  künstlich  gesteigerter  Erregbarkeit  des  Nerven  aus- 
gelöst werden  können.  Besonders  ist  es  aber  bemerk enswerth ,  dass 
die  Schliessungsdauer  des  Reiz  ström  es  nur  innerhalb 
sehr  enger  Grenzen  die  Grösse  und  in  keiner  Weise  den 
Charakter  der  „Querschnitts- Oeffnungszuckungen",  wie 
ich  dieselben  kurz  bezeichnen  will,  zu  beeinflussen  vermag; 
denn  niemals  sieht  man  die  Curven  derselben  einen  gedehnteren 
Verlauf  annehmen  oder  gar  tetanisch  werden,  selbst  wenn  ein  ziemlich 
starker  Strom  in  absteigender  Richtung  beliebig  lange  das  Schnittende 
eines  vor  Verdunstung  geschützten  Nerven  durchfliesst. 

Diese  Momente  dürften  vielleicht  allein  schon  genügen,  um  die 
Annahme  einer  doppelten,  in  Ursache  und  Erscheinungsweise  ver- 
schiedenen Oeffnungserregung  nicht  ganz  unberechtigt  erscheinen  zu 
lassen-,  indessen  lassen  sich  hierfür  noch  weitere  und,  wie  ich  glaube, 
zwingende  Gründe  beibringen. 

Ich  muss  hier  zunächst  auf  die  Thatsache  aufmerksam  machen, 
dass  Oeffnungszuckungen  von  genau  demselben  Charakter, 
Avie  in  der  Nähe  eines  Querschnittes,  auch  am  unverletzten 
Nerven,  also  unabhängig  von  dem  Einfluss  des  Schnittes 
unter  gewissen  Bedingungen  durch  selbst  sehr  schwache 
Ströme  ausgelöst  werden  können.  Merkwürdigerweise 
ist  es  aber  nicht  sowohl  eine  erhöhte,  als  vielmehr  eine 
bedeutend  verminderte  Erregbarkeit  des  Nerven,  welche 
dann    das   Auftreten    derselben    zu    begünstigen    scheint. 

Wenn  man  in  der  eben  besprochenen  Weise  den  N.  ischiadicus 
vom   Frosche    mit    nicht    zu    schwacher   alkoholischer   Kochsalzlösung 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  591 

(etwa  10  Vol.  ^/o)  behandelt  und  von  Minute  zu  Minute  mit  einem  auf- 
oder  absteigend  gerichteten  Kettenstrom  von  geringer  Intensität  reizt 
(es  empfiehlt  sich  im  Allgemeinen  die  aufsteigende  Stromesrichtung 
deshalb  mehr^  weil  sich  bei  derselben  die  Wirkung  der  Anode  ganz 
ungestört  zu  entfalten  vermag),  so  bemerkt  man  bald  neben  der, 
anfangs  allein  vorhandenen,  bereits  ausführlich  be- 
sprochenen, verspäteten  Oeffnungszuckung  eine  zweite, 
welche  sich,  im  Momente  der  Oeffnung  beginnend,  in 
die  Pause  zwischen  diesem  und  dem  Beginn  der  ver- 
späteten Muskelzuckung  einschiebt  und  so  gewisser- 
maassen  einen  Vorschlag  derselben  bildet  (Fig.  190,  191 1). 
Ob  dieser  Vorschlag  als  völlig  gesonderte  Zuckung  hervortritt,  indem 
der  Muskel  vollständig  wieder  erschlafft,  bevor  die  verspätete  Zuckung 
(Oeffnungszuckung  II)  beginnt,  oder  mit  dieser  theilweise  oder  ganz 
verschmilzt,  hängt  natürlich  von  der  Grösse  des  Zeitintervalls  zwischen 
dem  Moment  der  Oeffnung  und  dem  Beginn  der  Oeffnungszuckung  II 
und  daher  wesentlich  von  der  Schliessungsdauer  des  Stromes  ab. 

In  Folge   der   fortschreitenden  Alkoholwirkung  sinkt  allmälig  die 
Anspruchsfähigkeit  des  Nerven,  und  dem  entsprechend  nimmt  die  Höhe 


Fig.  193.  Ende  der  Versuchsreihe  Fig.  191.  Abnahme  der  Oeffnungszuckung  II  bis 
zum  Verschwinden  bei  Gleichbleiben   (ja  eventuell  Wachsen)   der  Oeffnungszuckung  I. 

der  Schliessungszuckungscurven ,  wie  auch  der  Oeffnungszuckung  II 
ab,  und  nun  -zeigt  sich  die  auffallende  Thatsache,  dass  die  erste 
Oeffnungszuckung  (Oeffnungszuckung  I)  ihren  grössten 
Werth  erst  dann  erreicht,  wenn  die  Erregbarkeit  schon 
beträchtlich  abgenommen  hat.  Wenig  später  fehlt  die 
Oeffnungszuckung  II  vollständig  und  tritt  auch  bei  be- 
liebig langer  Schliessungsdauer  nicht  mehr  hervor, 
gleichwohl  bleibt  dann  die  Oeffnungszuckung  neben 
der  in  ihrer  Grösse  beträchtlich  reducirten  Schliessungs- 
zuckung bestehen,  welcher  sie  meist  gleichkommt,  die- 
selbe unterUmständen  sogar  übertrifft(Fig.  193).  Bringt  man 
um  diese  Zeit  das  ganze  Präparat  in  eine  reichliche  Menge  0,6  "/o  NaCl- 
Lösung,  so  gelingt  es  leicht,  die  normalen  Erregbarkeitsverhältnisse 
des  Nerven  vollständig  Avieder  herzustellen,  so  dass  an  jeder  beliebigen 
Stelle  eine  Schliessungszuckung  den  einzigen  Reizerfolg  nicht  zu  starker 
aufsteigend  oder  absteigend  gerichteter  Ströme  darstellt.  Man  kann 
dann  bei  abermaliger  Behandlung  mit  verdünntem  Alkohol  dieselbe 
Reihenfolge  der  Erscheinungen  auch  ein  zweites  Mal,  unter  Umständen 
sogar  noch  ein  drittes  Mal  beobachten. 

Die   Behandlung    eines   Nerven   mit   alkoholischer  Kochsalzlösung 
gewährt   den   grossen  Vortheil,    dass   man   dabei,    ohne   die  sonstigen 


592  -^^^  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

Veisuchsbedingung'en  irgendwie  zu  ändern,  an  einem  und  demselben 
Präparate  die  Art  und  Weise,  wie  sich  die  Reizerfolge  bei  Oeffnung 
des  Stromes  im  Verlaufe  der  Einwirkung  ändern,  genau  zu  verfolgen 
und  so  den  direkten  Beweis  zu  liefern  vermag,  dass  die  beiden  in 
Rede  stehenden  Zuckungsformen  gleichzeitig  neben  einander  zu  bestehen 
vermögen,  und  daher  als  von  einander  verschiedene  Wirkungen  des 
Stromes  aufgefasst  werden  müssen.  Dies  lässt  sich  mit  gleicher  Sicher- 
heit weder  aus  der  alleinigen  Untersuchung  der  Oeffnungsreizerfolge 
vertrocknender  oder  mit  Kochsalz  behandelter  Nerven  erschliessen,  da 
der  bald  eintretende  spontane  Tetanus  länger  dauernde  Beobachtungen 
verhindert,  noch  würden  die  sofort  zu  besprechenden  Fälle  ausschlag- 
gebend sein,  wo  nur  die  Oeffnungszuckung  I  zum  Vorschein  kommt, 
da  die  anfängliche  Erregbarkeitserhöhung  entweder  vollständig  fehlt, 
oder  doch  zu  wenig  ausgesprochen  ist. 

Ranke  (39)  gibt  an,  dass  „durch  die  Kalisalzwirkung  die  Erreg- 
barkeit der  Nerven  primär  erhöht  wird.  Erst  in  der  Folge  und  bei 
stärkerer  Kaliwirkung  tritt  die  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  und 
der  Nerventod  ein".  Er  rechnet  daher  die  neutralen  Kalisalze  zu  den 
„Ermüdungsstoffen"  des  Nerven,  indem  er  als  charakteristisch  für  die 
„Nervenermüdung"  überhaupt  angibt,  dass  sie  „zwei  verschiedene 
Stadien  erkennen  lässt :  das  p  r  i  m  ä  r  e  Stadium  ist  eine  Erhöhung,  das 
secundäre  eine  Verminderung  der  Erregbarkeit",  die  schliesslich  in 
den  Nerventod  übergeht. 

Diesen  Erfahrungen  zufolge  wäre  demnach  die  Aufeinanderfolge 
der  Erregbarkeitsänderungen  in  den  verschiedenen  Stadien  der  Kaii- 
salzwirkung  ganz  dieselbe,  wie  bei  Einwirkung  alkoholischer  Koch- 
salzlösung, und  wäre  daher  auch  ein  analoges  Verhalten  gegenüber 
schwachen  Oeffnungsreizen  zu  erwarten.  Aus  den  im  Folgenden  mit- 
zutheilenden  Beobachtungen  geht  jedoch  hervor,  dass  sich  diese  Er- 
wartungen nur  zum  Theil  erfüllen. 

Wenn  man  den  vom  Centralorgan  getrennten  Nerven  eines  Nerv- 
Muskelpräparates  seiner  ganzen  Länge  nach  in  eine  stark  verdünnte 
(1  ^!o)  Lösung  von  KNO3  taucht,  so  beobachtet  man  schon  nach  kurzer 
Zeit  (5—10  Min.)  eine  höchst  charakteristische  Veränderung  der  Reaction 
des  Muskels  bei  Reizung  des  Nerven  mit  schwachen  Kettenströmen, 
derart,  dass  eine  Oeffnungszuckung  (vom  Charakter  der  Oeffnungs- 
zuckung I)  nicht  nur,  wie  vorher,  ausschliesslich  bei  absteigender 
Stromesrichtung  auftritt,  sobald  sich  die  Anode  in  nächster  Nähe  des 
Querschnittes  befindet,  sondern  unabhängig  von  der  Lage  und 
dem  Abstand  der  Elektroden  bei  absteigender  wie  auch 
bei  aufsteigender  Richtung  des  Re  izstromes  ausgelöst  wird, 
ohne  dass  sich  zu  dieser  Zeit  eine  irgend  beträchtliche  Steigerung 
der  Anspruchsfähigkeit  für  Schliessungsreize  nachweisen  Hesse.  In  den 
meisten  Fällen  findet  man  sogar  die  Höhe  der  Schliessungszuckungen 
geringer  als  vor  Beginn  der  Kali  Wirkung.  Ganz  gleiche  Resultate 
ergibt  auch  die  Behandlung  undurchschnittener,  mit  dem  Rückenmark 
noch  zusammenhängender  Nerven  mit  KNO3  in  1  "0  Lösung  (Fig.  194). 

Wenn  man  dann  von  Zeit  zu  Zeit  verschiedene  Stellen  des  Nerven 
bei  gleichbleibender  Distanz  der  Elektroden  (etwa  1 — 2  Ctm.)  mit 
schwachen  Strömen  reizt,  so  findet  man  zumeist,  dass  in  der  dem 
Plexus  entsprechenden  Nervenstrecke  der  Oeffnungsreiz  früher  wirksam 
wird,  als  an  tiefer  gelegenen  Nervenparthieen.  Da  die  Salzlösung 
offenbar  an  jenen  Stellen  früher  ihre  Wirkung  entfalten  wird,  wo  die 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  593 

Fasermasse  des  Nerven  noch  in  einzelne  Bündel  zerspalten  ist,  als 
tiefer  unten  nach  ihrer  Vereinigung  zu  einem  einzigen  Stamme,  dürfte 
sich  im  Verein  mit  der  an  sieh  grösseren  Empfindlichkeit  centraler 
Nervenstrecken  gegen  Schädigungen  (E  f  r  o  n ,  C 1  a  r  a  H  a  1  p  e  r  s  o  n)  das 
eben  erwähnte  Verhalten  leicht  erklären.  Wenn  man  nur  den  unter- 
halb des  Plexus  gelegenen  Nervenabschnitt  bis  etwa  in  die  Nähe  der 
untersten  Theilungsstelle  mit  KNO3  behandelt,  indem  man  denselben 
zwischen  zwei  mit  der  Salzlösung  getränkten  Papierbäuschen  einbettet, 
so  kann  Inan  bei  einer  und  derselben  Stromstärke  an  allen  Stellen 
der  betreffenden  Nervenstrecke  gleichzeitig  gleichstarke  Oeffnungs- 
zuckungen  auslösen.  Legt  man  aber  an  einem  derartig  vorbereiteten 
Präparate  die  Elektroden  bei  geringem  Abstand  an  den  Plexus  selbst, 
so  beobachtet  man  entweder  nur  Schliessungszuckung  bei  beiden 
Stromesrichtungen,  Avenu  der  Zusammenhang  mit  dem  Rückenmark 
noch  besteht,  andernfalls  dagegen  wegen  der  Nähe  des  Querschnittes 
Schliessungszuckung  und  Oeffnungszuckung  bei  absteigender  Stromes- 
richtunff. 


i     T     1       T        I       T 


Fig.  194.  Nerv-Muskelpräparat  vom  Frosch.  Ein  schwacher  aufsteigend  oder  absteigend 
gerichteter  Strom  löst  bei  beliebiger  Lage  der  Elektroden  nur  Schliessungszuckung 
aus  (b).  Nach  5  Min.  dauerndem  Eintauchen  des  Nerven  in  1  "/o  KNOg-Lösung  er- 
scheint die  Erregbarkeit  herabgesetzt.  Gleichwohl  löst  derselbe  Strom  an  allen 
Punkten  der  veränderten  Nerveustrecke  auch  Oetfiiungszuckungen  von  gleicher  Höhe 
wie  die  Schliessungszuckungen  aus  (c,  d).  Durch  Auslaugen  mit  physiologischer  Koch- 
salzlösung (15  Min.)  lässt  sich  die  Oeflfnungszuckung  wieder  beseitigen  (ff,  h). 

Wenn  sich  die  Einwirkung  der  Kalisalpeterlösung  nicht  bis  in 
die  unmittelbare  Nähe  des  Muskels  erstreckt,  sondern  daselbst  ein 
etwa  2  cm  langer  Nervenabschnitt  derselben  entzogen  bleibt,  so  kann 
man  sich  sehr  schön  davon  überzeugen,  wie  bei  allmäligem  Vorrücken 
der  in  gleichem  Abstand  (1  cm)  erhaltenen  Elektroden  vom  Centrum 
nach  der  Peripherie  die  Oeffnungszuckung  bei  aufsteigender  Stromes- 
richtung immer  kleiner  wird,  je  näher  man  an  die  normal  gebliebene 
Nervenstrecke  herankommt,  und  ein  je  grösserer  Theil  derselben  daher 
in  das  Bereich  der  Anode  fällt,  um  schliesslich  ganz  zu  verschwinden, 
während  die  Höhe  der  Schliessungszuckungscurve  unverändert  bleibt 
oder  sogar  merklich  zunimmt.  Das  Gleiche  gilt  auch  für  den  ab- 
steigenden Strom,  nur  muss  man  in  diesem  Falle  die  Elektroden  dem 
Muskel  noch  mehr  nähern,  um  die  Oeffnungszuckung  ganz  zum  Ver- 
schwinden zu  bringen,  da  dann  zunächst  die  Kathode  und  später  erst 
die  Anode  in  das  Bereich  des  normal  gebliebenen  Nervenabschnittes 
fällt.  Die  Höhe  der  Schliessungszuckung  nimmt  dann 
immer   bedeutend  zu,    was  wieder  darauf  hinweist,    dass  die  An- 


594  Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

Spruchsfähigkeit  für  Scliliessungsreize  an  normalen  Nervenstellen  in 
der  Regel  grösser  ist,  als  an  solchen,  welche  durch  die  Einwirkung 
von  Kalisalzen  verändert  wurden,  ohne  dass  im  ersteren  Falle  OefFnungs- 
zuckung  ausgelöst  wird,  die  im  letzteren  niemals  fehlt. 

Wenn  man  in  einem  nicht  allzu  vorgerückten  Stadium  der  KNO3- 
Wirkung  den  Nerven,  dessen  Reizung  mit  schwachen  Kettenströmen 
an  allen  Punkten  etwa  gleich  starke  Schliessungszuckung  und  Oeffnungs- 
zuckung  auslöst,  in  eine  genügend  grosse  Menge  0,6 "0  NaCl-Lösung 
taucht,  äo  bemerkt  man  bald,  dass,  während  die  Grösse  der 
S  c  h  1  i  e  s  s  u  n  g  s  z  u  c  k  u  n  g  e  n  zunächst  unverändert  bleibt, 
die  Höhe  der  Oeffnungszuckungen  mehr  und  mehr  ab- 
nimmt, je  länger  das  Auslaugen  fortgesetzt  wird,  und 
schliesslich  bleiben  dieselben  nach  etwa  10 — 15  Minuten 
bei  gleicher  Stromstärke  wie  vorher,  ja  selbst  bei  An- 
wendung viel  stärkerer  Ströme  gänzlich  aus,  so  dass  die 
Schliessungszuckung,  wie  vor  Beginn  des  Versuches,  den  einzigen  Reiz- 
erfolg bei  beiden  Stromesrichtungen  darstellt  (Fig.  194  (/ A). 

Wie  schon  oben  erwähnt  wurde,  stimmen  die  (oeffnungszuckungen, 
welche  im  Verlaufe  der  Kalisalzwirkung  durch  schwache  Ströme  aus- 
gelöst werden  können,  hinsichtlich  ihres  Charakters  vollkommen  mit 
jenen  überein,  die  unter  dem  Einfluss  der  Alkoholwirkung  als  Vorschlag 
der  anfangs  allein  vorhandenen  verspäteten  Oeffnungszuckung  II  be- 
obachtet Averden.  Zuckungen,  welche  als  Analoga  dieser 
letzteren  aufgefasst  werden  dürften,  fehlen  dagegen  am 
Kalinerven    vollständig. 

Es  schien  von  vorneherein  nicht  unwahrscheinlich  zu  sein,  dass 
es  durch  Behandlung  kleinerer  Nervenstrecken  mit  KNO3  auch  gelingen 
würde,  ganz  local  jene  Bedingungen  herzustellen,  welche  das  Auftreten 
„primärer  Oeffnungszuckungen"  (Oeffnungszuckung  I)  in  so  hohem 
Grade  zu  begünstigen  scheinen,  und  daher  schwachen  aufsteigenden 
oder  absteigenden  Strömen,  bei  einer  bestimmten  Lage  der  Elektroden, 
die  Fähigkeit  zu  ertheilen,  wirksame  Oeffnungserregung  auszulösen. 

Wenn  man  sich  derselben  Versuchsanordnung  bedient,  welche 
oben  bei  Besprechung  der  örtlichen  Behandlung  des  Nerven  mit  con- 
centrirter  Kochsalzlösung  erwähnt  Avurde  und  zur  Reizung  Ströme  von 
geringer  Intensität  verwendet,  so  beobachtet  man  einige  Zeit  nach  dem 
Auflegen  des  mit  1  "^/o  KNOg-Lösung  getränkten  Baumwollbäuschchens 
auf  die  eine  oder  andere  Elektrode  ein  vei'schiedenes  Verhalten ,  je 
nachdem  der  Nerv  im  Bereich  der  dem  Muskel  oder  dem  Centrum 
näher  gelegenen  Elektrode  der  Einwirkung  der  Kalisalzlösung  aus- 
gesetzt wurde.  In  beiden  Fällen  bleibt  die  Grösse  der  Schliessungs- 
zuckung während  der  ersten  Minuten  unverändert,  wie  man  sich  leicht 
bei  graphischer  Verzeichnung  derselben  überzeugen  kann.  In  der  Folge 
tritt  dann  aber  zumeist  ein  Unterschied  in  der  Höhe  der  Schliessungs- 
zuckung bei  auf-  und  absteigenden  Strömen  hervor  und  zvv^ar  stets  zu 
Gunsten  derjenigen  Stromesrichtung ,  bei  welcher  die  Kathode  die 
normal  gebliebene  Nervenstelle  berührt.  Doch  kommt  es  auch  vor, 
dass  nach  einer  10  Minuten  und  länger  dauernden  örtlichen  Behandlung 
des  Nerven  mit  1  "/'o  KNOg-Lösung  die  Anspruchsfähigkeit  der  be- 
treffenden Stelle  (für  Schliessungsreize)  noch  kaum  merklich  vermindert 
erscheint.  Dagegen  entwickelt  sich  ausnahmslos  während  dieser  Zeit 
eine  auffallend  gesteigerte  Empfindlichkeit  der  mit  KNO3  behandelten 
Nervenstrecke   für  selbst   sehr   schwache  Oeffnungsreize ,    sei   es   nun, 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  595 

dass  der  Nerv  vom  Centralorgan  getrennt  ist  oder  mit  demselben  noch 
zusammenhängt. 

Je  nach  der  Lage  des  Baumwollbausches  auf  der  dem  Muskel 
näheren  oder  davon  entfernteren  Elektrode,  tritt  dann  entweder  bei 
aufsteigender  oder  bei  absteigender  Ötromesrichtung  zu  der  bereits 
vorhandenen  Schliessungszuckung  auch  die  Oeffnungszuckung  hinzu 
und  erreicht  gewöhnlich  bald  dieselbe  Grösse  wie  jene. 

Ich  brauche  kaum  besonders  hervorzuheben,  dass  es  auch  in 
diesem  Falle  gelingt,  die  örtlich  veränderte  Anspruchsfähigkeit  des 
Nerven  für  den  Oeffnungsreiz  durch  Auswaschen  mit  0.6  "o  NaCl- 
Lösung  wieder  zu  beseitigen. 

Aber  nicht  nur  gewisse,  künstlich  erzeugte  chemische  Veränderungen 
der  Nervensubstanz,  welche  mit  einer  beträchtlichen  Herabsetzung  der 
Erregbarkeit  verbunden  sein  können  und  in  besonders  hohem  Grade 
durch  Kalisalze  hervorgebracht  werden,  begünstigen  die  Auslösung 
„primärer  Oeffnungszuckungen",  sondern  es  scheint,  dass  auch  der 
elektrische  Strom  selbst  an  den  Eintrittsstellen  ähnliche 
Veränderungen  des  Nerven  zu  erzeugen  vermag. 

Der  Satz,  dass  bei  elektrischer  Reizung  normaler  unversehrter 
Nerven  unbhängig  von  der  jeweiligen  Stromesrichtung  nur  Schliessungs- 
zuckungen des  Muskels  ausgelöst  werden,  gilt,  wie  schon  erwähnt,  im 
Allgemeinen  nur  für  schwache  und  mittelstarke  Ströme.  Bei  meinen 
Versuchen  beobachtete  ich  fast  ausnahmslos  wirksame  OefFnungserregung 
bei  Anwendung  eines  D  a  n  i  e  1 1 '  sehen  Elementes  nach  Einschaltung 
einer  Widerstandseinheit  des  Du  B  o i s  '  sehen  Rheochords,  sowohl  vor 
als  nach  der  Trennung  vom  Centralorgan  (im  letzteren  Falle  an  vom 
Querschnitt  genügend  entfernter  Nervenstelle). 

Es  stellte  sich  jedoch  die  bemerkenswerthe  Thatsache  heraus,  dass 
unmittelbar  nach  Ablauf  einer  durch  einen  stärkeren 
Strom  ausgelösten  Oeffnungszuckung  auch  das  Ver- 
schwinden vorher  nur  bei  Schliessung  wirksamer, 
schwacher  Ströme  erregend  wirkt,  und  zwar  in  fast 
gleichem  Grade  wie  die  Oeffnung  des  starken  Stromes. 
Dieser  Reiz  erfolg  nimmt  aber  schon  nach  kurzer  Zeit 
an  Grösse  ab  und  verschwindet,  wenn  der  Nerv  hin- 
reichend lebenskräftig  Avar,  nach  wenigen  Minuten  der 
Ruhe  vollständig.  Diese  eigenthümliche  Nachwirkung  ist  unter 
sonst  gleichen  Umständen  um  so  anhaltender,  je  länger  vorher  der 
stärkere  Strom  einwirkte  und  je  weniger  lebenskräftig  der  Nerv  war. 

Man  kann  daher,  wie  durch  locale  Kalisalzbehandlung  eine  be- 
liebige Stelle  in  der  Continuität  eines  unversehrten  Nerven  auch  dadurch 
für  schwache,  unter  normalen  Verhältnissen  niemals  wirksame  ( Jeffnungs- 
reize  empfänglich  machen,  dass  man  dieselbe  für  kurze  Zeit  zur  Ein- 
trittsstelle eines  stärkeren  Kettenstromes  macht,  und  wie  im  ersteren 
Falle  die  gesteigerte  Disposition  für  die  Oeffnungserregung  durch 
Auslaugen  der  schädlichen  Substanzen  mit  einer  indifferenten  Flüssigkeit 
beseitigt  werden  konnte,  so  genügen  die  im  ausgeschnittenen  Nerven 
fortdauernden  Restitutionsprocesse,  um  auch  im  letzteren  Falle  die 
durch  den  Strom  selbst  bewirkten  anodischen  Veränderungen  wieder 
aufzuheben  und  die  normale  Unemplindlichkeit  für  Oeffnungsreize 
wieder  herzustellen. 

Die  Oeffnungserregung,  welche  nach  kurzer  Schliessung  eines 
stärkeren  Stromes  an  den  anodischen  Nervenstellen  durch  Ströme  von 


596  I^ie  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

geringer  Intensität  ausgelöst  werden  kann,  äussert  sich,  wie  schon 
erwähnt,  stets  durch  Muskelzuckungen,  deren  Eigenschaften  dieselben 
als  durchaus  gleichwerthig  mit  jenen  erscheinen  lassen,  die  man  nach 
Einwirkung  von  Kalisalzlösungen  oder  in  nächster  Nähe  eines  frisch 
angelegten  Querschnittes  auszulösen  vermag.  Abgesehen  von  dem 
Fehlen  eines  merklichen  Intervalls  zwischen  dem  Moment  der  OefFnung 
und  dem  Beginn  der  Verkürzung  äussert  sich  dies  insbesondere  durch 
die  übereinstimmende  Form  der  Zuckungscurven  und  den  geringen 
Einfluss  der  Intensität  und  Schliessungsdauer  des  Reizstromes  auf  die 
Grösse  der  Zuckungen. 

Ein  weiterer  Beweis  für  die  Gleichwerthigkeit  der  Oeffnungs- 
zuckungen,  welche  nach  Kalisalzbehandlung  eines  Nerven  ausgelöst 
werden,  die  ihrerseits  als  identisch  mit  den  „primären  OefFnungs- 
zuckungen"  nach  Einwirkung  von  Alkohol  angesehen  werden  müssen, 
und  der  durch  stärkere  Ströme  an  normalen,  unversehrten  Nerven 
ausgelösten  Oeffnungszuckungen  ist  dadurch  gegeben ,  dass  es  gelingt, 
die  letzteren  neben  „secundären"  verspäteten  Oeffnungszuckungen 
(Oeffnungszuckung  II)  an  einem  und  demselben  Präparate  gleichzeitig 
auftreten  zu  sehen.  Da  der  Ritter 'sehe  Oeffnungstetanus  früheren 
Auseinandersetzungen  zufolge  der  Oeffnungszuckung  II  gleichwerthig  ist, 
und  wie  diese  unter  Umständen  verspätet  eintritt,  was  bereits  Wu  n  d  t 
beobachtete,  so  besteht  in  solchen  Fällen  der  Oeffnungsreizerfolg  ent- 
weder in  einer  vollständig  oder  unvollständig  getrennten  Doppel- 
zuckung, oder  es  bildet  die  Oeffnungszuckung  I  einen  Vorschlag  zu 
dem  Ritt  er 'sehen  Tetanus  (Fig.  189,  192). 

Die  betreffenden  Curven  wurden  in  der  Weise  gewonnen,  dass, 
nachdem  die  Erregbarkeit  des  Nerven  durch  Wasserverlust,  Kochsalz- 
oder Alkoholbehandlung  beträchtlich  gesteigert  und  in  Folge  dessen 
die  Disposition  für  die  Auslösung  secundärer  Oeffnungserregung  her- 
gestellt war,  ein  stärkerer  Strom  während  einiger  Sekunden  geschlossen 
blieb,  um  die  anodischen  Faserstellen  zugleich  für  die  Auslösung 
primärer  Oeffnungszuckungen  (durch  Ströme  von  geringer  Intensität) 
zu  disponiren.  So  lange  dann  die  Nachwirkung  der  einmaligen 
Schliessung  eines  starken  Stromes  anhält,  beobachtet  man  auch  bei 
Oeftnung  schwächerer  Ströme  die  doppelten  Reizerfolge,  ja  sie  treten 
sogar  gerade  dann  besonders  deutlich  gesondert  hervor,  während  bei 
Anwendung  stärkerer  Ströme  wegen  der  Verkürzung  des  „Latenz- 
stadiums"  der  Oeffnungszuckung  II  beide  Zuckungen  leicht  zu  einer 
einzigen  verschmelzen,  was  in  gleicher  Weise  auch  vom  Ritter 'sehen 
Tetanus  gilt.  Dieser  letztere  Umstand  lässt  es  auch  begreiflich  er- 
scheinen, dass  man  bisher  das  Vorhandensein  von  zwei  wesentlich 
verschiedenen  Oeffnungswirkungen  des  Stromes  übersehen  hat. 

Es  erhebt  sich  nunmehr  die  wichtige  Frage,  ob  die  beiden,  unter 
gewissen,  im  Vorstehenden  erörterten  Versuchsbedingungen  zu  beob- 
achtenden Oeffnungsreizerfolge  ungeachtet  ihrer  Verschiedenheit  auf 
eine  und  dieselbe  Grundursache  zurückgeführt  werden  können,  und 
wenn  nicht,  welche  ursächliche  Momente  denselben  zu  Grunde  liegen. 

Was  zunächst  die  erste  Frage  anbelangt,  so  dürfte  eine  unbefangene 
und  vorurtheilslose  Prüfung  der  mitgetheilten  Thatsachen  genügen, 
um  die  Unwahrscheinlichkeit  einer  einheitlichen  Entstehungsursache 
von  Rdzerfolgen  darzuthun,  welche  nicht  nur  betreffs  der  Bedingungen 
sondern  auch  hinsichtlich  ihrer  Eigenschaften  so  wenig 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  597 

übereinstimmen  wie  die  I.  und  II.  Oeffnungszuekung.  Während  das 
Auftreten  der  letzteren  geknüpft  erscheint  an  das  Vorhandensein  einer 
beträchtlich  erhöhten  Erregbarkeit  des  Nerven,  tritt  die  erstere  um- 
gekehrt gerade  bei  herabgesetzter  Erregbarkeit  desselben  hervor,  und 
während  bei  Anwendung  schwächerer  Ströme  ein  verspätetes  Eintreten 
der  Oeffnungszuekung  II  und  des  ihr  gleichwerthigen  Ritter' sehen 
Tetanus  als  Regel  gelten  darf,  und  ausserdem  die  Abhängigkeit  von 
der  Schliessungsdauer  des  Stromes  auf  das  Deutlichste  hervortritt,  ist 
ein  merkliches  Intervall  zwischen  dem  Moment  der  Oeffnung  und  dem 
Beginn  der  Oeffnungszuekung  I  niemals  vorhanden ;  auch  ist  dieselbe, 
sobald  einmal  die  Bedingungen  ihres  Auftretens  gegeben  sind,  fast 
ganz  unabhängig  von  der  Schliessungsdauer  und  Intensität  des  Reiz- 
stromes. 

Die  unzweifelhafte  Gleichwerthigkeit  der  Oeffnungszuekung  II  und 
des  Ritt  er 'sehen  Tetanus  gestattet  für  beide  die  gleiche  Entstehungs- 
ursache anzunehmen.  Pflüger,  welcher  jede  Oeffnungszuekung  als 
Folge  der  Erregung  des  Nerven  durch  das  Verschwinden  des  An- 
elektrotonus  betrachtete,  erklärte  auch  den  Ritter' sehen  Tetanus  in 
derselben  Weise  und  bewies  in  der  That  durch  den  bekannten  Versuch 
mit  Abschneiden  einer  vorher  anelektrotonisirten  Nervenstrecke,  dass 
der  Oeffnungstetanus  in  dieser  selbst  entsteht.  Nach  Engelmann' s 
(4.  p.  411)  Anschauung  verdankt  er  jedoch  hier  seine  Entstehung 
bereits  vorhandenen,  spontanen  Reizen,  welche,  vorher  unwirksam,  in 
Folge  der  nach  der  Oeffnung  eintretenden  positiven  Modification  der 
Erregbarkeit  der  vorher  anelektrotonischen  Nervenstrecken  zu  wirk- 
samen Reizen  werden,  und  dann  eine  Gestaltveränderung  des  Muskels 
herbeizuführen  vermögen.  Engelmann  stützt  diese  Anschauung 
besonders  mit  dem  Hinweis  auf  die  leicht  zu  bestätigende  Thatsache, 
dass  „in  frischen,  vor  Verdunstung  geschützten  Nerv-Muskelpräparaten 
normaler  Frösche  nach  der  Oeffnung  des  Stromes  eine  einfache  Zuckung 
eintritt,  die  sich  nicht  unterscheidet  von  der  Schliessungszuckung  oder 
der  Zuckung  nach  einem  einzelnen  Inductionsschlag".  „Mit  der  grössten 
Regelmässigkeit  dagegen  tritt  der  Oeffnungstetanus  (wie  auch  der 
analoge  Schliessungstetanus)  bei  erkältet  gewesenen  Präparaten  ein", 
deren  Nerven  sich  durch  eine  ausserordentliche  Reizbarkeit  auszeichnen, 
welche  Engelmann  eben  auf  das  Vorhandensein  innerer  Reize  bezieht, 
die  oft  so  mächtig  werden,  dass  auch  bei  sorgfältigstem  Schutz  vor 
Verdunstung  spontane  Zuckungen  auftreten  oder  gar  Tetanus  ausbricht. 
Als  weitere  Stütze  der  Engelmann '  sehen  Ansicht  über  die  Natur 
des  R  i  1 1  e  r  '  sehen  Tetanus  könnte  ein  Versuch  von  Grün  h  a  g  e  n  (40) 
gelten,  welcher  zeigt,  dass  „schwache  tetanische  Reizung,  welche  vor 
Schluss  des  polarisirenden  Stromes  keinen  sichtbaren  Effect  erzielte, 
nach  Oeffnung  desselben  einen  deutlichen  Tetanus  hervorruft,  dessen 
Dauer  um  so  länger  ausfällt,  je  stärker  der  polarisirende  Strom  und 
je  empfindlicher  der  Nerv  war".  Grünhagen  leitet  hieraus  folgenden 
Satz  ab :  „Die  gesteigerte  Erregbarkeit  des  Nerven  auf  der  zuvor  an- 
elektrotonisirten Strecke  plus  einer  Vermehrung  der  im  Nerven  normal 
ablaufenden  Zersetzungsreize  gibt  uns  den  Oeffnungstetanus  constanter 
Ströme.  Durch  eine  tetanisirende  Reizung,  welche  noch  nicht  die 
Schwelle  der  Erregung  erreicht,  lassen  sich  diese  chemischen  Reize 
ersetzen." 

Demzufolge  wäre  auch  das  Auftreten  der  secundären  Oeffnungs- 
zuekung nur  in  dem  Falle  zu  erwarten,  wenn  der  Nerv  sich  in  einem 


598  I^iß  elektrische  Erregung'  der  Nerven. 

SO  ZU  sagen  latenten  Erregungszustände  befindet.  Und  in  der  That 
stimmt  das,  was  oben  über  die  Bedingungen  des  Auftretens  der 
Oeffnungszuckung  II  mitgetheilt  wurde,  auf  das  vollkommenste  mit 
dieser  Anschauung  überein.  Denn  sowohl  bei  Wasserverlust  durch 
Verdunstung,  wie  auch  bei  Behandlung  mit  concentrirter  Kochsalz- 
lösung geräth  der  Nerv  alsbald  in  den  Zustand  der  Erregung,  die 
anfangs  zu  schwach,  um  sich  durch  Zuckungen  des  Muskels  zu  ver- 
rathen,  später  den  heftigsten  Tetanus  vei'aniasst.  Gerade  zu  jener 
Zeit  aber,  wo  die  Erregung  latent  ist,  vermag  man  Oeffnungszuckung  II, 
beziehungsweise  Kittei 'scheu  Tetanus  durch  selbst  sehr  schwache 
Ströme  auszulösen.  In  gleicher  Weise  muss,  wie  ich  glaube,  auch  die 
das  Auftreten  der  Oeffnungszuckung  II  so  ausserordentlich  begünstigende 
Wirkung  des  Alkohols  in  hohen  Verdünnungsgraden  gedeutet  werden, 
obschon  Eckhardt  und  Kühne  denselben  nur  bis  etwa  SQ^/o  herab 
erregend  fanden.  Indessen  sah  Moramsen  nicht  selten  schon  Muskel- 
zuckungen auftreten  bei  Behandlung  des  Nerven  mit  relativ  stark 
verdünnter  alkoholischer  Salzlösung  (20  Vol.  °/q),  und  ich  kann 
diese  Angabe  durchaus  bestätigen.  Der  Umstand,  dass  die  Erregung 
der  Nerven  durch  Alkohol  so  schwach  ist,  dass  sie  nur  selten  die 
Schwelle  überschreitet,  dagegen  lange  Zeit  hindurch  in  ziemlich  gleicher 
Stärke  latent  bleibt,  macht  denselben  zu  dem  geeignetesten  Mittel,  um 
Oeffnungszuckung  II  hervorzurufen  und  deren  Eigenschaften  zu  unter- 
suchen. 

In  schlagendster  Weise  wird  aber  der  Satz,  dass  die  Auslösung 
der  Oeffnungszuckung  II  ganz  ebenso  Avie  das  Auftreten  des  Ritter'- 
schen  Tetanus  an  das  Vorhandensein  einer  latenten  Erregung  des 
Nerven  geknüpft  ist,  dadui'ch  bewiesen,  dass  es  gelingt,  Oeffnungs- 
zuckung II  mit  allen  ihren  früher  geschilderten,  charak- 
teristischen Eigenschaften  an  Nerven  auszulösen,  welche 
nach  dem  Vorgange  Grünhagen's  durch  schwaches  Te- 
tanisiren in  den  Zustand  latenter  Erregung  versetzt 
werden. 

Man  braucht  zu  diesem  Zwecke  nur  das  centrale  Ende  eines  vom 
Rückenmark  getrennten  oder  auch  mit  demselben  noch  zusammen- 
hängenden Ischiadicus  mittelst  des  Du  B  o  i  s  '  sehen  Schlitteninducto- 
riums  bei  einem  Rolleuabstand  zu  tetanisiren,  bei  welchem  man  sich 
gerade  an  der  Grenze  der  Wirksamkeit  befindet.  Reizt  man  dann  zu 
gleicher  Zeit  eine  tiefer  gelegene  Nervenstrecke  mit  schwachen,  ab- 
steigend gerichteten  Kettenströmen,  so  beobachtet  man  bei  passender 
Regulirung  der  Schliessungsdauer  stets  Oeffnungszuckungen,  welche 
in  jeder  Beziehung  den  Oeffnungszuckungen  II  als  gleichwerthig  sich 
erweisen,  indem  sie,  wie  diese,  verspätet  erfolgen  und  in  hohem  Grade 
von  der  Schliessungsdauer  des  Stromes  abhängig  erscheinen.  Wird 
die  Intensität  des  letzteren  verstärkt,  so  werden  die  Oeffnungszuckungen 
allmählich  immer  gedehnter  und  gehen  schliesslich  in  Tetanus  über,  der, 
wie  vordem  die  Zuckungen,  verspätet  eintritt.  Die  Identität  dieser 
und  der  oben  als  secundär  bezeichneten  Oeffnungswirkungen  wird 
unzweifelhaft,  wenn  man  sieht,  dass  auch  hier  doppelte  Reizerfolge  bei 
Oeffnung  schwacher  Ströme  auftreten ,  wenn  durch  vorhergehende 
kurze  Schliessung  eines  stärkeren  Stromes  die  Disposition  für  Aus- 
lösung primärer  Oeffnungszuckungen  gegeben  ist.  Man  beobachtet 
dann  wiederum  entweder  Doppelzuckungen,  oder  es  bildet  die  Oeffnungs- 
zuckung I  einen  Vorschlag  zu  dem  Ritter'schen  Tetanus. 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  599 

Reizt  man  den  Nerven  Avährend  des  schwachen  und  an  sich  un- 
wirksamen Tetanisirens  mit  aufsteigend  gerichteten  Kettenströmen,  so 
erfolgt,  je  nach  der  Intensität  derselben,  entweder  nur  Verstärkung 
der  Schliessungszuckung  oder  Schliessungstetanus,  niemals  beobachtet 
man  in  diesem  Falle  Oeffnungserregung. 

Im  Wesentlichen  denselben  Erfolg,  Avie  schwaches  Tetanisiren 
oberhalb  der  mit  Kettenströmen  gereizten  Nervenstrecke  hat  auch  die 
Application  eines  nicht  zu  schwach  wirkenden  chemischen  Reizmittels 
an  derselben  Stelle.  Besonders  fand  ich  hierzu  Glycerin  geeignet. 
Kurz  vor  Ausbruch  des  Tetanus  sieht  man  in  günstigen  Fällen  schwache 
absteigend  gerichtete  Ströme  Oeffnungszuckungen  II  auslösen.  In  ähn- 
licher Weise  wurde  der  Versuch  auch  schon  früher  von  Grün hagen 
(36)  angestellt.  Kann  es  demnach  wohl  als  bewiesen  gelten,  dass  die 
Oeffnungszuckung  II  und  der  Ritter' sehe  Tetanus  (sowie  auch  der 
Schliessungstetanus)  in  vielen  Fällen  nicht,  wie  Pflüger  meinte,  auf 
dem  Versclnvinden  des  Anelektrotonus  (beziehungsweise  dem  Entstehen 
des  Katelectrotonus)  an  sich  beruht,  sondern  durch  latente  Reize  be- 
dingt wird,  die,  selbst  unzureichend  zur  Erregung  des  Muskels,  erst 
dann  Avirksam  werden,  wenn  die  Erregbarkeit  der  Nerven  nach  dem 
Verschwinden  des  Anelektrotonus  (oder  während  eines  bestehenden 
Katelektrotonus)  gesteigert  erscheint,  so  scheint  doch  in  manchen  Fällen 
eine  wirksame  Oeffnungserregung  von  gleichem  Charakter  auch  ohne 
einen  schon  vorher  bestehenden  latenten  Erregungszustand  eintreten 
zu  können  (Kaltnerven),  Avas  nicht  verwundern  kann,  Avenn  man  sich 
der  früher  erAvähnten  Beziehungen  zAvischen  Erregbarkeitssteigerung 
und  Erregung  erinnert.  Andererseits  bleibt  jedoch  die  Natur  der 
Oeffnungszuckung  I  zunächst  noch  unaufgeklärt,  wenn  sich  auch  die 
Bedingungen  ihres  Auftretens  genauer  als  vordem  präcisiren  lassen. 

Anknüpfend  an  Versuche,  bei  welchen  die  Oeffnungszuckung  I 
unmittelbar  nach  Anlegen  eines  (mechanischen,  chemischen  oder  ther- 
mischen) Querschnittes  in  nächster  Nähe  der  Anode  hervortritt,  muss 
man  daran  denken,  den  durch  diesen  Eingriff  entwickelten  Demar- 
cationsstrom  in  einen  ursächlichen  Zusammenhang  mit  dem  Hervortreten 
der  Oeffnungszuckung  I  zu  bringen,  allerdings  nicht  in  dem  Sinne, 
dass  die  erhöhte  Erregbarkeit  in  der  Nähe  des  Querschnittes,  deren 
Ursache  noch  zu  besprechen  sein  wird,  das  Wirksamwerden  schwacher 
Oeffnungsi-eize  bedingt;  denn  diese  Auffassung  erscheint  genügend 
widerlegt  durch  die  oben  mitgetheilten  Thatsachen.  Auch  die  Ansicht 
von  G  r  ü  n  h  a  g  e  n ,  dass  die  Erscheinung  des  Auftretens  der  Oeffnungs- 
zuckung nach  Anlegen  eines  frischen  Querschnittes  am  Nerven  in  der 
Nähe  der  Anode  in  erster  Reihe  als  das  „Produkt  einer  Reizsummation" 
aufzufassen  sei,  „einerseits  der  an  und  für  sich  zu  schAvachen  Erregung, 
welche  mit  der  Oeffnung  des  absteigenden  Stromes  verknüpft  ist"  — 
des  Anodenreizes  also  —  andererseits  des  „fortbestehenden,  scliAvachen, 
mechanischen  Reizes  der  Schnittführung",  darf  als  widerlegt  gelten. 
Denn  abgesehen  davon,  dass  eine  stundenlange  Nachwirkung  einer 
einfachen  Durchschneidung  (und  so  lange  dauert  in  der  Nähe  des 
Querschnittes  die  Disposition  für  Auslösung  der  Oeffnungszuckung  I) 
an  und  für  sich  unwahrscheinlich  ist,  lässt  sich  gegen  die  Grünhagen'- 
sche  Auffassung  auch  geltend  machen,  dass  dann  die  Schliessungs- 
reizerfolge bei  gleicher  Lage  der  Elektroden  und  aufsteigender  Stromes- 
richtung entsprechend  verstärkt  sein  müssten,  was  nicht  der  Fall  ist. 
Wohl    aber   wird    man    sich    an  die  früher  schon  besprochene  analoge 


ßOQ  Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

Thatsaclie  erinnern,  dass  beim  quergestreiften  Muskel  ganz  ähnliche 
Wirkungen  hervortreten.  Dort  Hess  sich  der  directe  Nachweis  liefern, 
dass  es  sieh  um  „scheinbare",  durch  innere  Abgleichung  des  während 
der  Schliessung  des  Kettenstromes  im  ableitenden  Bogen  compensirten 
Demarcationsstromes  verursachte  Oeffnungszuckungen  handelt.  Es 
liegt  sehr  nahe,  dieselbe  Erklärung  auch  für  die  primäre  Querschnitts- 
Oeifnungszuckung  bei  Nervenreizung  heranzuziehen.  In  der  That  ist 
dies  in  ausgedehntem  Maasse  von  Grützner  (41)  und  Tigerstedt 

(41)  geschehen,  Avelche  nur  insoferne  sicher  zu  weit  gehen,  als  sie  eine 
wirkliche,  durch  das  Verschwinden  des  Stromes  bewirkte  Oeffnungs- 
erregung  überhaupt  gänzlich  leugnen  und  annehmen,  dass  jede  so- 
genannte OefFnungserregung  in  ihrem  Wesen  eine  Schliessungserregung 
ist,  die  auf  eine  Interferenzwirkung  des  Reizstromes  mit  einem  Nerven- 
strome zurückzuführen  ist,  welcher  letztere  entweder  ein  Demarcations- 
strom  oder  ein  Polarisationsstrom  sein  kann. 

Es  muss  dem  gegenüber  daran  festgehalten  werden,  dass,  wie 
beim  Muskel,  so  auch  beim  Nerven  echte  Oeffnungs- 
erregung  im  Sinne  einer  Reaction  der  erregbaren  Sub- 
stanz gegen  die  (an  der  Anode)  durch  den  Strom  be- 
wirkten Veränderungen  besteht.  Auf  die  den  „scheinbaren 
Oeffnungszuckungen  zu  Grunde  liegenden  Interferenz  Wirkungen  zwischen 
dem  Reizstrom  und  präexistirenden  Spannungsdifferenzen  kann  erst 
später  näher  eingegangen  werden,  wenn  von  den  elektromotorischen 
Wirkungen  des  Nerven  die  Rede  sein  wird. 

Wenn ,  wie  aus  dem  Vorstehenden  unmittelbar  hervorgeht ,  die 
Erfolge  der  Reizung  motorischer  Nerven  mit  dem  Kettenstrom  sehr 
wesentlich  mit  von  den  Erregbarkeitsverhältnissen  des  Nerven  ab- 
hängig sind ,  so  darf  man  erwarten ,  dass  das  Verhalten  eines  Nerv- 
Muskelpräparates  sich  ziemlich  complicirt  gestalten  wird,  wenn  dasselbe 
eine  Vielheit  functionell  und  in  ihrer  Erregbarkeit  verschiedener 
Elemente  darstellt,  wie  dies  beispielsweise  schon  für  den  stromprüfenden 
Froschschenkel  mit  Beugern  und  Streckern  in  dem  gemeinsamen 
Nervenstamme,  oder  in  noch  viel  höherem  Maasse  für  die  Krebsscheere 
gilt.  .  In  Bezug  auf  den  ersteren  Fall  sei  bemerkt,  dass  nach  Grützner 

(42)  bei  Reizung  des  Ischiadicus  vom  Frosch  mit  zunehmend  stärkeren 
Kettenströmen  bei  der  Schliessung  anfangs  ganz  andere  Muskeln 
zucken  als  später.  Kommt  es  dann  schliesslich  zu  wirksamer  OefFnungs- 
erregung, so  sieht  man  dabei  wieder  diejenigen  Muskeln  allein  zucken, 
welche  bei  der  Schliessung  zunächst  in  Thätigkeit  geriethen.  Der  Oeff- 
nungsreiz  wirkt  also  hier  (bei  Anwendung  starker  Ströme)  so  wie 
schwache  Schliessungsreize.  Dies  lässt  sich  auch  am  Menschen  beobach- 
ten, wenn  man  die  Elektroden  einer  genügend  starken  Kette  in  den 
sulcus  bicipitalis  internus  anlegt.  Bei  einer  gewissen  Stromstärke 
zucken  dann  bei  der  Schliessung  andere  Muskeln  als  bei  der  Oeffnung 
(Beugung  der  Hand  bei  Schluss,  Pronation  bei  Oeffnung). 

An  der  Krebsscheere  gestalten  sich,  wie  zu  erwarten  war,  die 
Reizerfolge  mit  dem  Kettenstrom  unter  Umständen  ausserordentlich 
verwickelt  (Bieder  m  a  n  n ,  43).  Wie  schon  früher  besprochen  wurde 
(p.  524  ff.),  hatte  sich  bei  tetanisirender  Reizung  des  Scheerennerven 
herausgestellt,  dass  der  tonisch  verkürzte  Schliessmuskel  ungefähr  bei 
derselben  relativ  geringen  Stromstärke  erschlafft,  bei  welcher  sich  der 
Scheerenöffner  kräftig  contrahirt,  während  umgekehrt  starke  Ströme 
zwar  jenen    in   tetanische  Contraction   versetzen ,    an    diesem    dagegen 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  601 

entweder  keinerlei  sichtbare  Gestaltveränderungen  hervorrufen,  oder, 
falls  Tonus  vorhanden  ist,  Erschlaffung  bewirken.  Es  schien  demnach 
ein  vollständiger  Antagonismus  der  Erregungsbedingungen  für  die 
beiden  Muskeln  zugehörigen  Nerven  zu  bestehen. 

Dem  gegenüber  gestalten  sich  die  Reizerfolge  bei  Anwendung  von 
Kettenströmen  wesentlich  verwickelter,  und  ist  vor  Allem  zu  betonen, 
dass  eine  „neutrale  Zone"  der  Stromstärke  in  dem  oben  erwähnten 
Sinne  dann  niemals  nachweisbar  ist,  wenngleich  auffallende  und 
durchaus  gesetzmässige  Unterschiede  der  Wirkungsweise  verschieden 
starker  Ströme  auch  hier  nicht  fehlen.  In  Uebereinstimmung  mit  dem 
Verhalten  der  Reizerfolge  bei  tetanisirender  Erregung  des  Nerven 
mittels  Wechselströmen  lässt  sich  nämlich  zeigen,  dass  auch  bei 
Schliessung  eines  Kettenstromes  an  dem  Oeffnungsmuskel  die  Erregungs- 
erscheinungen, an  dem  Schliessmuskel  dagegen  die  Hemmungswirkungen 
tiberwiegen  oder  auch  allein  hervortreten,  wenn  die  Stromesintensität 
gering  ist,  während  bei  Anwendung  starker  Ströme  der  umgekehrte 
Erfolg  eintritt.  Doch  sind  die  Erscheinungen  im  Einzelnen  viel 
schwerer  zu  übersehen,  weil  bei  jeder  nicht  zu  schwachen  Reizung 
in  der  Regel  beiderlei  Wirkungen  (Erregung  und  Hemmung)  sich 
geltend  machen,  so  dass  bei  graphischer  Darstellung  der  Gestalt- 
veränderungen eines  der  beiden  tonisch  verkürzten  Muskeln  unter 
Umständen  höchst  complicirte  Curven  erhalten  werden,  deren  Deutung 
nur  auf  Grund  der  früheren  Erfahrungen  möglich  war. 

Am  einfachsten  und  den  Erfahrungen  an  anderen  Nerv- 
Muskelpräparaten  durchaus  entsprechend  gestalten  sich  die  Erregungs- 
erscheinungen an  dem  tonusfreien  Schliessmuskel,  indem  dieselben 
vollkommen  dem  P  f  1  ü  g  e  r  '  sehen  Zuckungsgesetze  entsprechen.  Mittel- 
starke Ströme  wirken  hier  unabhängig  von  der  Richtung,  in  welcher 
sie  den  Nei'ven  durchfliessen,  sowohl  bei  der  Schliessung  wie  bei  der 
Oeffnung  erregend,  während  ein  starker,  absteigender  Strom  nur 
Schliessungserregung,  ein  starker  aufsteigender  dagegen  nur  Oeffnungs- 
erregung  bewirkt.  Bemerkenswerth  erscheint  bei  diesen  Versuchen 
der  Umstand,  dass  jede  stärkere  Reizung  zu  einer  mehr  oder  weniger 
lang  anhaltenden,  tetanischen  Verkürzung  des  Muskels  Anlass  giebt, 
so  dass  hier,  wie  schon  erwähnt,  die  Dauererregung  durch 
den  Constanten  Strom  zur  Regel  wird. 

Abgesehen  von  anderen,  noch  näher  zu  erörternden  Unterschieden 
zeigt  sich  bei  gleichartigen  Versuchen  an  dem  tonusfreien  Oeffnungs- 
muskel, dass  hier  in  der  Regel  schon  viel  schwächere  Ströme  erregend 
wirken,  als  bei  dem  Schliessmuskel,  während  starke  unter  Umständen 
gänzlich  wirkungslos  bleiben,  in  anderen  Fällen  aber  erheblich 
schwächere  Contractionen  auslösen  als  Ströme  von  geringerer  Intensität. 
Doch  gehört  dieses  letztere  paradoxe  Verhalten  keineswegs  zur  Regel 
und  kann  nicht  einmal  als  sehr  häufiges  Vorkommniss  bezeichnet 
werden. 

Die  Stromesrichtung  erscheint  bei  allen  Versuchen  an  den  Scheeren- 
muskeln  insoferne  von  Belang,  als  die  Schliessungserregung  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  eher  bei  aufsteigendem  als  bei  absteigendem  Strome 
beginnt,  während  für  den  Oeffnungsreizerfolg  das  Umgekehrte  gilt. 
Die  Ursache  dieses  Verhaltens  dürfte  nicht  sowohl  in  besonderen 
Eigenschaften  der  Nervenfasern,  als  vielmehr  in  dem  Umstände  zu 
suchen  sein,  dass  bei  der  gewählten  Versuchsanordnung  die  Strom- 
dichte an  Stelle  der  beiden  Elektroden  nicht  gleich,    sondern  an  dem 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  39 


602 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


nach  der  Peripherie  hin  gelegenen  Reizorte  geringer  ist,  als  an  dem 
centralen.  Es  hängt  dies  wohl  von  der  Gestalt  des  zur  Einführung 
der  (Faden-)  Elektroden  benützten  Armgliedes  ab,  dessen  Querschnitt 
nach  der  Scheere  hin  beträchtlich  zunimmt.  Es  gelingt,  den  erwähnten 
Unterschied  auszugleichen  oder  sogar  in  das  Gegentheil  zu  verkehren, 
wenn  man  die  Fäden  möglichst  nahe  dem  an  der  inneren  Kante  des 
betreffenden  Gliedes  verlaufenden  Nerven  durchzieht,  oder  überhaupt 
ein  mehr  basalwärts  gelegenes  Armglied  zur  Reizung  benützt. 

Jeder  Zweifel  bezüglich  der  Giltigkeit  des  P  f  1  ü  g  e  r '  sehen  Er- 
regungsgesetzes für  die  Nerven  des  Schliessmuskels  sowohl  wie  für 
jene  des  Oeffnungsmuskels  lässt  sich  übrigens  in  einfachster  Weise 
durch  später  noch  zu  erwähnende  Versuche  mit  Ausschaltung  der  central 
gelegenen  Elektrode  ausschliessen. 


Fig.  195.  Schliessmuskel  der  Krebs- 
scheere.  Reizung  des  Nerven  mit  Ketteu- 
strömen.  Der  vorhandene  Tonus  wird 
durch  Schliessung  schwächerer  Ströme 
(«,  b)  nur  wenig  oder  gar  nicht  verstärkt, 
sondern  wesentlich  gehemmt.  Umge- 
kehrt wirkt  Schliessung  eines  starken 
Stromes  (c). 


Während  an  tonusfreien,  in  der  angegebenen  Weise  behandelten 
Präparaten  die  Folgeerscheinungen  der  Reizung  mit  Kettenströmen 
sich  im  Ganzen  ziemlich  gleichförmig  gestalten,  herrscht  bei  aller 
Gesetzmässigkeit  im  Einzelnen  eine  überraschende  Mannigfaltigkeit 
der  Reizerfolge,  wenn  es  sich  um  Präparate  eines  der  beiden  Scheeren- 
muskeln  mit  mehr  oder  weniger  entwickeltem  Tonus  handelt.  Bei 
dem  Umstände,  dass  dann,  wie  schon  erwähnt  wurde,  jede  einzelne 
Reizung  den  betreffenden  Muskel  in  gerade  entgegengesetztem  Sinne 
zu  beeinflussen  vermag  und,  wie  gezeigt  werden  soll,  auch  thatsächlich 
gegensinnige  Gestaltveränderungen  hervorbringt,  indem  je  nach  dem 
Zustande  des  Präparates,  sowie  der  Stärke  und  Richtung  des  Reiz- 
stromes, bald  die  Wirkungen  der  Erregung,  bald  die  Folgen  der  Hemmung 
überwiegen,  erscheint  dies  leicht  begreiflich. 

Um  die  gesetzmässige  Abhängigkeit  der  Hemmungs-  und  Er- 
regungswirkungen des  Kettenstromes  von  dessen  Richtung  und  Stärke 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  603 

ZU  übersehen ,  erscheinen  jene  Präparate  des  Schliessmuskels  am  ge- 
eignetsten, welche  sich  in  einem  mittleren  tonischen  Contractions- 
zustande  befinden  und  daher  beiderlei  Folgewirkungen  der  Erregung 
durch  entsprechende  Gestaltveränderungen  verrathen  können. 

Reizt  man  dann  bei  zunehmender  Stromesintensität  abwechselnd 
mit  auf-  oder  absteigendem  Strome  oder  bei  unveränderter  Stromes- 
richtung, so  treten  in  der  Regel  auf  den  ersten  Blick  gewisse  charak- 
teristische Eigenthümlichkeiten  der  Reactionsweise  hervoi-,  welche  mit 
Berücksichtigung  früherer  Erfahrungen  über  die  Erfolge  tetanisirender 
Nervenreizung  den  Schliessmuskel  auf  das  Schärfste  von  dem  Oeffnungs- 
muskel  zu  unterscheiden  gestatten. 

Zunächst  fällt  sofort  auf,  dass  bei  Präparaten  des  ersterwähnten 
Muskels  schwächere  und  mittelstarke  Ströme  vorwiegend  hemmend 
wirken,  während  bei  Anwendung  starker  Ströme  die  Folgen  der 
Erregung  überwiegen,  beziehungsweise  allein  sich  geltend  machen 
(Fig.  195  a,  &).  P]s  äussert  sich  dies  einerseits  in  dem  Umstände,  dass 
die  stets  dem  Momente  der  Schliessung  entsprechende  Verstärkung  des 
Tonus,  also  die  Verkürzung  des  Muskels,  bei  wachsender  Reizstärke 
bis  zu  einer  gewissen  oberen  Grenze,  welche  in  Folge  der  mechanischen 
Bedingungen  des  Versuches  vielleicht  nicht  dem  erreichbaren  Maximum 
der  Contraction  entspricht,  zunimmt,  während  anderseits  auch  die  Dauer 
des  Schliessungstetanus  wächst,  wodurch  es  bedingt  wird,  dass  die  bei 
jeder  Einzelreizung  deutlich  hervortretende  Hemmung  (Erschlaffung) 
sich  um  so  später  nach  Beginn  der  Reizung  (Schliessung)  geltend 
macht,  je  stärker  der  benützte  Strom  war. 

Fasst  man  demnach  nur  die  aufeinander  folgenden  Veränderungen 
der  Verkürzungserscheinungen  ins  Auge,  so  kann  man  von  einem  all- 
mählichen Uebergang  an  Höhe  zunehmender,  mehr  oder  weniger  gedehn- 
ter Zuckungen  in  einen  ausgeprägten,  lang  anhaltenden  Schliessungs- 
tetanus sprechen  und  bemerkt  dann  sofort  die  Uebereinstimmung  mit 
dem  Verhalten  des  erschlafften  tonusfreien  Muskels  unter  gleichen 
Verhältnissen.  Nicht  selten  kommen  letzterenfalls  bei  einer  gewissen 
Stromstärke  Schliessungszuckungen  von  auffallender  Kürze  vor,  deren 
Curve  durch  einen  sehr  spitzen  Gipfel  sich  auszeichnet,  und  ich  möchte 
die  Vermuthung  aussprechen,  dass  es  sich  hier  um  die  Folgenwirkung 
einer  rasch  nach  der  Schliessung  zur  Geltung  gelangenden  Hemmung 
handeln  dürfte,  da  sonst  in  der  Regel  der  Verlauf  der  Schliessungs- 
zuckungen ein  gedehnter  zu  sein  pflegt. 

Anfang  und  Ende  einer  Versuchsreihe  an  einem  tonischen  Schliess- 
muskel sind  gewöhnlich  durch  einsinnige  (und  zwar  gerade  entgegen- 
gesetzte) Reizerfolge  gekennzeichnet,  während  zahlreiche  und  mannig- 
faltige Uebergänge  doppelsinniger  Wirkungen  dazwischen  liegen,  die 
je  nach  der  Stromstärke  durchaus  gesetzmässige  Beziehungen  in  dem 
gegenseitigen  Verhältnisse  zwischen  Erregung  und  Hemmung,  Con- 
traction und  Erschlaffung  erkennen  lassen. 

Ausnahmslos  und  in  Uebereinstimmung  mit  allen  früheren  Er- 
fahrungen zeigt  sich,  dass  einsinnige  Hemmungswirkungen  bei  indirecter 
Reizung  des  Schliessmuskels  mit  Kettenströmen,  nur  bei  verhältniss- 
mässig  geringer  Intensität  der  letzteren  hervortreten,  während  sehr 
starke  Ströme  ausschliesslich  erregend  wirken;  wenigstens  gilt  dies 
während  der  ersten  Zeit  nach  der  Schliessung. 

Es  ist  mit  Rücksicht  auf  die  noch  mitzutheilenden  Erfahrungen 
an   dem  Oeffnungsmuskel   der  Krebsscheere  besonders  hervorzuheben, 

39* 


g()4  Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

dass,  sobald  einmal  der  Reizstrom  eine  genügende  Intensität  besitzt, 
um  eine  merkliche  Verstärkung  des  bestehenden  Tonus  bei  der  Schliessung 
hervorzurufen,  diese  unter  allen  Umständen  der  darauffol- 
genden, durch  Hemmung  bewirkten  Verminderung  des 
Tonus  vorangeht. 

An   der  Curve   macht  sich  jene  anfangs  nur  als  kleine  Erhebung 
vor  der  tiefen  Einsenkung  bemerkbar,  welche  der  Schreibhebel  infolge 
des    durch   Hemmung   des    Tonus    bewirkten    Herabsinkens    des   nach 
unten    gekehrten,    frei    beweglichen  Scheerenarmes  verzeichnet.     Jede 
folgende  stärkere  Reizung  lässt  dann  die  Folgewirkungen  der  Erregung 
immer   deutlicher  hervortreten,    während  jene  der  Hemmung  anfangs 
zwar   noch   in   gleicher  Stärke,    aber  infolge  der  zunehmenden  Dauer 
des  Schliessungstetanus  mehr  und  mehr  verspätet  zur  Geltung  gelangen. 
Die  Curve    erhebt  sich  daher  zunächst  steil  über  die  anfängliche, 
dem  bestehenden  Tonus  entsprechende  Abscissenlinie,  um  früher  oder 
später  plötzlich  tief  unter  dieselbe  herabzusinken  (Fig.  196),  worauf  sie 
entweder    sofort    oder    nach    einiger    Zeit    langsamer   wieder   ansteigt, 
so    dass    der    Schreibhebel    seine    Anfangslage    oft   noch    Avährend    der 
Schliessungsdauer,    anderenfalls  jedoch  erst 
nach    Oeffnung    des    Kreises    erreicht.      Es 
kommt  nicht  selten  vor,    dass  bei  einer  ge- 
wissen   Stromstärke    die    Verkürzung     des 
tonischen     Muskels     bei     Schliessung     des 
Kreises  der    darauf  folgenden  Erschlaffung, 
sowohl    hinsichtlich    der   Grösse,    als    auch 
bezüglich   der  Dauer  nahezu  entspricht,   so 
dass    der    oberhalb    der   Abscisse    gelegene 
erste  Abschnitt  der  Curve  dem  unterhalb  be- 
findlichen fast  vollkommen  gleicht  (Fig.  196). 
Bei    Stromstärken    diesseits    dieser    Grenze 
pflegt  dann  im  Allgemeinen  die  zweite  Hälfte 
Fig.  196.  der  Curve  zu  überwiegen,  während  jenseits 

derselben  die  Wirkungen  der  Erregung  auf 
Kosten  der  Hemmungserfolge  immer  mehr  in  den  Vordergrund  treten 
und  daher  der  erste  Abschnitt  der  Curve  charakteristische  Bedeutung 
erlangt. 

Die  Hemmungswirkungen  sind  oft  so  wenig  scharf  ausgeprägt, 
dass  man  sie  ohne  Kenntniss  der  Wirkungsweise  schwächerer  Ströme 
als  selbständige  Reizerfolge  leicht  ganz  übersehen  und  möglicherweise 
nur  als  Ermüdungserscheinungen  infolge  der  unmittelbar  vorhergehenden 
Dauererregung  auffassen  könnte.  Dagegen  spricht  freilich  schon  der 
bereits  erwähnte  Umstand,  dass  die  Wiederentwicklung  des  in  mehr 
oder  weniger  hohem  Grade  gehemmten  Tonus  in  der  Regel  noch  während 
der  Schliessungsdauer  erfolgt,  vor  Allem  aber  die  Thatsache,  dass,  wie 
sich  nicht  selten  zeigt,  die  Oeffnung  eines  stärkeren  Stromes  in  der- 
selben Weise  hemmend  wirkt,  wie  die  Schliessung  eines  schwachen. 
Man  beobachtet  dann  bei  Oeffnung  des  Reizkreises  ein  ähnliches  Ab- 
sinken der  Curve  wie  vorher,  während  der  Dauer  der  Schliessung 
(Fig.  195  c). 

Wenn,  wie  die  vorstehend  geschilderten  Versuchsergebnisse  lehren, 
das  Verhalten  des  tonisch  verkürzten  Schiiessmuskels  bei  Reizung  des 
Nerven  mit  Kettenströmen  dadurch  charakterisirt  ist,  dass  mit  zu- 
nehmender Stromstärke  die  Hemmungswirkungen  gegenüber  den  Folge- 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


605 


erscheinungen  der  Erregung  mehr  und  mehr  zurücktreten  und  schliesslich 
unmerklich  werden,  ist  bei  dem  durch  seinen  wesentlich  stärkeren 
und  insbesondere  viel  beständigeren  Tonus  ausgezeichneten  Oeffnungs- 
muskel  gerade  das  Gegentheil  der  Fall.  Dies  ergiebt  sich  sofort 
aus  der  Vergleichung  der  unter  möglichst  gleichartigen  Versuchs- 
bedingungen gewonnenen  Curven  (Fig.  195  und  Fig.  197),  die  in  mancher 
Beziehung  in  geradem  Gegensatze  zu  einander  stehen. 

Während  der  Tonus  des  Schliessmuskels  durch  die  schwächsten, 
eben  wirksamen  Ströme  in  der  Regel  gehemmt  wird,  ohne  dass 
eine  merkliche  Erregung  vorhergeht  oder  im  Verlaufe  einer  längeren 
Schliessung  folgt,  besteht  die  erste  Wirkung  schwacher  Reize  bei 
dem  Oeffnungsmuskel  ganz  vorwiegend  in  einer  Verstärkung  des  eben 


Fig.  197.     Oefihungsmuskel  der  Krebsscheere  (tonisch) ;  Reizung  mit  Kettenströmen  von 

zunehmender  Intensität;  wachsende  Hemmungserfolge  als  primäre  Reizwirkungen.     Die 

Zeitmarken  entsprechen  Secunden. 


bestehenden  Tonus,  und  herrscht  somit  in  dieser  Beziehung  vollständige 
Uebereinstimmung  zwischen  dem  Erfolge  der  Reizung  mit  tetanisirenden 
Wechselströmen  und  mit  dem  Kettenstrome.  Doch  macht  sich  schon 
bei  geringer  Verstärkung  des  letzteren  sowohl  im  einen  wie  im  anderen 
Falle  als  sehr  bemerkenswerther  Unterschied  der  Umstand  geltend, 
dass  nunmehr  jeder  Einzelreizung  doppelsinnige  Wirkungen  entsprechen. 
Wä hrend  aber  bei  dem  Schliessmuskel  die  Erregung 
der  Hemmung  stets  vorangeht,  ist  gerade  das  Ge gen- 
theil bei  dem  Oeffnungsmuskel  der  Fall.  In  Bezug  auf 
den  Moment  der  Schliessung  des  Reizkreises  tritt  dem- 
nach hier  die  Erregung  (Contraction),  dort  dagegen  die 
Hemmung  (Erschlaffung)  verspätet  ein,  und  es  ist  im 
einen  Falle  diese,  im  anderen  jene  als  primäre  Stromes- 
wirkung zu  bezeichnen. 


606 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


Wie  bei  dem  Schliessmuskel  die  Folgewirkung  der  Erregung  zur 
Zeit  ihres  ersten  Auftretens  als  selbständiger  Bestandtheil  der  Curve 
eben  nur  angedeutet  erscheint,  so  gilt  das  Gleiche  auch  bezüglich  des 
Hemmungserfolges  bei  indirecter  Reizung  des  Oeffnungsmuskels.  So 
zeigt  Fig.  197«  nach  einem  ganz  geringfügigen,  im  Augenblicke  der 
Schliessung  beginnenden  Absinken  der  Curve  ein  beträchtliches  An- 
steigen derselben  als  Folge  der  nun  erst  zur  Geltung  kommenden 
Schliessungserregung,  welche  in  h  und  c  zu  einer  dauernden  Ver- 
stärkung des  ursprünglich  vorhandenen  Tonus  führt.  Derselbe 
schwache  Strom  bewirkte  bei  der  minder  günstigen,  absteigenden 
Richtung  nur  Schliessungserregung  ohne  vorhergehende  Hemmung 
und  wirkte  daher  im  Sinne  eines  schwächeren  Reizes.  Derselbe  grad- 
weise Unterschied  der  Wirkung  beider  Stromesrichtungen  macht  sich 
in  den  meisten  Fällen  mehr  oder  weniger  deutlich  bemerkbar,  wo  ab- 
wechselnd mit  auf-  und  absteigendem  Strome  gereizt  wird.  Bei  zu- 
nehmender Stärke  des  Reizes  tritt  der  primäre  Hemraungserfolg  immer 
deutlicher    hervor,    indem    einerseits    die    Curve    bei    Schliessung    des 


Fig.   198.     Oefifnungsmuskel  der  Krebsscheere  (tonusfrei);    Reizung    mit    schwachem   (a) 
und   starkem  {b)  Kettenstrom;   letzterenfalls   bedeutende   Verspätung   der   Schliessungs • 

contraction. 


Stromes  tiefer  absinkt  und  anderseits  um  so  später  wieder  zur  Abscissen- 
linie  ansteigt,  beziehungsweise  über  dieselbe  sich  erhebt,  je  stärker 
der  benützte  Strom  ist. 

Da  bei  indirecter  Reizung  des  Schliessmuskels  mit  nicht  zu 
schwachen  Kettenströmen  die  Hemmung,  bei  Reizung  des  Oeffnungs- 
muskels mit  starken  vStrömen  dagegen  die  Erregung  mehr  weniger 
verspätet  nach  der  Schliessung  sich  durch  entsprechende  Gestaltver- 
änderungen des  betreffenden  Muskels  geltend  macht,  so  kann  man 
bei  nicht  hinreichend  langer  Schliessungsdauer  in  beiden  Fällen  leicht 
zu  der  Annahme  verleitet  werden,  dass  es  sich  nur  um  einsinnige  oder 
fehlende  Reizerfolge  handelt.  Dies  ist  bei  Präparaten  des  Oeffnungs- 
muskels besonders  dann  der  Fall,  wenn  infolge  des  mangelnden  Tonus 
direct  durch  Gestaltveränderungen  des  Muskels  erkennbare  Hemmungs- 
wirkungen fehlen. 

Diese  verrathen  sich  dann  eben  nur  durch  eine  unter 
Umständenmehrere  Secunden  betragendeVerlängerung 
des  Latenzstadiums,  eine  Thatsache,  welche  den  betreffenden 
Curven  ein  ganz  charakteristisches  Gepräge  verleiht  und  dieselben 
sofort,  als  von  dem  Oeffnungsmuskel  herrührend,  erkennen  lässt 
(Fig.  198  a,  h).  Dass  es  sich  dabei  wirklich  um  nichts  Anderes,  als  um 
die  Folge  einer  der  erregenden  Wirkung  des  Stromes  vorausgehenden 


Die  elektrisclie  Erregung  der  Nerven.  607 

Hemmung  handelt,  zeigt  sieh  mit  besonderer  Deutlichkeit  in  solchen 
Fällen,  wo  bei  einer  und  derselben  Stromstärke  der  Muskel  einmal 
gereizt  wird,  solange  noch  ein  erheblicher  Tonus  vorhanden  ist,  und 
ebenso  später  in  vollkommen  erschlafftem  Zustande. 

In  beiden  Fällen  erscheint  dann  die  Schliessungscontraction  in  an- 
nähernd gleichem  Grade  verspätet,  während  aber  einmal  bei  Schliessung 
des  Kreises  eine  sichtbare  Verminderung  des  Tonus  eintritt,  veiTäth 
sich  die  Hemmung  anderenfalls  nur  durch  die  entsprechende  Ver- 
längerung des  Latenzstadiums. 

Man  ist  bei  Beachtung  dieses  Umstandes  in  der  Lage,  eine  der 
Erregung  vorausgehende  hemmende  Wirkung  des  Kettenstromes  fast  in 
jedem  einzelnen  Falle  und  selbst  schon  bei  Anwendung  verhältniss- 
mässig  schwacher  Ströme  nachzuweisen,  indem  eine  schon  bei  geringer 
Geschwindigkeit  der  Schreibfläche  merkliche  Verzögerung  im  Eintritte 
der  Verkürzung  in  der  Regel  nur  bei  der  geringsten,  eben  wirksamen 
Stromstärke  fehlt.  Im  Uebrigen  fallen  begreiflicherweise  die  Zeit- 
werthe  der  Verzögerung  bei  verschiedenen  Präparaten  sehr  verschieden 
aus  und  nehmen  in  der  Regel  auch  an  demselben  Präparate  bei  öfters 
wiederholter  Reizung  ab,  wenngleich  die  erregenden  Wirkungen  des 
Stromes  noch  keine  Verminderung  erkennen  lassen. 

Gerade  wie  bei  Präparaten  des  Schliessmuskels ,  je  nach  dem 
Zustande  derselben,  der  hemmende  Erfolg  der  Reizung  manchmal  sehr 
deutlich  ausgeprägt  erscheint,  während  er  in  anderen  Fällen  ungeachtet 
der  etwa  gleichen  Entwicklung  des  Tonus  nur  angedeutet  oder  ganz 
unmerklich  ist,  ein  Verhalten,  das  wohl  in  erster  Linie  auf  wechselnde 
Zustände  des  betreffenden  Muskels  zu  beziehen  sein  dürfte,  so  hat 
man  vielfach  auch  an  dem  Oeffnungsmuskel  Gelegenheit,  ähnliche 
Verschiedenheiten  zu  beobachten,  wiewohl  sich  die  Hemmungswirkungen 
hier  im  Allgemeinen  mit  viel  grösserer  Sicherheit  einstellen,  als  an 
dem  Antagonisten. 

Wie  oben  erwähnt  wurde,  überwiegt  die  erregende  Wirkung 
starker  Kettenströme  bei  dem  Schliessmuskel  so  sehr  deren  hemmenden 
Einfluss,  dass  dieser  letztere  bei  starker  Reizung  nur  ausnahmsweise 
noch  zur  Geltung  gelangt,  indem  eine  vorübergehende  Erschlaffung 
den  Schliessungstetanus  früher  oder  später  unterbricht.  Dies  gilt  nicht 
in  gleicher  Weise  für  den  Oeffnungsmuskel,  wo  selbst  bei  Anwendung 
starker  Ströme  die  Hemmung,  welche  hier  bezüglich  der  Abhängigkeit 
von  der  Reizstärke  der  Erregung  des  antagonistischen  Muskels  ent- 
spricht, im  Verlaufe  einer  längeren  Schliessung  fast  regelmässig  von 
der  darauffolgenden  Erregung  durchbrochen  wird,  die,  wie  die  Hemmung 
des  Schliessmuskels,  offenbar  erst  dann  zur  Geltung  kommen  kann, 
wenn  die  Stärke  des  Reizes  während  der  Schliessungsdauer  allmählich 
abnimmt.  In  diesem  letzteren  Umstände  ist  wohl  auch  hauptsächlich 
der  Unterschied  der  Reizerfolge  bei  Anwendung  des  Kettenstromes 
und  tetanisirender  Wechselströme  begründet. 

Bezüglich  der  Oeffnungsreizerfolge  ist  zu  bemerken,  dass  dieselben, 
Avie  überhaupt,  so  auch  hier  immer  erst  bei  stärkeren  Strömen  hervor- 
treten als  die  Wirkungen  der  Schliessungsreize,  und  wie  diese  je  nach 
Umständen  zu  entgegengesetzten  Gestaltveränderungen  des  Muskels 
führen.  Infolge  der  geringeren  Stärke  des  Oeffnungsreizes  wirkt  der- 
selbe jedoch  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  auf  den  Oeffnungsmuskel  nur 
erregend  und  erreicht  selten  genügende  Stärke ,  um  Hemmung  eines 
vorhandenen  Tonus   zu   bewirken.     Kommen  jedoch  in  einem  solchen 


608  Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

Falle  die  erregenden  Wirkungen  des  Stromes  überhaupt  nicht  zum 
Ausdrucke,  so  kann  der  Reizerfolg  sowohl  bei  Schliessung,  wie  bei 
Oeffnung  des  Kreises  in  einer  vorübergehenden  Erschlaffung  des  tonisch 
verkürzten  Muskels  bestehen ;  die  Curve  bildet  dann  zwei  Einsenkungen, 
deren  eine  bei  der  Schliessung  beginnt  und  sich  noch  während  der 
Schliessungsdauer  wieder  ausgleicht,  während  die  andere  kleinere  der 
Oeffnung  des  Reizkreises  entspricht  (Fig.  199). 

Mit  Rücksicht  auf  die  doppelsinnigen,  theils  hemmenden,  theils 
erregenden  Wirkungen  der  Reizung  mit  Kettenströmen  bei  beiden 
Muskeln  der  Krebsscheere  erschien  die  Untersuchung  der  Frage  von 
Wichtigkeit,  ob  unter  der  Voraussetzung  rein  polarer  Wirkungen  des 
Stromes  beiderlei  Erfolge  einerseits  bei  der  Schliessung,  anderseits 
bei  der  Oeffnung  von  derselben  Elektrode  ausgehen,  oder  ob  etwa  in 
dieser  Beziehung  ein  Gegensatz  zwischen  den  Auslösungsbedingungen 
der  Erregungs-  und  Hemmungserfolge  besteht. 

Für  den  tonusfreien  Schliessmuskel 
ist  bereits  früher  erwähnt  worden,  dass 
die  erregenden  "Wirkungen  hinsichtlich 
ihrer  Entstehung  durchaus  dem  Pflüger'- 
schen  Gesetze  entsprechen,  indem  sowohl 
bei  Anwendung  sehr  starker  Ströme,  wie 
auch  nach  Ausschaltung  des  Einflusses  der 
centralwärts  gelegenen  Elektrode  durch  par- 
tielle Aljtödtung  des  Nerven  der  absteigend 
gerichtete  Strom  nur  bei  der  Schliessung, 
Fig.  199.  der  aufsteigende  dagegen  nur  bei  der  Oeff- 

nung des  Kreises  erregend  wirkt. 
Da  ersterenfalls  wegen  der  sehr  bedeutenden  Widerstände  im 
Reizkreise  und  der  geringen  Dichte  innerhalb  der  durchflossenen 
Strecke  der  Strom  eine  sehr  beträchtliche  Intensität  besitzen  muss, 
um  mit  Beibehaltung  uupolarisirbarer  Elektroden  der  dritten  Stufe 
des  Pflüger '  sehen  Zuckungsgesetzes  entsprechende  Reizerfolge  zu 
erzielen,  so  ist  das  zweite  oben  erwähnte  Verfahren  im  Allgemeinen 
vorzuziehen. 

Mit  Hülfe  desselben  lässt  sich  in  einfacher  Weise  bei  beliebiger 
Intensität  des  Stromes  für  den  Schliessmuskel  sowohl  wie  für  den 
Oeffnungsmuskel  der  Beweis  liefern,  dass  in  der  That  nicht  nur 
die  erregenden  Wi  r  k  u  u  g  e  n ,  sondern  auch  d  i  e  H  e  m  m  u  n  g  s  - 
erfolge  bei  der  Schliessung  von  der  Kathode,  bei  der 
Oeffnung  dagegen  von  der  Anode  ausgehen. 

Es  genügt  hierzu,  den  Scheerennerven  in  der  Nähe  der  central- 
wärts gelegenen  Elektrode  zu  durchschneiden  oder  ein  entsprechendes 
Stück  desselben  von  vorneherein  durch  Erwärmen  (Eintauchen  des 
Scheerenarmes  in  heisses  Wasser  bis  in  die  Nähe  der  Reizstrecke) 
abzutödten.  Dabei  leidet  freilich  bisweilen  der  Tonus  des  betreffenden 
Muskels ,  so  dass  es  nicht  immer  gelingt,  durchaus  befriedigende  Re- 
sultate zu  erzielen,  die  jedoch  in  anderen  Fällen  vollkommen  beweisend 
ausfallen. 

An  den  Hemmungsfasern  des  Vagus  für  das  Herz  hat  Donders 
(44)  polare  Wirkungen  im  Sinne  des  Pflüg  er 'sehen  Gesetzes  constatirt, 
indem  er  die  Herzschläge  graphisch  verzeichnete;  bei  wirksamer 
Schliessung  oder  Oeffnung  eines  Kettenstromes  beobachtet  man  nach 
kurzer  Latenzzeit  eine  deutliche  Verlängerung  der  folgenden,   besonders 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  609 

der  zwei  nächsten  Pulsationen,  und  zwar  treten  mit  zunehmender  Strom- 
stärke die  Wirkungen  in  folgender  Reihenfolge  auf:  aufsteigende 
Schliessung,  absteigende  Schliessung,  absteigende  Oeffnung,  aufsteigende 
Oeffnung.  Die  Wirkungen  der  aufsteigenden  Schliessung  und  ab- 
steigenden Oeffnung  erreichen  bald  ein  Maximum,  nehmen  dann  aber 
ab  und  fehlen  bei  starken  Strömen  ganz,  also  genau  dem  Zuckungs- 
gesetz entsprechend. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Trägheit  der  meisten  glatten  Muskeln  und 
ihre  dadurch  bedingte  Unfähigkeit,  auf  einen  einmaligen  kurzen  Reiz- 
anstoss  zu  reagiren,  war  von  vorneherein  zu  erwarten,  dass  hier  die 
Erscheinungen  des  polaren  Erregungsgesetzes  bei  indirecter  Reizung 
entweder  gar  nicht  oder  nur  ausnahmsweise  hervortreten  werden.  So 
sieht  man  keinerlei  Erfolg  bei  einmaliger  Schliessung  oder  Oeffnung, 
wenn  ein  Kettenstrom  auf  den  Halssympathicus  einwirkt,  während 
wiederholte  Schliessung  und  Oeffnung  deutliche  Verengerung  der  Ohr- 
gefässe  beim  Kaninchen  bewirkt.  Dagegen  gelingt  es,  an  den  ver- 
hältnissmässig  rasch  reagirenden  Muskeln  des  Sphynkter  iridis  (bei 
Katzen)  das  Pflüger'sche  Gesetz  zu  demonstriren.  Ebenso  am  Mantel- 
nerven von  Eledone  (v.  Uexküll  45).  Schliessung  und  Oeffnung 
mittelstarker  Ströme  giebt  bei  auf-  wie  absteigender  Richtung  Con- 
traction.  Schliessung  eines  starken,  absteigenden  Stromes  giebt  Tetanus 
während  der  ganzen  Schliessungsdauer,  bleibt  dagegen  bei  aufsteigender 
Richtung  erfolglos;  Oeffnung  des  Kreises  erzeugt  in  diesem  Falle  lang- 
anhaltenden  Oeffnungstetanus.  Oft  ist  der  absteigende  Schliessungs- 
tetanus rhythmisch. 

Auch  an  secretorischen  Nerven  lässt  sich  das  Pflüger'sche 
Gesetz  nachweisen,  wenn  man  sich  als  Index  der  Erregung  der  galva- 
nischen Veränderungen  der  Drüsenzellen  bedient.  Besonders  leicht 
gelingt  dies  an  der  Froschzunge  bei  Reizung  des  N.  glossopharyngeus 
(Biedermann  8).  Es  zeigt  sich  hierbei  wieder,  in  wie  viel  höherem 
Grade  Kettenströme  geeignet  sind,  die  secretorischen  Nerven  zu  erregen 
als  etwa  einzelne  Inductionsschläge,  welche  selbst  bei  beträchtlicher 
Intensität  noch  kaum  eine  Veränderung  des  Zungenstromes  bewirken, 
während  einmalige  Schliessung  eines  mittelstarken  Kettenstromes  stets 
von  sehr  deutlichem  Erfolge  begleitet  ist.  Unzweifelhaft  hängt  diese 
auffallende  Verschiedenheit  der  Wirkung  in  beiden  Fällen  nur  von 
der  verschiedenen  Dauer  des  Stromes  ab,  und  es  liegt  hierin  nicht 
nur  ein  neuer  Beweis  gegen  die  Allgemeingiltigkeit  des  Du  B  o  i  s '  - 
sehen  allgemeinen  Erregungsgesetzes,  sondern  zugleich  auch  ein  weiterer 
Beleg  für  die  Richtigkeit  der  von  G  r  ü  t  z  n  e  r  und  Schott  vertretenen 
Ansicht,  dass  schnelle  Reize  wesentlich  die  rasch  reagirenden,  langsame 
dagegen  die  trägeren  Endapparate  in  Erregung  zu  versetzen  geeignet 
sind.  Wird  bei  stark  entwickeltem,  einsteigendem  Zungenstrom  nach 
vorhergehender  Compensation  der  Strom  von  3—6  Dan.  Elementen  in 
absteigender  Richtung  geschlossen,  so  erfolgt  regelmässig  nach  kurzer 
Latenzzeit  (von  1 — 2  See.)  eine  einsinnig  negative  Schwankung  von 
oft  sehr  beträchtlicher  Stärke,  die  während  der  Schliessung  einige  Zeit 
bestehen  bleibt  und  sich  nach  Oeffnung  des  Reizkreises  rasch  aus- 
gleicht, wobei  sich  bei  nicht  zu  starken  Strömen  die  Oeffnungserregung 
als  ein  Zögern,  oder  selbst  als  ein  kurzer  Stillstand  des  Rückganges 
geltend  macht.  Dies  ist  in  der  Regel  noch  viel  deutlicher  ausgeprägt 
bei  Reizung  mit  aufsteigend  gerichteten  Strömen,  deren  Schliessung 
ebenfalls  eine  einsinnige,  aber  wesentlich  schwächere,  negative  Schwan- 


Q1Q  Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

kung  bedingt  als-  bei  absteigender  Stromesrichtung.  Bedient  man  sich 
sehr  starker  Ströme,  so  können  die  Reizerfolge  durchaus  der  dritten 
Stufe  des  „Zuckungsgesetzes"  entsprechen,  indem  bei  absteigender 
Richtung  lediglich  eine  „Schliessungsschwankung",  bei  aufsteigender 
dagegen  nur  eine  „Oeffnungsschwankung"  hervortritt.  Wie  von  vorne- 
herein zu  erwarten  war,  bewirkt  abwechselndes  Schliessen  bei  entgegen- 
gesetzter Stromesrichtung  durch  Hin-  und  Herwenden  der  Pohl 'sehen 
Wippe  stets  eine  ausserordentlich  starke  Schwankung  des  Ruhestromes. 

An  centripetalleitenden  (sensiblen)  Nerven  hat  wieder  Pflüger 
(46)  zuerst  die  Wirkungen  von  Strömen  verschiedener  Richtung  und 
Stärke  untersucht,  indem  er  sich  als  Reagens  der  Erregung  der  aus- 
gelösten Reflexbewegungen  bediente.  Die  Frösche  waren  schwach  mit 
Strychnin  vergiftet,  und  es  wurden  die  Ströme  dem  isolirten  Ischiadicus 
zugeleitet  und  zur  Vermeidung  künstlicher  Querschnitte  der  unent- 
häutete  Unterschenkel  am  Nerven  belassen.  Es  zeigten  sich  dabei 
die  Angaben  von  Marianini  und  Matte ucci  für  die  starken 
Ströme  völlig  bestätigt.  Nur  die  Schliessung  des  aufsteigenden  und 
die  Oeffnung  des  absteigenden  Stromes  erregten  Reflexe,  weil  im  ersten 
Falle  die  katelektrotonische,  im  letzteren  die  anelektrotonische  Nerven- 
strecke direct  mit  dem  Rückenmark  communicirte;  der  am  Nerven 
belassene  Unterschenkel  zuckte  dagegen,  dem  Zuckungsgesetz  ent- 
sprechend, nur  bei  den  beiden  entgegengesetzten  Acten.  Bei  mittel- 
starken Strömen  Avurden  alle  vier  Acte  mit  Reflex  beantwortet,  wie 
auch  schon  Matteucci  gesehen  hatte.  In  neuerer  Zeit  haben  Set- 
schenow  und  H allsten  (46)  über  denselben  Gegenstand  Unter- 
suchungen angestellt,  Avelche  im  Wesentlichen  auch  zu  gleichen  Re- 
sultaten führten. 

Wesentlich  complicirter  gestalten  sich  die  Erfolge  bei  Reizung 
gemischter,  aus  antagonistisch  wirkenden  Fasern  bestehender,  centri- 
petalleitender  Nerven,  wie  beispielsweise  des  N.  vagus.  Schon 
Grützner  hatte  gefunden,  dass  Schliessung  und  Dauer  constanter, 
aufsteigender  Ströme,  in  minderem  Maasse  auch  Oeffnung  absteigender 
Ströme  die  Athmung  im  hemmenden,  exspiratorischen  Sinne  be- 
einflusst,  während  Oeffnung  des  aufsteigenden  und  Schliessung  des 
absteigenden  Stromes  wirkungslos  bleiben.  Neuerdings  haben  Langen- 
der ff  und  R.  Oldag  (7)  diese  Thatsachen  einer  abermaligen  genaueren 
Untersuchung  unterzogen  und  gezeigt,  dass  in  der  That  ein  auf  das 
centrale  Vagusende  wirkender  aufsteigender  Kettenstrom  „in  allen 
Fällen  die  Athmung  im  exspiratorischen  Sinne  beeinflusst,  d.  h.  entweder 
einen  längeren  exspiratorischen  Stillstand  herbeiführt,  oder  doch 
die  Athmung  durch  Hervorrufung  exspiratorischer  Pausen  verlangsamt", 
und  zwar  ist  dies  nicht  nur  der  Fall  im  Momente  der  Schliessung, 
sondern  auch  während  dauernder  Durchströmung.  Die  Oeffnung  des 
Stromes  bedingt  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  eine  deutliche  inspira- 
torische Wirkung,  die  sich  entweder  nur  durch  eine  Vertiefung  der 
Inspiration  oder  durch  einen  kurz  dauernden  inspiratorischen  Stillstand 
verräth.  Die  Schliessung  und  Dauer  des  absteigenden  Kettenstromes 
fanden  Langend  orff  und  Oldag  stets  viel  schwächer  wirksam,  als 
die  des  aufsteigenden,  und  zwar  im  antagonistischen  Sinne,  d.  h.  inspi- 
ratorisch,  während  Oeffnung  des  Kreises  dann,  wenn  überhaupt, 
einen  exspiratorischen  Stillstand  bedingt. 

„Athmungshemmend  (exspiratorisch)  wirkt  demnach 
Schliessung    des    aufsteigenden    und    Oeffnung    des    ab- 


Die  elektrische  Erregung'  der  Nerven.  611 

steigenden  Kettenstromes;  athmungser regend  (inspira- 
torisch)  Oeffnung  des  aufsteigenden  und  Schliessung 
des    absteigenden    Stromes." 

Dieselbe  (exspiratorische)  Wirkung,  wie  durch  aufsteigende  Dauer- 
ströme, lässt  sich  bei  gut  betäubten  Thieren  auch  durch  unterbrochene 
Kettenströme  gleicher  Richtung  erzielen,  besonders  wenn  die  Unter- 
brechungszahl klein  und  die  jedesmalige  Schliessungsdauer  lang  gewählt 
wird.  Umgekehrt  lassen  sich  inspiratorische  Wirkungen  nicht  nur 
durch  Schliessung  absteigender  Dauerströme,  sondern  vor  Allem  durch 
rhythmische  Reizung  bei  gleicher  Stromesrichtung  erzielen.  Eine  sichere 
Deutung  aller  dieser  Thatsachen  ist  ohne  weitere  Untersuchungen 
kaum  möglich;  jedenfalls  aber  bedarf  die  Annahme  Langend  orff  s, 
dass  „einfache  galvanische  Stromschwankungen  und  die  Stromesdauer 
nur  hemmend,  oscillatorische  Schwankungen  aber  erregend  Avirken", 
und  dass  „die  von  der  unteren,  distalen  Elektrode  ausgehende  Erregung 
ein  tetanisirendes  Element  enthalte",  sehr  der  weiteren  Prüfung. 

Von  grösstem  theoretischen  Interesse  sind  Versuche  über  die 
polare  Erregung  der  höheren  Sinnesnerven  durch  den 
Kettenstrom,  bei  welchen  die  Empfindung  als  Reagens  der  Erregung 
dient.  Schon  die  älteren  Galvaniker  haben  auf  diesem  Gebiete  eine 
Fülle  von  Erfahrungen  gesammelt,  deren  Deutung  allerdings  vielfach 
sehr  berechtigte  Zweifel  wachruft.  Am  übersichtlichsten  liegen  die 
Verhältnisse  beim  Geschmackssinn.  Hier  wie  in  allen  übrigen 
noch  zu  erwähnenden  Fällen  muss  vor  Allem  berücksichtigt  werden, 
dass  eine  isolirte  Reizung  desbetre  f  f  e  nden  Sinnes  nerven 
nicht  möglich  ist,  sondern  dass  unte?*  allen  Umständen 
die  peripheren  Endorgane  (Sinneszellen)  miterregt 
werden. 

Als  das  erste  und  wichtigste  Resultat  aller  älteren  Versuche  ist 
die  folgende  Thatsache  zu  bezeichnen:  Wenn  durch  die  Zunge 
ein  elektrischer  Strom  geht,  so  hat  man  an  der  Stelle, 
an  welcher  der  Strom  eintritt  (Anode)  einen  säuerlichen, 
an  der  Austrittsstelle  dagegen  (Kathode)  einen  andern 
Geschmack,  der  wohl  für  gewöhnlich  als  alkalisch  be- 
zeichnet wird,  obwohl  schon  Volta  ihn  nur  als  etwas  alkalisch, 
scharf,  herb,  sich  dem  bittern  nähernd,  beschrieb.  Diese  beiden 
Empfindungen,  von  denen  die  eine  (kathodische)  immer  wesentlich 
schwächer  ist  als  die  andere  (anodische),  dauern  so  lange  fort, 
als  der  Strom  anhält,  und  erleiden  beim  Oeffnen  des 
Kreises,  wie  schon  Ritter  beobachtete,  eine  deutliche  Umkehr. 
Rosenthal  (47)  vermochte  dies  zwar  nicht  zu  constatiren  und  fand 
bloss,  dass  der  saure  Geschmack  nach  der  Oeffnung  des  Stromes 
kurze  Zeit  fortdauerte,  der  alkalische  dagegen  rasch  verschwand. 
Indessen  bestätigte  v.  Vintschgau  (47)  die  alten  Beobachtungen 
Ritter 's,  indem,  wenn  die  Kathode  auf  dem  Zungengrunde  lag,  im 
Momente  des  Oeffnens  der  vorwiegend  säuerliche  Geschmack  in  einen 
schwach  metallischen  überging. 

Schon  1793  hatte  Pfaff  die  Verschiedenheiten  des  elektrischen 
Geschmackes,  je  nach  der  Vertheilung  der  Metalle  an  der  Zunge  mit 
der  Verschiedenheit  der  Zuckungen  je  nach  deren  Vertheilung  an  Nerv 
und  Muskel  in  Zusammenhang  gebracht,  und  in  der  That  liegt  es  sehr 
nahe,  die  qualitativ  verschiedenen,  in  gewissem  Sinne  antagonistischen 
Polwirkungen  bei  Reizung  der  empfindlichen  Zungenschleimhaut  direct 


ßJ2  I^iß  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

mit  jenen  zu  vergleichen,  welche  an  so  vielen  andern  irritablen  Sub- 
stanzen hervortreten ,  umsomehr ,  als  auch  der  Gegensatz  zwischen 
Schliessungs-  und  OefFnungswirkungen  seine  vollständige  Analogie  in 
dem  Gresetze  der  polaren  Stromwirkungen  findet. 

Von  weiteren  Einzelheiten  betreffs  der  elektrischen  Geschmacks- 
empfindungen seien  hier  noch  folgende  Thatsachen  erwähnt,  welche 
durch  neuere  Untersuchungen  von  Laser  st  ein  (47)  festgestellt 
wurden.  Wie  es  individuelle  Verschiedenheiten  des  Geschmacksinnes 
giebt,  so  zeigt  sich  auch  die  Empfindlichkeit  verschiedener  Individuen, 
sowie  desselben  Individuums  zu  verschiedenen  Zeiten  gegenüber  dem 
Strome  wechselnd.  Wie  schon  auf  Grund  der  grösseren  Intensität 
des  anodischen,  sauren  Geschmackes  zu  erwarten  war,  liegt  der 
Schwellenwerth  für  den  einsteigenden  Strom  (sauren  Geschmack)  weit 
niedriger  als  für  den  aussteigenden.  Bei  Anwendung  unpolarisirbarer 
Elektroden  ergab  sich  als  Schwellenwerth  des  Stromes  für  sauren 
Geschmack  etwa  ^/ise  Milli-Ampere.  Dieser  sehr  niedrige  Betrag  wird 
zweifellos  durch  die  hohe  specifische  Erregbarkeit  des  Ge- 
schmacksorgan es  für  constante  Ströme  bedingt,  in  welcher  Hin- 
sicht dasselbe  alle  anderen  Sinnesorgane  bei  Weitem  übertrifft.  Stromes- 
schwankungen erzeugen  keine  deutliche  Verstärkung 
der    Geschmacksempfindungen. 

Bezüglich  der  Erklärung  des  elektrischen  Geschmackes 
gehen  die  Ansichten  noch  immer  ziemlich  auseinander.  Hier  ist 
offenbar  vor  Allem  eine  Frage  von  principieller  Bedeutung  zu  ent- 
scheiden: Rühren  die  Geschmacksempfindungen  her  von 
einer  unmittelbaren  Reizung  der  Geschmacksnerven 
durch  den  elektrischen  Strom,  oder  werden  sie  indirect 
durch  elektrolytische  Zersetzung  der  Mund flüssigkeit 
bedingt?  Bekanntlich  werden,  wenn  ein  elektrischer  Strom  durch 
eine  Flüssigkeit  geht,  welche  Salze  der  Alkalien  enthält  —  und  die 
Mundflüssigkeit,  welche  die  Zungenschleimhaut  durchfeuchtet,  ist  eine 
solche  — ,  die  Salze  in  der  Art  zersetzt,  dass  die  Säuren  an  der  Anode, 
die  Alkalien  aber,  welche  sich  sogleich  oxydiren,  an  der  Kathode 
frei  werden.  Das  Vorhandensein  freier  Säure  am  positiven,  freien 
Alkalis  am  negativen  Pole  würde  also  auf  eine  sehr  einfache  Weise 
den  sauren  Geschmack  im  ersten,  den  alkalischen  im  zweiten  erklären. 
Nun  könnte  man  gegen  diese  Auffassung  die  Thatsache  geltend  machen 
wollen,  dass  die  elektrischen  Geschmacksempfindungen  auch  in  dem 
Falle  auftreten,  wenn  der  Strom  nicht  durch  metallische  Elektroden 
ein-  und  austritt,  wobei  ja  unzweifelhaft  Elektrolyse  stattfindet,  sondern 
der  Zunge  durch  andere  Elektrolyte  oder  unpolarisirbare  Elektroden 
zugeleitet  wird;  derartige  Versuche  sind  schon  von  Monro,  Volta 
und  neuerdings  wieder  von  Rosen thal  (47)  angestellt  worden. 

„Rosenthal  Hess  zwei  Personen  sich  mit  der  Zungenspitze  be- 
rühren ,  die  eine  hielt  mit  feuchter  Hand  den  positiven  ,  die  andere, 
ebenfalls  mit  feuchter  Hand,  den  negativen  Pol  einer  Kette:  die  erste 
Person  hatte  einen  alkalischen,  die  zweite  einen  sauren  Geschmack. 
In  diesem  Falle  befinden  sich  beide  Personen  unter  ganz  gleichen 
Bedingungen  bis  auf  die  Richtung  des  Stromes  in  ihren  Zungen,  dieser 
ist  in  beiden  entgegengesetzt,  und  beide  haben  entgegengesetzte 
Empfindungen,  obgleich  ihre  Zungen  sich  berühren,  und  somit  dieselbe 
capilläre  Flüssigkeitsschicht,  die  eine  wie  die  andere  Zunge  bedeckt.  — 
Ausserdem  hat  Rosenthal  durch  den  Körper  und  durch  die  Zungen- 


Die  elektrische  Erregimg  der  Nerven.  613 

spitze  den  Strom  einer  aus  1 — 4  Elementen  bestehenden  Daniell'schen 
Kette  circuliren  lassen,  jedoch  in  der  Art,  dass  beide  Pole  aus  Zink- 
platten bestanden  und  in  zwei  mit  Zinkvitriol  gefüllte  Gefässchen 
tauchten;  diese  standen  durch  heberförmige  Röhren  mit  zwei  andern 
Gefässen  in  Verbindung,  von  denen  das  eine  mit  gesättigter  Kochsalz- 
lösung, das  andere  mit  destillirtem  Wasser  gefüllt  war.  Aus  letzterem 
ragte  ein  ebenfalls  mit  destillirtem  Wasser  getränkter  Fliesspapierbausch 
hervor.  Wurde  nun  die  eine  Hand  in  die  Chlornatriumlösung  getaucht 
und  mit  der  Zungenspitze  der  Fliesspapierbausch  berührt,  so  ging  der 
Strom  entweder  von  der  Zunge  zum  Bausch,  oder  umgekehrt,  was 
man  durch  einen  im  Kreise  belindlichen  Stromwender  in  seiner  Gewalt 
hatte.  Auf  den  Papierbausch  wurde  ein  Stückchen  rothes  Lackmus- 
papier derart  gelegt,  dass  die  Zunge  beide  berührte.  Das  rothe  Papier 
wird  bei  der  Berührung  mit  der  alkalischen  Mundflüssigkeit  schwach 
gebläut,  das  blaue  bleibt  unverändert.  Beim  Schliessen  des  Stromes 
entsteht  eine  deutliche  Geschmacksempflndung,  aber  die  Farbe  der 
beiden  Papierchen  bleibt  unverändert,  mag  nun  der  Strom  in  der  einen 
oder  in  der  andern  Richtung  hindurchgehen."    (v.  Vintschgau  I.e.) 

Gegen  die  Beweiskraft  dieser  Versuche,  welche  zeigen  sollen,  dass 
der  elektrische  Geschmack  nicht  von  der  Elektrolyse  der  Mundflüssig- 
keit abhängt,  sondern  einer  directen  Erregung  der  Geschmacksnerven 
entstammt,  lassen  sich  jedoch  gewichtige  Bedenken  geltend  machen. 
Vor  Allem  ist  daran  zu  erinnern,  dass,  wie  Du  Bois  Reymond 
zeigte,  eine  Polarisation  an  der  Grenze  ungleichartiger 
Elektro  lyte  existirt  (Ges.  Abh.  I.  p.  1),  und  dass  hierbei  unter  ge- 
eigneten Umständen  in  der  That  sogar  Säure  und  Alkali  auftreten 
kann  (Hermann  48).  Es  steht  daher  nichts  im  Wege,  den  elektrischen 
Geschmack  auf  elektrolytische  Processe  innerhalb  des  Zung en- 
geweb es  zu  beziehen,  gleichgültig,  wie  immer  auch  die  Zuleitung 
des  Stromes  erfolgen  mag.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  verliert 
auch  der  Versuch  von  Volta  mit  dem  zinnernen,  mit  Lauge  ge- 
füllten Becher  (34,  HI.  2.  p.  185)  durchaus  alle  Beweiskraft,  die  von 
Hermann  (I.e.)  auch  dem  zweiten  der  oben  angeführten  Rosenthal'- 
schen  Versuche  abgesprochen  wird.  Gleichwohl  dürfte  die  elektro- 
lytische Theorie  nicht  haltbar  sein,  wie  insbesondere  die  Resultate  der 
elektrischen  Erregung  anderer  Sinnesorgane,  sowie  die  gegensinnigen 
Nachempfindungen  nach  OefFnung  des  Stromes  bei  Reizung  der  Zunge 
beweisen.  Auf  die  letztere  Schwierigkeit  weist  auch  Hermann  (1.  c. 
p.  538)  hin,  indem  er  bemerkt,  dass  im  Momente  der  OefFnung  eines 
aussteigenden  Stromes  zwar  ein  in  die  polarisirten  Organe  einsteigen- 
der Depolarisationsstrom  frei  Avird,  derselbe  kann  aber  nur  vorhandenes 
Alkali  neutralisiren ,  nie  aber  Säure  bilden  und  daher  auch  keinen 
sauren  Nachgeschmack  an  der  Kathode  erzeugen,  der  aber  thatsäch- 
lich  auftritt. 

Suchen  wir  uns  nun  von  dem  Standpunkte  aus  Rechenschaft  über 
die  in  Rede  stehenden  Erscheinungen  zu  geben,  dass  es  sich  dabei  um 
die  Folgen  directer  polarer  Erregung  nervöser  Theile  handelt,  so  be- 
gegnen wir  als  erster  Schwierigkeit  der,  zu  entscheiden,  welche  Theile 
primär  durch  den  in  wechselnder  Richtung  fliessenden  Strom  gereizt 
werden.  Einen  bedeutsamen  Beitrag  zur  Lösung  dieser  Frage  hat 
Laser  stein  in  seiner  schon  erwähnten  Arbeit  geliefert.  Bekanntlich 
besitzt  das  Cocain  die  merkwürdige  Eigenschaft,  dass  es  die  Erreg- 
barkeit der  meisten  peripheren,    sensiblen  Nervenendigungen  aufhebt; 


Q\4:  -Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

dies  gilt  auch  für  das  Geschmacks  vermögen.  Bei  Laser  stein  wurde 
dasselbe  durch  Cocain  nicht  vöUig  beseitigt;  es  verschwand  zuerst 
für  Bitter  und  Süss ,  dann  auch  für  Salzig ,  dagegen  nicht  ganz  für 
Sauer,  obwohl  es  auch  hier  enorm  vermindert  war.  Dem  entsprechend 
blieb  nun  auch  eine  Spur  des  sauren  elektrischen  Geschmacks  bei 
einsteigendem  Strom  bestehen,  jedoch  musste  hier  der  volle  Strom 
eines  Daniell  verwendet  werden,  Avährend  vor  der  Einpinselung  ein 
Strom  von  5000  Ohm  Haupt-  und  210  Nebenschliessungswiderstand 
genügt  hatte.  Bei  Hermann  selbst  hob  Cocain  jeden  und  so  auch 
den  elektrischen  Geschmack  gänzlich  auf.  Aus  diesem  Versuch  ergiebt 
sich  vor  Allem,  dass  diejenigen  Gebilde,  auf  deren  Veränderung  durch 
den  Strom  der  Geschmack  beruht,  in  der  ä u s s e r s t e n  Peripherie 
zu  suchen  sind.  Bei  der  Schwäche  der  zur  Hervorrufung  ausreichenden 
Intensitäten  im  Vergleich  zu  andern  physiologischen  Dauerwirkungen 
des  Stromes  kann  nur  unmittelbar  unter  der  Elektrode  die  Dichte  als 
gross  genug  betrachtet  werden.  Handelte  es  sich  um  Durchströmung 
der  Stämme,  so  müssten  jedesmal  noch  andere  Empfindungen  im  Be- 
reiche der  Kopfnerven  sich  beimischen.  Ferner  kann  nur  unmittelbar 
unter  der  Elektrode  von  orientirter  Durchströmung  von  Nerven- 
fasern oder  Endorganen  die  Rede  sein,  und  so  wird  es  auch  begreif- 
lich, dass,  Avenn  beide  Elektroden  der  Zunge  anliegen,  unter  der  einen 
sauer,  unter  der  andern  alkalisch  geschmeckt  wird.  Der  elektrische 
Geschmack  beruht  also  ganz  sicher  ausschliesslich  auf 
der  Durch  Strömung  der  Endorgane  oder  der  letzten  in 
die  Sc  h  l  ei  m  h  aut  eins  tra  blenden  Nerven  faseren  digungen. 
Stellt  man  sich  auf  den  Boden  des  Gesetzes  der  specifischen  Energien, 
wonach  jeder  Sinnesnerv,  wo  und  wie  immer  er  gereizt  werden  möge, 
stets  nur  ein-  und  dieselbe  specifische  Empfindung  erzeugt,  so  steht 
offenbar  das  Resultat  der  elektrischen  Reizung  der  Zunge  damit  im 
Allgemeinen  in  Uebereinstimmung  und  wird  auch  gewöhnlich  als  ein 
Beweis  für  die  Richtigkeit  des  genannten  Princips  angeführt.  Wenn 
man  dasselbe  freilich  in  aller  Strenge  festhalten  will  und  alle  Nerven- 
fasern bloss  als  gänzlich  indifferente  Erregungsleiter  betrachtet,  ihre 
Wirkungsdifferenzen  nur  durch  die  centralen  oder  peripheren  End- 
organe bedingt  sein  lässt,  dann  muss  die  Thatsache  befremdend  er- 
scheinen, dass  beide  Stromesrichtungen  durch  ihre  erregenden  Wir- 
kungen auf  die  Nerven  oder  deren  Endorgane  in  der  Zunge  ver- 
schiedene Empfindungen  hervorrufen.  Mag  man  nun  annehmen, 
dass  z.  B.  der  aufsteigende  Strom  ausschliesslich  oder  hauptsächlich 
die  sauer  empfindenden  Fasern  erregte,  was  sicher  höchst  unwahr- 
scheinlich ist,  oder  dass  die  Wirkung  des  aufsteigenden  Stromes  in 
jeder  Faser  eine  andere  als  die  des  absteigenden  ist,  stets  ergiebt  sich 
ein  Widerspi-uch  mit  dem  Gesetze  der  specifischen  Energie,  wenn  man 
dasselbe  in  dem  herkömmlichen  Sinne  auffasst.  Dagegen  hat  es  keinerlei 
Schwierigkeiten,  die  Thatsachen  mit  der  Theorie  in  Einklang  zu  bringen, 
ja  es  erscheinen  dieselben  sogar  als  eine  nothwendige  Consequenz  der 
letzteren,  wenn  man  die  Folgen  der  polaren  Erregung  der  Ge- 
schmacksnervenenden in  Parallele  stellt  mit  den  antagonistischen  Pol- 
wirkungen des  elektrischen  Stromes  an  anderen  irritablen  Substanzen 
(Muskeln,  Nerven).  Dann  handelt  es  sich  nur  noch  um  einen  einzigen 
Punkt,  bezüglich  dessen  die  Erfolge  der  elektrischen  Erregung  von 
centrifugalleitenden  Nerven  und  Muskeln  sich  von  jenen  der  Sinnes- 
nerven unterscheiden,    nämlich  darum,  dass  letzterenfalls  die  Erfolgs- 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  615 

Organe  (centrale  Ganglienzellen)  sowohl  auf  die  an  der  Kathode  wie 
auf  die  an  der  Anode  ausgelösten  Veränderungen  mit  qualitativ  ver- 
schiedenen (antagonistischen)  Empfindungen  reagiren,  woraus  unmittel- 
bar folgt,  dass  die  centripetalleitenden  Nervenfasern  beiderlei  einander 
entgegengesetzte  Veränderungen  geleitet  haben  mussten. 

Im  Sinne  der  von  Hering  entwickelten  Anschauungen  kann  man 
annehmen,  dass  ein  sensibler  Nerv  zu  entgegengesetzten  Empfindungen 
Anlass  giebt,  wenn  entweder  die  dissimilatorischen  oder  assimilato- 
rischen Processe  ins  Uebergewicht  kommen  (vergl.  Hermann,  Pflü- 
ger's  Arch.  49,  p.  536):  nimmt  man  Aveiter  an,  dass  das  erstere  stets 
und  zwar  dauernd  an  der  Kathode,  das  letztere  an  der  Anode  der 
Fall  ist,  so  lassen  sich  die  Erscheinungen  des  elektrischen  Geschmackes 
in  einfachster  Weise  erklären,  ohne  das  Princip  der  specifischen 
Energie  zu  verletzen.  Wie  wir  sehen  werden,  ordnen  sich  dann  auch 
die  Erscheinungen  der  elektrischen  Reizung  anderer  Sinnesorgane 
völlig  ungezwungen  ein,  indem  es,  wie  auch  Hermann  (1.  c.  p.  537) 
hervorhebt,  keinerlei  Schwierigkeiten  hat,  von  dem  erwähnten  Stand- 
punkte aus  entgegengesetzte  Empfindungen  aus  entgegengesetzten 
Stromesrichtungen  herzuleiten.  Nur  muss  man  in  den  meisten  Fällen 
an  die  peripheren  End Organe  anknüpfen,  da  entsprechend  den 
Versuchsbedingungen  in  der  Regel  nur  diese  merklich  polarisirt  werden 
können;  der  einsteigende  Strom  würde  die  assimilatorische,  der  aus- 
steigende die  dissimilatorische  Veränderung  zum  Ueberwiegen  bringen ; 
immer  aber  wird  angenommen  werden  müssen,  dass  die  elektropolaren 
Empfindungen  zu  einander  in  einem  complementären  oder,  was  auf 
dasselbe  herauskommt,  in  einem  Contrastverhältniss  stehen  (Her- 
mann 1.  c.) 

Dies  geht  noch  viel  deutlicher  als  beim  Geschmackssinn  aus 
Versuchen  über  die  elektrische  Erregung  des  Auges  hervor. 
Aus  der  neuesten  zusammenfassenden  Darstellung  von  H  elm  h oltz  (49) 
hebe  ich  insbesondere  folgende  Thatsachen  hervor. 

Wird  das  Auge  durch  Stromschwankungen  von  genügender  In- 
tensität gereizt,  indem  man  etwa  die  eine  Elektrode  an  die  Stirn  oder 
auf  die  geschlossenen  Augenlider  legt,  während  die  andere  im  Nacken 
liegt,  so  entstehen  mehr  oder  weniger  starke  L  i  c  h  t  b  1  i  t  z  e ,  welche  das 
ganze  Gesichtsfeld  überziehen  und  bei  Anwendung  galvanischer  Ströme 
sowohl  bei  der  Schliessung  wie  bei  der  Oeffnung  hervortreten  können. 

Um  die  dauernde  Wirkung  eines  gleichmässig  anhaltenden  Stromes 
wahrzunehmen,  bedarf  es  im  Allgemeinen  stärkerer  Ströme,  als  zur 
Erzeugung  der  Schliessungs-  oder  Oeffnungsblitze.  Um  diese,  sowie 
auch  das  Muskelzucken  bei  Schliessung  und  Oeffnung  des  Stromes  zu 
vermeiden,  fand  es  Helmholtz  vortheilhaft,  am  Rande  des  Tisches, 
neben  welchen  sich  der  Experimentirende  setzt,  zwei  mit  Pappe,  die 
mit  Salzwasser  getränkt  ist,  umwickelte  Metallcylinder  hinzulegen,  die 
mit  den  beiden  Polen  einer  Daniell'schen  Batterie  von  12 — 24  Elementen 
verbunden  sind.  Man  stützt  zuerst  die  Stirne  fest  auf  einen  der  Cy- 
linder  und  berührt  dann  mit  der  Hand  den  anderen,  wobei  man  durch 
langsames  Anlegen  der  Hand  erreichen  kann,  dass  die  Wirkungen  der 
Stromes s ch  wan  kun gen  sehr  gering  sind.  Die  Stromesrichtung 
lässt  sich  wechseln,  indem  man  die  Stii-ne  bald  auf  den  einen,  bald 
auf  den  andern  Cylinder  legt.  „Wenn  ein  schwacher  aufsteigender 
Strom  durch  den  Sehnerven  geleitet  wird,  wird  das  dunkle  Gesichts- 
feld der  geschlossenen  Augen  heller  als  vorher  und  nimmt  eine  w^eiss- 


616 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


lich-violette  Farbe  an.  In  dem  erhellten  Felde  erscheint  in  den  ersten 
Augenblicken  die  Eintrittsstelle  des  Sehnerven  als  eine  dunkle  Kreis- 
scheibe. Die  Erhellung  nimmt  schnell  an  Intensität  ab  und  ver- 
schwindet ganz  bei  der  Unterbrechung  des  Stromes;  dafür  tritt  nun, 
im  Gegensatz  zu  dem  vorausgegangenen  Blau,  mit  der  Verdunkelung 
des  Gesichtsfeldes  auch  eine  röthlich-gelbe  Färbung  des  Eigenlichtes 
der  Netzhaut  ein."  „Bei  der  Schliessung  der  entgegengesetzten,  ab- 
steigenden Stromesrichtung  tritt  der  auffallende  Erfolg  ein,  dass  das 
nur  mit  dem  Eigenlicht  der  Netzhaut  gefüllte  Gesichtsfeld  im  Allge- 
meinen dunkler  wird,  als  vorher,  und  sich  etwas  röthlich-gelb  färbt; 
nur  die  Eintrittsstelle  des  Sehnerven  zeichnet  sich  als  eine  helle  blaue 
Kreisscheibe  auf  dem  dunklen  Grunde  ab.  Bei  Unterbrechung  dieser 
Stromesrichtung  wird  das  Gesichtsfeld  wieder  heller  und  zwar  bläulich- 
weiss  beleuchtet,  und  der  Sehnerveneintritt  erscheint  dunkel."  Andere 
Beobachter  haben  die  Erscheinungen  zum  Theil  etwas  anders  be- 
schrieben, und  findet  man  eine  Uebersicht  der  Angaben  von  Ritter, 
Purkinje,  Helmholtz,  Brenner  in  der  beistehenden,  vonRoss- 
bach  zusammengestellten  Tabelle. 


Strom- 
zustand. 


Ritter. 


Purkinje. 


Brenner. 


1)   Anode  auf  dem  Auge  oder  aufsteigende  Stromrichtung. 


Schliessimg 
der  Kette. 


Grössere  Hellig- 
keit des  Sehfel- 
des (Eintritt  des 
positiven  Licht- 
Zustandes),  Em- 
pfindung glän- 
zender blauer 
Farbe,  Blitz. 


Wahrnehmung 
eines  Licht- 
scheines ,        der 
sich      wie      ein 
gelblicher  Dunst 

über  einen 
schwarzen  Hin- 
tergrund zieht. 
An  der  Eintritts- 
stelle des  Seh- 
nerven eine  hell- 
violette     lichte 

Scheibe;  im 
Axenpunkt    des 
Auges    ein   rau- 
tenförmiger 
dunkler     Fleck, 
mit   einem   rau- 
tenförmigen 
gelblichenLicht- 
bande  umgeben, 
auf  welches  ein 

finsterer  Zwi- 
schenraum und 
noch  ein  etwas 
schwächer  leuch- 
tendes gelb- 
liches Rauten- 
band folgt;  die 
äusserste  Peri- 
pherie des  Licht- 
feldes hat  einen 
schwachen  licht- 
violetten Schein. 


Bei  schwachem 
Strom  wird  das 
dunkle  Gesichts- 
feld der  geschlos- 
senen Augen 
heller  als  vorher 
und  nimmt  eine 
vveisslich-violet- 
te  Farbe  an;  in 
dem  erhellten 
Felde  erscheint 
in     den     ersten 

Augenblicken 
die  Eintritts- 
stelle des  Seh- 
nerven als  eine 
dunkele  Kreis- 
scheibe. 


Im  '  Grunde  des 
Auges  erscheint 
eine  gelbgrüne 
Scheibe  auf  dun- 
kelem  Hinter- 
grunde ,  welche 
umgeben  ist  von 
einem  im  Anfang 
der  Erscheinung 
grösseren      und 

glänzenderen, 
hell  himmelblau 
gefärbten  Hofe. 
Das  plötzliche 
Auftreten  dieses 
im  ersten  Mo- 
ment glänzende- 
ren und  grösse- 
ren Hofes  macht 
den  Eindruck 
eines  Blitzes. 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 


617 


Strom- 
zustand. 

Ritter. 

P  u  r  k  i  n  j  e. 

Helmholtz. 

B  r  e  n  n  e  r. 

Während   des 

Der  posit.  Licht- 

Die Erhellung 

Der  hell  himmel- 

Geschlossen- 

zustand    dauert 

nimmt      schnell 

blaue    Hof  ver- 

seins d.  Kette. 

so  lange  an,  als 
die     Kette     ge- 
schlossen bleibt. 

an  Intensität  ab. 

kleinert  sich  im- 
mer mehr,  wird 
matter  und  ver- 
schwindet    end- 
lich  ganz.     Die 
centraleErschei- 
nung  dauert  et- 
was länger,  ver- 
schwindet   aber 
schliesslich  eben- 
falls. 

Oeffnung    der 

Es    entsteht    die 

Es  kehren  sich  die 

Es  tritt  im  Gegen- 

Es   entsteht    das 

Kette. 

Empfindung  ro- 

Farben um;  die 

satz  zumvoraus- 

umgekehrte  Bild 

ther  Farbe  (Ver- 

vorher   centrale 

gegangenenBlau 

der  Schliessung, 

dunkelung     des 

Farbenempfin- 

mit der  Verdun- 

nämlich  hell- 

Sehfeldes, nega- 

dung   wird    zur 

kelung   des  Ge- 

blaues Centrum, 

tiver    Licht-Zu- 

peripheren,    die 

sichtsfeldes  auch 

gelbgrüner  Hof, 

stand)  und  wie- 

periphere      zur 

eine  röthlich- 

von    welchem 

der  ein  Blitz. 

centralen. 

gelbe     Färbung 
des  Eigenlichtes 
derNetzhautein. 

Brenner    jedoch 
nur  das  himmel- 
blau  gefärbte 
Centrum  mit  Si- 
cherheit   zu    er- 
kennen vermag. 

Nach  der  Oeff- 

Beharrender   ne- 



_ 



nung. 

gativer      Licht- 
zustand.       AU- 
mäliges  Zurück- 
gehen aller  Ei-- 
scheinungen  auf 
Null. 

2)    Kathode  auf  dem  Auge  oder  absteigende  Str omrichtunj 


Schliessung 
der  Kette. 


Verdunkelung  d. 
Sehfeldes  (nega- 
tiver Licht-Zu- 
stand).  —  Blitz. 
—  Rothe  Farbe. 


Umkehr  der  obi- 
gen       (Anoden- 
schliessungs-) 
Erscheinung ; 
Erleuchtung  des 

Axenpunktes, 
Verdunkelung  d. 
Nerveneintritts; 
an  der  Eintritts- 
stelle des  Seh- 
nerven ist  ein 
finsterer  kreis- 
runder Fl  eck  mit 
einem  hellviolet- 
ten Scheine  um- 
geben; im  Axen- 
punkt  des  Seh- 
feldes eine  glän- 
zende hellviolet- 
te Rautenfläche. 
Das  Lichtviolett 
deckt   in    dieser 


Das  nur  mit  dem 
Eigenlicht  der 
Netzhaut  erfüllte 
Gesichtsfeld  wird 
im  Allgemeinen 
dunkler  als  vor- 
her u.  färbt  sich 
etwas  röthlich- 
gelb ;  nur  die 
Eintrittsstelle  d. 
Sehnerven  zeich- 
net sich  als  eine 
helle  blaueKreis- 
Scheibe  auf  dem 
dunklen  Grunde 
ab,  von  welcher 
Scheibe  häufig 
auch  nur  die  der 
Mitte  des  Ge- 
sichtsfeldes zu- 
gekehrte Hälfte 
erscheint. 


Das  Centrum  der 
Scheibe  wird 
glänzend  him- 
melblau, dieFär- 
bung  des  Hofes 
ist  gelbgrün. 


Biedermann,  Elektrophy siologie. 


40 


618 


Die  elektrisclie  Erregung  der  Nerven. 


Strom- 
zustand. 


Ritter. 


Helm  holt  z. 


Brenner. 


Während  des 
Geschlossen- 
seins d.  Kette. 


Oeffnung    der 
Kette. 


Beharrender  ne- 
gativer Licht- 
zustand ,  rothe 
Farbe. 


Aufhören  des  ne- 
gativen Licht- 
zustandes und 
Uebergang  in  d. 
positiven.  Blitz, 
blaue  Farbe. 


Erscheinung  den 
Grund  vollkom- 
men ,  während 
das  gelbliche 
Licht,  selbst  bei 
den        höchsten 

Stromstärken, 
nur  wie  der 
Uebei-zug  eines 
schwachen  Fir- 
nisses erscheint, 
wie  wenn  eine 
gelbe  Saftfarbe 
auf  schwarzen 
Grund  aufgetra- 
gen wäre. 


Das  Gesichtsfeld 
wird  wieder  hel- 
ler und  zwar 
bläulich-weiss 
beleuchtet,  und 
der  Sehnerven- 
eintritt erscheint 
dunkel. 


Die  obige  Er- 
scheinung hält 
eine  Zeit  lang 
an,  wii-d  dann 
immer  matter, 
um  schliesslich 
ganz  zu  ver- 
schwinden ;  die 
centraleEi-schei- 
nung  überdauert 
auch  hier  die 
periphere. 

Umkehr  der  obi- 
gen Bilder ,  in 
der  Peripherie 
ein  hellblaues 
Aufleuchten,  im 
Centrum  eine 
gut    erkennbare 

gelb  -  grüne 
Scheibe. 


Bei  sehr  starken  Strömen  fand  Helmholtz  „ein  wildes  Durch- 
einanderwogen von  Farben",  in  welchem  keine  Regel  zu  entdecken  war. 

„Die  elektrische  Reizung  lässt  sich  auch  auf  einzelne  Theile  der 
Netzhaut  beschränken,  wenn  sie  auch  nicht  örtlich  scharf  begrenzt 
werden  kann.  Diese  Erscheinungen  sind  in  ihren  wesentlichen  Zügen 
schon  von  Purkinje  beschrieben  worden.  Helmholtz  bildete  den 
einen  Zuleiter  aus  einem  dünnen  Cylinder  von  Badeschwamm,  der 
um  ein  Kupferstcäbchen  mit  isolirendem  Handgriff  festgebunden  imd 
reichlich  mit  Salzwasser  getränkt  war.  Die  andere  Elektrode  legt 
man  in  den  Nacken  oder  fasst  sie  mit  der  linken  Hand  und  berührt 
mit  dem  Schwamm  die  Haut  neben  dem  äusseren  oder  inneren  Augen- 
winkel, während  man  unter  den  geschlossenen  Augenlidern  das  Auge 
hin  und  her  bewegen  kann.  Ist  der  Schwamm  die  positive  Elektrode, 
so  dringt  der  elektrische  Strom  auf  der  ihm  zugewendeten  Seite  des 
Auges  durch  die  Netzhaut  von  aussen  nach  innen,    auf  der  abgewen- 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven,  619 

deten  von  innen  nach  aussen;  umgekehrt,  wenn  der  Schwamm  nega- 
tive Elektricität  zuleitet.  Dabei  zeigt  sich,  dass  die  von  aussen  nach 
innen  durchflossene  Hälfte  der  Netzhaut  Dunkel  empfindet,  die  von 
innen  nach  aussen  durchflossene  dagegen  Helligkeit.  Zu  beachten  ist, 
dass  diese  Empfindungen  vom  Beobachter  immer  in  die  gegenüber- 
liegende Hälfte  des  Gesichtsfeldes  verlegt  werden,  als  wäre  diese 
elektrische  Helligkeit  von  aussen  kommendes  Licht.  Unter  dieselben 
Regeln  fallen  auch  die  Erscheinungen,  welche  man  beobachtet,  wenn 
man  die  Elektrode  vorn  auf  die  von  den  Lidern  bedeckte  Hornhaut 
setzt.  Dann  giebt  eine  positive  Elektrode  Strom  von  innen  nach 
aussen  durch  die  ganze  Netzhaut,  und  diese  sieht  hell."  Die  Ein- 
trittstelle des  Sehnerven  zeigte  Helmholtz  stets  den  entgegengesetzten 
Zustand  des  Feldes,  in  dem  sie  liegt. 

„Tritt  nun  positive  Elektricität  auf  der  Schläfenseite  in  das  Auge 
ein,  so  ist  der  periphere  Theil  der  Netzhaut  von  aussen  nach  innen, 
d.  h.  von  den  Zapfen  zu  den  Ganglienzellen,  durchströmt  und  sieht 
dunkel.  Die  nach  der  Schläfenseite  gerichteten  Faserzüge  des  gelben 
Fleckes  aber  werden  von  den  Ganglienzellen  zu  den  Zapfen  durch- 
strömt und  sehen  hell.  In  diesem  Sinne  kann  man  die  beobachteten 
Erscheinungen  zusammenbegreifen  in  der  Regel :  Elektrische  con- 
stante  Durchströmung  der  Netzhaut  in  der  Richtung 
von  den  Zapfen  zu  den  zugehörigen  Ganglienzellen 
giebt  die  Empfindung  von  Dunkel;  die  entgegengesetzte 
Durchströmung  giebt  die  Empfindung  von  Hell." 

Wir  sehen  also  hier  fast  noch  deutlicher  als  beim  Geschmacks- 
organ den  Antagonismus  der  Empfindungen  bei  gegensinniger  Durch- 
strömung derselben  Endorgane  des  Sehnerven.  Eine  andere  Deu- 
tung als  die  aus  der  verschiedenen  Wirkung  der  beiden  Pole  dürfte 
in  diesem  Falle  kaum  denkbar  sein. 

Von  einer  geordneten,  in  bestimmter  Richtung  erfolgenden  Durch- 
strömung der  Endapparate  des  Hörnerven  kann  naturgemäss  kaum 
die  Rede  sein.  Brenner  (27),  dem  wir  die  ausgedehntesten  Versuche 
über  diesen  Gegenstand  verdanken,  setzte  die  eine  Elektrode  (die  in- 
differente) irgendwo  in  grösserer  Entfernung  von  den  Ohren  (Hinter- 
kopf, Brust,  Hand)  auf,  während  die  andere,  deren  Wirkung  unter- 
sucht werden  soll,  entweder  in  Gestalt  eines  dünnen  Drahtes  in  den 
mit  Wasser  gefüllten  Gehörgang  eingeführt  oder  in  Form  eines  kleinen, 
mit  angefeuchtetem  Flanell  überzogenen  Knopfes  neben  dem  Gehör- 
gang auf  die  Haut  angedrückt  wird. 

Ist  dann  die  wirksame  Elektrode  die  Kathode,  so  hört  man  bei 
Anwendung  constanter  Ströme  von  massiger  Stärke  bei  der  Schliessung 
einen  Klang,  der  sich  während  der  Schliessungsdauer  allmählich  ver- 
liert; Oefi:nung  des  Stromkreises  erzeugt  keinerlei  Gehörsempfindung. 
Umgekehrt  bleibt  die  Schliessung  erfolglos,  wenn  die  Anode  am  Ohre 
liegt,  während  dann  die  Oeffnung  von  einer  Klangempfindung  be- 
gleitet ist,  die  in  der  Regel  schwächer  ist,  als  jene  der  Schliessung  des 
entgegengesetzt  gerichteten  Stromes.  Durch  Wendung  von  der  Anode 
auf  die  Kathode  gelingt  es,  Gehörssensationen  bei  einer  Stromstärke 
zu  erzeugen,  bei  welcher  eine  einfache  Kathodenschliessung  reactions- 
los  bleibt  (Volta'sche  Alternative).  Auch  Stromesschwankungen,  Avelche 
nicht  von  Null,  sondern  von  irgend  einem  endlichen  Werth  der  Strom- 
stärke ausgehen,  erzeugen  analoge  Schallempfindungen. 

40* 


Q20  ^'®  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

In  Bezug  auf  den  Charakter  der  ausgelösten  galvanischen  Gehör- 
empündung  gilt  die  Regel,  dass  es  sich  bei  gut  angestellten  Versuchen 
mit  nicht  zu  starken  Strömen  immer  um  einen  echten  musikalischen 
Klang  handelt.  Nach  Kiesselbach  (49)  würde  die  Höhe  desselben 
der  des  Eigentons  seines  Ohres  entsprechen.  Da  dies  auch  für  die 
Höhe  des  subjectiven  Klanges  gilt,  welchen  man  beim  sogenannten 
Ohrenklingen  hört,  so  vermuthet  Rosenthal  (1.  c),  „dass  man  bei 
gleichzeitiger  schwacher  Erregung  sämmtlicher  Hörnervenfasern  stets 
diesen  Ton  aus  der  Gesammtzahl  heraushört,  weil  man  sozusagen  an 
ihn  am  meisten  gewöhnt  ist." 

Auch  über  die  elektrische  Erregung  der  Hautsinnesnerven  linden 
sich  schon  bei  Ritter  sehr  weitgehende  Angaben ,  unter  denen  be- 
sonders die  Thatsache  hervorzuheben  sein  dürfte,  dass  ein  aufsteigen- 
der Strom  während  seiner  Schliessung  Wärme,  ein  absteigender  da- 
gegen Kältegefühl  erzeugt.  Auch  Du  Bois-Reymond  fühlte  bei 
Anwendung  einer  Zink-Kupfersäule  von  150  Paaren,  deren  Pole  in 
Becken  mit  Kochsalzlösung  endeten,  in  welche  die  Hände  getaucht 
wurden,  „Fluthen  von  Wärme  und  Schauer  von  Kälte  die  Arme  bis  zu 
den  Schultern  herauf  abwechselnd  anhauchen  oder  überrieseln"  ;  doch 
vermochte  er  sich  nicht  zu  überzeugen ,  dass  der  eine  Arm  vorzugs- 
weise Wärme,  der  andere  Kälte  empfand.  Gold  scheid  er  (49)  con- 
statirte  dagegen  schon  von  12  Elementen  an  Wärmegefühl  im  Arm 
der  Anode,  vermisste  aber  Kälte  am  andern  Arm. 


Polare  Wirkung  sehr  kurzdauernder  Ströme. 
(Inductionsschläge.) 

Schon  mehrfach  fand  die  Thatsache  Erwähnung,  dass  zur  Aus- 
lösung einer  wirksamen  elektrischen  Erregung  irritabler  Substanzen 
der  Strom  während  einer  gewissen  Dauer,  deren  absoluter  Werth  je 
nach  der  Natur  der  erregbaren  Gebilde  innerhalb  weiter  Grenzen 
wechselt,  einwirken  muss.  Dies  gielt  vor  Allem  für  die  Oeffnungs- 
erregung  durch  den  Kettenstrom,  deren  Zustandekommen  ausser  einer 
genügenden  Intensität  auch  eine  ausreichende  Schliessungsdaner  zur 
Voraussetzung  hat,  indem  der  anelektrotonische  Zustand,  d.  i.  die 
anodischen  Strom-Veränderungen,  an  deren  Schwinden  sich  jene  knüpft, 
nur  dann  eine  genügende  Entwicklung  erreichen.  In  diesem  Falle 
kann  es  bei  indirecter  Muskel-Reizung  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  die 
Entwicklung  eines  hinreichend  starken  Anelektrotonus  im  Nerven 
selbst  so  lange  Zeit  beansprucht;  dagegen  giebt  es  Fälle,  avo  man 
fragen  könnte,  ob  die  Unwirksamkeit  eines  Schliessungs-Reizes 
bei  Anwendung  von  Strömen  kurzer  Dauer  auf  einer  Eigenschaft  des 
Nerven  oder  des  mit  ihm  zusammenhängenden  Endorganes  (Muskels) 
beruht.  Findet  man  beispielsweise  einen  einzelnen  Stromstoss  oder 
Inductionsschlag  wirksam,  Avenn  er  auf  den  Nerv  eines  quergestreiften 
Muskels  applicirt  wird,  dagegen  unwirksam,  wenn  er  auf  motorische 
Fasern  glatter  Muskeln  einwirkt,  so  liegt  es  ja  sehr  nahe,  anzunehmen, 
dass  die  Schuld  für  das  Ausbleiben  der  Contraction  im  letzteren  Falle 
nur  am  Muskel  liegt,  d.  h.  dass  eine  Erregung  im  Nerven  abläuft, 
vielleicht  ebenso  gross  und  gleich  geartet  wie  im  ersten  Falle,  aber 
nicht  gross  genug  oder  überhaupt  ungeeignet,  das  trägere  Gebilde  zu 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  621 

erregen.  Allein  man  könnte  doch  auch  Verschiedenheiten  der  Nerven 
selbst  mit  verantwortlich  machen  wollen. 

Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  werden  bei  Anwendung  sehr  kurz- 
dauernder Ströme  die  Erscheinungen  des  Zuckungsgesetzes  auch  in 
dem  Falle  erhebliche  Abweichungen  zeigen  müssen,  wenn  man  selbst 
möglichst  rasch  reagirende  Nerv-Muskel- Präparate  verwendet.  Vor 
Allem  lässt  das  Pflüger'sche  Erregungsgesetz  erwarten,  dass  sehr  kurze 
Ströme  keine  Oeffnungs-Zuckung  bewirken,  und  in  der  That  zeigen 
dies  viele  Thatsachen.  So  wurde  schon  früher  gezeigt,  dass  Inductions- 
ströme,  welche  der  Theorie  nach  eine  doppelte  Erregung  bedingen 
sollten,  da  sie  gleichsam  aus  Schliessung  und  Oeffnung  bestehen,  am 
quergestreiften  Muskel  bei  nicht  zu  grosser  Intensität  nur  kathodisch 
wirken,  und  innerhalb  gewisser  Grenzen  der  Stromstärke  gilt  dasselbe 
sicher  auch  für  die  indirecte  Muskel-Reizung  vom  Nerven  aus. 
Andererseits  ist  es  ebenso  bekannt,  dass  stärkere  Inductionsströme, 
wenn  sie  auf  curarisirte  Muskeln  wirken,  auch  an  der  Eintrittsstelle 
(Anode)  Veränderungen  erzeugen,  welche,  wenn  sie  sich  auch  nicht 
immer  als  sichtbare  Gestaltveränderungen  äussern,  doch  wohl  nicht 
anders  gedeutet  werden  können,  wie  als  Folgen  einer  Oeffnungs- 
Erregung.  Es  gehören  hierher  insbesondere  die  positiven  anodi- 
schen P  0 1  a  r  i  s  a  t  i  0  n  s  -  S  t  r  ö m  e ,  welche  als  Nachwirkung  der  Er- 
regung durch  einzelne  Inductionsschläge  hervortreten.  Für  den  Nerven 
kann  man  ebenso  wie  beim  Muskel  vermittels  aller  jener  bereits  be- 
schriebenen Methoden,  welche  den  Beweis  der  polaren  Wirkung  des 
Kettenstromes  liefern,  zeigen,  dass  auch  Stromstösse  und  einzelne 
Inductionsschläge  innerhalb  gewisser  Intensitätsgrenzen  nur  an  der 
Kathode  Erregung  bewirken,  und  dass  daher  die  so  ausgelösten  Muskel- 
Zuckungen  stets  nur  als  Schliessungszuckungen  zu  deuten  sind.  Auf 
den  Vorschlag  von  Fick  stellte  Lamansky  (50)  Versuche  an,  bei 
welchen  nach  dem  von  ß  e  z  o  1  d  für  Kettenströme  benützten  Princip  aus 
der  Differenz  der  Latenzstadien  bei  Anwendung  auf-  und  absteigender 
Inductionsströme  auf  den  Ort  der  Reizung  geschlossen  werden  sollte. 
In  der  That  zeigte  sich,  dass  für  die  aufsteigende  Richtung  die  Latenz- 
zeit länger  war,  als  für  die  absteigende,  v.  Vintschgau  (51)  zeigte 
hierauf,  dass  bei  Anwendung  maximaler  oder  nahezu  maximaler 
Inductionsströme  dieser  Unterschied  der  Latenzstadien  erheblich  grösser 
ist,  als  bei  Reizung  mit  schwachen  Strömen,  und  ist  geneigt,  dies  auf 
Verschiedenheiten  der  räumlichen  Ausdehnung  und  relativen  Intensität 
der  durch  den  Strom  bedingten  elektrotonischen  Veränderungen  der 
Nerven  zu  beziehen. 

Sehr  anschaulich  lässt  sich  die  polare  Wirkung  inducirter 
Ströme  auch  durch  den  Unterschied  der  Reizerfolge  demonstriren, 
welche  bei  verschiedener  Richtung  der  ersteren  an  markhaltigen 
Nerven  hervortreten,  deren  Erregbarkeit  im  Bereiche  der  central- 
wärts  gelegenen  Elektrode  herabgesetzt  ist  (Biedermann  30).  Die 
hierher  gehörigen  Thatsachen  wurden  schon  von  Harless  richtig  er- 
kannt, indem  er  fand,  dass  nach  dem  Auftragen  von  Ammoniak  auf 
einen  Theil  der  intrapolaren  Nervenstrecke  „selbst  der  an  sich  wirk- 
samere Oeifnungsschlag  nach  der  Ammoniakwirkung  erfolglos  wird, 
wenn  er  den  Nerv  mit  der  früheren  Stärke  in  aufsteigender  Richtung 
trifft",  während  dann  der  in  umgekehrter  Richtung  den  Nerv  durch- 
setzende Schliessungsschlag  sich  wirksam  erweist.  Niemals  aber  erfolgt 
bei  gleichem  Rollenabstand  Erregung,  wenn  bei  aufsteigender  Stromes- 


ß22  Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

richtung  der  kathodische  Abschnitt  durch  Ammoniak  oder  irgend  ein 
anderes  entsprechend  wirkendes  Mittel  unerregbar  gemacht  wurde,  so 
dass  der  Erregungsvorgang  nur  von  der  Kathode  ausgehen  kann. 
Es  beweist  dieser  Umstand  abermals,  dass  durch  i  n  d  u  c  i  r  t  e  S  t  r  ö  m  e 
von  gewisser  Intensität  nur  Kathodenerregung  ausgelöst 
wird.  Sehr  leicht  ist  es  auch,  sich  am  Warmblüternerven  unmittel- 
bar nach  der  Durchschneidung  und  ohne  irgend  einen  vorbereitenden 
Eingriff  von  der  Richtigkeit  der  vorstehenden,  sich  auf  den  Frosch- 
nerven beziehenden  Angaben  zu  überzeugen.  Man  braucht  nur  zwei  un- 
polarisirbare  Elektroden  einerseits  an  den  frischen  Querschnitt,  anderer- 
seits an  eine  etwa  1  Ctm.  tiefer  gelegene  Stelle  eines  Kaninchen- 
Ischiadicus  anzulegen,  um  bei  Reizung  mit  einzelnen  nicht  zu  starken 
Inductionsschlägen  zu  beobachten,  dass  nur  in  dem  Falle  eine  Zuckung 
ausgelöst  wird,  Avenn  die  Ströme  im  Nerven  absteigend  gerichtet  sind. 
Unter  Umständen  hat  dieses  bemerkenswerthe  Verhalten  auch  eine 
methodische  Bedeutung,  denn  es  ist  klar,  dass,  wenn  man  irgend  einen 
Nervenabschnitt,  innerhalb  dessen  an  jedem  Punkte  annähernd  gleiche 
Erregbarheit  vorausgesetzt  werden  darf,  mit  Wechselströmen  reizt,  bei 
einem  gewissen  Rollenabstand  sowohl  jeder  einzelne  Schliessungsschlag 
als  auch  jeder  Oeffnungsschlag  wirken  muss.  Dies  wird  aber  nicht 
mehr  der  Fall  sein,  wenn  man  das  Schnittende  eines  Warmblüternerven 
reizt.  Denn  dann  werden  eben  nur  die  absteigend  gerichteten  Ströme 
Erregung  auslösen,  also  je  nach  der  Richtung  des  primären  Stromes 
entweder  nur  die  Schliessungsschläge  oder  nur  die  Oeffnungsschläge. 
Bei  grösserem  Rollenabstand  aber,  wo  sich  schliesslich  die  erregende 
Wirkung  der  Oeffnungsinductionsströme  allein  geltend  macht,  wird  ein 
Reizerfolg  überhaupt  nur  dann  zu  erwirken  sein,  wenn  jene  in  ab- 
steigender Richtung  den  Nerven  durchsetzen,  so  dass  man  also  bei 
einer  und  derselben  Elektrodenstellung  und  gleichbleibendem  Rollen- 
abstand je  nach  der  Richtung  des  primären  Stromes  das  eine  Mal  einen 
deutlichen  Reizerfolg  beobachtet,  während  derselbe  andernfalls  voll- 
ständig fehlen  kann.  Auch  die  von  Fick  (52)  beobachtete  Thatsache, 
dass  die  Wirkung  eines  Inductionsschlages  nur  dann  verstärkt  wird, 
wenn  seine  Kathode,  nicht  wenn  seine  Anode  in  den  katelektrotonischen 
Bereich  eines  polarisirenden  Kettenstromes  fällt,  muss  als  ein  directer 
Beweis  für  die  polare  kathodische  Wirkung  inducirter  Ströme  gelten. 
Wenn  daher  Pflüger  seiner  Zeit  glaubte,  die  Gesamm  t  er  regbar - 
keit  der  intrapolaren  Strecke  messen  zu  können,  indem  er  einen 
Inductionsschlag  während  des  bestehenden  polarisirenden  Stromes 
durch  dieselbe  schickte,  so  Avar  dies  nur  unter  der  Voraussetzung- 
richtig,  dass  der  Inductionsstrom  die  ganze  Strecke  gleichzeitig  erregt. 
Pflüger  nahm  den  Inductions-Strom  stets  von  gleicher  Richtung  mit 
dem  polarisirenden,  untersuchte  also  in  Wirklichkeit  jedesmal  die 
Erregbarkeit  an  der  Kathode  (auf  welche  die  Kathode  des  inducirten 
Stromes  fiel);  sein  Resultat,  dass  schwache  polarisirende  Ströme  die 
Wirkung  des  (gleichgerichteten)  Inductions-Stromes  verstärken,  starke 
sie  rasch  vermindern  bezw.  aufheben,  erklärt  sich  ebenso  wie  die 
analogen  Thatsachen  bei  directer  Muskel-Reizung.  Es  zeigen  diese 
Erfahrungen  zugleich,  dass  blosse  Schwankungen  der  Dichte  des 
Stromes  im  Nerven  (wie  auch  im  Muskel)  in  analoger  Weise  erregend 
Avirken  können,  wie  das  Entstehen  oder  Verschwinden  des  Stromes 
vom  Werthe  Null  aus  (Schliessung  oder  Oeffnung  des  Kreises).  Später 
ist  die  Frage,  welchen  Einfluss  bei  plötzlichen  Intensitätsschwankungen 


Die  elektrisclie  Erregung-  der  Nerven.  623 

der  während  der  Schliessung  an  der  Kathode,  nach  der  Oeffnung  an 
der  Anode  bestehenden  („elektrotonischen")  Veränderungen  des  Nerven 
auf  die  Auslösung  einer  Muskelzuckung  die  absolute  Höhe  der  bereits 
bestehenden  polaren  Veränderungen  besitzt,  des  Oefteren  untersucht 
worden,  so  insbesondere  von  O.  Nasse  (53)  und  Hermann  (53)-, 
(vergl.  auch  Du  Bois-Reymond  53).  Der  Erstere  erzeugte  mittels 
eines  Fallapparates,  welcher  einen  durch  ein  Rheochord  abgezweigten 
Zuwachsstrom  schloss  oder  öffnete,  eine  auf  den  schon  bestehenden 
Kettenstrom  superponirte  positive  oder  negative  Intensitätsschwankung. 
Es  ergab  sich  für  positive  Schwankungen  absteigender  Ströme  bei 
schwachen  Bestandströmen  erhöhte,  bei  stärkeren  verminderte  Wirkung, 
dagegen  für  negative  Schwankungen  aufsteigender  Ströme  bei  jeder 
Stärke  des  Bestandstromes  herabgesetzte  Wirkung.  Hermann  fasst 
das  Resultat  seiner  nach  der  erwähnten  Eckhardt-Pflüger'schen  Methode 
angestellten  Untersuchungen  in  dem  Satze  zusammen,  dass  die 
Wirkung  eines  gegebenen  I n d u c t i o n s s t r o m e s  (wie  auch 
beim  Muskel)  durch  gleichgerichtete  Bestandströme 
(wenn  diese  nicht  eine  gewisse  Grenze  der  Intensität 
überschreiten)  erhöht,  durch  entgegengesetzte  herab- 
gesetzt wird  (bis  zur  AnnuUirung).  Da,  wie  Hermann  aus- 
führt, Verstärkung  eines  gleichgerichteten  Stromes  gleichbedeutend  ist 
mit  Schliessung  eines  gleichgerichteten  oder  Oeffnung  eines  entgegen- 
gesetzten, sowie  plötzliche  Schwächung  eines  Stromes  der  Schliessung 
eines  entgegengesetzten  resp.  Oeffnung  eines  gleichgerichteten  Stromes 
entspricht,  so  dass  im  ersteren  Falle  der  Ort  der  Erregung  auf  schon 
bestehenden  Katelektrotonus,  andernfalls  dagegen  auf  bestehenden 
Anelektrotonus  fällt,  so  erscheint  das  Versuchsresultat  bei  indirecter 
wie  bei  directer  Muskelreizung  von  den  gleichen  Gesichtspunkten  aus 
verständlich. 

Wenn  somit  für  schwache  inducirte  Ströme  die  ausschliesslich 
kathodische  Reizwirkung  als  sicher  stehend  zu  betrachten  ist,  so  muss 
andererseits  die  Möglichkeit,  ja  Wahrscheinlichkeit  zugegeben  werden, 
dass  für  starke  die,  wenn  auch  noch  so  kurze,  Stromesdauer  zur 
Entwicklung  eines  genügenden  Anelektrotonus  doch  hinreichen  könnte, 
um  auch  dem  absteigenden  Theil  eine  Erregungswirkung  zu  verleihen. 
Hierauf  deuten  schon  gewisse  Beobachtungen  von  Fick,  Lamansky 
u.  A.  hin.  Dieselben  beziehen  sich  zunächst  auf  ein  eigenthümliches 
Verhalten  der  Zuckungs-Höhen  bei  indirecter  Muskel-Reizung  mit  sehr 
kurz  dauernden  Kettenströmen  (Stromstössen),  wenn  Stärke,  Dauer 
und  Richtung  derselben  verändert  werden.  Wie  schon  früher  er- 
wähnt wurde,  hatte  Fick  festgestellt,  dass  „es  für  jede  Stromstärke 
eine  Kleinheitsgrenze  der  Stromdauer  giebt,  unter  welche  sie  nicht 
hinabsinken  darf,  ohne  dass  überhaupt  die  Zuckung  ausbleibt,  und 
dass,  wenn  man  die  Stromdauer  über  die  fragliche  Grenze  hinaus 
wachsen  lässt,  die  Zuckung  von  Null  an  stetig  wächst,  um  allmählich 
zu  dem  für  die  betreffende  Stromstärke  erreichbaren  Maximum  zu 
kommen.  Die  Werthe  der  Zeitdauer,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
sind  bei  Nerven-Reizung  sehr  klein.  Bei  einer  Dauer  von  0,002"  ist 
das  Maximum  stets  schon  erreicht.  Fick  fand  nun,  dass  das  Wach- 
sen der  Zuckung  mit  wachsender  Dauer  eines  den  Nerven 
absteigend  durch  fliessenden  gleichstarken  Stromes 
nicht  stetig  geschieht,  sondern  absatzweise,  indem  die 
Zuckungen  nach  einem  ersten  Maximum  wieder  zu  nehmen. 


624  Die  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

wenn  die  Dauer  des  Stromes  mehr  und  mehr  verlängert 
wird;  löst  beispielsweise  ein  absteigender  Strom  von  bestimmter  Stärke 
bei  einer  Schliessungs-Dauer  von  0,003 — 0,004  "  eine  maximale  Zuckung 
aus,  so  wächst  diese  bei  Aveiterer  Vermehrung  der  Stromstärke  nicht,  wenn 
der  Strom  immer  wieder  während  derselben  sehr  kurzen  Zeit  fliesst. 
Schliesst  man  aber  denselben  Strom  dauernd,  so  erhält  man  eine 
Zuckung,  welche  das  bei  momentaner  Stromwirkung  nicht  vermehr- 
bare Maximum  sehr  bedeutend  übertrifft,  also  im  gewissen  Sinne  eine 
„ü  her  maximale"  Zuckung.  Hier  kann  es  sich  wohl  nur  darum 
handeln,  dass  infolge  der  dauernden  Durchströmung  die  kathodische 
Schliessungs-Erregung  das  überhaujDt  erreichbare  Maximum  zeigt,  eine 
Thatsache,  die  sich  ja  bei  directer  wie  indirecter  Muskel-Reizung  auch 
in  dem  Umstände  ausprägt,  dass  durch  einen  auch  noch  so  energischen 
Inductions- Schlag  niemals  der  Grad  von  Verkürzung  erreicht  wird, 
wie  bei  Schliessung  eines  selbst  nur  massig  stai'ken  Kettenstromes. 
Mit  einzelnen  Inductions-Schlägen  erreicht  man  eben  immer  nur  jenes 
relative  Maximum,  das  auch  bei  kurz  dauernden  Kettenströmen  nicht 
überschritten  werden  kann  (Fick  1.  c.  p.  25).  Zwischen  diesen  bei- 
den Grenzfällen  aber,  dem  sehr  kurzen  Stromstoss  und  dem  dauernd 
geschlossenen  Strom,  wäre  es  ganz  gut  möglich,  dass  das  unstete 
Wachsen  der  Zuckungshöhen  bei  zunehmender  Stromdauer  zum  Theil 
auf  einer  Einwirkung  der  anodi  sehen  Oeffnungserregung 
beruht,  indem  sich  die  Effecte  der  Schliessungs-  und  der  unmittelbar 
darauffolgenden  Oeffnungs-Erregung  im  Muskel  summiren.  Zu  Gunsten 
dieser  Deutung  spricht  vor  Allem  auch  der  Umstand,  dass,  wie  Fick 
später  fand,  bei  Anwendung  von  absteigenden  Inductions- 
strömen  genau  dieselben  Erscheinungen  eintreten,  wenn 
deren  Intensität  zunimmt,  indem  sich  zeigt,  dass  nach  Er- 
reichung des  ersten  Maximums  die  Zuckungen  neuerdings  bis  zu 
einem  zweiton  wachsen. 

An  diese  Erfahrungen  reiht  sich  eine  zweite,  für  die  vorliegende 
Frage  noch  wichtigere  Beobachtung  von  Fick  (54).  Erfand  nämlich, 
dass  bei  aufsteigenden  Stroms tössen  (Kettenstrom)  die 
Zuckungen  nach  dem  e  r  s  t  e  n  M  a  x  i  m  u  m  b  i  s  a  u  f  N  u  1 1  a  b  - 
nehmen  (die  sog.  „Lücke"),  sobald  die  Dauer  des  während 
des  ganzen  Versuches  gleich  starken  Stromes  einen  ge- 
wissen Werth  überschreitet;  wenn  dann  die  Versuchs- 
reihe m  i  t  i  m  m  e  r  w  a  c  h  s  e  n  d  e  r  S  t  r  o  m  d  a  u  e  r  fo  r  t  g  e  s  e  t  z  t  w  i  r  d, 
erscheinen  die  Zuckungen  wieder  und  wachsen  bis  zu 
einemzweitenMaximum,welchesvonnunanbeiweiterem 
Wachsthum  der  Stroradauer  constant  bleibt.  Ganz  dieselbe 
Erscheinung  tritt  auch  hervor,  Avenn  bei  unveränderter  Stromes- 
dauer die  Stärke  des  Stromstosses  variirt  wird;  dabei  zeigt  es 
sich  ferner,  dass  für  immer  kleinere  Werthe  der  Stromesdauer  die 
Abnahme  und  das  Verschwinden  der  Zuckungen  immer  grössere  Stärke 
des  Stromes  beansprucht  (Tigerstedt  53,  p.  4).  Später  hat  dann 
Fick  dieselbe  Erscheinung  bei  Anwendung  a u f s t e i g e n d e r 
I  n  d  u  c  t  i  o  n  s  s  t  r  ö  m  e  constatirt,  indem  sich  auch  hier  bei  zunehmender 
Intensität  eine  „Lücke"  nach  dem  ersten  Maximum  zeigt,  auf  welche 
bei  weiterem  Wachsthum  der  Stromstärke  neue  Zuckungen  folgen, 
welche  bald  bis  zu  „übermaximalen"  zunehmen.  Die  Thatsache 
der  „Lücke"  wurde  von  Tiegel  (55)  und  neuerdings  von  Grütz- 
ner  (55)  bestätigt.     Tiegel  giebt  an,    dass  er  die  Lücke  sowohl  bei 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  625 

auf-,  wie  bei  absteigenden  Strömen  gesehen  hat.  Grützner  konnte 
dagegen  bei  absteigenden  Inductionsströmen  ebensowenig  wie  Tiger- 
stedt  die  Lücke  finden.  Bei  aufsteigenden  Inductionsströmen  ist 
die  Erscheinung  eine  überaus  gesetzmässige.  Die  Zuckungen  nehmen, 
von  einer  bestimmten,  unter  gleichen  Versuchsbedingungen  ziemlich 
Constanten  Stromstärke  (Rollenabstand)  angefangen,  rasch  ab,  um 
nachher  wieder  langsamer  anzusteigen;  ausnahmsweise  geht  die  Ab- 
nahme der  Zuckungshöhe  bei  steigender  Stromstärke  nicht  bis  auf 
Null  herab,  so  dass  hier  die  „Lücke"  so  zu  sagen  nur  eine  unvoll- 
ständige ist.  Was  nun  die  Deutung  der  Erscheinung  anlangt,  so  würde 
man  die  Lücke  nach  Fick  aufzufassen  haben  als  eine  Folge  der 
Hemmung  am  positiven  Pol,  welche  bei  einer  gewissen  Strom- 
stärke (Stromesdauer)  genügend  stark  Avird,  um  die  vom  negativen  Pol 
ausgehende  Erregung  unwirksam  zu  machen.  Wie  die  nach  der  Lücke 
auftretenden  Zuckungen  aufzufassen  sind,  soll  später  erörtert  werden. 
Die  Abnahme  und  das  Verschwinden  der  Zuckungen  beim  aufsteigen- 
den Stromstoss  oder  Inductionsstrom  wäre  also  ganz  analog  mit  den 
entsprechenden  Erscheinungen  beim  aufsteigenden  Dauerstrom  (Fick 
55).  Die  Theorie  Grützner's,  welche  die  Lücke  auf  eine  Art  von 
Interferenz  zwischen  präexistenten  Spannungsdifferenzen  des  Nerven 
und  des  Reizstromes  zurückführt,  dürfte  durch  Tigers tedt  endgiltig 
widerlegt  sein.  Zu  Gunsten  der  Fick'schen  Erklärung  spricht  vor 
Allem  der  Umstand,  dass  die  Lücke  nur  bei  aufsteigender 
Strom  es -Richtung  beobachtet  wird;  ist  die  Hemmung  an  der 
Anode  nicht  stark  genug,  um  die  kathodische  Erregung  völlig  auszu- 
löschen, so  kommt  es  nur  zu  einer  Abnahme  der  Zuckungshöhen. 
Bei  Strömen  von  sehr  kurzer  Zeitdauer  hat  die  Hemmung  nicht  die 
genügende  Zeit,  um  sich  in  hinreichender  Stärke  zu  entwickeln  und 
eine  Lücke  hervorzurufen,  wenigstens  wenn  nicht  ausserordentlich 
starke  Ströme  angewendet  werden.  Darauf  beruht  es  Avohl  auch,  dass 
die  Lücke  lange  nicht  so  leicht  bei  Oeffnungs-,  wie  bei 
Schli  essungsinductionsströmen  auftritt  (Tigerstedt  54), 
wenigstens  in  dem  Falle,  wenn  der  primäre  Kreis  völlig  geöffnet  Avird. 
Schliesst  man  sich  der  Anschauung  von  Fick  in  Bezug  auf  die 
Ursache  der  „Lücke"  an,  so  bedarf  doch  das  Wiederauftreten  der 
Zuckungen  und  deren  Wachsen  über  das  anfängliche  Maximum  hinaus 
(„übermaximale  Zuckungen")  einer  besonderen  Erörterung,  und  zwar 
gerade  dann,  Avenn  man  vom  Standpunkte  des  Pflüger'schen  Zuckungs- 
gesetzes aus  die  Erfolge  aufsteigender  Reizung  mit  dem  Kettenstrom 
(Dauerstrom)  und  einzelnen  Inductionsschlägen  vergleicht.  Ersteren- 
falls  tritt  bei  beliebiger  Steigerung  der  Stromes-Intensität  jenseits  der 
III.  Stufe  niemals  Avieder  die  Schliessungs-Zuckung  hervor,  und  nu  r  d  i  e 
Oe.ff nungserregung  allein  bleibt  wirksam.  Es  liegt  daher 
sehr  nahe,  die  jenseits  der  „Lücke"  auftretenden  Zuckungen  auch 
bei  Reizung  mit  aufsteigenden  Stromstössen  oder  einzelnen  aufsteigen- 
den Inductionsschlägen  als  Oeffnungs- Zuckungen  zu  deuten. 
Wie  schon  gesagt,  fangen  die  Zuckungen  nach  der  Lücke  wieder  an 
zu  wachsen  und  erreichen  bei  fortgesetzter  Steigerung  des  Reizes  all- 
mählich dieselbe  Höhe  wie  vor  der  Lücke.  In  einigen  Fällen  (nicht 
immer)  sieht  man  auch,  AAde  die  Zuckungen  bei  noch  gesteigerter 
Reizstärke  über  das  erste  Maximum  wachsen  und  eine  dasselbe  beträcht- 
lich übersteigende  Höhe  erreichen  („übermaximal"  A\'erden);  wie 
Tigerstedt  (l.  c.  p.  22)  gezeigt   hat,    kann    man    auch    dann,    AA^enn 


626  Die  elektrische  Erregung  der  Nei*veii. 

„übermaximale"  Zuckungen  selbst  bei  übergeschobenen  Rollen  nicht 
auftreten,  solche  stets  hei'vorrufen,  wenn  man  bei  unveränderter  Strom- 
stärke den  Nerven  im  gleichen  Rhythmus  weiter  reizt.  Ob  es  sich  hier- 
bei um  eine  Art  von  Summation  der  Wirkungen  oder  um  andersartige, 
durch  den  Strom  bewirkte  Veränderungen  des  Nerven  handelt,  muss 
vorläulig  unentschieden  bleiben.  Man  sieht  leicht,  dass  auch  das  oben 
erwähnte  Auftreten  „übermaximaler"  Zuckungen  bei  absteigenden  kurz- 
dauernden Strömen  sich  nach  demselben  Princip  erklären  lässt.  Im 
Sinne  der  Theorie  von  F  i  ck  Avürde  es  sich  hier  nur  um  eine  Summirung 
von  den  durch  das  Entstehen  und  Verschwinden  des  Stromes  bewirk- 
ten Erregungen  handeln.  Wir  wissen,  dass  beim  absteigenden  In- 
ductionsstrom  die  Erregung  von  dem  Pole  ausgeht,  Avelcher  näher  dem 
Muskel  liegt.  Bei  ihrer  Fortpflanzung  bis  zum  Muskel  begegnet  sie 
daher  keiner  Hemmung  und  gelangt  mit  unveränderter  Stärke  dahin 5 
geht  nun  aber  auch  vom  positiven  Pole  des  Inductionsstromes  eine 
(Oeffnungs-)Erregung  aus,  so  hat  dieselbe  einen  längeren  Weg  als  die 
Schliessungs- Erregung  zurückzulegen,  so  dass  sie  wohl  merklich  später 
als  diese  letztere  zum  Muskel  gelangt.  Die  Schliessungs-Erregung  sei 
eine  maximale ;  wenn  nun  die  durch  sie  hervorgerufene  Muskel-Zuckung 
schon  begonnen  hat,  bevor  die  Enderregung  nach  dem  Muskel  gelangt 
ist,  so  muss  eine  Summirung  der  von  beiden  hervorgerufenen  Zuckun- 
gen stattfinden,  d.  h.  eine  „übermaximale"  Zuckung  erscheinen.  Mit 
dieser  Auffassung  stimmen  auch  die  zeitlichen  Verhältnisse  der  be- 
treffenden Zuckungen  überein. 

Bei  einem  Versuch  über  die  Latenzdauer  der  Zuckungen  bei 
steigender  Reizstärke  fand  F  i  c  k ,  dass  n  a  c  h  d  e  r  L  ü  c  k  e  d  i  e  zuerst 
auftretenden,  beträchtlich  verminderten  Zuckungen 
„ein  enorm  verlängertes  Stadium  der  latenten  Reizung" 
hatten ;  dies  kann  nicht  von  der  geringeren  Stärke  der  Reizung 
unmittelbar  nach  der  „Lücke"  abhängen,  denn  auch  wenn  die 
Zuckungen  nach  der  Lücke  beträchtlich  diejenigen  vor  der  Lücke 
überragen,  ist  die  Latenzdauer  der  ersteren  noch  beträchtlich 
grösser  als  die  der  letzteren.  Diese  scharfe  Grenze  zwischen  den 
Zuckungen  vor  und  nach  der  Lücke  deutet  mit  grosser  Be- 
stimmtheit darauf,  dass  diese  Zuckungen  nicht  ganz  gleichartig  sein 
können.  Durch  Versuche  von  Waller  (56)  wissen  wir,  dass  die 
Latenzdauer  der  Oeffnungszuckungen  bei  Anwendung  des  constanten 
Stromes  beträchtlich  grösser  ist,  als  jene  von  Schliessungszuckungen, 
und  ich  selbst  hatte  oft  Gelegenheit,  diese  Thatsache  zu  bestätigen. 
Wenn  nun  die  Zuckungen  nach  der  Lücke,  sowie  diejenigen,  welche 
bei  sinkender  Reizstärke  die  Lücke  füllen,  den  Oeffnungszuckungen 
beim  constanten  Strom  wirklich  entsprechen,  so  ist  es  auch  von  vorn- 
herein anzunehmen,  dass  sie  dieselbe  Eigenschaft  bezüglich  ihrer 
Latenzdauer  zeigen  werden. 

Fassen  wir  alles  Gesagte  zusammen,  so  lässt  sich  daher  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  Folgendes  behaupten : 

„Die  Zuckungen  vor  der  Lücke  werden  durch  das  Entstehen  des 
Liductionsstromes  (Stromstosses)  ausgelöst,  ihre  Latenzdauer  ist  kurz; 
die  Zuckungen  nach  der  Lücke,  sowie  die  Zuckungen,  welche  bei 
sinkender  Reizstärke  die  Lücke  füllen,  werden  durch  das  Ver- 
schwinden der  kurzdauernden  Ströme  hervorgerufen.  Wie  alle  Oeff- 
nungszuckungen haben  sie  im  Vergleich  mit  den  Schliessungszuckungen 
ein  langes  Latenzstadium.     Kommt  man    bei    sinkender  Reizstärke  an 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  627 

den  Punkt,  wo  die  Hemmung  am  positiven  Pol  nicht  mehr  die  Fort- 
pflanzung der  Erregung  zum  Muskel  hindert,  dann  stellt  sich  (plötzlich) 
die  kurze  Latenzdauer  wieder  ein."  (Tiger  s  tedt.) 

Wenn  gewisse  „übermaximale"  Zuckungen  auf  einer  Summation 
der  kathodischen  und  anodischen  Erregung  beruhen,  so  könnte  man 
daran  denken,  dies  dadurch  nachzuweisen,  dass  man  die  beiden  Reize 
zeitlich  so  weit  von  einander  zu  trennen  versucht,  dass  das  Intervall 
wenigstens  so  gross  wäre,  wie  die  Latenzzeit  der  Zuckung.  Dies 
könnte  man  nach  Fick  und  Lamansky  dadurch  anstreben,  dass 
man  die  intrapolare  Strecke  sehr  lang  machte.  Um  aber  so  das  nöthige 
Intervall  zwischen  Kathoden-  und  Anodenerregung  zu  erzielen,  müsste 
die  intrapolare  Strecke  mindestens  150  mm  betragen,  die  Leitungs- 
geschwindigkeit zu  30  m  und  die  Latenzdauer  zu  0,005  Secunde  ge- 
rechnet. Auf  diese  Weise  ist  es  daher  am  Froschpräparat  nicht  möglich, 
eine  Summirung  der  Muskelzuckung  bei  Inductionsströmen  nachzuweisen 
(Marcs  57).  Dagegen  lassen  sich  durch  zeitmessende  Versuche  noch 
weitere  Anhaltspunkte  für  die  supponirte  bipolare  Erregung  durch 
starke  Inductionsströme  gewinnen.  Wenn  nämlich  die  Erregung  nur 
an  einem  Pole,  der  Kathode,  geschieht,  so  muss  die  Latenzzeit  der  Muskel- 
zuckung, wie  dies  in  der  That  seit  lange  bekannt  ist,  bei  aufsteigender 
Stromesrichtung  grösser  sein,  als  bei  absteigender,  und  zwar  mindestens 
um  die  Zeit,  welche  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  in  der  intra- 
polaren Nervenstrecke  entspricht;  geschieht  aber  die  Erregung  an 
beiden  Polen,  so  wird  die  Latenzzeit  der  beiden  Stromesrichtungen 
gleich  sein  und  wird  der  Erregung  durch  den  dem  Muskel  näheren 
Pol  entsprechen.  In  der  That  fand  Marcs  (1.  c.)  diese  Voraussetzung 
durch  den  Versuch  bestätigt. 


Wirkung  mehrfacher  Reize. 

Welcher  Vorstellung  immer  man  sich  auch  hinsichtlich  des  Wesens 
des  Erregungsprocesses  zuneigen  mag,  unter  allen  Umständen  bean- 
sprucht die  Frage  Interesse,  wie  sich  an  einem  für  eine  derartige 
Untersuchung  geeigneten  Erfolgsorgan  die  Wirkung  mehrerer  gleich- 
zeitiger oder  nach  einander  auf  verschiedene  Stellen  des  Nerven  wir- 
kender Reize  äussern  wird.  Im  Vorhergehenden  war  schon  von  dem 
hierher  gehörigen  Fall  der  bipolaren  Erregung  durch  den  inducirten 
oder  Kettenstrom  die  Rede,  doch  bieten  gleichzeitig  einwirkende 
Reize  noch  grösseres  Interesse.  Von  vornherein  erscheint  es,  wie 
Hermann  bemerkt,  als  die  wahrscheinlichste  Annahme,  dass  zwei  von 
einander  unabhängig  verlaufende  Erregungsvorgänge  ungestört  mit  dem 
Intervall,  welches  der  Distanz  beider  Reizstellen  entspricht,  über  den 
Nerven  ablaufen  und  mit  dem  entsprechenden  Zeitintervall  im  End- 
organ anlangen;  was  dort  geschieht,  hinge  dann  lediglich  von  der 
Natur  des  Endorganes  ab.  Im  Muskel  z.  B.  würde  je  nach  dem  Betrage 
des  Intervalls  die  zweite  Reizung  wirkungslos  sein  oder  eine  superponirte 
Zuckung  ergeben  oder  endlich  eine  zweite  selbständige  Zuckung  ver- 
anlassen. Selbst  wenn  zwei  Reizungen  einander  in  derselben  Faser 
begegnen,  wäre  ein  ungestörtes  Uebereinanderweggehen  denkbar,  und 
in  der  That  wird  ja  eine  solche  Begegnung  immer  bei  jeder  gleich- 
zeitigen Reizung  zweier  Nervenstellen  stattfinden  müssen,  da  die  obere 
Erregung    nicht   zum  Muskel    gelangen  kann,  ohne  sich  mit  der  nach 


628 


Die  elektrische  Erregung  der  Xerven. 


oben  so  gut  wie  nach  unten  fortschreitenden  unteren  zu  kreuzen,  (Her- 
mann 34  p.  109.)  Alle  Beobachtungen,  welche  bisher  in  dieser 
Richtung  angestellt  wurden,  beruhen  fast  ausschliesslich  auf  Unter- 
suchungen mit  zwei  elektrisch en  Reizen.  Die  Resultate  derselben, 
welche  bald  als  Summations-,  bald  als  Interferenzwirkungen  gedeutet 
wurden,  sind  leider  nicht  eindeutig.  Wir  haben  es  eben  bei  Anwen- 
dung elektrischer  Reize  nicht  einfach  mit  der  Combination  zweier  un- 
abhängig verlaufender  Erregungsvorgänge  zu  thun,  sondern  es  treten, 
bedingt  durch  die  Eigenart  des  elektrischen  Reizes,  Veränderungen  in 

der  Leitungsfähigkeit  des 
Nerven  auf,  welche  die 
Reinheit  und  Klarheit 
des  Versuches  beein- 
trächtigen. 

Um  zwei  oder  meh- 
rere gesonderte  Strom- 
reize mit  absoluter  Gleich- 
zeitigkeit auf  verschie- 
dene Strecken  eines  und 
desselben  Nerven  ein- 
wirken zu  lassen ,  be- 
diente sich  G  r  ü  n  h  a  g  e  n 
(57)  des  Kunstgriffes,  den 
Strom  einer  hinreichend 
starken  Kette  durch  zwei 
oder  mehrere  primäre 
Inductionsrollen  zu  leiten, 
welchen  ebenso  viele  se- 
cundäre  Spiralen  ent- 
sprechen. Dann  löst  jede 
Schliessung  oder  Oeff- 
nung  des  Kettenkreises 
in  allen  secundären  Rol- 
len absolut  gleichzeitig 
Inductionsströme  aus, 
welche  nun  den  betref- 
fenden Nervenstellen  mit- 
tels unpolarisirbarerElek- 
troden  zugeleitet  werden 
können.  Die  ganze  An- 
ordnung des  Versuches  ist  nach  Wer  ig  o  (58)  in  beistehender  Fig.  200 
wiedergegeben. 

Es  sind,  wie  man  sieht,  vier  verschiedene  Combinationen  in  Bezug 
auf  die  Richtung  beider  Reizströme  denkbar;  dieselben  können  ent- 
weder gleichgerichtet  (auf-  oder  absteigend)  sein,  oder  sie  können  bei 
ungleicher  Richtung  entweder  zu  einander  hin  oder  von  einander  weg- 
fliessen,  so  dass  ersterenfalls  die  Kathoden,  letzterenfalls  die  Anoden 
einander  zugewendet  sind.  Wählt  man  die  Stromstärke  zunächst  so, 
dass  der  eine  Strom  für  sich  allein  eine  minimale,  der  andere  dagegen 
überhaupt  keine  Zuckung  auslöst,  und  sind  beide  Schläge  aufsteigend, 
so  zeigt  sich  eine  gegenseitige  Beeinflussung  in  dem  Sinne,  dass  bei 
nicht  zu  grossem  Abstand  der  beiden  Reizelektroden  die  muskelwärts 
(peripher)  erfolgende,  an  sich  unzulängliche  (inframinimale)  aufsteigende 


Fig.  200.     Schema  der  Versuchsanordnung  bei  gleich- 
zeitiger Reizung  eines  Nerven  durch  Inductionsschläge 
an  verschiedenen  Stellen.     (Nach  Werigo.) 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  629 

Reizung  die  Wirkung  des  centralen  aufsteigenden  Stromes  merklich 
verstärkt,  während  umgekehrt  eine  central  erfolgende  inframinimale 
aufsteigende  Reizung  den  an  sich  minimalen  Erfolg  des  peripheren 
aufsteigenden  Stromes  hemmt.  Sind  beide  Inductionsströme  absteigend 
gerichtet,  so  gilt  Alles,  was  eben  bezüglich  der  peripheren,  infra- 
minimalen Reizung  bemerkt  wurde,  von  der  centralen  und  umgekehrt. 
Fliessen  die  Ströme  zu  einander  hin,  so  verstärken  sie  gegenseitig  ihre 
Wirkung  eventuell  in  solchem  Grade,  dass  aus  zwei  Reizen,  die  an 
und  für  sich  erfolglos  bleiben,  eine  maximale  Zuckung  entstehen  kann, 
während  bei  nicht  zu  grossem  Abstand  der  Reizstrecken  eine  gegen- 
seitige Hemmung  bemerkbar  wird. 

Diese  Resultate  stimmen  mit  den  Versuchsergebnissen  von 
S  e  w  a  1 1  (58)  durchaus  überein  und  lassen  sich  sämmtlich  leicht  auf 
die  polare  Wirkung  der  Ströme  zurückführen.  „Man  beobachtet  stets 
eine  Erregungszunahme  bei  der  Application  des  reizenden  Stromes  in 
der  Nähe  der  Kathode  des  moditicirenden  und  umgekehrt  eine  Abnahme 
der  Wirkung,  wenn  der  reizende  Schlag  in  die  Nähe  der  Anode 
kommt."  Stets  zeigt  sich  jedoch,  dass  die  Erregbarkeitssteigerung  im 
Gebiete  des  Katelektrotonus  stärker  ausgeprägt  ist,  als  die  Erregbar- 
keitsabnahme im  Gebiete  des  Anelektrotonus.  Sind  beide  Schläge 
wirksam,  wenn  auch  in  ungleichem  Grade,  und  ist  die  Entfernung  der 
beiden  Reizstrecken  von  einander  eine  derartige,  dass  die  Einwirkung 
elektrotonischer  Erscheinungen  sicher  ausgeschlossen  ist,  so  reagirt  der 
Muskel  immer  nur  auf  die  stärkere  Erregung,  und  zwar  so,  als  wäre 
diese  allein  wirksam.  Es  scheint  daher  keine  wahre  Interferenz  im 
Sinne  einer  Addition  oder  Subtraction  der  Erregungen  stattzufinden. 
Ist  in  diesem  Falle  der  Abstand  der  Reizstrecken  geringer,  so  gestalten 
sich  wegen  Einmischung  der  elektrotonischen  Erregbarkeitsänderungen 
die  Erscheinungen  wesentlich  verwickelter,  als  dann,  wenn  nur 
ein  Schlag  wirksam  ist,  da  sowohl  die  Wirkung  des  peripheren 
Stromes  auf  den  P]ffect  des  centralen,  als  die  Wirkung  des  centralen 
auf  den  Erfolg  des  peripheren  in  Betracht  zu  ziehen  ist.  Doch  zeig- 
ten sich  auch  hier  alle  beobachteten  Wirkungen  in  Uebereinstimmung 
mit  den  Gesetzen  des  Elektrotonus. 

Einen  eigenthümlichen  Fall  von  Interferenzwirkung  zweier  an 
verschiedenen  Stellen  eines  Nerven  ausgelöster  Erregungen  beschrieb 
jüngst  K.  Kaiser  (59).  Kaiser  beobachtete  nämlich  bei  gleich- 
zeitiger Reizung  des  Ischiadicus  beim  Frosch  an  zwei  möglichst  von 
einander  entfernten  Stellen  einerseits  mit  tetanisirenden  Wechselströmen, 
andererseits  mit  Glycerin  unter  Umständen  eine  Hemmung  des  Gly- 
cerintetanus  bei  Beginn  und  während  der  Dauer  der  elektrischen 
Reizung.  Da  die  Erscheinung  auch  beobachtet  werden  konnte,  wenn 
gleichzeitig  zwei  verschiedene  chemische  Reize  (Glycerin  und  NaCl 
oder  Glycerin  an  beiden  Stellen)  einwirkten,  so  ist  jede  Möglichkeit 
einer  Erklärung  durch  elektrotonische  Erregbarkeitsänderungen  von 
vornherein  ausgeschlossen.  Wirkt  derselbe  chemische  Reiz  an  zwei 
verschiedenen  Stellen  des  Nerven,  so  entsteht,  wenn  überhaupt,  nur 
ein  sehr  massiger  Tetanus,  dessen  plötzliche  Verstärkung  nach  Ab- 
trennung der  oberen  Reizstrecke  dann  sehr  auffallend  ist.  Es  scheint 
ziemlich  sicher,  dass  die  Hemmung,  welche  zwei  dieselben  Nerven- 
fasern gleichzeitig  an  zwei  verschiedenen  Stellen  treffende,  tetanisirende 
Reize  auf  einander  ausüben,  durch  Vorgänge  bedingt  wird,  welche 
sich  im  Nerven  selbst  abspielen.     Da   die  negative  Schwankung  nach 


630  I^i^  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

Ausweis  des  Capillarelektrometers  unter  gleichen  Umständen  stets  eine 
Verstärkung  erfährt,  statt,  wie  man  von  vornherein  erwarten  würde, 
auch  ihrerseits  abzunehmen,  so  kann  es  sich  nicht  einfach  um  Inter- 
ferenzwirkungen der  elektrischen  Schwankungswellen  im  Nerven 
handeln,  in  dem  physikalischen  Sinne,  dass  dieselben  durch  Zusammen- 
fallen ungleichartiger  Phasen  vernichtet  würden,  sondern  überall,  wo 
eine  ablaufende  Keizwelle  von  einer  ihr  folgenden  überholt  und  über- 
deckt wird,  würde  nach  Kaiser  „eine  Summation  der  Negativität  der 
auf  einander  fallenden  Punkte  erfolgen",  so  dass  im  gegebenen  Falle 
„die  von  den  beiden  Reizen  erzeugten  Erregungswellen  mehr  oder 
weniger  mit  einander  verschmelzen  und  die  Amplituden  der  Schwankungs- 
wellen unter  den  Grenzwerth  sinken,  der  für  die  Hervorrufung  einer 
Wirkung  auf  den  Muskel  nothwendig  ist". 

Dass  sich  Erregungszustände  an  einer  und  derselben  Ner- 
venstelle einfach  summiren  können,  ergiebt  sich  schon  aus  den 
zahlreichen  Erfahrungen,  wo  die  Anspruchsfähigkeit  einer  Nervenstrecke 
dadurch  gesteigert  erscheint,  dass  sie  der  Sitz  einer  schwachen,  an 
sich  unwirksamen  (latenten)  Erregung  ist,  wofür  im  Vorhergehenden 
eine  ganze  Reihe  von  Beispielen  aufgezählt  worden  ist. 


Unipolare   Wirkungen. 

Bei  Reizung  mit  inducirten  Strömen  kommen  unter  Umständen 
gewisse  Erscheinungen  in  Betracht,  die  nicht  nur  von  theoretischem 
Interesse  sind,  sondern  auch  die  grösste  praktische  Bedeutung  bei 
allen  Reizversuchen  besitzen.  Es  betrifft  dies  die  sogenannten  uni- 
polaren In d uc ti  0  n  s  Wirkungen,  die  zuerst  von  Du  Bois- 
Reymond  beobachtet  und  näher  untersucht  worden  sind  (1.  p.  423). 
Die  Grund thatsache  des  ganzen  Gebietes  ist  folgende: 

„Steht  der  Nerv  des  stromprüfenden  Schenkels  in  Verbindung 
mit  dem  einen  Ende  eines  offenen  Inductionskreises,  und  entweder 
der  Schenkel  oder  das  andere  Ende  des  Kreises  ist  nach  dem  Erd- 
boden hin  abgeleitet,  so  findet  Zuckung  statt,  jedesmal  dass  man  in 
der  Nähe  des  Kreises  einen  solchen  Vorgang  erregt,  der,  wenn  der 
Kreis  geschlossen  wäre,  einen  secundären  Strom  in  demselben  zur 
Folge  haben  würde"  (1.  c.  p.  429).  Es  ist  dies  auch  bei  vollkommen- 
ster Isolirung  des  Präparates  der  Fall  und  bei  einem  gewissen  geringen 
Rollenabstande  selbst  dann,  wenn  gar  keine  Ableitung  zur  Erde  (durch 
Berührung  des  Präparates  oder  Verbindung  des  anderen  freien  Poles 
mit  dem  Erdboden)  besteht.  Die  Erregung  bleibt  aus,  wenn  das 
metallische  Ende  des  Inductionskreises  unterhalb  oder  oberhalb  der 
Stelle,  wo  der  Nerv  aufliegt,  ableitend  berührt  wird,  oder  wenn  bei 
freihängendem  Nerven  der  Fuss  des  Präparates  aufliegt  und  die  Mus- 
keln ableitend  berührt  werden.  Unterbindung  oder  Quetschen  des 
Nerven  hemmt  ersterenfalls  die  Erregung  nicht,  was  leicht  begreiflich 
ist,  da  der  Nerv  in  seiner  ganzen  Länge,  also  auch  unterhalb  der  ge- 
quetschten Stelle,  von  der  Elektricität  durchflössen  Avird.  Wie  Pflü- 
ger (2,  p.  51,  121,  410)  fand,  erweisen  sich  ganz  vorwiegend  Oeffnungs- 
schläge  wirksam,  was  nach  Du  Bois-Reymond  auf  der  Verzögerung 
der  Ladung  der  secundären  Spiralenden  infolge  der  Entwicklung  des 
Extrastromes  beruht. 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  631 

Zum  Zustandekommen  unipolarer  Wirkungen  ist  es  durchaus  nicht 
erforderlich,  dass  die  Ableitung  von  dem  einen  Pole  nach  einem  un- 
endlich grossen  Conductor  (wie  der  Erde)  erfolge,  vielmehr  beginnen 
dieselben,  worauf  zuerst  Pflüger  (1.  c.  p.  128  f )  aufmerksam  gemacht 
hat,  schon  dann,  wenn  der  abgeleitete  Pol  mit  einer  relativ  geringen 
Oberfläche  in  Berührung  steht,  und  zwar  um  so  eher,  je  höher  die 
Spannungen  sind,  welche  die  durch  Induction  erzeugte  elektromotorische 
Kraft  hervorruft.  „Mit  der  Grösse  jener  Ableitung  nimmt  dann  die 
unipolare  Wirkung  in  raschem  Maasse  zu,  und  zwar  ist  die  unipolare 
Reizung  bei  beschränkter  ableitender  Oberfläche  an  einem  gegebenen 
Punkte  derselben  um  so  grösser,  je  näher  dieser  Punkt  dem  unipolar 
wirkenden  Metallpole  liegt."  Pflüg  er  legte  nach  möglichst  vollkom- 
mener Isoliruug  aller  Reizvorrichtungen  eine  ganze  Reihe  von  Frosch- 
schenkeln (4 — 6)  derart  auf  eine  Glasplatte,  dass  nur  der  Nerv  des 
ersten  den  einen  Metallpol  berührte,  während  der  des  zweiten  den 
Fuss  des  ersten,  der  des  dritten  den  Fuss  des  zweiten  u.  s.  w.  be- 
rührte. Bei  allmählicher  Näherung  der  Rollen  des  Inductionsapparates 
beginnen  dann  die  Schenkel  der  Reihe  nach  vom  ersten  aus  zu  zucken. 
Es  ergiebt  sich  hieraus,  „dass  in  der  Nähe  des  metallischen  Poles  die 
unipolare  Wirkung  auch  bei  der  scheinbar  sorgfältigsten  Isolation 
stets  sehr  zu  fürchten  bleibt". 

Sehr  wesentlich  w^erden  die  unipolaren  Reizwirkungen  unter  ge- 
wissen Umständen  durch  den  Einfluss  der  I  n  f  1  u  e  n  z  unterstützt  und 
befördert.  Schon  Du  Bois-Reymond  hatte  gelegentlich  bemerkt, 
dass  bei  grosser  Annäherung  eines  Fingei-s  an  ein  unipolar  aufliegen- 
des Nerv-Muskelpräparat  Zuckungen  entstanden,  welche  sonst  bei 
gleicher  Reizstärke  fehlten.  Dies  ist,  wie  F.  W.  Zahn  (60)  fand, 
nicht  nur  der  Fall,  wenn  das  freie  Ende  des  Kreises  durch  Berührung 
mit  der  andern  Hand  abgeleitet  wird,  sondern  auch  selbst  ohne  eine 
solche.  Zahn  modificirte  diesen  Versuch  in  mannigfaltiger  Weise;  er 
legte  das  Präparat  auf  eine  runde  Glasplatte,  deren  Unterfläche  bis 
10  cm  vom  Rande  mit  Stanniol  beklebt  war;  wurde  dann  der  eine  Pol 
mit  dem  Schenkel,  der  andere  mit  der  Belegung  verbunden,  so  trat 
schon  bei  schwachen  Strömen  Tetanus  ein.  Dasselbe  geschah  bei  etwas 
stärkeren  Strömen,  wenn  der  Schenkel  ohne  jede  Verbindung  mit  der 
secundären  Spirale  blieb,  im  Augenblicke,  wo  er  ableitend  berührt 
wurde,  oder  wenn  mit  einer  Hand  der  freie  Metallpol  gefasst,  die 
andere  aber  dem  Präparat  genähert  wurde.  Noch  erfolgreicher  ge- 
stalten sich  die  Versuche ,  wenn  die  Glasplatte  auf  beiden  Seiten  in 
gleicher  Ausdehnung  metallisch  belegt  und  so  zu  einer  Franklin'schen 
Tafel  umgestaltet  wird.  Wird  dann  die  eine  Belegung  mit  dem  einen 
Pol,  die  andere  mit  dem  Nerven  des  Präparates  verbunden,  während 
der  Schenkel  auf  dem  metallfreien  Glasrand  liegt  und  mit  dem  andern, 
freien  Pol  berührt  wird,  so  dass  der  Kreis  nur  durch  die  zwischen  den 
beiden  Stanniolplatten  laefindliche  Glasscheibe  unterbrochen  ist,  so  ge- 
lingt es,  schon  mit  ganz  schwachen  Strömen  Zuckung  und  Tetanus 
hervorzurufen.  Dasselbe  war  der  Fall,  wenn  das  eine  Ende  des  In- 
ductionskreises  mit  der  unteren  Belegung  verbunden  Avird,  Avährend 
das  andere  in  eine  Stanniolplatte  ausläuft,  welche  dem  Schenkel  ge- 
nähert wird.  Bei  übergeschobenen  Rollen  trat  Erregung  auch  dann 
ein,  w^enn  das  eine  Ende  des  Kreises  ganz  frei  und  isolirt  blieb, 
während  eine  Stanniolplatte  dem  Schenkel  hinreichend  genähert  wurde. 
Tiegel  (60)  verband  den  einen  Pol  eines  Inductionsapparates  mit  der 


g32  -^^^  elektrisclie  Erregung  der  Nerven. 

Gasleitung,  während  clei'  andere  in  eine  isolirte  Metallplatte  auslief^ 
welcher  eine  zweite  gleich  beschaffene  Platte  verschiebbar  gerade 
gegenüber  stand.  Mit  dieser  war  eine  mit  Stanniol  belegte  Glasplatte 
in  leitender  Verbindung,  auf  der  das  Präparat  liegt.  Bei  jeder  Be- 
rührung des  letzteren  erfolgt  Erregung,  welche  je  nach  dem  Platten- 
abstand sehr  verschieden  stark  ausfällt  und  bei  geeigneter  Ableitungs- 
art (mit  einer  feinen  Metallspitze)  ausserordentlich  fein  localisirt  werden 
kann.  Auch  hierbei  erwiesen  sich  nur  OefFnungsschläge  wirksam. 
Schiff  und  Fuchs  (60)  erzielten  unipolare  Wirkungen  auch  ohne 
Induction  bei  alleiniger  Anwendung  statischer  Elektricität,  indem 
sie  die  Ladung  der  Enden  einer  offenen  Kette  auf  einen  grossen  Con- 
ductor  oder  die  Belegungen  eines  Condensators  übertrugen  und  sie 
dabei  durch  einen  empfindlichen  Nerven  leiteten.  Sehr  anschaulich 
ist  auch  der  folgende  Versuch  von  Rosenthal  (60).  Einem  auf  einer 
Glasplatte  isolirten  Nerv-Muskel-Präparat,  bei  welchem  Nerv  und  Mus- 
kel in  einer  Flucht  liegen,  wird  plötzlich  ein  geladener  Conductor  ge- 
nähert, den  man  an  seinem  isolirenden  Glasfuss  hält,  so  erfolgt  unter 
Umständen  schon  eine  kleine  Zuckung,  wenn  das  Ende  des  Nerven 
dem  Conductor  zunächst  liegt,  niemals  aber,  wenn  der  Conductor  dem 
Muskelende  genähert  wird.  Wird  aber  letzterenfalls  der  Nerv  ab- 
leitend berührt  oder  auch  nur  mit  einem  isolirten  Leiter  von  beträcht- 
licher Grösse  verbunden,  so  erfolgt  stets  starke  Erregung. 

Die  Theorie  der  unipolaren  Reizwirkungen,  für  welche  im  Vor- 
stehenden einige  besonders  instructive  Beispiele  angeführt  wurden,  ist 
in  allen  wesentlichen  Punkten  bereits  von  Du  Bois-Reymond  ent- 
wickelt worden,  indem  er  zeigte,  dass  dieselben  auf  der  Spannung  der 
Elektricität  an  den  beiden  freien  Enden  einer  Inductionsspirale  beruhen. 
Es  stellt  ein  offener  Liductionskreis  im  Augenblick  der  Schliessung  oder 
Oeffnung  des  primären  Kreises  so  zu  sagen  eine  offene  Säule  dar,  an 
deren  Enden  sich  freie  Elektricität  befindet.  Steht  nun  jeder  Pol  der 
secundären  Spirale  mit  dem  Nerven  eines  Froschschenkels  in  Berüh- 
rung, so  zucken  beide  Präparate,  wenn  von  dem  einen  zur  Erde  ab- 
geleitet wird,  weil  offenbar  beide  Nerven,  nur  in  entgegengesetzter 
Richtung,  von  der  abströmenden  Elektricität  durchflössen  werden. 
Dasselbe  muss  natürlich  auch  der  Fall  sein,  wenn  nur  der  eine  Metall- 
pol von  dem  Nerven  eines  Präparates  berührt  und  entweder  vom 
Schenkel  oder  vom  andern  freien  Pol  abgeleitet  wird.  Stets  fliesst 
die  zur  Ladung  des  Schenkels  nöthige  Elektricität  durch  den  Nerven 
und  erregt  denselben  hierbei.  Es  ist  klar,  dass  die  Intensität  der  Er- 
regung zunächst  von  der  Quantität  der  Elektricität  abhängig  ist,  welche 
durch  den  Nerven  fliesst,  und  daher  mit  der  Grösse  der  Spannung, 
Annäherung  der  Rollen,  Ableitung  des  freien  Poles  zunehmen  wird. 
Aber  auch  durch  Vergrösserung  der  elektrischen  Capacität  des  Schen- 
kels wird  dasselbe  Ziel  erreicht.  Darauf  beruht  der  begünstigende 
Einfluss  der  Verbindung  eines  unipolar  aufliegenden  Präparates  mit 
Leitern  von  grosser  Oberfläche  (dem  menschlichen  Körper  etc.),  sowie 
der  Annäherung  eines  neutralen  oder  besser  noch  eines  entgegengesetzt 
(vom  anderen  Ende  der  Inductionsspirale  her)  geladenen  Körpers 
(I  n  f  1  u  e  n  z). 

Wird,  wie  in  dem  oben  erwähnten  Versuch  von  Tiegel,  der  eine 
Pol  der  secundären  Spirale  zur  Erde  abgeleitet,  so  entsteht  offenbar 
auf  der  mit  dem  anderen  verbundenen  Metallplatte  im  Momente  der 
Induction    eine   gewisse    (positive    oder   negative)   Ladung  (Spannung), 


Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  633 

die  doppelt  so  gross  ist,  als  sie  sein  würde,  wenn  der  andere  Pol  nicht 
abgeleitet  wäre.  Durch  Influenz  entsteht  auf  der  zweiten,  isolirten, 
parallel  zur  ersten  aufgestellten  Metallplatte  eine  je  nach  dem  Abstand 
verschieden  grosse  Spannung  von  entgegengesetztem  Zeichen.  Im 
nächsten  Augenblick  fliesst  dann  die,  sagen  wir,  negative  Elektricität 
der  ladenden  Polplatte  durch  die  secundäre  Spirale  über  den  andern 
Pol  und  die  positive  Elektricität  der  durch  Influenz  geladenen  Platte 
durch  das  Nerv-Muskel-Präparat  nach  der  Erde  ab,  wodurch  eben  die 
Erregung  bewirkt  wird. 

Von  grösster  praktischer  Bedeutung  bei  allen  mit  inducirten 
Strömen  angestellten  elektrischen  Reizversuchen  sind  jene  unipolaren 
Wirkungen,  welche,  wie  ebenfalls  Du  Bois-Reymond  zuerst  fand, 
bei  unvollkommener  Schliessung  des  Kreises  unter  Um- 
ständen hervortreten.  Brückt  man  den  Nerven  eines  Froschschenkels 
über  beide  mit  den  Polen  einer  secundären  Spirale  verbundenen  Elek- 
troden, so  dass  er  den  Inductionskreis  wirklich  schliesst,  und  unter- 
bindet man  innerhalb  der  myopolaren  Strecke,  so  beobachtet  man 
nichtsdestoweniger  Tetanus  des  wohl  isolirten  Schenkels,  wenn  man 
ihn  bei  einem  gewissen  Rollenabstand  ableitend  berührt.  Es  ist  leicht 
ersichtlich,  dass  dies  auch  dann  der  Fall  sein  wird,  wenn  der  Nerv 
oberhalb  der  zerquetschten,  nicht  mehr  erregungsleitenden  Stelle  ab- 
geschnitten und  durch  einen  beliebigen  feuchten  Leiter  ersetzt  wird. 
Hier  soAvohl,  wie  auch  in  allen  früher  erwähnten  Versuchen  bei  ganz 
offenem  Kreise  macht  sich  auch  der  Einfluss  der  Richtung  der  uni- 
polaren Strömung  geltend,  und  zwar  im  Sinne  des  Zuckungsgesetzes : 
Erregung  erfolgt  immer  nur  da,  wo  bei  der  Ladung  positive  Elektri- 
cität aus  dem  Nerven  aus-  oder  negative  in  ihn  eintritt.  Man  sieht 
leicht,  wie  bei  vivisectorischen  Versuchen  der  verschiedensten  Art, 
sowie  auch  bei  Versuchen  mit  dem  Galvanometer  unipolare  Wirkungen 
sehr  störend  werden  und  unter  Umständen  Irrthümer  veranlassen 
können,  wenn  nicht  durch  entsprechende  Vorkehrungen  deren  Zu- 
standekommen verhindert  wird.  Wie  Hering  (61)  zeigte,  kann  bei 
einer  Versuchsanordnung,  wie  sie  zur  Untersuchung  der  negativen 
Schwankung  des  Nervenstromes  dient,  wobei  der  Bussol-  und  Reiz- 
kreis durch  eine  längere  Nervenstrecke  getrennt  sind,  auch  die  voll- 
kommenste Isolirung  beider  Kreise  keinen  Schutz  gegen  das  Abfliessen 
der  Inductionselektricität  durch  die  extrapolare  Strecke  des  Nerven  in 
den  Bussolkreis  gewähren. 

Stets  findet  neben  dem  Ausgleich  durch  die  iuterpolare  Strecke 
zugleich  ein  Abströmen  in  den  Complex  von  Leitern  statt,  welcher 
den  Bussolkreis  bildet  und,  wenn  auch  noch  so  gut  isolirt,  durch  den 
Nerven  mit  der  secundären  Spirale  zusammenhängt.  Dass  übrigens 
die  plötzlichen  Ladungen  und  Entladungen  des  Bussolkreises,  welche 
durch  die  unter  allen  Umständen  extrapolar  abfliessende  Elektricität 
bedingt  sind,  im  Allgemeinen  keine  Ablenkungen  des  Magneten  be- 
wirken, hat  Hering  durch  besondere  Versuche  gezeigt. 

In  wie  hohem  Grade  die  Verbindung  des  Nerven  mit  dem  Bussol- 
kreis das  Zustandekommen  unipolarer  Wirkungen  begünstigt,  zeigt 
der  folgende  Versuch  in  sehr  klarer  Weise:  „Einem  noch  mit  dem 
Unterschenkel  verbundenen  N.  ischiadicus  wurden  die  Reiz-  und  Bussol- 
elektroden in  ganz  derselben  Weise  wie  bei  der  Untersuchung  der 
negativen  Schwankung  angelegt.  (Reizstrecke  =^  5  mm.  Zwischen- 
strecke =  25—30  mm,  Bussolstrecke  =  6—8  mm.)     Der    Stumpf  des 

Biedermauu,  Elektrophysiologie.  41 


ß34  D^^  elektrische  Erregung  der  Nerven. 

Oberschenkelknochens  wurde  dnrch  eine  mit  entsprechender  Bohrung 
versehene  Paraftinkerze  gehalten,  so  dass  der  Schenkel  selbst  möglichst 
gut  isolirt  war.  Nach  wiederholter  Durchquetschung  der  Zwischen- 
strecke wurde  gereizt  und  die  secundäre  Rolle  allmählich  angeschoben. 
Bei  20 — 25  cm  Rollenabstand  begann  die  unipolare  Wirkung,  und  ge- 
rieth  der  Muskel  in  Tetanus,  und  zwar  auch  dann,  wenn  nur  eine 
Bussolelektrode  den  Nerven  berührte.  Wurden  jetzt  beide  Bussol- 
elektroden vom  Nerven  abgerückt,  so  blieb  der  Muskel  in  Ruhe" 
(Hering).  Der  Unterschied  gegenüber  gewöhnlicher  unipolarer 
Reizung  liegt  hier  darin,  dass  nicht  wie  dort  Elektricität  auf  den 
Muskel  überfliesst,  sondern  weil  sich  solche  durch  die  Bussolelektroden 
in  den  Bussolkreis  ergiesst  und  hierbei  den  Nerven  theils  unterhalb 
der  Quetschungsstelle,  theils  an  Stelle  der  anliegenden  Bussolelektroden 
(insbesondere  der  den  Längsschnitt  berührenden)  reizt. 

Man  sieht  leicht,  wie  ausserordentlich  gefährlich  diese  Art  uni- 
polarer Reizung  bei  allen  Versuchen  über  Actionsströme  und  negative 
Schwankung  bei  Nerven  werden  kann,  und  in  wie  enge  Grenzen  jene 
Stromstärken  eingeschlossen  sind,  welche  man  bei  derartigen  Unter- 
suchungen verwenden  darf. 


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6.  P.  Grützner,  P.  A.     17.  Bd.     p.  238. 

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8.  W.  Biedermann.  P.  A.     54.  Bd.     1893.     p.  241. 

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Die  elektrische  Erregung  der  Nerven.  635 

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55 


60 


J.    Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


I.    Der  Strom  des  „ruhenden"  Nerren. 

Im  Jahre  1843  machte  Du  Bois-Reymond  zuerst  Mittheilung 
über  galvanische  Wirkungen  von  Seiten  durchschnittener  Nerven, 
nachdem  bereits  zahlreiche  Forscher,  vor  Allem  auch  Matteucci, 
sich  seit  lange  vergeblich  bemüht  hatten,  dieses  Ziel  zu  erreichen. 
Man  findet  eine  vortreffliche  und  umfassende  geschichtliche  Darstel- 
lung aller  dieser  Bestrebungen  im  zweiten  Bande  des  grossen  Haupt- 
werkes von  Du  Bois-Reymond.  Mit  unseren  heutigen  Mitteln  der 
Untersuchung  ist  es  ausserordentlich  leicht,  an  jedem  beliebigen  aus 
der  Continuität  eines  Kalt-  oder  Warmblüternerven  herausgeschnittenen 
Stückchen  das  „Gesetz  des  Nervenstromes"  zu  erkennen,  welches,  ab- 
gesehen von  Unterschieden  der  Stärke  der  in  Betracht  kommenden 
Wirkungen,  in  jeder  Beziehung  mit  dem  Gesetze  des  Muskelstromes 
übereinstimmt.  Hier  wie  dort  verhält  sich  jeder  Punkt  der  natürlichen 
unversehrten  Oberfläche  (des  „natürlichen  Längsschnittes")  positiv  zu 
jedem  Punkt  eines  „künstlichen  Querschnittes";  hier  Avie  dort  ist  die 
Spannungsdifferenz  am  grössten,  Avenn  der  „Aequator"  mit  dem  Quer- 
schnitt durch  den  ableitenden  Bogen  verbunden  wird,  und  lassen  sich 
schwache  und  starke  Anordnungen  unterscheiden,  indem  die  Punkte 
des  Längsschnittes  um  so  weniger  positiv  gegenüber  dem  Querschnitte 
erscheinen,  je  näher  sie  demselben  liegen;  demgemäss  verhält  sich 
auch  jeder  dem  Aequator  nähere  Punkt  positiv  gegen  jeden  entfernteren 
(schwache  Längschnittsströme).  Wie  beim  Muskel,  darf  man  auch 
annehmen,  dass  jede  einzelne  Nervenfaser  in  derselben  Weise  elektro- 
motorisch wirkt,  wie  man  es  am  ganzen  Nerven  stamm  zu  beobachten 
Gelegenheit  hat. 

Die  absolute  elektromotorische  Kraft  des  Nervenstromes  bestimmte 
Du  Bois-Reymond  beim  Frosch  bis  zu  0,022  Dan.,  beim  Kanin- 
chen 0,026  Dan.  Während,  wie  die  folgende  von  L.  Frede ricq  (1) 
mitgetheilte  Tabelle  zeigt,  die  elektromotorische  Kraft  der  mark- 
haltigen  Nerven  des  Frosches,  sowie  verschiedener  Warmblüter  nicht 
erheblich  verschieden  ist,  zeichnen  sich,  wie  zuerst  Kühne  und 
Stein  er  (2)  fanden,  die  aus  marklosen  Fasern  bestehenden  Nerven 
der  Wirbelthiere  und  Wirbellosen  durch  ein  ganz  auffallendes  Ueber- 
wiegen  der  elektromotorischen  Kraft  aus. 


(338  Diß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

Katze 0,018  Dan. 

Hund .     0,018—0,021  Dan. 

Kaninchen 0,020—0,028  Dan. 

Ente 0,024  Dan. 

Hummer 0,048  Dan. 

Am  marklosen  N.  olfactorius  des  Hechtes,  dessen  Dicke 
etwa  der  eines  Froschischiadicus  entspricht,  beträgt  die  elektromoto- 
rische Kraft  nach  Kühne  und  Steiner  0,0215—0,0105  Dan.,  wäh- 
rend sie  nach  denselben  Autoren  am  Froschischiadicus  nur  0,002  bis 
0,006  Dan.  entspricht.  Unter  allen  Umständen  ergiebt  sich  auch  aus 
diesen  Zahlen,  dass  die  elektromotorische  Kraft  des  marklosen  Riech- 
nerven vom  Hechte  beträchtlich  jene  des  markhaltigen  Froschnerven 
übersteigt.  Der  Unterschied  beträgt  mehr  als  die  Hälfte.  Erst  der 
markhaltige  N.  opticus  vom  Hechte,  dessen  Querschnitt  um  viele 
Male  grösser  ist  als  der  des  Olfactorius,  erreicht  den  niedrigsten 
Werth  (0,0100  Dan.),  der  an  dem  letzteren  beobachtet  wurde.  Fragt 
man  nach  der  Ursache  dieses  auffallenden  Unterschiedes  zwischen 
marklosen  und  markhaltigen  Nerven,  so  kann  man  mit  Kühne  an- 
nehmen, „dass  entweder  die  specifische  elektromotorische  Wirksamkeit 
der  marklosen  Nervenfaser  eine  grössere  ist,  als  die  der  markhaltigen, 
oder  man  kann  vermuthen,  dass  das  Nervenmark  der  markhaltigen 
Faser  selbst  elektromotorisch  unwirksam  ist  und  diese  Kraft  nur 
dem  Axencylinder  eigen  wäre,  so  dass  der  gleiche  anatomische  Quer- 
schnitt eines  marklosen  und  markhaltigen  Nerven  durchaus  nicht  ihren 
gewissermaassen  elektromotorischen  Querschnitten  entsprechen  könnte, 
und  es  würde  für  die  markhaltigen  Nerven  ein  gleicher  elektromoto- 
rischer Querschnitt,  wie  ihn  der  marklose  Nerv  besitzt,  erst  dann  er- 
reicht sein ,  wenn  der  anatomische  Querschnitt  des  ersteren  den  des 
letzteren  um  so  viel  übertrifft,  als  eben  dort  das  Mark  im  Querschnitt 
einnimmt"   (Kühne  und  Steiner  1.  c.  p.  160). 

Zu  Gunsten  der  Folgerung,  dass  die  elektromotorische 
Wirksamkeit  der  markhaltigen  Nervenfasern  nur  dem 
Axencylinder  ohne  Betheiligung  des  Nervenmarkes  zu- 
kommt, spricht  auch  das  Verhalten  der  sehr  dünnen,  marklosen 
Verbindungsnerven  von  Anodonta  (3),  welche  bei  günstiger  Ab- 
leitung auffallend  starke  Ströme  liefern,  sowie  der  Mantelnerven  von 
Eledone,  deren  elektromotorische  Kraft  nach  S.  Fuchs  (4)  bis  zu 
0,0259  Dan.  beträgt,  obschon  die  Dicke  bisweilen  nicht  dem  Hüft- 
nerven der  grossen  siebenbürgischen  Frösche  gleichkommt.  Auffallend 
gross  ist  nach  den  Beobachtungen  von  F.  Gotch  und  V.  Horsley  (5) 
die  Spannungsdifferenz  zwischen  Längsschnitt  und  künstlichem  Quer- 
schnitt bei  den  Spinalwurzeln  von  Säugethieren.  Während  die  ge- 
nannten Autoren  die  elektromotorische  Kraft  des  Demarcationsstromes 
gemischter  Säugethiernerven  bei  der  Katze  zu  0,01 ,  beim  Affen  nur 
0,005  Dan.  fanden,  beträgt  dieselbe  bei  den  hinteren  Spinalwurzeln 
des  ersteren  Thieres  0,025  Dan.,  für  das  Rückenmark  aber  bisweilen 
sogar  0,046  Dan.  bei  der  Katze,  0,029  Dan.  beim  Affen.  Dass  dies 
nicht  allein  auf  dem  grösseren  Querschnitt  beruht,  ergiebt  sich  aus 
der  Vergleichung  des  Rückenmarkes  junger,  mit  dicken  Nervenstämmen 
ausgCAvachsener  Thiere. 

Bei  allen  Versuchen  über  den  sogenannten  ruhenden  Nervenstrom 
(Demarcationsstrom  im  Sinne  Hermann 's)  ist  es  wichtig  und  wesent- 
lich, dass  die  Querschnittsableitung  möglichst  rein  sei.     Dies  ist  natür- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  639 

lieh  bei  sehr  dünnen  Nerven  durch  einfaches  Anlegen  der  Querschnitts- 
fläche viel  schwerer  zu  erreichen  als  bei  dicken.  Ana  besten  ist  es 
daher  immer,  wenn  man  das  Querschnittsende  in  einer  gewissen 
Strecke  abtödtet  und  vom  todten  Ende  ableitet.  Unter  Umständen, 
wo  dem  Demarcationsstrom  des  Froschischiadicus  höchstens  ein  Aus- 
schlag an  der  Bussole  von  etwa  70  Scalentheilen  entspricht,  beob- 
achtete ich  an  den  beiden  zusammengelegten  Muschelnerven,  deren 
Dicke  noch  immer  beträchtlich  hinter  jener  eines  einzelnen  Froschnerven 
zurückbleibt,  Ablenkungen  von  60 — 200  Scalentheilen.  In  der  Nähe 
der  Demarcationsfläche  lässt  sich  auch  an  marklosen  Nerven 
eine  Zone  rasch  abnehmender  Negativität  nachweisen, 
welche  hier  ebenfalls  „s  chwache  Längsschnittsströme" 
bedingt,  wofür  sich  in  meiner  citirten  Arbeit,  sowie  in  der  Abhand- 
lung von  Kühne  und  Steiner  Zahlenbelege  finden. 

Sehr  bemerkenswerth  ist  das  Verhalten  functioneU  ver- 
schiedener Nerven  bei  Ableitung  von  zwei  Quer- 
schnitten, Avobei  der  Strom  gleich  Null  sein  müsste,  wenn  die 
Negativität  beiderseits  gleich  gross  wäre;  dieses  ist  nun  aber,  wie 
schon  Du  B  0 i s - R e y m o n d  (6)  bemerkte,  keineswegs  der  Fall,  viel- 
mehr zeigten  sich  Unterschiede  in  dieser  Richtung  sowohl  beim  Ischia- 
dicus  des  Frosches,  wie  auch  bei  Warmblüternerven  (L.  Frede ricq  1, 
p.  68,  Anm.).  Später  fand  dann  M.  Mendelssohn  (6),  dass  an  rein 
centripetal  oder  rein  centrifugal  leitenden  Nerven  gesetzmässige,  und 
wie  es  scheint,  constante  Unterschiede  der  Negativität  zweier  beliebiger 
Querschnitte  bestehen.  An  den  elektrischen  Nerven  hatte  schon  D  u 
Bois-Reymond  durchweg  grössere  Negativität  des  peripheren  Quer- 
schnittes gegen  den  „Aeqviator"  gefunden,  so  dass  der  Strom  von 
Querschnitt  zu  Querschnitt,  der  sogenannte  „  Axial  ström ",  stets 
eine  aufsteigende  Richtung  hatte;  dasselbe  ist  nun  nach  Mendels- 
sohn auch  bei  den  (rein  centrifugalen)  Muskelästen  des  Ischiadicus 
vom  Kaninchen  der  Fall,  während  ebenso  regelmässig  die  Richtung 
des  Axialstromes  in  den  hinteren  Wurzeln  beim  Frosch  und  Kaninchen, 
wie  auch  im  Opticus  und  Olfactorius  der  Fische  eine  absteigende  ist. 
In  dem  gemischten  Ischiadicusstamm  Avürde  dagegen  die  Richtung  eine 
wechselnde  sein.  Dürfte  man  aus  diesen  Beobachtungen  wirklich  ein 
Gesetz  ableiten,  so  würde  dasselbe  lauten  müssen:  die  Richtung  des 
axialen  Nervenstromes  ist  der  physiologischen  Wirkungsrichtung  der 
Nervenfasern  entgegengesetzt.  Möglicherweise  lassen  sich  diese  Er- 
fahrungen in  einen  Zusammenhang  bringen  mit  den  schon  früher  er- 
wähnten Beobachtungen  über  Verschiedenheiten  der  Erregbarkeit  und 
Empfindlichkeit  gegen  Schädlichkeiten  an  verschiedenen  Stellen  gänz- 
lich unversehrter  Nerven.  Mendelssohn  glaubt  sich  auch  über- 
zeugt zu  haben,  dass  die  elektromotorische  Kraft  des  Axialstromes 
um  so  beträchtlicher  ist,  je  grösser  die  Zahl  der  Erregungsimpulse  ist, 
welche  den  Nerven  in  der  einen  oder  andern  Richtung  durchsetzen, 
je   mehr   also   der  Nerv  im  Organismus  in  Anspruch  genommen  wird. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  aus  der  Thatsache  einer  streng  ge- 
setzmässigen  elektromotorischen  Wirkung  durchschnittener  oder  irgend- 
wie verletzter  Nerven  ebensowenig  ein  Schluss  auf  etwaige  Präexistenz 
elektrischer  Spannungen  im  Innern  desselben  geschlossen  werden  kann, 
wie  dies  beim  Muskel  der  Fall  ist.  Vielmehr  gilt  hier  ganz  ebenso 
wie  dort  der  Satz ,  dass  der  wirklich  unversehrte  Nerv 
elektromotorisch    unwirksam    ist.      Es    liegt    auf   der    Hand, 


(340  Diö  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

dass  mit  Rücksicht  auf  die  Endigungsweise  der  Nervenfasern  in  peri- 
pheren Organen  oder  im  Centrum,  von  einer  Ableitung  vom  „natür- 
lichen Querschnitt"  (im  Sinne  dieses  Ausdruckes  beim  Muskel)  nicht 
wohl  gesprochen  werden  kann,  zumal  nicht  nur  nachgewiesenermaassen 
die  motorischen  Endorgane  (Muskeln),  sondern  auch  andere  (Drüsen- 
zellen) der  Sitz  elektromotorischer  Kräfte  sind  oder  doch  sein  können. 
Dies  gilt  unter  Anderem  auch  von  jenem  zur  Entscheidung  der 
schAvebenden  Frage,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  scheint,  sehr  geeig- 
neten Organ,  an  welchem  bereits  Du  Bois-Reymond  und  nachher 
viele  andere  Forscher  Versuche  anstellten,  nämlich  vom  Auge,  dessen 
elektromotorische  Wirkungen  an  anderer  Stelle  im  Zusammenhang  zu 
besprechen  sein  Averden. 

Wie  die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Muskeln,  so  sind  auch 
jene  der  Nerven  als  eine  Lebenseigenschaft  der  betreffenden  Gewebs- 
elemente  zu  bezeichnen.  Die  Nerven  der  Leiche  verlieren  allmählich, 
wiewohl  bei  Wirbelthieren  im  Allgemeinen  nur  sehr  langsam,  die 
Fähigkeit,  SpannungsdifFerenzen  zwischen  einer  frischen  Demarcations- 
fläche  und  irgend  einem  Punkte  der  unversehrten  Oberfläche  zu  ent- 
wickeln. Dass  dies  bei  Warmblütern  früher  der  Fall  ist  als  bei  Kalt- 
blütern, dass  ferner  im  Körper  belassene  Nervenstämme  ihre  normalen 
Eigenschaften  länger  bewahren  als  ausgeschnittene,  ist  leicht  verständ- 
lich; ebenso  auch  das  raschere  Unwirksamwerden  centraler  gelegener 
Strecken,  die  sich  ja  überhaupt  als  minder  resistenzfähig  erwiesen 
haben.  Mit  steigender  Temperatur  sah  Steiner  (7)  innerhalb  ge- 
wisser Grenzen  die  Kraft  des  Nervenstromes  zunehmen  and  etwa 
zwischen  14  und  25"  ein  Maximum  erreichen.  Bei  Siedehitze  fand 
Du  Bois-Reymond  verkehrten  Strom,  ebenso  Harless  in  einem 
gewissen  Stadium  der  Vertrocknung.  Im  Verlaufe  des  Degenerations- 
processes,  welchem  vom  Centrum  getrennte  Nerven  nach  und  nach 
verfallen,  scheint  sich  die  Fähigkeit  zu  elektromotorischen  Wirkungen 
unter  Umständen  sehr  lange  zu  erhalten,  was  begreiflich  wird,  Avenn 
man  berücksichtigt,  dass  es  bei  markhaltigen  Fasern  zunächst  die 
Markscheide  ist,  welche  dem  Zerfall  entgegengeht.  Schiff  und 
Valentin  (8)  fanden,  dass  Nerven  von  Säugethieren  und  Vigeln, 
welche  am  lebenden  Thier  durchschnitten  worden  waren,  noch  Wochen 
und  Monate  lang  nachher  einen  normalen  Strom  lieferten,  obwohl  sie 
bereits  8  —  14  Tage  nach  der  Durchschneidung  ihre  Erregbarkeit  ein- 
gebüsst  hatten.  Schi  ff  selbst  giebt  an,  dass  trotz  weit  vorgeschrittenem 
Zerfall  der  Markscheide  die  Axency linder  noch  vorhanden 
gewesen  sind;  ein  weiterer  Beweis  für  die  Bedeutung  gerade  dieser 
Theile  der  Fasern. 

Von  grossem  Interesse  sind  die  zeitlichen  Veränderungen,  welche 
der  einmal  hervorgerufene  Demarcationsstrom  markhaltiger  Nerven  in 
der  Folge  erleidet,  indem  sich  hierbei  ein  ganz  ähnliches  Verhalten 
herausstellt  Avie  beim  Herzmuskel  und  glattmuskeligen  Theilen.  Hier 
hatte  Engelmann  (9)  gefunden,  dass  die  manifeste  Kraft  des  Quer- 
schnittes ausserordentlich  rasch  sinkt,  um  sofort  Avieder  in  voller 
Stärke  hervorzutreten,  Avenn  ein  neuer  Querschnitt  angelegt  Avird. 
Die  Erklärung  ergab  sich  in  dem  Umstände,  dass  die  einzelnen  Zell- 
individuen ungeachtet  ihrer  physiologischen  Zusammengehörigkeit  für 
sich  absterben,  dass  der  Absterbeprocess  auf  die  unmittelbar  ver- 
letzten Zellen  beschränkt  bleibt.  Aehnliche  Verhältnisse  scheinen  bei 
markhaltigen  Nervenfasern  gegeben  zu  sein,  obgleich  dieselben  nicht  als 


Die  elektromotorischen  Wirkiing-en  der  Nerven.  641 

aus  einzelnen  verschmolzenen  Zellindividuen  bestehend  betrachtet  werden 
können.  Schon  nach  1 — 2  Stunden  fand  Engelmann  die  Kraft  des 
künstlichen  Querschnittes  aut  60 — 25  "/o  des  Anfangswerthes,  in  20  bis 
24  Stunden  aber  auf  mindestens  35V 2 ''/o,  meist  aber  auf  Null  ge- 
sunken; oft  trat  auch,  wie  schon  früher  beobachtet  worden  war,  ein 
schwacher  verkehrter  Strom  auf.  Durch  Anfrischen  des  Quer- 
schnittes lässt  sich  immer  sofort  die  volle  ui'sprüngliche  Stromstärke 
wiederherstellen. 

Bei  Wiederholung  dieser  E  n  g  e  1  m  a  n  n '  s  c  h  e  n  Versuche  fand 
H.  Head  (10)  die  Abnahme  des  Demarcationsstromes  namentlich  an 
den  Nerven  von  Sonimerfröschen  ausserordentlich  auffallend,  so  dass 
das  Wachsen  der  Kraft  infolge  des  Anlegens  eines  neuen  Quer- 
schnittes hier  besonders  deutlich  bemerkbar  wird.  Schon  nach  14  Mi- 
nuten sah  Head  den  aussergewöhnlich  starken  Ruhestrom  um  ^5 
seines  ursprünglichen  Werthes  sinken.  28  Minuten  nach  Beginn  des 
Versuches  wird  ein  neuer  Querschnitt  gemacht,  wonach  der  Nerven- 
strom unmittelbar  in  seiner  früheren  Kraft  wiedererscheint.  In  der 
Regel  machte  sich  dann  sogar  eine  beträchtliche  Steigerung  der  Kraft 
über  die  ursprüngliche  Grösse  bemerkbar.  In  einem  speciellen  Falle 
ergab  der  Ruhestrom  eines  Froschischiadicus  eine  Ablenkung  von 
155  Scalentheilen,  20  Minuten  später  nur  noch  32  Scalentheile.  Nach 
Anlegen  eines  neuen  Querschnittes  stieg  der  Strom  sofort  auf  120 
Scalentheile,  um  nach  abermaligem  raschen  Sinken  bei  Anlegen  eines 
neuen  (vierten)  Querschnittes  (33  Minuten  nach  Beginn  des  Versuches) 
einen  Ausschlag  von  232  (!)  Scalentheilen  zu  verursachen.  Die  Er- 
klärung für  dieses  auffallende  Verhalten  würde  nach  Engel  mann 
in  dem  Umstände  zu  suchen  sein,  dass  der  Absterbeprocess  der  ver- 
letzten Nervenfasern  bei  dem  nächsten  Ranvier'schen  Schnürringe 
Halt  macht,  doch  lässt  sich  dieselbe  Thatsache  auch  am 
N.  o])ticus  (der  Fische,  Kühne  9),  dessen  Fasern 
keine  Schnürringe  besitzen  sollen,  sowie  an  marklosen 
Nerven  (Biedermann  3 ) ,  wenn  auch  nicht  in  so  ausge- 
prägter Weise,  c  0  n  s  t  a  t  i  r  e  n ,  so  dass  wohl  kaum  genügender 
Grund  vorliegt,  an  bestimmte  anatomische  Grenzlinien  in  der  Con- 
tinuität  der  Axencjlinder  zu  denken,  an  welchen  das  Fortschreiten  des 
Absterbeprocesses  aufgehalten  würde.  Falls  es  allgemeine  Geltung 
haben  sollte,  dass  beim  Herzmuskel  und  bei  glattmuskeligen  Organen 
die  einzelnen  Zellindividuen  durch  Plasmabrücken  mit  einander  in 
directem  Zusammenhang  stehen,  so  würde  man  wohl  auch  hier  die 
Wirkung  des  Anfrischens  lediglich  darauf  beziehen  müssen,  dass  der 
Absterbeprocess  in  einiger  Entfernung  von  der  Schnittfläche  Halt 
macht,  ohne  dass  vorher  gegebene  anatomische  Grenzen  ihn  be- 
schränken. 

Wie  der  Muskel  durch  seinen  eigenen  Demarcationsstrom  erregt 
werden  kann,  so  ist  dies  auch  beim  Nerven  möglich.  Hierher  gehörige 
Thatsachen  sind  schon  seit  Galvani  bekannt  und  in  neuerer  Zeit 
besonders  von  Kühne  und  Hering  (11)  untersucht  worden. 
Galvani  lagerte  den  Nerven  eines  stromprüfenden  Schenkels  in  einem 
offenen  Bogen  und  liess  den  Nerven  eines  andern,  von  dem  ersten  völlig 
isolirten  Schenkels  derart  auf  den  Bogen  fallen,  dass  der  Querschnitt 
des  ersten  Nerv  einen  der  beiden  Berührungspunkte  bildete.  In 
günstigen  Fällen  zuckten  dann  beide  Schenkel.  Du  Bois-Reymond 
legte   das  Hirnende   des   mit   dem  Unterschenkel  zusammenhängenden 


642 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


N.  ischiadicus  mit  Querschnitt  und  Längsschnitt  auf  die  Bäusche 
seiner  Zinktrogelektroden  und  schloss  und  öffnete  den  Nerven  ström 
mittels  eines  Quecksilberschlüssels.  „Beim  Schliessen  und  auch  beim 
Oeffnen  zuckte  der  Schenkel,  in  einigen  Fällen  auch  nur  beim  Oeffnen." 
In  der  Folge  gab  Du  Bois-Reymond  diesem  Versuche  noch  eine 
einfachere  Form,  indem  er  auf  eine  isolirende  Unterlage  zwei  lange, 
mit  Kochsalzlösung  getränkte  Fliesspapierbäusche  nahe  neben  einander 
legte  und  den  Nerven  des  stromprüfenden  Schenkels  mit  Quer-  und 
Längsschnitt  darüber  brückte.  Durch  rasches  Auflegen  eines  dritten 
Bausches  konnte  der  Kreis  geschlossen  werden,  wobei  wieder  eine 
Zuckung  erfolgte  (Fig.  201).  Da  es  hierbei  wesendich  auf  genügende 
Raschheit  der  Schliessung  und  Oeffnung  ankommt,  so  kann  man  ent- 
weder nach  Hering  (1.  c.)  die  beiden  Bäusche,  auf  Avelchen  der 
Nerv  liegt,  zur  Hälfte  über  den  Rand  einer  Glasplatte  frei  herab- 
hängen lassen  und  ein  mit  Kochsalzlösung  gefülltes  Gefäss  von  unten 
her  rasch  bis  zur  Berührung  nähern  oder  entfernen,  oder  man  bedient 

sich  wie  Kühne  (1.  c.) 
zweier  Blöcke  aus  Koch- 
salzthon ,  welche  sich 
leicht  in  jede  beliebige 
Form  bringen  lassen. 
Die  Zuckungen,  welche 
man  auf  diese  Weise 
erhält,  sind,  wie  auch 
Kühne  hervorhebt ,  im 
günstigen  Falle  sehr  ener- 
gische. Bei  emptind- 
lichen  Präparaten  erhielt 
Hering  noch  kräftige 
Schliessungs-  und  Oeff- 
nungszuckungen ,  wenn 
die  zwischen  den  Thon- 
blöcken  liegende  Nervenstrecke  bis  auf  1  cm  vergrössert  Avurde. 
Dies  berechtigte  auch  zu  der  Erwartung,  dass  es  gelingen  würde, 
einen  Nerven  durch  seinen  eigenen  Strom  ebenso  ^vie  durch  Unter- 
brechungen eines  Kettenstromes  zu  tetanisiren.  Kühne  bediente  sich 
hierzu  eines  vibrirenden  Quecksilberschlüssels;  Hering  construirte 
dagegen  einen  besonderen  kleinen  Apparat,  welcher  es  ermöglichte, 
einen  „Tetanus  ohne  Metalle"  zu  erzielen.  Dabei  wurden  „die 
raschen  Hebungen  und  Senkungen  des  (oben  erwähnten)  Schliessungs- 
bausches dadurch  herbeigeführt,  dass  die  Zähne  eines  rotirenden  Zahn- 
rades den  einarmigen  Hebel,  an  dessen  freiem  Ende  der  Schliessungs- 
bausch befestigt  ist,  heben  und  eine  am  Hebel  befestigte  Feder  ihn 
nach  jeder  Hebung  wieder  herabzieht".  „Das  einfachste  Mittel,  eine 
Erregung  des  Nerv  durch  seinen  Strom  herbeizuführen,  besteht,  wie 
Hering  (1.  c.  p.  241)  bemerkt,  darin,  dass  man  sein  Endstück  auf 
einen  andern  stromlosen  feuchten  Leiter  fallen  lässt."  Metalle 
(Platin,  amalgamirtes  Zink)  sind  hierzu  weniger  geeignet,  da  sich 
ausserordentlich  rasch  Polarisationsströme  störend  einmischen.  „Wäh- 
rend das  Fallenlassen  des  Nervenendes  auf  einen  Tropfen  Lymphe,  Blut- 
serum oder  schwache  Kochsalzlösung  meist  nur  einmal  von  Erfolg  ist, 
weil  die  beim  Wiederaufheben  am  Nerven  haften  bleibende  Flüssigkeit 
dem  Strome  eine   dauernde,  relativ  gute  Nebenschliessung  giebt,   lässt 


Fig.  201.     Reizung    des    Nerven    durch    den    eigenen 
Strom. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  643 

sich  der  Versuch  öfter  wiederholen,  wenn  man  den  Nerven  auf  einen 
geronnenen  Blutstropfen  oder  auf  einen  Thonblock  fallen  lässt,  der 
mit  Kochsalzlösung  von  0,6  "/o  hergestellt  ist."  Dass  auch  ein  strom- 
loser Muskel  in  diesem  Sinne  eine  geeignete  Unterlage  abgiebt,  ist 
nach  dem  Gesagten  leicht  verständlich.  „Lässt  man  also  in  üblicher 
Weise  den  Schenkelnerven,  der  noch  mit  dem  Unterschenkel  in  Ver- 
bindung steht,  auf  den  Wadenmuskel  fallen,  so  ist  eine  erfolgende 
Zuckung  kein  genügender  Beweis  dafür,  dass  der  Nerv  durch  einen 
Muskelstrom  erregt  wurde ,  wenn  dies  auch  meistens  der  Fall  sein 
wird."  Schon  Czermak  fand,  dass  Froschschenkel  von  höchster 
Erregbarkeit  zuckten,  wenn  ihr  Nerv  auf  Theile  des  Darmes  von 
Kaninchen  oder  auf  die  Nieren  oder  die  Leber  auffielen,  Avoraus  natür- 
lich ebensowenig  auf  präexistente  Spannungsdifferenzen  dieser  Theile 
zu  schliessen  ist,  wie  aus  der  Beobachtung  von  Donders,  dass 
Froschschenkel  unter  Umständen  zucken,  wenn  das  Schnittende  des 
Nerven  auf  den  Herzbeutel  während  der  Herzpause  rasch  auffällt  (vgl. 
Kühne  1.  c.  p.  85). 

Oft  genügt  es,  wie  bei  dem  Muskel,  nur  eben  den  Querschnitt 
des  Nerven  mit  einem  Tröpfchen  leitender  Flüssigkeit  in  Berührung 
zu  bringen,  um  eine  Zuckung  auszulösen. 

Wie  Kühne  für  den  Muskel,  so  bediente  sich  Eckhardt  (12) 
dieser  letzteren  Methode  zur  Untersuchung  der  chemischen  Reizung 
der  Nerven;  es  handelt  sich  daher  hier  wie  dort  darum,  die  durch 
Nebenschliessung  des  Demarcationsstromes  bedingten  elektrischen  Reiz- 
erfolge von  den  chemischen  zu  unterscheiden,  eine  Aufgabe,  die 
in  vielen  Fällen  grosse  Schwierigkeiten  darbietet  oder  ganz  unlösbar 
scheint.  Kann  es  kaum  zweifelhaft  sein,  dass  die  Zuckung,  welche 
man,  wie  Hering  fand,  im  Moment  der  Berührung  eines  frisch 
angelegten  Nervenquerschnittes  mit  einem  Tröpfchen  0,6  "  o  Kochsalz- 
lösung oder  der  nach  Eckhardt  ganz  unwirksamen  concentrirten 
Lösungen  von  Zink-  und  Kupfervitriol  beobachtet,  wesentlich  elek- 
trischen Ursprungs  ist,  so  lässt  sich  dies  schon  nicht  mit  gleicher 
Sicherheit  bei  Anwendung  der  ganz  besonders  wirksamen  Lösungen 
fixer  Alkalien  behaupten,  wobei  allerdings  in  Betracht  kommt,  dass 
die  Stärke  der  Zuckung  hier  vielleicht  lediglich  dem  Umstände  zu- 
zuschreiben ist,  „dass  sie  den  Nerven  leichter  und  rascher  benetzen  als 
andere  Flüssigkeiten  und  daher  eine  schnellere  elektrische  Schwankung 
im  Nerv  erzeugen".  Für  alle  Versuche  über  Erregung  der  Nerven 
und  Muskeln  durch  den  eigenen  Strom  ist,  wie  schon  erwähnt,  grosse 
Erregbarkeit  der  Präparate  wesentliche  Vorbedingung;  dieselben 
lassen  sich  daher  im  Allgemeinen  auch  nur  während  der  kalten  Jahres- 
zeit mit  Aussicht  auf  Erfolg  anstellen.  Wenn  man  dann  mit  Nerven 
von  Fröschen  experimentirt,  die  im  kalten  Räume  (etwa  bei  0^  C.) 
aufbewahrt  wurden,  so  ist  ein  Umstand  bemerkenswerth,  auf  welchen 
Hering  wieder  die  Aufmerksamkeit  lenkte,  nämlich  die  ausserordent- 
liche Neigung  zu  tetanischer  Erregung,  die  unter  den  er- 
wähnten Umständen,  besonders  bei  R.  esculenta,  weniger  bei  R. 
temporaria,  hervortritt.  In  der  Regel  genügt  schon  die  einfache 
Durchschneidung  oder  Umschnürung  des  N.  ischiadicus,  um  einen 
langdauernden  ruhigen  Starrkrampf  des  betreffenden  Beines  herbei- 
zuführen ,  welcher  durchschnittlich  um  so  stärker  ist,  je 
höher    oben    der    Nerv    d  u  r  c  h  t  r  e  n  n  t    wird    und    nach    der 


()44  I^iö  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

Beruhigung  d  u  r  c h  A n  1  e g  e n  e  i  n  e  s  f  r  i  s  c  li  e  n  Q  ue  r  s  c  h  n  i  1 1  e  s 
neuerdings  hervorzurufen  ist. 

Da  nun  derartige  höchst  empfindliche  Präparate  selbst  bei  An- 
wendung der  schwächsten  Kettenströme  in  einen  während  der  ganzen 
Dauer  der  Durchströmung  anhaltenden  „Schliessungstetanus"  ver- 
fallen, so  erscheint  es  begreifh'ch,  dass  unter  diesen  Umständen  auch 
die  einfache  Nebenschliessung  des  Demarcationsstromes  genügen  kann, 
um  eine  tetanische  Erregung  zu  erzeugen,  wie  dies  Hering  vielfach 
beobachtete.  So  gelang  es  nicht  nur  durch  Umbiegen  eines  frisch 
angelegten  Querschnittes  des  N.  ischiadicus  bis  zur  Berührung 
mit  einem  möglichst  nahe  gelegenen  Punkte  der  Längsoberfläche, 
sondern  auch  durch  Fallenlassen  des  Schnittendes  auf  das  eines  zweiten 
Nerven  kräftige  Schliessungszuckungen  mit  oder  ohne  nachfolgender 
klonischer  Unruhe  auszulösen.  Im  letzteren  Falle  trat  dies  jedoch 
nur  dann  ein,  wenn  beide  Querschnitte  nicht  in  einer  Flucht  zu  lieg'en 
kamen,  sondern  der  eine  Nerv  in  die  Verlängerung  des  andern  fiel 
und  beide  Schnittenden  aufeinander  zu  liegen  kamen,  wobei  sich  die 
beiden  Demarcationsströme  gegenseitig  in  ihrer  Wirkung  unterstützen, 
indem  sie  den  von  beiden  Schnittenden  gebildeten  Kreis  in  gleicher 
Richtung  durchfliessen.  (Beide  Versuche  hatte  Hering  bereits  früher 
auch  mit  zwei  curarisirten  Froschmuskeln  (Sartorius)  mit  Erfolg  an- 
gestellt.) „Die  Thatsache,  dass  hinreichend  erregbare  Nerven  in 
dauernde  Erregung  gerathen,  wenn  man  ihrem  eigenen  Strom  eine 
gute  äussere  Nebenschliessung  giebt,  legt  den  Gedanken  nahe,  dass 
auch  die  oben  erwähnte  tetanische  Erregung,  welche  nach  Durch- 
schneidung des  Schenkelnerven  oder  des  Plexus  ischiadicus  bei  Kalt- 
fröschen auftritt,  auch  nur  durch  den  Strom  bedingt  sei,  welcher  in- 
folge der  Durchschneidung  entsteht",  da  sowohl  die  Scheiden  der 
einzelnen  Fasern,  wie  auch  die  gemeinsame  Nervenhülle  den  Einzel- 
strömchen  der  Fasern  eine  innere  Schliessung  geben. 

Das  bisher  Mitgetheilte  bezieht  sich  nur  auf  motorische  Frosch- 
nerven. Knoll  (13)  zeigte  jedoch,  dass  unter  Umständen  auch  cen- 
tripetal  leitende  Warmblüternerven  durch  den  eigenen  Strom  erregt 
werden  können.  Die  betreffenden  Untersuchungen  beziehen  sich 
ausschliesslich  auf  den  Halsvagus  von  Kaninchen  und  Hunden,  und 
zwar  zunächst  auf  den  mit  dem  Athmungscentrum  in  Verbindung 
stehenden,  centralen  Theil  desselben.  Schon  das  Freipräpariren  des 
genannten  Nerven  führt,  besonders,  wenn  es  mit  Verletzung  desselben 
verbunden  ist,  bei  Kaninchen  häufig  zu  Verzögerung  der  Exspiration 
oder  gar  zu  exspiratorischen  Stillständen  der  Athmung  von  kurzer 
Dauer,  und  gleiche  Wirkungen  von  längerer  Dauer  lassen  sich  mit 
grosser  Regelmässigkeit  bei  Abheben  des  am  Brustende  umschnürten 
und  frei  präparirten  Halsvagus  von  der  Wunde  oder  bei  dem  Heraus- 
heben aus  einer  leitenden,  indifferenten  Flüssigkeit  erzielen,  besonders 
wenn  der  Nerv  zuvor  peripher  von  der  Schnürstelle  durchschnitten 
wird  (vergl.  Langend or ff  13).  Desgleichen  beobachtet  man  bei 
dem  Wiederniedersenken  des  Vagus  auf  die  Halswunde  oder  bei  Be- 
netzung des  Nerven  mit  einer  leitenden  Flüssigkeit  (Kochsalzlösung 
von  0,6  "  o)  exspiratorische  Stillstände  von  mehr  oder  Aveniger  erheb- 
licher Dauer.  Da  sich  zeigen  lässt,  dass  in  allen  diesen  Fällen  weder 
mechanische,  noch  auch  thermische  oder  chemische  Reizwirkungen  ins 
Spiel  kommen,  und  da  „alle  Umstände,  welche  nachgewiesenermaassen 
einen  Nervenstrom    erzeugen,    auf  den  Ei'folg  der  beschriebenen  Ver- 


Die  elektromotorischen  Wirkimgen  der  Nerven.  645 

suche  begünstigend  einwirken",  die  Athmung  ferner  unverändert  bleibt, 
wenn  man  dafür  sorgt,  dass  „bei  möglichster  Gleichheit  aller  andern 
Bedingungen  die  Herstellung  oder  Anschwellung  einer  Nebenschliessung 
in  Wegfall  kommt",  so  kann  es  keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass 
jene  e  x  s  p  i  r  a  t  o  r  i  s  c  h  e  n  Wirkungen  durch  Erregung  der 
im  Halsvagus  verlaufenden  exspiratorischen  Fasern  in- 
folge einer  Schwankung  im  Eigenstrom  des  Nerven  be- 
dingt sind.  Es  ist  selbstverständlich ,  dass  bei  dem  Abheben  und 
Senken  des  Nerven  auf  die  angelegte  Halswunde  auch  die  Ströme  der 
verletzten  Muskeln  wesentlich  mit  in  Betracht  kommen.  Die  nach 
blosser  Durchschneidung  oder  Abschnürung  der  in  situ  befindlichen 
Vagi  häutig  zu  beobachtenden,  vorübergehenden  exspiratorischen  Wir- 
kungen bezieht  K  n  o  1 1  ebenfalls  auf  eine  Erregung  des  Nerven  durch 
seinen  eigenen  Strom,  und  es  dürfte  diese  Erscheinung  wohl  als  ein 
Analogen  des  Tetanus  nach  Durchschneidung  des  Schenkelnerven 
eines  Kaltfrosches  aufzufassen  sein.  Bemerkenswerth  ist,  dass  es 
nicht  gelingt,  den  peripheren  Vagusstumpf  durch  seinen  Eigenstrom 
wirksam  zu  erregen  und  dadurch  Verlangsamung  des  Herzschlages 
herbeizuführen. 

Die  grosse  elektromotorische  Kraft  des  marklosen  Olfactorius  vom 
Hecht  lässt  es  erklärlich  erscheinen,  dass  durch  den  Strom  desselben 
Froschnerven  sehr  leicht  und  sicher  erregt  werden.  In  Gestalt  eines 
kurzen  Hakens  auf  das  ausgezogene  Ende  eines  Glasstabes  genommen, 
ist  dieser  feine  Nerv,  wie  Kühne  fand,  an  jeder  Stelle  eines  Frosch- 
nerven nach  Art  eines  feinen  Elektrodenpaares  zu  verwenden  und  er- 
regt immer  kräftige  Zuckungen  des  Schenkels,  wenn  er  jenen  mit 
Quer-  und  Längsschnitt  berührt  (Kühne  11,  p.  97).  Es  gelang 
Kühne  sogar,  den  curarisirten  Sartorius  vom  Frosch  durch  den 
Demarcationsstrom  des  Hechtolfactorius  zu  erregen. 

Von  besonderem  Interesse,  insbesondere  für  die  Theorie  der  Oeff- 
nungszuckung ,  sind  die  durch  Interferenz  zwischen  dem 
Nervenstrom  und  einem  künstlichen  Strom  hervorgeru- 
fenen Er  scheinungen,  wenn  die  Reizelektroden  in  der  Nähe  eines 
Querschnittes  oder  einer  aus  irgend  welchem  Grunde  elektromotorisch 
wirksamen  Stelle  in  der  Continuität  eines  Nerven  angelegt  werden. 
Schon  Pflüger  machte  seiner  Zeit  darauf  aufmerksam,  dass  die  Er- 
regbarkeit einer  Nervenstrecke  durch  den  Eigenstrom  in  positivem 
Sinne  beeinflusst  werden  muss,  wenn  oberhalb  derselben  ein  Quer- 
schnitt angelegt  oder  ein  Seitenzweig  des  Nerven  abgeschnitten  wird, 
indem  der  Demarcationsstrom  die  betreffende  Nervenstrecke  in  Kat- 
elektrotonus  versetzt.  Verbindet  ein  ableitender  Bogen  den  Quer- 
schnitt oder  einen  diesem  nahe  gelegenen  Punkt  des  Längsschnittes 
mit  einem  beliebigen  anderen  Punkt  des  letzteren,  so  geht  bekanntlich 
ein  Strom  durch  die  zwischen  den  Fusspunkten  gelegene  Nervenstrecke 
in  der  Richtung  vom  Querschnitt  zum  Längsschnitt.  Da  nun  die 
einzelnen  Axencylinder ,  wie  auch  der  ganze  Nervenstamm,  ringsum 
von  indifferenten  leitenden  Hüllen  umgeben  sind,  so  müssen,  ganz  ab- 
gesehen von  besonderen,  bei  markhaltigen  Nerven  gegebenen  Ver- 
hältnissen, Stromfäden  in  derselben  Richtung  innerhalb  der  Hüllen 
verlaufen,  welche  an  verschiedenen  Stellen  der  Oberfläche  der  einzelnen 
Fasern  wie  des  Gesammtnerven  in  der  Nähe  des  Querschnittes  austreten, 
wie  dies  insbesondere  Hermann  wiederholt  betont  hat.  Sind  nun  die 
ableitenden  gleichzeitig  Reizelektroden,    d.  h.    führen  sie  dem  Nerven 


Q4:Q  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

einen  künstlichen  Strom  zu,  so  wird  dieser  dem  im  ganzen  System 
bereits  vorhandenen  Strom  entweder  gleich  oder  entgegengesetzt  ge- 
richtet sein,  und  zwar  das  erstere,  wenn  die  Anode  dem  Querschnitt 
näher  liegt.  Da  nun  unter  sonst  gleichen  Umständen  die  Schliessung 
eines  dem  Bestandstrom  gleich  gerichteten  Stromes  stärker  erregend 
wirkt,  so  ist  leicht  verständlich,  dass  in  der  Nähe  des  Querschnitts- 
endes eines  motorischen  Nerven  absteigend  gerichtete  Ströme  wirk- 
samer sind  als  aufsteigend  gerichtete.  Mit  Rücksicht  auf  frühere  Aus- 
einandersetzungen ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  es  sich  bei  diesen 
Interferenzwirkungen  zwischen  Reiz-  und  Nervenstrom  streng  genommen 
nicht  um  Addition  und  Subtraction  der  betreffenden  Ströme  handelt 
(ein  Reizstrom  um  den  Betrag  des  Nervenstromes  vermehrt  oder  ver- 
mindert würde,  wie  Grünhagen  richtig  bemerkt,  in  seinen  physio- 
logischen Wirkungen  kaum  wesentlich  geändert) ,  sondern  um  polare 
Stromeswirkungen,  welche  an  Stellen  ausgelöst  werden,  deren  Anspruchs- 
fähigkeit durch  den  im  Nerven  selbst  sich  abgleichenden  Bestandstrom 
im  einen  oder  andern  Sinne  verändert  wurde. 

Giebt  es  in  der  Continuität  des  undurchschnittenen  Nerven  elektro- 
motorisch wirkende  (negative)  Stellen,  so  werden  dieselben  Betrach- 
tungen natürlich  auch  hier  gelten  müssen.  Grützner  (14)  ist  in  der 
That  geneigt,  alle  in  der  Continuität  sonst  unversehrter  Nerven  zu  be- 
obachtenden Veränderungen  der  Anspruchsfähigkeit  und  so  insbesondere 
auch  die  von  Hermann  undFleischl  beschriebene  Ungleichheit 
der  Wirkung  gleich  starker,  aber  entgegengesetzt  gerichteter  Ströme  in 
verschiedenen  Strecken  eines  und  desselben  Nerven  auf  Spannungs- 
differenzen zu  beziehen,  welche  durch  die  Präparation  erzeugt  werden. 

Tastet  man  mit  unpolarisirbaren  Elektroden  bei  einer  Spannweite 
von  5 — 8  mm  den  Ischiadicus  eines  Frosches  ab,  so  findet  man  nach 
Grütznei-  regelmässig  unterhalb  des  Abganges  der  Oberschenkel- 
äste einen  absteigenden,  oberhalb  des  M.  gastrocnemius  dagegen  einen 
aufsteigenden  Strom.  Etwa  in  der  Mitte  zwischen  Hüfte  nnd  Knie 
ist  eine  Stelle,  von  der  aus  keine  Ströme  zur  Bussole  abgeleitet  werden 
können  ( F 1  e  i  s  c  h  1'  s  „  Aequator").  Zweifellos  werden  jene  Spannungs- 
differenzen  bedingt  durch  die  vom  Hauptstamra  abgehenden  Nebenäste. 
Werden  diese  möglichst  geschont,  so  sind  die  Ströme  sehr  schwach. 
Jede  VerzweiguDgsstelle  eines  Nerven  ist  in  diesem  Sinne  sozusagen 
prädestinirt  für  das  Auftreten  von  Spannungsdifferenzen,  indem  sie 
einen  besonders  geeigneten  Angriffspunkt  für  allerlei  Schädlichkeiten 
darzustellen  scheint. 

„Da  wo  die  Ströme  im  Nerven  selbst  absteigend  sind,  erweisen 
sich  in  hervorragender  Weise  wirksam  absteigende,  da  wo  das  Um- 
gekehrte stattfindet,  aufsteigende  Reizströme.  Haben  dagegen  der 
Nerven-  und  der  Reizstrom  entgegengesetzte  Richtung,  so  wird  die 
Wirkung  des  Reizstromes  geschwächt  oder  völlig  aufgehoben"  (Grütz- 
ner  1.  c).  Fleischl  (15)  suchte  später  diese  Deutung  als  unzutref- 
fend zu  erweisen,  indem  er  seinem  „Zuckungsgesetz"  entsprechende 
Wirkungen  auch  an  Nerven  beobachtete,  deren  Spannungsdifferenzen 
durch  einen  künstlichen  Strom  compensirt  worden  waren;  dem  gegen- 
über muss  jedoch,  wie  schon  Grützner  und  Hermann  betonten, 
hervorgehoben  werden,  dass  durch  Compensation  nur  der  im  angelegten 
Bogen  fliessende  Stromzweig  aufgehoben  wird,  nicht  aber  auch  die  im 
Innern  des  Nerven  (oder  Muskels)  bestehenden  Spann ungsdifferenzen 
beziehungsweise  die  ihnen  entsprechenden  Stromzweige, 


Die  elektromotorisohen  Wirkungen  der  Nerven.  647 

Ein  interessanter  Fall  von  Interferenzwirkung  des  Nerven-  und 
Muskelstromes  liegt  in  der  Tliatsaclie  vor,  dass,  wie  Hering  (11) 
fand ,  der  oben  erwähnte  Durchschneidungs-Tetanus  an  Präparaten 
selbst  der  emptindlichsten  Kaltfrösche  vollständig  ausbleibt,  wenn  man 
mit  einem  einzigen  Schnitt  den  ganzen  Oberschenkel  durchtrennt,  wo- 
bei die  im  Nerven  aufsteigend  gerichteten  Ströme  der  durchschnittenen 
Muskeln  auf  den  ersteren  wirken  und  dessen  Strom  compensiren. 

Sowie  es  beim  quergestreiften,  durch  Curare  entnervten  Muskel 
(Sartorius)  durch  Interferenz  des  Demarcationsstromes  mit  einem  künst- 
lichen Reizstrom  zur  Auslösung  „scheinbarer  Oeflfnungszuckungen" 
kommen  kann,  so  ist  das  Gleiche  auch  für  den  Nerven  der  Fall.  Die 
so  überaus  auffallende  Abhängigkeit  der  Oeffnungserregung  von  der 
Nähe  der  Anode  an  einem  künstlichen  Querschnitt  des  Nerven  wurde 
früher  bereits  ausführlich  erörtert.  Es  ist  nun  in  hohem  Grade  wahr- 
scheinlich, um  nicht  zu  sagen  sicher,  dass  diese  Querschnitts- 
Oe  ffn  ungszuckungen  gar  keine  echten  Oeffnungs- 
zuckungen  sind,  sondern  vielmehr  Schliessungszuckun- 
gen durch  den  im  ableitenden  Bogen  vorher  compen- 
sirten  Nerven  ström,  dass  es  sich  also  um  eine  ganz  analoge 
Erscheinung  handelt,  wie  bei  jenen  scheinbaren  Oeffnungszuckungen 
verletzter  Muskeln  (Hering,  Grützner,   11). 

Bedient  man  sich  eines  Rheochords,  um  einen  Kettenstromzweig 
durch  einen  mit  Querschnitt  und  Längsschnitt  über  gleichartige,  un- 
polarisirbare  Elektroden  gebrückten  Nerven  zu  schicken,  wobei  die 
Schliessung  oder  Oeffnung  des  Kreises  durch  einen  zwischen  Rheo- 
chord  und  Elektroden  eingeschalteten  Schlüssel  vermittelt  wird,  so 
wird,  wie  Hering  (11)  auseinandersetzt,  günstigen  Falles,  sowohl  bei 
Schliessung  wie  bei  Oeffnung  dieses,  die  äussere  Nebenschliessung  des 
Demarcationsstromes  vermittelnden  „Nervenkreises"  eine  Zuckung 
erfolgen  können ,  auch  wenn  zunächst  das  Rheochord  gar  nicht  mit 
einer  Kette  verbunden  ist.  Wird  dies  hierauf  bewerkstelligt,  und 
schaltet  man  auch  in  diesen  (den  „Ketten-)  Kreis"  nebst  einem  Strom- 
wender einen  Schlüssel  ein,  so  muss,  wenn  der  Zweigstrom  der  Kette 
im  Nerven  aufsteigend  gerichtet  ist  und  somit  bei  passender  Intensität 
den  Demarcationszweig  gerade  compensirt,  der  Reizerfolg  verschieden 
ausfallen,  je  nachdem  man  bei  schon  geschlossenem  Nervenkreis  den 
Kettenkreis,  oder  bei  schon  geschlossenem  Kettenkreis  den  Nerven- 
kreis schliesst.  Die  nur  im  ersteren  Falle  eintretende  „scheinbare" 
Schliessungszuckung  würde,  wie  man  leicht  sieht,  in  Wahrheit  eine 
Oeffnungswirkung  des  Nervenstromes  sein,  und  ebenso  wäre  umge- 
kehrt die  nach  vorheriger  Schliessung  beider  Kreise  durch  Oeffnung 
des  im  Kettenkreis  befindlichen  Schlüssels  auszulösende  „scheinbare" 
Oeflfnungszuckung  eine  Schliessungswirkung  des  Nervenstromes,  wie 
sich  daraus  ergiebt,  dass  sie  bei  alleiniger  Oeffnung  des  Nervenkreises 
ausbleibt.  „Ist  der  Zweigstrom  der  Kette  zu  schwach,  um  den  Nerven- 
strom im  Nervenkreise  zu  compensiren,  so  wird  sich  gleichwohl  sein 
Einfluss  in  demselben  Sinne,  wenn  auch  nicht  in  demselben  Maasse, 
geltend  machen.  Ist  er  dagegen  etwas  stärker,  als  zur  Corapensation 
erforderlich  ist,  so  wird  der  Nerv  nach  Schliessung  beider  Kreise  that- 
sächlich  aufsteigend,  wenn  auch  sozusagen  nur  von  dem  Reste  des 
Kettenstromzweiges  durchflössen.  Schliesst  man  also  bei  schon  ge- 
schlossenem Kettenkreise  den  Nervenkreis,  so  bekommt  man  keine 
Zuckung,    sofern  der  Kettenstromzweig  nicht  allzu  stark  ist;   schliesst 


548  I^iö  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

man  dagegen  bei  schon  geschlossenem  Nervenkreise  den  Kettenkreis, 
so  gesellt  sich  zur  schwachen  und  an  sich  ungenügenden  Schliessungs- 
wirkung des  Zweigstromes  der  Kette  die  Oeffilungswirkung  des  Nerven- 
stromes, und  man  erhält  eine  Zuckung." 

„Oeffnet  man  bei  zuvor  geschlossenem  Kettenkreis  den  Nerven- 
kreis, so  erfolgt  keine  Zuckung,  immer  vorausgesetzt,  dass  der  im 
Nerven  aufsteigende  Kettenstrom  nicht  so  stark  ist,  dass  er  trotz  seiner 
theilweisen  Compensation  durch  den  Nervenstrom  an  sich  schon  OefF- 
nungszuckung  geben  müsste.  Oeffnet  man  dagegen  bei  geschlossenem 
Nervenkreise  den  Kettenkreis,  so  findet  der  Nervenstrom  gleichsam 
neue  Nebenschliessung,  und  es  erfolgt  eine  Zuckung,  welche  hier 
noch  verstärkt  wird  durch  den  Einfluss  der  Volta' sehen  Alternative" 
(Hering  11). 

Man  erhält  daher,  „wenn  man  mit  den  schwächsten,  durch  den 
Querschnitt  des  Nerven  austretenden  Stromzweigen  der  Kette  zu 
arbeiten  beginnt,  die  Oeffnungszuckung  zuerst  bei  Oeffnung  des  Ketten- 
kreises und  erst  mit  wesentlich  stärkeren  Strömen  auch  bei  Oeffnung 
des  Nervenkreises-,  und  analog  zeigt  sich  die  „Schliessungszuckung" 
zunächst  bei  Schliessung  des  Kettenkreises  und  erst  bei  Verstärkung 
des  Stromzweiges  auch  bei  Schliessung  im  Nervenkreise". 

Tritt  der  Kettenstrom  durch  den  Querschnitt  des  Nerven  ein 
(ist  er  also  absteigend),  so  wird,  wie  Hering  auseinandersetzt,  der 
Erfolg  ebenfalls  verschieden  sein,  je  nachdem  der  Kettenkreis  bei 
schon  geschlossenem  Nervenkreise  geschlossen  oder  umgekehrt  ver- 
fahren wird.  „Denn  ersteren  Falls  wird  in  die  Längsschnittselektrode 
bereits  ein  Strom,  nämlich  der  des  Nerven,  eintreten,  welcher  durch 
das  Hinzutreten  des  Kettenstromzweiges  nur  einen  Zuwachs  erhält. 
Wird  aber  der  Nervenkreis  erst  nach  dem  Kettenkreise  geschlossen, 
so  addiren  sich  der  Nervenstrom-  und  der  Kettenstromzweig  schon  im 
Augenblicke  der  Schliessung  und  demnach  wird  der  Erfolg  der  letz- 
teren ein  grösserer  sein.  Ebenso  verschwinden  bei  Oeffnung  im 
Nervenkreise  beide  Ströme  gleichzeitig."  „In  der  That  erhält  man, 
wenn  man  mit  dem  schwächsten,  durch  den  Querschnitt  des  Nerven 
eintretenden  Strome  beginnt,  die  Schliessungszuckung  zuerst  bei 
Schliessung  im  Nervenkreise  und  erst  bei  stärkeren  Strömen  auch  bei 
Schliessung  im  Kettenkreise.  Das  Analoge  gilt  von  den  Oeffnungs- 
zuckungen"   (Hering  11). 

Schon  Du  Bois-Reymond  (Ges.  Abhandl.  I.  p.  196)  hat 
seiner  Zeit  darauf  hingewiesen,  dass  es  bei  elektrischen  Reizversuchen 
unter  Umständen  einen  ganz  wesentlichen  Unterschied  macht,  ob  man 
den  Strom  im  Haupt-  oder  Nebenkreise  (Ketten-  oder  Nervenkreis) 
schliesst  oder  öffnet.  Da  jedoch  bei  den  betreffenden  Versuchen  aus- 
schH esslich  metallische  Elektroden  verwendet  wurden,  so  mischte  sich 
naturgemäss  die  äussere  Polarisation  zwischen  den  thierischen  Geweben 
und  Elektroden  sehr  störend  ein. 

Als  eine  eigenthümliche  Interferenzwirkung  zwischen  Reiz-  und 
Nervenstrom  ist  auch  die  von  Grützner  (14)  zuerst  beobachtete 
„Lücke"  in  der  Reihe  der  Oeffnungszuckungen  zu  betrachten,  Avelche 
auftritt,  wenn  eine  Nervenstrecke,  in  welcher  ein  absteigender  Strom 
vorhanden  ist  (wie  etwa  gerade  auch  am  Querschnittsende),  mit  immer 
stärker  werdenden  aufsteigenden  Kettenströmen  gereizt  wird,  dann 
treten  Oeffnungszuckungen  schon  bei  sehr  geringer  Stromesintensität 
hervor,  bei  deren  Steigerung  sie  zunächst  wachsen,  dann  bis  zum  Ver- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  649 

schwinden  abnehmen,  um  schhesslich  neuerdings  an  Grösse  zuzunehmen. 
Die  Grösse,  d.  h,  die  elektromotorische  Kraft  des  Stromes,  weicher  in 
einem  ableitenden  Bogen  iliesst,  dessen  einer  Fusspunkt  am  Quer- 
schnitt eines  Nerven  liegt,  während  der  andere  einen  Punkt  der 
Längsobei-fläche  berührt,  hängt  natürlich  sehr  ab  von  der  Spannweite 
des  Bogens.  Beträgt  dieselbe  etwa  5 — 7  mm,  so  ist  erfahrungsgemäss 
der  abgezweigte  Stromantlieil  am  grössten,  und  es  wird  daher  die  Com- 
pensation  durch  einen  künstlichen  Gegenstrom  am  vollständigsten  sein. 
Viel  ungünstiger  gestalten  sich  die  Bedingungen  dafür  bei  geringem 
Abstände  der  Reiz-  (beziehungsweise  ableitenden)  Elektroden.  Dem 
entspricht  es  nun,  dass  die  Lücke  in  der  Reilie  der  Oeffnungszuckungen 
ersterenfalls  viel  deutlicher  hervortritt,  als  im  letzteren  Falle  (Lud- 
milla  Nemerowsky  16).  Zu  einer  Erklärung  der  in  Rede  stehen- 
den Erscheinung  führt  nach  Grützner  (1.  c.)  die  Erwägung  folgender 
Möglichkeiten:  „Der  Reizstrom  kann  entweder  schwächer,  gleich  oder 
stärker  als  der  Nervenstrom  sein.  Im  ersteren  Falle  würde  bei 
Schliessung  des  Reizstromes  sich  der  Nervenstrom  abschwächen  und 
bei  Oeffnung  desselben  wieder  auf  seine  frühere  Höhe  zurückkehren. 
Wäre  der  Reizstrom  gleich  dem  Nervenstrom,  so  würde  bei  Schliessung 
des  ersteren  der  Nervenstrom  (im  ableitenden  Bogen)  auf  Null  sinken, 
bei  der  Oeffnung  von  Null  aus  zu  seiner  vollen  Höhe  ansteigen.  Wäre 
schliesslich  der  Reizstrom  stärker  als  der  Nervenstrom ,  so  würde  bei 
Schliessung  des  ersteren  in  den  Nerven  ein  um  den  Nervenstrom  ver- 
minderter und  diesem  entgegengesetzter  Strom  einbrechen,  bei  dessen 
Oeffnung  hingegen  dieser  verminderte  Reizstrom  verschwinden  und  in 
den  momentan  stromlosen  Nerven  der  Nervenstrom  wieder  von  Null 
aus  aufsteigen."  Nach  Grützner  w^irkt  nun  sowohl  derjenige  Reiz- 
strom, welcher  schwächer  ist  als  der  Nervenstrom,  wie  auch  der 
stärkere,  bei  der  Oeffnung  des  Kreises  erregend;  denn  ersterenfalls 
Avird  die  Erregung  an  einer  Stelle  ausgelöst,  welche  durch  die  Kathode 
des  Bestandstromes  wesentlich  erregbarer  geworden  ist,  letzterenfalls 
macht  sich  dagegen  die  Wirkung  der  Volta'schen  Alternative  geltend, 
indem  in  den  Nerven  ein  Strom  einbricht,  nachdem  kurz  vorher  ein 
entgegengesetzt  gerichteter  Strom  dieselbe  Strecke  durchsetzt  hat.  Das 
Verschwinden  des  eben  compensirenden  Stromes  wirkt  dagegen  nicht 
erregend,  weil  hier  der  von  Null  aus  entstehende  Strom  an  keiner 
besonders  erregbaren  Stelle  austritt.  Mit  dieser  Auffassung  steht  in 
Uebereinstimmung,  dass  die  Lücke  der  Oeffnungszuckungen  an  strom- 
losen Nervenstellen  niemals  auftritt,  es  sei  denn,  dass  dieselben  durch 
vorhergehende  Behandlung  mit  stärkeren  Strömen  polarisirt  Avorden 
sind.  In  diesem  Falle  tritt  die  „Lücke"  wieder  hervor,  wenn  Reiz- 
ströme verwendet  werden,  deren  Richtung  dem  im  Nerven  gerade  vor- 
handenen Polarisationsstrom  entgegengesetzt  ist. 

Auf  einer  Interferenzwirkung  zwischen  dem  Nervenstrom  und 
künstlichen  Reizströmen  beruht  endlich  auch  noch  das  eigenthümliche 
Verhalten,  welches,  wie  Hering  zuerst  nälier  auseinandersetzte  (11), 
Nerven  bei  Reizung  mit  Inductionsströmen  in  der  Nähe  ihres  (Quer- 
schnittes zeigen.  „Legt  man  am  frisch  durchschnittenen  oder  unter- 
bundenen Nerven  die  beiden,  nur  2—3  mm  von  einander  entfernten 
Elektroden  der  secundären  Spirale  eines  Schlittenapparates  derart  an, 
dass  die  eine  sich  am  Querschnitt  oder  an  der  Unterbindungsstelle 
befindet,  so  erhält  man  mit  äusserst  schwachen  Strömen  schon  sehr 
kräftige  Wirkungen ,    falls  die  Oeffnungsströme   im  Nerven  abterminal 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  42 


650  Die  elektroniotorischeu  Wirkungen  der  Nerven. 

(d.  h.  dem  Nervenstromzweig  gleich)  gerichtet  sind.  Bei  atterminaler 
Richtung  dieser  Ströme  ist  dagegen  trotz  unveränderter  Lage  der  Elek- 
troden und  gleicher  Stromstärke  die  Wirkung  viel  schwächer  oder 
bleibt  ganz  aus.  Rückt  man  bei  abterminaler  Richtung  der  Oeffnungs- 
ströme  die  Elektroden  weiter  und  weiter  vom  Querschnitt  weg,  so 
nimmt  ihre  Wirkung  schnell  ab  und  verschwindet  bald  gänzlich.  Sind 
dagegen  die  Oeffnungsströme  atterminal  gerichtet,  so  nimmt  ihre  Wir- 
kung beim  Abrücken  der  Elektroden  vom  Querschnitt  schnell  zu,  er- 
reicht bald  ein  Maximum  und  nimmt  endlich  bei  noch  weiterem  Ab- 
rücken meistens  wieder  ab,  um  endlich  ebenfalls  ganz  zu  verschwinden." 


II.    Elektromotorische  Wirkungen  der  Nerven  bei  der 
Tliäti^keit  (Actionsströme). 

Bekanntlich  giebt  sich  der  thätige  Zustand  der  Nervenfasern 
durch  gar  keine  direct  sichtbaren  Veränderungen  am  Nerven  selbst 
kund,  so  dass  man  stets  darauf  angewiesen  ist,  um  die  Thätigkeit 
des  Nerven  zu  erkennen,  denselben  in  Verbindung  mit  dem  Muskel 
oder  überhaupt  dem  Erfolgsorgane  zu  lassen.  Es  dient  dieses  dann 
gleichsam  als  Reagens  für  den  Nerven,  da  an  diesem  selbst  weder 
optisch  noch  chemisch,  noch  sonst  irgendwie  nachweisbare  Verände- 
rungen beobachtet  werden  können.  In  dem  elektromotorischen  Ver- 
halten erkannte  jedoch  DuBois-Reymond  ein  Mittel,  den  thätigen 
Zustand  des  Nerven  an  diesem  selbst  zu  erkennen.  Unmittelbar  nach 
Entdeckung  des  Nervenstromes  fand  Du  Bois-Reymond  im  Jahre 
1843,  dass  derselbe  durch  Tetanisiren  abnimmt,  oder  eine 
„negative  Schwankung"  erleidet,  deren  Erscheinungsweise  mit 
jener  der  negativen  Schwankung  des  Muskelstromes  im  Wesentlichen 
übereinstimmt.  Wie  bei  dieser  letzteren  hat  Du  Bois-Reymond 
den  Nachweis  geliefert,  dass  die  Erscheinung  als  Ausdruck  eines  ver- 
änderten Zustandes  des  Nerven  anzusehen  ist  und  nicht  etwa  auf 
irgendwelchen  Versuchsfehlern  beruht.  Es  ergiebt  sich  dies,  abgesehen 
von  später  noch  zu  erwähnenden  Thatsachen,  insbesondere  aus  dem 
Umstände,  dass  die  negative  Schwankung  schon  bei  sehr  schwachen, 
abwechselnd  gerichteten  Inductionsströmen  und  völlig  unabhängig  von 
der  Länge  der  Nervenstrecke  beobachtet  wird,  welche  zwischen  der 
abgeleiteten  und  der  Reizstrecke  liegt,  so  dass  es  sich  mit  aller  Be- 
stimmtheit nur-  um  eine,  den  Zustand  der  tetanischen  Erregung  be- 
gleitende Verminderung  der  elektromotorischen  Kraft  des  durchschnit- 
tenen Nerven  handelt.  Der  Betrag  der  negativen  Schwankung, 
bemessen  durch  die  Grösse  des  durch  sie  veranlassten  Rückschwunges 
des  Bussolmagneten,  ist  an  allen  Stellen  eines  Nerven  der  Stärke  des 
ursprünglichen  Demarcationsstromes  proportional  und  daher  am  grössten, 
wenn  der  Querschnitt  und  der  positivste  Punkt  der  Längsoberfläche, 
Null,  wenn  zwei  elektrisch  gleichartige  Punkte  abgeleitet  werden.  Auch 
im  Falle  grösster  Stärke  der  negativen  Schwankung  lässt  sich  bei 
Anwendung  eines  aperiodisch  schwingenden  Bussolmagneten  unmittel- 
bar erkennen,  dass  die  Verminderung  des  Nervenstromes  während 
tetanisirender  Reizung  niemals  bis  zu  dessen  völliger  Annullirung  geht, 
so  dass  stets  ein  mehr  oder  weniger  grosser  Bruchtheil  der  Kraft  er- 
halten bleibt.  Wie  von  vornherein  zu  erwarten  war,  zeigen  marklose 
Nerven  die  negative  Schwankung  des  Demarcationsstromes  ganz  ebenso 


Die  elektromotorischen  Wirkung'en  der  Nerven.  651 

wie  markhaltige.  Kühne  und  Steiner  fanden  dieselbe  am  Heclit- 
Olfactorius  entsprechend  der  hohen  elektromotorischen  Kraft  des  „Ruhe- 
stromes" sehr  mächtig.  Da,  wie  es  scheint,  marklose  Nerven  ähnlich 
den  Muskeln  auf  Reize  von  längerer  Dauer  besser  reagiren  als  auf 
kurz  dauernde  Inductionsschläge ,  so  beobachtet  man  eine  erheblich 
stärkere  negative  Schwankung,  wenn  die  tetanisirende  Erregung  durch 
rasch  wiederholte  Schliessung  und  OefFnung  eines  Kettenstromes  be- 
wirkt wird.  Besonders  ist  dies,  wie  ich  selbst  (3)  am  Muschelnerven 
fand,  der  Fall,  wenn  man  den  ungünstigen  Einfluss  des  immer  gleich 
gerichteten  Stromes  durch  Einschaltung  eines  rotirenden  Stromwenders, 
oder  einfach  dadurch  ausschliesst,  dass  man  durch  rasch  wechselndes 
Umlegen  einer  Pohl'schen  Wippe  reizt.  Nach  Beendigung  der  rhyth- 
mischen Reizung  kehrt  der  Magnet  in  der  Regel  mit  abnehmender 
Geschwindigkeit  in  seine  Ruhelage  zurück,  oder  es  bleibt  wohl  auch 
bei  nicht  mehr  ganz  lebensfrischen  Präparaten  ein  negativer  Rest  der 
Ablenkung  zurück.  Versucht  man  es,  den  Muschelnerven  in  der  ge- 
wöhnlichen Weise  mittelst  eines  Du  Bois-Reymond'schen  Schlitten- 
apparates zu  tetanisiren  und  dadurch  eine  negative  Schwankung  des 
Demarcationsstromes  zu  erzielen,  so  bleibt  in  der  Regel  auch  bei  den 
günstigsten  Erregbarkeitsverhältnissen  des  Präparates  jeglicher  Erfolg 
aus,  selbst  wenn  die  Rollen  bis  zur  Berührung  genähert  werden.  Diese 
geringe  Wii'ksamkeit  kurzdauernder  Ströme  tritt  übrigens  auch  schon 
bei  Anwendung  des  unterbrochenen  Kettenstromes  deutlich  hervor, 
indem  dann  die  Grösse  der  negativen  Schwankung  nicht  wie  unter 
gleichen  Bedingungen  bei  markhaltigen  Nerven  mit  steigender  Reiz- 
frequenz im  Allgemeinen  zunimmt,  sondern  gerade  im  Gegentheil  eine 
Verminderung  erfährt,  die  um  so  beträchtlicher  ist,  je  rascher  die 
Unterbrechungen  des  Stromes  einander  folgen,  je  kürzer  also  jeder 
Einzelreiz  ist.  Da  ein  ganz  ähnliches  Verhalten  auch  bei  elektrischer 
Erregung  des  marklosen  Scheerennerven  des  Krebses  beobachtet  wird, 
so  dürfte  es  sich  hier  wohl  um  eine  weitverbreitete  Eigenschaft  mark- 
loser Nerven  handeln,  welche  sich  dann  in  dieser  Beziehung  den 
markhaltigen  gegenüber  ähnlich  verhalten  würden,  wie  die  glatten  zu 
den  quergestreiften  Muskeln.  Es  steht  hiermit  in  Uebereinstimmung, 
dass  an  m a r k  1  o s e n  Nerven  selbst  schon  eine  einmalige 
Schliessung  (eventuell  auch  (Jeffnung)  eines  Ketten- 
stromes  in  der  Regel  eine  deutliche  negative  Schwan- 
kung des  Demarcationsstromes  bedingt,  was  am  mark- 
haltigen Froschnerven  nur  unter  ganz  besonderen  Be- 
dingungen der  Fall  ist  (Biedermann  3). 

Präparirt  man  beide  Verbindungsnerven  von  A n  od o n  ta  zusammen 
und  legt  nach  Abtödtung  des  einen  Endes  ableitende  Elektroden  einer- 
seits an  den  Querschnitt,  anderseits  an  einen  etwa  6  mm  höher  ge- 
legenen Punkt  der  Längsschnittoberfläche,  während  zugleich  in  der 
Nähe  des  anderen  Endes  des  zwischen  zwei  Ständern  massig  ausge- 
spannten Nervenpaares  unpolarisirbare  Reizelektroden  angelegt  werden, 
welche  unter  Zwischenschaltung  eines  Stromwenders  mit  1 — 2  Dan. 
Elementen  in  Verbindung  stehen ,  so  beobachtet  man  nach  Compen- 
sation  des  Demarcationsstromes  bei  jeder  Schliessung  des  Reizkreises 
eine  mehr  oder  minder  beträchtliche  Ablenkung  des  Magneten  im 
Sinne  einer  Abnahme  oder  negativen  Schwankung  des  Nervenstromes, 
deren  Grösse,  wie  sich  bald  herausstellt,  wesentlich  mit  von  der  Rich- 
tung  des   Reizstromes    abhängt.     Fliesst    der  Reizstrom   nach  dem  ab- 

42* 


552  Die  elektromotonschen  Wirkungen  der  Nerven. 

geleiteten  Ende  hin  (was  als  absteigend  bezeichnet  werden  soll),  so  ist 
die  Wirkung  immer  wesentlich  stärker  als  im  andern  Falle.  Die  ge- 
nauere Untersuchung  dieser  Erscheinung  lässt  keinen  Zweifel  daran 
aufkommen,  dass  man  es  hier  mit  einer  Folgewirkung  der  Erregung 
des  Nerven  durch  den  Kettenstrom  und  daher  mit  einer  negativen 
SchAvankung  im  eigentlichen  Wortsinne  zu  thun  hat.  Dafür  spricht 
nicht  nur  die  Unabhängigkeit  der  Richtung  der  Ablenkung  von  der  des 
Stromes,  sondern  auch  der  zeitliche  Verlauf  der  Erscheinung  und  die 
Beziehungen,  welche,  wie  sich  zeigt,  zwischen  Stärke  und  Richtung 
des  Reizstromes  einerseits  und  der  Grösse  der  am  Galvanometer  zu 
beobachtenden  Wirkungen  andererseits  bestehen. 

Was  zunächst  den  Verlauf  der  negativen  Schwankung  betrifft,  so 
gestaltet  sich  derselbe  bei  absteigender  Stromesrichtung  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  so,  dass  die  Ablenkung  scheinbar  im  Momente 
der  Schliessung  oder  kaum  merklich  später  beginnt,  ziemlich  rasch 
ein  Maximum  erreicht,  um  dann,  noch  während  der  Schliessungsdauer 
des  Stromes,  allmählich  und  zwar  Anfangs  rasch,  dann  immer  lang- 
samer abzuklingen.  Oeffnet  man  um  diese  Zeit,  so  tritt  bisweilen  eine 
merkliche  Verzögerung  des  Rückganges,  unter  Umständen  wohl  auch 
eine  neuerliche  Verstärkung  der  negativen  Ablenkung  ein,  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  bleibt  dagegen  die  Oeffnung  erfolglos,  oder  es  tritt 
sogar  eine  positive  Nach  seh  wankung  hervor,  die  bei  längerem 
Geschlossenbleiben  des  Reizstromes  noch  während  der  Schliessungs- 
dauer sich  entwickeln  kann.  Diese  Ablenkung  im  Sinne  einer  Zu- 
nahme des  Nervenstromes,  auf  Avelche  unten  noch  ausführlicher 
zurückzukommen  sein  wird ,  kann ,  wie  in  der  Mehrzahl  der  Fälle, 
kleiner,  gleich  oder  wohl  auch  grösser  sein,  als  die  vorhergehende 
negative  Schwankung.  Ihr  Auftreten  scheint  an  das  Vorhandensein 
möglichst  günstiger  Erregbarkeitsverhältnisse  der  Nerven  gebunden  zu 
sein,  so  dass  es  auch  erklärlich  wird,  weshalb  oft  bei  den  ersten 
Reizungen  eine  deutliche  positive  Nachschwankung  auftritt,  die  später 
gänzlich  fehlt.  Bezüglich  der  Abhängigkeit  der  beschriebenen  Reiz- 
erfolge von  der  Stärke  des  benützten  Stromes  ist  zu  erwähnen,  dass 
am  Galvanometer  erkennbare  Wirkungen  überhaupt  erst  bei  einer 
verhältnissmässig  bedeutenden  Intensität  des  Reizstromes,  und  zwar 
immer  zuerst  bei  absteigender  Richtung  desselben,  hervortreten,  dann 
rasch  an  Grösse  zunehmen  und  ein  Maximum  erreichen,  das  in  der 
Folge  bei  beliebiger  Verstärkung  des  absteigenden  Sti'omes  nicht 
überschritten  wird,  während  dagegen  die  negative  Schliessungsschwan- 
kung bei  aufsteigender  Stromesrichtung  mit  der  Verstärkung  des 
Stromes  über  ein  gewisses  Maass  hinaus  sogar  abnimmt,  beziehungs- 
weise gänzlich  ausbleibt.  Wie  die  aufsteigende  Schliessung  ausnahms- 
los eine  schwächere  negative  Schwankung  des  Demarcationsstromes 
bewirkt,  so  beobachtet  man  auch  regelmässig  ein  rascheres  Abklingen 
derselben,  als  nach  Schliessung  eines  absteigend  gerichteten  Stromes. 
Ist  die  Entfernung  der  Reizstrecke  von  der  abgeleiteten  Bussolstrecke 
beträchtlich,  so  kehrt  der  Magnet  in  der  Regel  noch  während  der 
Schliessungsdauer  in  seine  Ruhelage  zurück ;  bei  geringerem  Abstände 
treten  dagegen  sehr  auffallende,  später  näher  zu  beschreibende  Wir- 
kungen-hervor,  die  mit  den  hier  zu  erörternden  Erregungserscheinungen 
nichts  zu  thun  haben. 

In  sehr  charakteristischer  Weise  tritt  die  Verschiedenheit  der 
Wirkung    des    ab-    oder    aufsteigend    gerichteten    Stromes    auch    bei 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  653 

der  Oeffnung  des  Reizkreises  hervor.  Während  eine  negative  „OefF- 
nimgsschwankung"  bei  absteigender  Stromesrichtung  im  Ganzen  nur 
selten  deuth'ch  hervortritt,  kann  sie  bei  aufsteigender  Stromesrichtung 
unter  Umständen  ebenso  stark  oder  sogar  stärker  sein  als  die  anfäng- 
liche Ablenkung  bei  Schliessung  des  Reizkreises,  die  dann  in  der 
Regel  schon  sehr  zurücktritt  oder  wohl  gänzlich  fehlt.  Bei  Anwen- 
dung hinreichend  starker  aufsteigender  Ströme  und  grosser  Distanz 
der  abgeleiteten  und  der  Reizstrecke  bildet  dann  di^  negative  Oeffnungs- 
schwankung  überhaupt  den  alleinigen  Erfolg  der  Reizung. 

Aus  den  mitgetheilten  Erfahrungen  ist  leicht  zu  ersehen ,  dass 
zwischen  der  Grösse  der  bei  Schliessung  oder  Oeffnung  eines  hin- 
reichend starken  Kettenstromes  eintretenden  negativen  Schwankung  und 
der  Intensität,  Richtung  und  Dauer  des  ersteren  einfache  und  gesetz- 
mässige  Beziehungen  bestehen,  welche  auf  den  ersten  Blick  erkennen 
lassen,  dass  es  sich  der  Hauptsache  nach  um  Folgeerscheinungen  der 
Schliessungs-  und  Oeffnungserregung  handelt. 

Wir  finden  sowohl  bei  Schliessung  des  absteigenden  wie  aufstei- 
genden Stromes  eine  oft  sehr  beträchtliche  Abnahme  der  elektromoto- 
rischen Kraft  zwischen  Längsschnitt  und  Querschnitt  des  Nerven,  die 
jedoch  letzterenfalls  ausnahmslos  geringer  und  zugleich  von  kürzerer 
Dauer  ist.  Bleibt  der  Strom  hinreichend  lange  geschlossen,  so  klingt 
die  negative  Schwankung  im  Verlaufe  mehrerer  Secunden  entweder 
vollständig  ab,  oder  es  bleibt  wohl  auch  (bei  absteigender  Stromes- 
ricl>tung)  ein  Rest  negativer  Ablenkung  zurück,  Avelcher  erst  bei  Oeff- 
nung des  Reizkreises  oder  gar  nicht  mehr  schwindet.  Die  Grösse  der 
negativen  Schwankung  zeigt  sich  hierbei  fast  gänzlich  unabhängig  von 
dem  Abstand  der  ableitenden  und  der  Reizelektroden;  sie  nimmt  bei 
Verkürzung  der  Zwischenstrecke  nicht  merklich  zu,  und  ebensowenig 
lässt  sie  sich  durch  Verstärkung  des  absteigend  gerichteten  Reizstromes 
über  eine  gewisse,  bald  erreichte  Grenze  hinaus  steigern.  Ist  dagegen 
der  Strom  aufsteigend  gerichtet,  so  nimmt  mit  wachsender  Intensität 
desselben  die  negative  Schwankung  sogar  ab  und  bleibt  schliesslich 
aus,  zeigt  also  in  dieser  Beziehung  ein  ganz  gleiches  Verhalten,  wie 
die  Schliessungserregung  bei  aufsteigender  Stromesrichtung.  Was 
endlich  den  Erfolg  der  Oeffnung  betrifft,  so  macht  sich  auch  hier  die 
weitestgehende  Uebereinstimmung  geltend  zwischen  dem  Verhalten  der 
Oeffnungserregung,  insoweit  sie  sich  bei  Reizung  motorischer  Nerven 
durch  Gestaltveränderungen  des  anhängenden  Muskels  äussert,  und 
den  Veränderungen  des  Demarcationsstromes  im  vorliegenden  Falle. 
Insbesondere  gilt  dies  bezüglich  der  Abhängigkeit  der  negativen  Oeff- 
nungsschwankung  von  Stärke  und  Dauer  des  aufsteigenden  Reiz- 
stromes. Immer  tritt  dieselbe  erst  bei  einer  viel  höheren  Stromes- 
intensität hervor,  als  die  Schliessungsschwankung,  und  wird  um  so 
grösser,  je  länger  der  Reizkreis  geschlossen  bleibt.  Bei  hinreichend 
ausgedehnter  Schliessungszeit  gelingt  es  daher,  selbst  bei  Anwendung 
verhältnissmässig  schwacher  aufsteigender  Ströme,  noch  eine  deutliche 
negative  Oeffnungssch wankung  zu  beobachten.  Bei  absteigender  Rich- 
tung des  Kettenstromes  kommt  es  im  Ganzen  nur  selten  zu  einer  deut- 
lich ausgeprägten  negativen  Schwankung  bei  der  Oeffnung;  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  ist  dieselbe  nur  durch  ein  vorübergehendes  Zögern 
im  Rückgang  des  Scalenbildes  angedeutet.  Am  überzeugendsten  tritt 
daher  die  Uebei-einstimmung  der  galvanischen  Reizerfolge  am  mark- 
losen  Muschelnerven   und   der  mechanischen   an   einem   gewöhnlichen 


ß54  ßie  elektromotorischen  Wirkung^en  der  Nerven. 

Nerv-Muskel-Präparate  bei  einer  der  ersten  oder  dritten  Stufe  des 
Pflüger'schen  Zuckungsgesetzes  entsprechenden,  elektrischen  Reizung 
hervor,  indem  ersterenfalls  eine  negative  Schwankung  (Schliessungs- 
erregung) sowohl  bei  Schliessung  des  aufsteigenden  wie  absteigenden 
Stromes  beobachtet  wird,  während  die  Oeffnung  des  Reizkreises  ohne 
sichtbare  Wirkung  bleibt;  andernfalls  sind  aber  die  Erfolge  bei  beiden 
Stromesrichtungen  einander  gerade  entgegengesetzt,  indem  dann  nur 
die  Schliessung  des  absteigenden  und  die  Oeffnung  des  aufsteigenden 
Stromes  eine  negative  Schwankung  bewirkt,  während  die  Schliessung 
des  aufsteigenden  und  Oeffnung  des  absteigenden  Stromes  wirkungslos 
bleiben. 

Ein  weiterer  Beweis  für  die  ursächliche  Beziehung  zwischen  den 
in  Rede  stehenden  galvanischen  Erscheinungen  und  der  durch  den 
Strom  bewirkten  Erregung  des  Nerven  ist  durch  den  Umstand  gegeben, 
dass  diese  wie  jene  durch  Abtödtung  des  Endstückes  der  Reizstrecke 
in  gleicher  Weise  beeinflusst  werden.  Es  wurde  früher  bereits  gezeigt, 
dass  bei  dem  markhaltigen  und  marklosen  Nerven,  wie  bei  quergestreiften 
und  glatten  Muskeln  das  Zustandekommen  der  Erregung  erschwert 
oder  ganz  behindert  wird ,  wenn  der  Strom  an  einer  irgendwie  ver- 
letzten Stelle  aus-  oder  eintritt.  In  der  That  sieht  man  nach  Abtödtung 
eines  Theiles  der  Reizstrecke  (2—4  mm)  die  negative  Schliessungs- 
schwankung  bei  aufsteigender  Stromesrichtung  am  Muschelnerven  ganz 
ebenso  wegfallen,  wie  andernfalls  die  Schliessungserregung  des  Muskels. 
Dagegen  wird  die  negative  Schwankung  bei  Schliessung  des  absteigen- 
den Stromes  durch  den  genannten  Eingriff  ebensowenig  beeinflusst, 
wie  die  bei  Oeffnung  des  aufsteigenden,  womit  zugleich  bewiesen  ist, 
dass  die  erstere  Wirkung  durch  eine  von  der  Kathode,  die  letztere 
durch  eine  von  der  Anode  ausgehende  Veränderung  des  Nerven  be- 
dingt wird. 

Bei  markhaltigen  Froschnerven  werden  analoge  Wirkungen  offen- 
bar nur  durch  die  für  gewöhnlich  sehr  wenig  ausgesprochene  Neigung 
zur  Dauererregung  durch  den  in  constanter  Dichte  fliessenden  Strom 
verhindert.  In  der  That  beobachtete  Engel  mann  (17)  schon  vor 
längerer  Zeit,  dass  bei  Nerven,  welche  sich  in  jenem  eigenthümlichen 
Zustande  befinden,  wo  jede  Schliessung,  beziehungsweise  Oeffnung 
eines  Kettenstromes  zu  einer  mehr  oder  minder  lang  anhaltenden 
Dauererregung  führt,  die  sich  am  anhängenden  Muskel  als  Schliessungs- 
oder Oeffnungstetanus  äussert,  das  Galvanometer  bei  Ableitung  vom 
Querschnittende  dem  entsprechend  eine  negative  Schwankung  des  De- 
marcationsstromes  anzeigt.  Um  diese  Erscheinung  an  markhaltigen 
Nerven  rein  und  ungetrübt  durch  später  zu  erörternde  galvanische 
Wirkungen  zu  beobachten,  bedient  man  sich  am  besten  sehr  empfind- 
licher Präparate  von  Kaltfröschen  und  prüft  die  Wirkung  bei  mög- 
lichst grossem  Abstand  der  abgeleiteten  von  der  Reizstrecke  unter 
Anwendung  der  schwächsten  Ströme.  Unterhalb  der  Kathode  eines 
absteigenden  Stromes  zeigt  sich  dann  regelmässig  eine  deutliche  negative 
Schliessungsschwankung,  die  schon  bei  sehr  geringer  Stromesintensität 
ihr  Maximum  erreicht  und  immer  viel  beträchtlicher  ist,  als  bei 
Schliessung  eines  aufsteigenden  Stromes.  Dagegen  erfolgt  in  diesem 
letzteren  Falle  in  der  Regel  eine  in  ihrer  Grösse  wesentlich  von  der 
Dauer  der  vorhergehenden  Durchströmung  abhängige  negative  Ab- 
lenkung (als  galvanischer  Ausdruck  des  Oeffnungstetanus),  die  nur 
langsam  abklingt. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  655 

Es  wurde  schon  oben  bemerkt,  class  der  negativen  Schwankung 
am  marklosen  Muschelnerven  unter  Umständen  eine  deutliche  posi- 
tive Nach  Schwankung  im  Sinne  einer  Verstärkung  des  Demar- 
cationsstromes  folgt.  Schon  vorher  hatte  Hering  (18)  dieselbe  Er- 
scheinung am  markhaltigen  Froschnerven  bei  tetanisirender  Reizung 
wahrgenommen,  indem  auch  hier  die  negative  Schwankung  des  Nerven- 
stromes im  Allgemeinen  von  einer  positiven  Schwankung  gefolgt  ist, 
welche  nach  Schluss  der  Reizung  eintritt  und  sich  daher  unmittelbar 
an  die  negative  Schwankung  anschhesst.  Die  Angabe  Du  Bois- 
Reymond's,  „dass  die  Nadel  des  Multiplicators  nach  dem  Tetanisiren 
stets  nur  mehr  oder  weniger  unvollständig  ihren  Stand  wieder  ein- 
nimmt", was  er  auf  einen  Verlust  des  Nerven  an  elektromotorischer 
Kraft  in  Folge  der  vorausgegangenen  Erregung  bezieht,  erweist  sich 
daher,  wie  Hering  zeigt,  im  Allgemeinen  als  nicht  zutreffend. 

Am  sichersten  lässt  sich  die  Erscheinung  beobachten,  wenn  man 
den  Nervenstrom  zuvor  compensirt.  „Die  negative  Schwankung  findet 
dann  ihren  Ausdruck  bekanntlich  darin,  dass  der  Magnet  unter  dem 
Einflüsse  des  jetzt  überwiegenden  Compensationsstromes  aus  seiner 
Gleichgewichtslage  im  entgegengesetzten  Sinne  abgelenkt  wird.  Nach 
Schluss  der  Reizung  geht  nun  aber  der  Magnet  nicht  nur  in  die 
Gleichgewichtslage  zurück,  sondern  über  dieselbe  hinaus  und 
kehrt  sodann  entweder  sofort  oder  wenigstens  nach  kurzer  Zeit  wieder 
um  und  langsam  in  die  Gleichgewichtslage  zurück.  Hiermit  ist  die 
positive  Nachschwankung  abgelaufen."  Wegen  des  raschen  Ablaufes 
derselben  und  der  Trägheit  des  Magneten  erhält  man  in  der  Regel 
.noch  stärkere  Wirkungen,  wenn  der  Bussolkreis  während  der  Dauer 
der  Reizung  geöffnet  bleibt  und  erst  unmittelbar  nachher  in  geeigneter 
Weise  geschlossen  wird.  „Die  positive  Nachschwankung  wächst",  wie 
Hering  fand ,  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  mit  der  Dauer  der  Er- 
regung. Sie  wird  schon  bemerklich,  wenn  die  Reizdauer  auch  nur 
einen  Bruchtheil  einer  Secunde  beträgt,  und  war  nach  einer  durch  eine 
Secunde  dauernden  Reizung  bisweilen  schon  beträchtlich.  Die  von 
der  Reizdauer  abhängige  Zunahme  ist  nur  bei  überhaupt  kurzen 
Reizungen  auffällig,  weiterhin  wächst  sie  nur  noch  wenig  mit  zu- 
nehmender Dauer  der  Reizung,  nimmt  wieder  ab,  wenn  die  Reizdauer 
eine  gewisse  Grenze  überschreitet,  und  verschwindet  mit  weiterem 
Wachsen  derselben  schliesslich  ganz."  Auch  Head,  welcher  sich  in 
der  Folge  unter  Hering 's  Leitung  näher  mit  der  Erscheinung  der 
positiven  Nachschwankung  beschäftigte,  fand  (10)  dieselbe  innerhalb 
gewisser  Grenzen  zunehmend  mit  der  Intensität  und  Dauer  der  Rei- 
zung. Unter  günstigen  Umständen  (besonders  an  Präparaten  von 
kalt  gehaltenen  Temporarien)  übertrifft  der  positive  Ausschlag  nicht 
selten  die  vorhergehende  negative  Schwankung.  Bei  Esculenten 
beträgt  nach  Head  der  Mittelwerth  der  grössten  positiven  Schwan- 
kungen etwas  über  50  ^  o  des  Mittelwerthes  der  grössten  negativen, 
bei  Temporarien  durchschnittlich  über  81  "o.  Bei  „Warmfröschen", 
Av eiche  mehrere  Tage  lang  in  einem  Raum  aufbewalirt  wurden,  dessen 
Temperatur  auch  des  Nachts  nicht  unter  Ib^  C.  herabging,  fehlt  un- 
geachtet starker  negativer  Schwankung  die  positive  Nachschwankung 
immer.  Es  scheint,  dass  dieselbe  auf  einer  Veränderung  an  der  Stelle 
des  abgeleiteten  Längsschnittpunktes  beruht,  welche  sich  daselbst  nach 
Schluss  der  Reizung  entwickelt  und  in  elektrischer  Beziehung  eine 
dem  Erfolg   der  Erregung   entgegengesetzte  Wirkung   hat.     Man  darf 


556  l^i^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

in  derselben  vielleicht  den  galvanischen  Ausdruck  einer  Art  von 
Reaction  der  reizbaren  Substanz  gegen  die  vorausgegangene  Erregung 
erblicken,  als  deren  galvanischen  Erfolg  wir  die  negative  Schwankung 
betrachten  müssen,  eines  Restitutionsprocesses,  der  nur  unter  günstigen 
Bedingungen  voll  zur  Geltung  kommt. 

Unter  dieser  Voraussetzung  wird  es  verständlich,  dass  innerhalb 
gewisser  Grenzen  die  Grösse  der  positiven  Nachschwankung  mit  der 
Dauer  der  vorhergehenden  Erregung  wächst,  sowie  dass  bei  wieder- 
holter Reizung  die  positive  Schwankung  früher  abnimmt  als  die  nega- 
tive. Denn  die  Reactionsfähigkeit  des  Nerven  wird  wohl  in  erster 
Linie  durch  anhaltende  Thätigkeit  leiden,  wenn  mit  dieser  ein  merk- 
licher,  wenn  auch  noch  so  geringer  Stoffverbrauch  Hand  in  Hand 
geht.  Die  „ünermüdbarkeit"  markhaltiger  Nerven  zeigt,  dass  dies 
in  der  That  nur  in  einem  äusserst  geringen,  direct  nicht  nachweis- 
baren Grade  der  Fall  sein  kann.  Die  positive  Nachschwankung  (oder 
richtiger  ihr  Fehlen)  würde  demgemäss  zur  Zeit  als  einziges  sicheres 
Kriterium  des  Ermüdungszustandes  der  Nervensubstanz  angesehen 
werden  können.  „Der  mehr  oder  weniger  erschöpfte  Nerv  charak- 
terisirt  sich  zunächst  nicht  sowohl  dadurch,  dass  er  den  Reiz'  mit 
schwächerer  Erregung  beantwortet,  sondern  vielmehr  dadurch,  dass 
er  nach  Ablauf  der  Erregung  nicht  mehr  mit  der  Energie  des  frischen 
Nerven  durch  den  gegentheiligen  Process  reagirt.  Die  Stärke 
dieser  Reaction,  welche  i  n  der  positive  n(Nach-)Sch  wan- 
kung ihren  Ausdruck  findet,  ist  geradezu  ein  Maass  für 
die  Tüchtigkeit  des  Nerven."     (Head.) 

Mit  Rücksicht  auf  die  bereits  früher  besprochene  ausserordentliche 
Resistenzfähigkeit  markhaltiger  Kalt-  und  Warmblüternerven  gegen- 
über völliger  Unterbrechung  ihrer  normalen  Ernährungsverhältnisse 
kann  es  wohl  kaum  überraschen,  wenn  die  negative  Schwankung  am 
Galvanometer  als  Ausdruck  der  Erregung,  gerade  wie  diese  selbst,  an 
den  normal  ernährten  natürlichen  Endapparaten  auffallend  lange 
nach  dem  Freipräpariren  des  Nerven  beobachtet  werden  kann.  So 
sah  schon  Hermann  (19)  an  Kaninchennerven  häufig  galva- 
nische Erregungserscheinungen  noch  mehrere  Stunden,  nachdem  die 
Wirkung  auf  den  Muskel,  ja  selbst  die  directe  Erregbarkeit  des  letz- 
teren verloren  gegangen  war.  L.  Fredericq  (1)  sah  negative 
Schwankung  an  Kaninchen-,  Hunde-  und  Pferdenerven  bei  elektrischer 
Reizung  noch  bis  zu  24  Stunden  nach  dem  Tode,  und  Boruttau 
(20)  führt  an,  dass  es  gelingt,  Froschpräparate  bei  niederer  Temperatur 
7 — 12  Tage  aufzubewahren,  ohne  dass  dieselben  die  Fähigkeit  ver- 
lieren, bei  elektrischer  Reizung  eine  deutliche,  wiewohl  schwache 
negative  Schwankung  zu  geben.  Endlich  würde  auch  noch  die  Beob- 
achtung Stein  ach 's  (21)  zu  erwähnen  sein,  dass  eben  trocken  ge- 
wordene Froschnerven  nach  Aufweichung  in  0,6^*0  Kochsalzlösung 
wieder  deutliche  negative  Schwankung  zeigen.  Ausgehend  von  ge- 
wissen, später  noch  zu  besprechenden,  rein  physikalischen  Erscheinungen 
an  sogenannten  Kernleitern  hält  sich  Boruttau  für  berechtigt,  aus 
den  erwähnten  Thatsachen  den  Schluss  abzuleiten,  „dass  die  Persistenz 
derjenigen  Eigenschaften  des  Nerven,  auf  Grund  deren  die  galvanischen 
Erscheinungen  an  ihm  in  der  Ruhe  (Demarcationsstrom)  und  bei  elek- 
trischen EinwirkiTngen  (negative  Schwankung)  zu  beobachten  sind, 
nicht  sowohl  dadurch  bestimmt  wird,  dass  zugleich  auch  dasjenige  be- 
steht,   auf  Grund    dessen   vom  Nerven    aus  auch  noch  eine  Auslösung 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nei'ven.  657 

von  Muskelaction  möglich  ist,  als  vielmehr  durch  die  Conservirung 
der  normalen  Structur."  Es  würde  also  mit  anderen  Worten  „die  als 
negative  Stromesschwankung  bezeichnete  galvanische  Erscheinung  auch 
am  Nerven  des  abgestorbenen  Präparates  eintreten  müssen,  wenn 
derselbe  solchen  elektrischen  Einwirkungen  unterworfen  wird,  welche 
am  frischen  Präparat  ihn  zur  Auslösung  von  Muskelaction  reizen". 
Auch  durch  mechanische  Einwirkungen  (Zerschneiden,  Zerquetschen), 
sowie  bei  chemischer  Reizung  will  Boruttau  mittels  des  Capillar- 
elektrometers  an  „abgestorbenen",  über  8  Tage  aufbewahrten  Frosch- 
nerven negative  Schwankung  gesehen  haben,  und  das  gleiche  Resultat 
erhielt  er  am  Vagosympathicus  des  Hundes  2 — 3  Tage  nach  dem 
Ausschneiden  bei  mechanischem  Tetanisiren. 

Wenn  man  auch  an  dem  Thatsächlichen  dieser  Beobachtungen 
nicht  zweifeln  mag,  so  wird  man  doch  den  daraus  gezogenen  Schluss- 
folgerungen kaum  beistimmen  können.  Wenn  nicht  absolut  zwingende 
Gründe  beigebracht  werden,  ist  man,  glaube  ich,  unter  allen  Um- 
ständen berechtigt,  daran  festzuhalten,  dass  die  negative  Schwan- 
kung des  Nervenstromes  ganz  ebenso  wie  die  des  Muskels  als  gal- 
vanischer Ausdruck  der  Erregung  des  lebenden  Nerven 
eine  vitale  physiologische  Erscheinung  ist  und  nicht  bloss 
„wellenförmig  ablaufender  (physikalischer)  Katelektrotonus."  Nie- 
mand, der  die  Erregungserscheinungen  lebendiger  Substanzen  von 
einem  allgemeineren  Standpunkte  aus  zu  betrachten  gewöhnt  ist, 
wird  auch  nur  einen  Augenblick  daran  zweifeln,  dass  die  negative 
Schwankung  als  ein  specieller  Fall  der  Actionsströme  nicht  nur 
bei  markhaltigen ,  sondern  auch  bei  marklosen  Nerven ,  glatten  und 
quergestreiften  Muskeln  und  wahrscheinlich  noch  vielen  andern 
Arten  irritablen  Plasmas  als  Begleit-  und  Folgeerscheinung  jener 
chemischen  Veränderungen  anzusehen  ist,  welche  das  eigentliche 
Wesen  der  Erregung  ausmachen.  Es  scheint  durchaus  geboten,  eine 
einseitig  physikalische  Auffassung  vitaler  Phänomene,  die  sich 
neuerdings  auf  den  verschiedensten  Gebieten  physiologischer  Forschung 
als  unhaltbar  erwiesen  hat,  auch  in  der  „Nerven-  und  Muskelphysik" 
nicht  wieder  zu  beleben,  wo  sie  lange  genug  den  Fortschritt  hemmte. 
Dass  aber  andererseits  durchaus  kein  genügender  Grund  vorliegt,  die 
Nerven,  an  welchen  Boruttau  experimentirte,  für  wirklich  abge- 
storben zu  halten  und  ihnen  nicht  noch  einen  Rest  von  physiologischer 
Erregbarkeit  zuzuschreiben,  wird  Jeder  zugeben,  der  sich  einmal  davon 
überzeugt  hat,  wie  selbst  durchschnittene  Warmblüternerven  (wie 
B.  der  Vagus),    gänzlich    freipräparirt    und  aus   der  Wunde  heraus- 

')en,  also  sicher  nicht  normal  ernährt,  noch  viele  Stunden  hin- 
durch erfolgreich  gereizt  werden  können,  wenn  nur  eben  das  Erfolgs- 
organ (Herz,  Athmungscentrum)  sich  in  gutem  Zustand  befindet. 
Unter  allen  Umständen  ist  aus  dem  Fehlen  der  indirecten  und  selbst 
der  directen  Muskelreizbarkeit  in  keiner  Weise  auf  das  völlige  Ab- 
gestorbensein der  zugehörigen  Nerven  zu  schliessen,  und  trotz  des 
Einspruches  von  Boruttau  wird  es  bis  auf  Weiteres  erlaubt  sein, 
die  Actionsströme  und  somit  auch  die  negative  Schwankung  aller 
irritablen  Gebilde  unter  einheitlichen  Gesichtspunkten  zu  be- 
trachten. 

Wenn  man  sich,  wie  die  vorstehenden  Erörterungen  wohl  hin- 
länglich beweisen,  des  Galvanometers  wirklich  bedienen  kann,  um 
durch   Beobachtung    der   negativen  Schwankung  den  Zustand  der  Er- 


658  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

regimg"  eines  Nerven  unabhängig  von  den  Veränderungen  eines  natür- 
lichen Ertblgsorganes  zu  erkennen,  so  haben  Avir  damit,  wie  leicht  er- 
sichtlich ist,  zugleich  ein  Mittel  gewonnen,  das  doppelsinnige  Leitungs- 
vermögen in  einer  völlig  einwandfreien  Weise  zu  beweisen,  denn 
reizen  ^v\r  einen  rein  motorischen  Nerven  am  peripheren  Ende,  so 
zeigt  sich  am  abgeleiteten  centralen  Schnittende  die  negative  Schwan- 
kung ganz  ebenso  wie  im  umgekehrten  Falle,  und  ebenso  lässt  sich  bei 
Reizung  eines  rein  centripetal  leitenden  (sensiblen)  Nerven  an  einer 
beliebigen,  peripher  von  der  Reizstelle  gelegenen  Strecke  die  negative 
Schwankung  nachweisen.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  ist  es  nun 
sehr  wesentlich, 


Die  negative  Schwankung  bei  nicht  elektrischer 
Reizung 

zu  prüfen.  Es  wurde  bereits  mehrfach  der  Thatsache  gedacht,  dass 
sich  functionell  verschiedene  Nerven  denselben  Reizen  gegenüber 
nicht  ganz  gleichartig,  sondern  in  höchstem  Maasse  verschieden  ver- 
halten. So  hat  Grützner  (22)  gezeigt,  dass  centrifugal  und  centri- 
petal leitende  Nerven  bei  thermischer  Reizung  ganz  verschieden 
reagiren,  indem  durch  Erwärmung  auf  40 — 50 '^  C  die  letzteren  fast 
ausnahmslos  stark  erregt  werden,  während  die  ersteren  (mit  Ausnahme 
der  Vasodilatatoren)  anscheinend  nicht  gereizt  werden.  Es  Avurde 
aber  auch  schon  hervorgehoben,  dass  diese  Versuche  streng  genommen 
keinen  Aufschluss  über  die  in  d e n  N e r v e n  s e  1  b  s  t  sich  abspielenden 
Vorgänge  geben,  sondern  dass  hier  nur  aus  dem  Verhalten  der  Er- 
folgsorgane Rückschlüsse  gemacht  werden.  Gerathen  diese  Apparate 
in  Thätigkeit,  wenn  ihre  Nerven  in  irgend  einer  Weise  gereizt  werden, 
so  kann  hinsichtlich  deren  Erregung  natürlich  kein  Zweifel  bestehen. 
Anderenfalls  sind  aber  offenbar  zwei  Möglichkeiten  denkbar :  Entweder 
die  Nerven  selbst  werden  wirklich  nicht  erregt,  oder  aber  der  Er- 
regungsvorgang pflanzt  sich  wenigstens  nicht  weiter  fort,  oder  endlich 
der  betreffende  Endapparat  ist  nicht  im  Stande,  auf  den  ihm  zu- 
geleiteten Reiz  zu  reagiren.     (Grützner  1.  c.) 

Ist  nun  aber  wirklich  die  negative  Schwankung  der  Ausdruck 
der  Erregung  des  Nerven,  so  bietet  die  Untersuchung  derselben  ein 
einfaches  und  bequemes  Mittel,  die  Erregung  bezw.  Erregbarkeit  ver- 
schiedener Nerven  ganz  unabhängig  vom  Erfolgsorgan  bei  verschiede- 
nen Reizen  zu  untersuchen.  Hierbei  sind  wieder  zwei  Möglichkeiten 
denkbar:  Entweder  bedingen  gleichartige  Reize,  auf  verschiedene 
Nerven  wirkend,  auch  eine  gleichartige  negative  Schwankung;  dann 
würde  die  Ursache  des  verschiedenen  Erfolges  in  den  Endorganen 
zu  suchen  sein,  oder  es  könnte  entsprechend  der  Verschiedenheit  des 
Reizerfolges  an  den  letzteren  auch  die  negative  Schwankung  sich 
verschieden  erweisen;  dann  würde  die  Ursache  der  Verschieden- 
heit der  Wirkungen  in  den  Nerven  selbst  gelegen  sein.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  hat  Grützner  (22)  zunächst  den  Einfluss 
thermischer  Reizung  auf  die  negative  Schwankung  an  verschie- 
denen Nerven  untersucht.  Einen  hierher  gehörigen,  allerdings  zu 
mancherlei  Einwänden  Anlass  gebenden  Versuch  hat  schon  Du 
Bois-Reymond  (23)  angestellt.  Er  legte  den  Nerven  (Ischiadicus 
vom  Frosch)   auf  eine  Schichte    angefeuchteten  Schiesspulvers,    durch 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  659 

dessen  Abbrennen  vom  einen  Ende  her  der  Nerv  successive  verkohlt 
wird.  Ungeachtet  der  zweifellos  sehr  eingreifenden  Reizung  aufein- 
ander, folgender  Querschnitte  des  Nerven,  die  übrigens  kaum  als  eine 
rein  thermische  aufgefasst  werden  kann,  waren  die  galvanischen  Er- 
folge sehr  geringfügig  und  jedenfalls  nicht  zu  vergleichen  mit  den 
kräftigen  Wirkungen  bei  elektrischer  Reizung.  Offenbar  kann,  wie 
Grützner  bemerkt,  bei  solchen  Versuchen  eine  negative  Schwankung 
schon  durch  die  unvermeidliche  Verkürzung  der  wirksamen  Nerven- 
strecke vorgetäuscht  werden. 

Auch  mittels  der  inzwischen  sehr  vervollkommneten  Versuchs- 
technik gelang  es  in  der  Folge  Grützner  nicht,  irgend  beträcht- 
lichere Wirkungen  zu  erzielen.  Bei  Temperaturen  von  40—50"  C 
nahm  der  Demarcationsstrom  des  Froschnerven  zwar  merklich  ab, 
allein  immer  nur  in  geringem  Grade  und  sehr  langsam,  auch  blieb  in 
der  Regel  eine  dauernde  Abnahme  des  Stromes  bestehen,  so  dass 
das  Phänomen  mit  dem  Ergebniss  der  elektrischen  Reizung  kaum  zu 
vergleichen  war.  Versuche  an  den  vorderen  und  hinteren  Wurzeln 
ergaben  noch  weniger  sichere  Resultate,  so  dass  die  Frage,  ob  ther- 
mische Reize  stärker  auf  centripetale  als  centrifugale  Nerven  wirken, 
insoweit  sich  diese  Wirkung  in  der  Grösse  der  negativen  Schwankung 
äussert,  unentschieden  bleiben  muss.  Auch  durch  mechanische 
Einzelreize  (Abschneiden  mit  der  Scheere)  in  grösserer  Entfernung 
von  der  Reizstelle  konnte  Grützner  keine  negative  Schwankung 
bewirken.  Erst  wenn  der  Schnitt  der  Längsschnittselektrode  auf 
10  mm  nahe  kam,  war  eine  geringe,  und  zwar  dauernde  Schwächung 
des  Stromes  zu  bemerken.  Dagegen  beobachtete  Hering  (24)  bei 
Durchschneidung  des  marklosen  Hecht-Olfactorius  nicht  nur  eine 
starke  negative  Schwankung,  sondern  auch  eine  deutliche  positive 
Nachschwankung,  und  analoge  Wirkungen  habe  ich  selbst  am  mark- 
losen Muschelnerven  constatirt.  St  ei  nach  (21)  gelanges  neuerdings, 
in  einwandfreier  Weise  zu  zeigen,  dass  auch  an  hierzu  geeigneten 
Froschnerven  (besonders  von  kalt  gehaltenen  Thieren)  jede  einmalige 
Durchschneidung  eine  unter  Umständen  sehr  erhebliche  negative 
Schwankung  bewirkt,  deren  zeitlicher  Verlauf  im  Allgemeinen  dem 
bei  elektrischer  Reizung  entspricht.  Der  Spiegel  schwingt  rasch 
zurück  und  erreicht  dann  viel  langsamer  wieder  seine  Ruhelage.  Es 
hängt  dies  offenbar  mit  dem  langsamen  Abklingen  der  Dauererregung 
zusammen,  das  sich  ja  auch  in  der  Neigung  der  Muskeln  zu  tetanischer 
Erregung  bei  Reizung  der  Nerven  mit  dem  Kettenstrome  oder  durch 
Nebenschliessung  des  eigenen  Stromes  ausspricht.  Auch  Boruttau 
(1.  c.  p.  31)  verzeichnete  an  Froschnerven  bei  mechanischer  Reizung 
positive  Resultate,  und  zwar  sowohl  bei  einfacher  Durchschneidung  wie 
bei  mechanischem  Tetanisiren. 

Bei  chemischer  Reizung  mittels  NaCl  beobachtete  schon 
Grützner  eine  allmähliche  Stromabnahme,  und  auch  Kühne  und 
Steiner  (2)  erhielten  Negativschwankung  des  Demarcationsstromes 
am  marklosen  Hechtolfactorius  unter  gleichen  Umständen.  Ob  an  der 
geringen  Wirkung  nur  die  ungleichzeitige  Erregung  der  einzelnen 
Fasern  des  Nervenstammes  Schuld  trägt,  wie  Grützner  meint,  oder 
noch  andere  Momente,  ist  fraglich. 

Nach  Abschneiden  der  gereizten  Nervenstrecke  oder  Auswaschen 
derselben  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  sah  Stein  ach  die  im 
Verlauf     der     chemischen    Reizung     entstandene    Verminderung     des 


QQQ  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

Demarcationsstromes  sich  wieder  völlig  ausgleichen.  Als  Reizmittel 
bewährte  sich  ihm  am  besten  Alkohol,  und  es  zeigte  sich  auch  hier- 
bei wieder  der  wesentliche  Unterschied  zwischen  Kalt-  und  Warm- 
fröschen, indem  Eintauchen  des  centralen  Nervenendes  bei  den  ersteren 
zunächst  Tetanus  der  Beuger  verursacht,  dem  sich  später  ein  heftiger 
Strecktetanus  anschliesst,  während  ein  Nerv-Muskelpräparat  von  einem 
Warmfrosch  unter  gleichen  Umständen  nur  wenige  Zuckungen  macht, 
worauf  Ruhe  eintritt. 

Unter  allen  Umständen  m  u  s  s  aber  die  negative 
Schwankung  des  Nervenstromes  als  ein  weit  minder 
empfindliches  Reagens  der  Erregung  gelten,  als  die 
Reaction  des  natürlichen  Erfolgsorganes.  Denn  stets  tritt, 
(auch  bei  elektrischer  Reizung)  die  sichtbare  Reaction  am  Muskel 
früher,  d.  h.  bei  einem  grösseren  Rollenabstande  auf,  als  die  negative 
Ablenkung  am  Galvanometer.  Der  Unterschied  der  erforderlichen 
Reizstärke  ist  bei  Warrafröschen  immer  viel  grösser,  als  bei  Präpa- 
raten von  Kaltfröschen.  Steinach  reizte  mit  Inductionsströmen 
gleichzeitig  beide  Ischiadici,  von  welchen  der  eine  mit  dem  Unter- 
schenkel zusammenhing,  während  vom  andern  zum  Galvanometer  ab- 
geleitet wurde.  Bei  einem  Warmfrosch  trat  Tetanus  bei.  einem  Rollen- 
abstand von  43  cm,  negative  Schwankung  erst  bei  27  cm  ein,  beim 
Kaltfrosch  betrug  der  Unterschied  39  und  38  cm.  Wenn  aus  allen 
diesen  Versuchen  sich  auch  kein  sicherer  Schluss  hinsichtlich  des 
Vorhandenseins  von  qualitativen  Unterschieden  der  Nervenfasern  ziehen 
lässt,  so  weist  doch  wieder  die  Thatsache,  dass  auch  bei  elektrischer 
Reizung,  wobei  alle  Fasern  gleichzeitig  und  gleich  stark  erregt  Averden, 
unter  Umständen  die  negative  Schwankung  auffallend  schwach  ist 
oder  ganz  fehlt,  auf  derartige  Unterschiede  hin.  Schon  L.  F  r  e  d  e  r  i  c  q  ( 1 ) 
war  der  ausserordentlich  geringe  Betrag  der  negativen  Schwankung 
bei  elektrischer  Reizung  von  Säugethierner ven  aufgefallen,  und 
dieselbe  Thatsache  constatirte  neuerdings  auch  wieder  Grützner. 

An  einem  künstlich  abgekühlten  Kaninchen  Hess  sich  keine  Spur 
negativer  Schwankung  nachweisen,  obschon  dieselbe  Erregung  des 
Hüftnerven  die  Muskeln  zu  stärkstem  Tetanus  anregte.  Es  scheint 
also ,  als  ob  hier  die,  der  negativen  Schwankung  zu  Grunde  liegende 
Veränderung  sich  nicht  fortpflanzte,  obschon  der  ganze  Nerv  noch  an 
jeder  Stelle  erregbar  und  leitungsfähig  ist.  An  normalen  Nerven 
nicht  abgekühlter  Säugethiere  beobachtet  man  zwar  negative  Schwan- 
kung, aber  immer  in  einem  auffallend  geringen  Grade,  verglichen  mit 
der  beim  Froschnerven,  Während  hier  die  stärksten  anwendbaren 
Ströme  leicht  eine  negative  Schwankung  von  10  '^  o  des  Nervenstromes 
erzeugen,  rufen  dieselben  bei  Säugethiernerven  höchstens  eine  solche 
von  4"  0  hervor. 

In  den  bisher  besprochenen  Fällen  handelte  es  sich  stets  um  Er- 
regung des  Nerven  in  der  Continuität.  Es  fragt  sich:  wie  verhält 
sich  die  negative  Schwankung  bei  Reizung  der  natür- 
lichen centralen  oder  peripheren  Endorgane  derNerven- 
fasern?  Wieder  verdanken  wir  Du  B o i s - R e y m o n d  die  ersten 
hierher  gehörigen  Beobachtungen,  indem  es  ihm  gelungen  ist,  beim 
Ausbruch  des  Stry  chnin  krampfes  eine  deutliche  Ver- 
minderung des  L ä n g s -  Q, u e r s c h n i 1 1 s t r o m e s  an  dem  mit 
demRückenmark  in  Zusammenhang  befindlic  hen  Nervus 
ischiadicus  vom  Frosche  zu  sehen.    In  der  Ueberzeugung,  dass 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  661 

die  negative  Schwankung  als  galvanischer  Ausdruck  der  Erregung  zu 
betrachten  sei,  vergiftete  Du  B  o  i s - R e y  m o n  d  einen  gehörig  fixirten 
Frosch  mit  Strychnin,  worauf  nacli  Unterbindung  der  A.  iliaca 
der  einen  Seite  der  Nervus  ischiadicus  derselben  Seite  in  der  Kniekehle 
durchschnitten  und  bis  zur  Wirbelsäule  freipräparirt  wurde.  Vom 
peripheren  Schnittende  wurde  zum  Multiplicator  abgeleitet.  Glückt  es 
nun,  dass  der  Strychninkrampf  in  dem  Augenblicke  ausbricht,  wenn 
die  durch  den  Nervenstrom  abgelenkte  Nadel  eben  zur  Ruhe  ge- 
kommen ist,  so  sieht  man  beim  Eintritt  des  Krampfes  die  Nadel  um 
mehrere  Grade  zurückschwingen.  Doch  ist  der  Versuch  sehr  unsicher 
und  sein  Gelingen  von  vielen,  nicht  sicher  zu  beherrschenden  Neben- 
umständen abhängig.  Dagegen  beobachtet  man  bei  künstlicher  Reizung 
der  motorischen  Zone  der  Grosshirnrinde  sehr  regelmässig  eine  negative 
Schwankung  des  Längs-Querschnittstromes  am  Rückenmark,  die  sich 
bei  Anwendung  des  Capillarelektrometers  als  aus  rhythmischen  Oscilla- 
tionen  bestehend  erweist,  wenn  gleichzeitig  epileptiforme  Krämpfe  der 
Muskeln  auftreten. 

In  einem  gewissen  Gegensatz  zu  den  sehr  starken  Wirkungen  bei 
Ableitung  vom  Längsschnitt  und  Querschnitt  des  Rückenmarkes  steht, 
wie  Gotch  und  Horsley  (5)  bemerken,  die  Geringfügigkeit  der 
Erfolge  bei  Ableitung  vom  Schnittende  des  Nervus  ischiadicus  während 
der  Reizung  der  motorischen  Zone.  Nach  den  Beobachtungen  von 
V.  Horsley  nimmt  die  Grösse  der  Erregung  auf  dem  Wege  vom 
Rückenmark  in  den  gemischten  Nerven  um  mehr  als  80*^0  ab.  Der- 
selbe Unterschied  macht  sich  auch  dann  geltend,  Avenn  nicht  die  Rinde, 
sondern  die  Faserzüge  des  Stabkranzes  direct  gereizt  werden. 

Ist  es  somit  als  festgestellt  anzusehen,  dass  centrifugale,  von  den 
irgendwie  erregten  Centren  selbst  ausgehende  Impulse  eine  negative 
Schwankung  des  Nervenstromes  bewirken  können,  so  scheint  dasselbe 
auch  für  sensorische  Impulse  durch  neuere  Beobachtungen  sicher- 
gestellt; einen  Versuch,  um  zu  sehen,  ob  ein  sensibler  Nerv  auf  Er- 
regung seiner  natürlichen  Enden,  und  zwar  durch  den  adäquaten  Reiz, 
statt  Empfindung  zu  veranlassen,  den  Magneten  des  Multiplicators 
bewegen  könne ,  derart  wie  der  motorische  Nerv  in  dem  oben  er- 
wähnten Strychninversuch  die  Nadel  statt  des  Muskels  bewegte,  war 
schon  Du  Bois-Reymond  bestrebt  zu  machen.  Er  beobachtete 
negative  Schwankung  am  Ischiadicus  des  Frosches,  wenn  der  behäutete 
Unterschenkel  mit  siedender  Salzlösung  von  den  Zehen  zum  Knie 
fortschreitend  verbrüht  oder  von  concentrirter  Schwefelsäure  verätzt 
und  erhitzt  wurde  (23).  Allein  hierbei  handelt  es  sich,  Avie  Du  Bois- 
Reymond  selbst  es  ausdrückt,  wohl  mehr  um  ein  „Tetauisiren  des 
Ischiadicus  von  seinen  Hautverzweigungen  aus",  als  um  eine  Erregung 
der  sensiblen  Endorgane  der  Haut.  In  der  That  sah  Kühne  (9), 
dass  die  negative  Schwankung  bestehen  bleibt,  wenn  man  vor  der 
Verbrühung  die  Haut  bis  zu  einer  um  den  Fuss  gelegten  Ligatur  ab- 
zieht und  nach  dem  Durchreissen  der  Hautnerven  wieder  zum  Knie 
emporzieht  oder  dieselbe  auch  ganz  entfernt.  Dagegen  gelang  es 
Kühne  (9)  am  Hechtauge,  später  auch  beim  Barsch  und  am  voll- 
kommensten beim  Frosch  die  n  e  g  a  t  i  v  e  S  c  h  w  a  n  k  u  n  g  d  e  s  O  p  t  i  c  u  s 
bei  Licht reizung  der  Retina  sicher  zu  erweisen,  so  dass  es  als 
sicher  gelten  darf,  dass  der  Strom  des  sensiblen  Nerven  in  diesem  Falle 
auf  die  gewiss  sehr  eigenthümliche  Erregungsweise  des  epithelialen 
Endapparates  durch  Licht  ganz  in  derselben  Weise  reagirt,  wie  der  des 


QQ2  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

gemischten  oder  motorischen  Nerven  auf  Erregungen  aller  Art,  gleich- 
viel, ob  diese  von  den  centralen  Ganglienzellen  ausgehen  oder  den 
Nerven  selbst  in  der  Continuität  als  mechanische,  chemische,  thermi- 
sche oder  elektrische  Reize  betreffen.  Immer  jedoch  ist  es  nur  dieselbe 
wohlbekannte  negative  Schwankung  der  stromgebenden  Nerven,  der 
wir  als  Begleiterscheinung  der  Erregung  begegnen,  eine  Thatsache, 
die  als  eine  der  wesentlichsten  Stützen  für  die  herrschende  Annahme 
der  physiologischen  Gleichwerthigkeit  aller  Nervenfasern  und  der 
Identität  des  Erregungsvorganges  in  denselben  anzusehen  ist.  Daneben 
ist  es  bemerkenswerth,  „dass  der  Nervus  opticus  während  continuirlicher 
Reizung  seiner  Endapparate  durch  Licht  sich  nicht  anders  verhält, 
wie  ein  elektrisch  tetanisirter,  discon tinuirlich  erregter  Nerv. 
Giebt  es  Gründe,  das  Galvanometer  im  letzteren  Falle  für  ungenügend 
zu  halten,  um  uns  die  zu  vermuthende  Discontinuität  der  Schwankung 
wahrnehmen  zu  lassen,  so  darf  man  ihm  im  ersteren  Falle  wohl  trauen, 
da  keine  Gründe  vorliegen,  die  nächsten  Folgen  anhaltender  Belichtung 
nach  Art  der  meisten  sonst  bekannten  Tetani  für  discontinuirlich  zu 
halten  (Kühne). 

Die  dauernde  Stromabnahme  in  N.  opticus  würde  also  folglich 
als  Phototonus  zu  benennen  sein.  (Kühne.)  Höchst  bemerkens- 
werth ist  die  Thatsache,  dass  auch  der  Abschluss  der  Belichtung, 
d.  i.  das  Aufhören  der  Erregung  durch  Licht  „oder  vielleicht 
richtiger  das  Hereinbrechen  gewisser,  vom  Lichte  gehinderter  retinaler 
Processe,  ebenfalls  durch  eine  letzte  negative  Schwankung  des  Opticus- 
stammes  angezeigt  wird,  die  für  nichts  Anderes  zu  nehmen  ist,  als  für 
eine  abermalige,  den  Nerven  durchlaufende  Erregung".  Wenn  dann 
der  „Phototonus"  ein  Zeichen  des  thätigen  Zustandes  der  Opticus- 
fasern  ist,  so  kommt  man,  wie  Kühne  (l.  c.)  mit  Recht  bemerkt,  zu 
dem  Schlüsse,  „dass  Lichtentziehung  grössere  Effecte  zum  Central- 
organ  befördere  und  intensivere  Empfindung  (Erregung)  auslösen  könne, 
als  anhaltendes  Einfallen  desselben  Lichtes  ins  Auge." 

Dabei  ist  freilich  nicht  zu  vergessen,  dass  die  beobachtete  Gleich- 
heit des  elektromotorischen  Verhaltens  in  beiden  Fällen  nichts  beweist 
für  die  qualitative  Gleichheit  der  chemischen  Processe,  „Wenn  wir'", 
wie  Hering  bemerkt,  „die  unendliche  Mannichfaltigkeit  der  verschiede- 
nen chemischen  Vorgänge  bedenken,  durch  welche  elektrische  Ströme 
erzeugt  werden  können,  müssen  wir  sicher  Bedenken  tragen,  aus  der 
Gleichheit  des  elektromotorischen  Verhaltens  zweier  Nervenfasern,  ins- 
besondere solcher,  deren  Reizung  zu  ganz  verschiedenen  centralen  oder 
peripheren  Reizerfolgen  führt,  sowie  einer  und  derselben  Faser  unter 
verschiedenen  Bedingungen  den  Schluss  auf  eine  Gleichheit  der  inneren 
Vorgänge  in  den  Nerven  zu  ziehen,  die  Möglichkeit  auszuschliessen, 
dass  in  gewissen  Nerven  verschiedene  Arten  der  inneren  Aenderung 
geleitet  werden  können,  oder  gar  anzunehmen,  dass  in  allen  Nerven, 
mit  einziger  Ausnahme  vielleicht  gewisser  Sinnesnerven,  allenthalben 
dasselbe  geschieht."  „Der  Muskel,  die  Drüsenzelle,  die  Pflanzenzelle, 
vielleicht  jede  lebendige  Substanz  zeigt  unter  Umständen  elektrische 
Erscheinungen,  die  sogar  in  ihrem  Auftreten  auffallende  Analogie  mit 
den  elektrischen  Erscheinungen  am  Nerven  haben :  dürfen  wir  daraus, 
fragt  Hering  mit  Recht,  schliessen,  dass  die  inneren,  chemischen 
Vorgänge,  welche  die  Ursache  dieser  Erscheinungen  sind,  in  der 
lebendigen  Substanz  aller  dieser  Theile  dieselben  sind,  oder  dass,  wenn 
Avir  an  einer  und  derselben  Substanz  in  zwei  Fällen  dieselben  elektri- 


Die  elektroniotorischeii  Wirkungen  der  Nerven.  663 

sehen  Erscheinungen  beobachten,  auch  die  zu  Grunde  liegenden 
chemischen  Veränderungen  in  beiden  Fällen  nothwendig  dieselben 
sind"  (Hering  24  p.  19  ff.)?  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  er- 
scheint es  nun,  wenn  auch  vielleicht  auffallend,  so  doch  verständlich, 
dass  die,  wie  früher  gezeigt  wurde,  wahrscheinlich  assimilatorisch 
wirkenden,  herzhemmenden  Vagusfasern,  deren  Erregung  eine  positive 
Schwankung  des  Muskelstromes  bedingt,  sich  selbst  in  Bezug  auf  ihr 
galvanisches  Verhalten  bei  der  Erregung  in  nichts  von  andern  Nerven- 
fasern unterscheiden. 

Interessante  Beobaclitungen  über  negative  Schwankung  des  Stromes 
centripetalleitender  Nerven  bei  adäquater  Reizung  der  zugehörigen 
peripheren  Endorgane  hat  S.  Fuchs  jüngst  (25)  mitgetheilt.  Be- 
kanntlich besitzen  die  S  e  1  a  c  h  i  e  r  und  speciell  auch  die  T  o  r  p  e  d  i  n  e  e  n 
unter  der  Haut  eigenartige  Canalsysteme ,  welche  sich  zum  Theil  auf 
der  Haut  öffnen  (Lo  renzini '  sehe  Ampullen  und  Gallertröhren), 
zum  Theil  blind  geschlossene  Blasen  darstellen  (Savi'sche  Bläschen), 
immer  aber  zum  Nervensystem  in  nächster  Beziehung  stehen  und  un- 
zweifelhafte Sinnesorgane  darstellen.  Bei  Torpedo  bilden  die 
Lorenzinischen  Ampullen  kugelige,  durch  Scheidewände  vierkammerige 
Blasen,  welche  in  eigene  Kapseln  eingeschlossen  sind,  deren  es  bei 
Torpedo  zwei  Paare  giebt ;  das  eine  liegt  an  der  Schnauze  in  gerader 
Richtung  vor  den  Augen  und  enthält  in  beiden  Kapseln  nach  der 
Angabe  von  Leydig  etwa  100  Ampullen,  deren  Canäle  meist  gegen 
den  Rand  der  Körperscheibe  ausmünden.  Das  zweite  Paar  der 
Ampullenkapseln  liegt  weiter  nach  rückwärts  am  äusseren  Rande  des 
elektrischen  (Jrganes.  Das  System  der  Savi'schen  Bläschen  stellt  etwa 
2 — 3  mm  im  Durchmesser  haltende,  im  Leben  völlig  durchsichtige 
Bläschen  dar,  welche  den  ungefähr  viereckigen  Raum  zwischen  den 
vorderen  Enden  der  elektrischen  Organe  bis  zur  Oberlippe  hin  ein- 
nehmen ,  sich  aber  auch  noch  weiter  nach  rückwärts  erstrecken. 
„Jedes  Bläschen  besteht  aus  einer  homogenen,  bindegCAvebigen  Mem- 
bran und  ist  von  einer  hellen  Gallertmasse  erfüllt.  Der  in  dasselbe 
eintretende  Nerv  durchbohrt  ein  eigenthümlich  verfilztes  Gewebe, 
welches  wie  ein  Polster  im  untern  Theil  des  Bläschens  lagert,  und 
pflegt  dann  in  drei  Aestchen  zu  zerfallen,  von  denen  das  mittelste 
am  stärksten  ist.  Jedes  derselben  bildet  eine  Art  Sohle,  auf  welcher 
erst  das  eigentliche  Sinnesepithel  sitzt  (Haarzellen  vom  Charakter  der 
Hörzellen  des  Corti'schen  Organes).  Im  Bereiche  des  Kopfes  ist  es 
der  N.  trigeminus,  im  Bereich  des  Rumpfes  der  Vagus,  welcher  diese 
Gebilde  versorgt. 

Wurde  nun  nach  Ausbohren  des  Gehirns  und  Rückenmarkes  der 
Trigeminusast  präparirt,  welcher  die  lateralen  Ampullen  und  Savi 'sehen 
Bläschen  versorgt,  und  das  centrale  Schnittende  des  2—3  cm  langen 
Nerven  mit  Längs-  und  Querschnitt  auf  unpolarisirbare  Elektroden 
gebrückt ,  so  zeigte  sich  jedesmal  eine  deutliche,  wenn 
auch  geringe  Ablenkung  am  Galvanometer  im  Sinne 
einer  negativen  Schwankung,  wenn  einfach  die  Haut 
über  dem  seitlichen  Packet  der  Lorenzini'schen  Am- 
pullen und  über  den  Savi'schen  Bläschen  ganz  schwach 
gedrückt  wurde.  Später  stellte  sich  heraus,  dass  nur  die  letzteren 
für  die  erwähnten  Erfolge  verantwortlich  zu  machen  sind. 

Es  würde  dies  also  der  zweite  sicher  eonstatirte  Fall  sein,  wo 
auf  Erregung   peripherer   Sinnesnervenenden   durch  adäquate  Reize 


ßß4  I^i^  elektromotorischeu  Wirkungeu  der  Nerven. 

eine  negative  Schwankung  des  Demarcationsstromes  des  durch- 
schnittenen Nervenstammes  erfolgt.  Wie  man  sieht,  eröffnet  sich  hier 
ein  weites  Forschungsgebiet,  dessen  erfolgreiche  Bearbeitung  noch 
aussteht.  Von  grösstem  Interesse,  wiewohl  in  theoretischer  Beziehung 
noch  äusserst  unklar  sind  die  elektromotorischen  Veränderungen  an 
den  centralen  Endstationen  der  höheren  Sinnesnerven,  d.  h.  den 
sensorischen  Rindengebieten  bei  adäquater  Reizung  der  peripheren 
Sinnesorgane  (Auge,  Ohr),  ein  Gebiet,  auf  welches  an  dieser  Stelle 
nicht  näher  einzugehen  ist.  Wir  kehren  zunächst  wieder  zur  Unter- 
suchung der  negativen  Schwankung  peripherer  Nerven  bei  künstlicher 
Reizung  zurück. 

Trifft  ein  einzelner,  sehr  kurz  dauernder  Reiz,  wie  etwa  ein  In- 
ductionsschlag,  den  Nerven,  so  lässt  sich  natürlich  mittels  des  Galvano- 
meters in  Folge  der  Trägheit  des  Magneten  kaum  das  Vorhandensein, 
geschweige  denn  der  zeitliche  Verlauf  der  negativen  Schwankung 
feststellen,  und  man  ist  daher  gezwungen,  wieder  zu  der  Ptepetitions- 
methode  mittels  des  Rheotomes  zu  greifen,  wenn  es  darauf  ankommt, 
die  gleichen  Fragen  wie  beim  Muskel  auch  hier  zu  lösen.  Das  Princip 
der  Methode,  sowie  das  Instrument  wurden  schon  früher  des  Näheren 
erläutert. 

Bei  seinen  Untersuchungen  über  den  Verlauf  der  negativen 
Schwankung  des  Nervenstromes  bei  tetanisirender,  elektrischer  Reizung 
fand  Bernstein  (26)  zunächst,  dass  zwischen  der  Reizung 
an  einem  Punkte  des  Nerven  und  dem  Beginn  der  nega- 
tiven Schwankung  (d.  h.  dem  Negativ  werden)  einer  ent- 
fernten abgeleiteten  Stelle  eine  messbare  Zeit  vergeht, 
welche  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  nega- 
tiven Schwankung  im  Nerven  entspricht  und  der  Ent- 
fernung zwischen  der  Reizstelle  und  der  ersten  ab- 
leitenden Längsschnittelektrode  proportional  ist.  Der 
Abstand  zwischen  Reizstelle  und  Querschnitt  der  Nerven  ist  dagegen 
gleichgültig.  Daraus  würde  ganz  ebenso  wie  beim  Muskel  zu  folgern 
sein,  dass  der  Vorgang  der  negativen  SchAvankung  in  der  abgeleiteten 
Strecke  genau  in  dem  Momente  beginnt,  in  Avelchem  die  Fortpflanzung 
des  Nervenprocesses  (der  Erregung)  bis  zur  Längsschnittelektrode  vor- 
geschritten ist.  Weiter  zeigt  sich,  dass  zwischen  dem  ^Momente  der 
Reizung  durch  Inductionsströme  und  dem  Beginn  des  Negativwerdens 
an  der  gereizten  Stelle  keine  merkliche  Zeit  vergeht.  Die  negative 
Schwankung  hat  kein  Latenz  Stadium.  Sowohl  beim  mark- 
haltigen  wie  beim  marklosen  Nerven  stimmt  die  Fortpflanzungsge- 
schwindigkeit der  negativen  Schwankung  mit  der  der  Erregung 
überein ,  so  dass  wie  beim  Muskel  das  Negativwerden  einer  Nerven- 
strecke als  der  galvanische  Ausdruck  der  Erregung  angesehen  werden 
muss.  An  Cephalopoden- Nerven  bestimmte  S i g m .  Fuchs  (4) 
die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  negativen  Schwankung  je  nach 
der  herrschenden  Temperatur  zwischen  weniger  als  1  m  und  3,5  m 
in  der  See.  Sie  wuchs  ausserdem  innerhalb  gewisser 
Grenzen  auch  mit  der  »Stärke  des  Reizes. 

Es  stellte  sich  ferner  heraus,  dass  der  Vorgang  der  negativen 
Schwankung  in  einer  von  Längs-  und  Querschnitt  abgeleiteten  Nerven- 
strecke kein  momentaner  ist,  sondern  eine  mit  den  verfügbaren  Mitteln 
wohl  messbare  Zeit  dauert.  Er  tritt  ferner  nicht  momentan  in 
seiner    vollen    Stärke    auf    und    verschwindet    ebensowenig    plötzlich. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  ß65 

Vielmehr  zeigen  die  Versuche,  dass  jedesmal,  nachdem  ein  einzelner 
Reiz  erfolgt  ist,  die  Negativität  (an  der  abgeleiteten 
Längsschnittstelle)  innerhalb  einer  gewissen  kleinen 
Zeit  ein  Maximum  erreicht,  um  dann  langsamer  wieder 
zu  verschwinden.  Nach  seiner  Methode,  wobei  am  Rheotom  die 
Schieberstellungen  aufgesucht  werden,  bei  denen  Anfang  und  Ende 
der  Schwankung  eintritt,  und  von  der  der  Differenz  dieser  Stellungen 
entsprechenden  Zeit  diejenige  Zeit  in  Abzug  gebracht  wird,  Avelche 
der  Bussolschluss  selbst  bei  jedem  Umgang  in  Anspruch  nimmt, 
fand  Bernstein  die  Dauer  der  negativen  Schwankung  beim  mark- 
haltigen   Froschnerven   zu  nur  etwa  0,0007    (tjot))   Secunde.     Dieser 

schon  rein  theoretisch  sehr  unwahrscheinliche,  cäusserst  geringe  Werth 
hat  sich  in  der  Folge  thatsächlich  als  unrichtig  erwiesen.  Nachdem 
schon  Hermann  (27)  aus  seinen  Versuchen  an  demselben  Object 
eine  wesentlich  längere  Dauer  der  negativen  Schwankung  gefunden 
hatte  (0,0056  See),  bestimmte  Head  (10)  dieselbe  mittels  eines  besonderen, 
von  Hering  construirten  Rheotoms  sogar  zu  0,024  See,  also  einen 
Werth,  der  mehr  als  30  mal  so  gross  ist,  als  der  ursprünglich  von 
Bernstein  gefundene. 

Im  Uebrigen  wechselte  die  Dauer  der  negativen  Schwankung  mit 
dem  Zustand  der  Frösche  zwischen  0,0079  und  0,0239  See.  Hermann 
glaubte  die  aus  seinen  Versuchen  abgeleitete  grössere  Dauer  der 
negativen  Schwankung  zunächst  darauf  zurückführen  zu  sollen,  dass 
die  von  ihm  benützte  Abkühlung  der  Nerven  den  zeitlichen  Verlauf 
der  Erregung  und  der  damit  verbundenen  Negativität  jedes  Nerven- 
elementes beträchtlich  verzögert  habe ;  doch  ergaben  weitere  Versuche, 
dass  auch  bei  gewöhnlicher  Temperatur  die  Dauer  der  Schwankung 
weit  grösser  ist,  als  sie  Bernstein  gefunden  hatte.  Hermann  meint 
deshalb,  dass  seine  sehr  empfindliche  Bussole  und  die  Anwendung 
eines  Paquets  von  6  Nerven  den  letzten  Theil  der  allmählich  ab- 
klingenden Schwankung  besser  erkennen  Hesse.  Der  von  Head 
bestimmte  auffallend  grosse  Werth  ist  vor  Allem  daraus  zu  erklären, 
dass  das  von  ihm  benützte  Rheotom  gestattete,  den  absteigenden 
Theil  der  Curve  jeder  negativen  Einzelschwankung  viel  weiter  zu 
verfolgen,  als  es  bei  dem  Bernstein '  sehen  Verfaliren  möglich  ist, 
weil  durch  länger  dauernde  Schliessungen  des  Bussolkreises  die 
Wirkung  des  Schwankungs-  oder  Actionsstromes  auf  den  Magneten 
vergrössert  und  durch  grössere  Reizfrequenzen  viel  stärker  multiplicirt 
werden  konnte,  als  dies  Bernstein  und  Hermann  möglich  war. 
(S.  Fuchs  4.) 

Die  Versuche  von  Head  bestätigten,  dass  die  Grösse  der  negativen 
Schwankung  in  directer  Abhängigkeit  von  der  Grösse  des  Nerven- 
stromes steht;  dagegen  ergab  sich,  dass  sie  auffallend  unabhängig  ist 
von  der  Ermüdung  des  Nerven  —  nach  Versuchen  von  S.  Fuchs 
an  marklosen  Nerven  scheint  eine  solche  Abhängigkeit  zu  bestehen  — , 
in  welcher  Beziehung  sie  sich  ganz  anders  verhält,  als  die  positive 
Nachschwankung.  Endlich  zeigte  sich,  dass  die  Dauer  der  negativen 
Einzelschwankung  in  hohem  Grade  von  dem  jeweiligen  Zustande  der 
Frösche  beeinflusst  wird.  An  Winterfröschen  ergab  sich  eine  relativ 
lange  Dauer  der  negativen  Einzelschwankung  trotz  relativ  kleiner 
negativer    Gesammtsch wankung,    während    die    Frühlingsfrösche    bei 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  43 


QQQ  Die  elektromotorischen  Wirkungea  der  Nerven. 

kurzer  Dauer  der  Einzelschwankungen  relativ  grosse  negative  Ge- 
sammtschwankung  zeigten. 

Für  den  marklosen  Cepbalopodennerven  berechnet  sich  aus 
den  Versuchen  von  S.  Fuchs  (1.  c)  die  Dauer  der  negativen 
Schwankung  für  stärkere  Reize  im  Mittel  zu  0,0113  See,  für 
schwächere  zu  0,0082  See,  Werthe,  welche  zwischen  den  von 
Bernstein  und  He  ad  bestimmten  mitten  inne  liegen.  Es  dürfte 
kaum  zu  bezweifeln  sein,  dass  mit  Hilfe  einer  dem  Hering- 
H  e  a  d '  sehen  Verfahren  entsprechenden  Methode  die  Dauer  der 
negativen  Schwankung  noch  beträchtlich  grösser  gefunden  würde,  als 
die  Head' sehen  Werthe  vom  Froschnerven  sind. 

S.  Fuchs  wirft  auch  die  Frage  auf,  welche  Bedeutung  wohl 
der  Verlängerung  der  Schwankungsdauer  am  marklosen  Nerven 
zukommen  möchte,  und  erwähnt  die  Möglichkeit  einer  Beziehung  zu 
der  langsamen  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  des  Erregungsvorganges. 
In  der  That  ward,  wenn,  wie  nicht  zu  bezweifeln  ist,  die  Fortleitung 
der  Erregung  auf  einer  irgendwie  vermittelten  Uebertragung  derselben 
von  einem  Querschnitt  auf  den  nächst  angrenzenden  beruht,  eine 
längere  Dauer  des  Processes  von  Vortheil  sein  müssen,  da  ja  er- 
fahrungsgemäss  marklose  Nerven  für  sehr  kurz  dauernde  Reize  viel 
weniger  empfindlich  sind,  als  markhaltige. 

Die  vorstehend  mitgetheilten  Thatsachen  liefern  nun  zugleich  den 
Beweis  dafür,  dass,  wie  beim  Muskel,  so  auch  beim  Nerven  die 
tetanische  negative  Schwankung  rhythmisch  discontinuirlich  und  trotz 
scheinbarer  Stetigkeit  oscillirender  Natur  ist,  wobei  sich  sofort  wieder 
die  wichtige  Frage  erhebt,  bis  zu  welcher  Grösse  die  negative  Einzel- 
schwankung bei  Verstärkung  der  Reize  anwachsen  kann,  ob,  Avie  dies 
Bernstein  für  den  markhaltigen  Froschnerven  gefunden  hat,  der 
Demarcationsstrom  dem  Maximum  der  Schwankung  entsprechend 
jedesmal  gleich  Null  wird  oder  sich  sogar  umkehrt,  oder  ob,  wie 
beim  Muskel,  nur  eine  mehr  oder  weniger  weitgehende  Verminderung 
der  bestehenden  SpannungsdifFerenz  im  Rhythmus  der  Reizung  sich 
einstellt.  Die  Frage  lässt  sich  mittels  des  Rheotomverfahrens  in 
beiden  Fällen  derart  entscheiden,  dass  man  den  Bussolschluss  so  kurz 
als  möglich  macht  und  dann  jene  Schieberstellung  aufsucht,  welche 
dem  Maximum  der  Schwankung  entspricht.  Wird  dann  die  Compen- 
sation  aufgehoben  und  zunächst  der  Bruchtheil  des  Sti'omes  gemessen, 
welchen  das  in  Rotation  befindliche  Rheotom  im  Bussolkreise  bestehen 
lässt,  und  dann  der  Schlüssel  zum  Tetanisiren  geöffnet,  so  erfährt  man 
unmittelbar,  ob  die  Schwankung  kleiner,  gleich  oder  grösser  als  der 
Ruhestrom  ist.  Bernstein  hatte  bei  solchen  Versuchen  in  der  That 
gefunden,  dass  die  negative  Schwankung  bei  stärkeren 
Reizen  die  Grösse  des  Ruhestromes  von  Froschnerven 
um  ein  Vielfaches  übertreffen  könne. 

Bei  Wiederholung  der  Versuche  hat  dann  allerdings  L.  Hermann 
(27,  p.  585)  zunächst  die  Schwankung  stets  beträchtlich  kleiner  ge- 
funden als  den  Ruhestrom,  und  auch  Bernstein  selbst  hatte  schon 
vorher  die  Richtigkeit  seiner  eigenen  Beobachtungen  bezweifelt  (28); 
indessen  konnte  Hermann  in  der  Folge  doch  die  ursprünglichen 
Angaben  Bernstein's  bestätigen,  indem  er  statt  vom  thermischen 
Querschnitte,  der  beim  Aulegen  dadurch  schädigend  wirkt,  dass  die 
dünnen  Nerven  von  den  Dämpfen  des  heissen  Wassers  leiden,  vom 
mechanisch     (durch   Zerquetschung)     angelegten     Querschnitte   ab- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  667 

leitete.  Hierbei  beobachtete  er  öfters  Fälle,  in  welchen  die  negative 
Schwankung  auf  ihrer  Höhe  den  Ruhesti'om  bis  über  das  Doppelte 
übertraf.  Wie  H  e  a  d  theoretisch  entwickelte  (1.  c.  p.  241  f.),  uiüsste 
aber,  wenn  man  den  kleinen  von  Bernstein  angenommenen  Werth 
für  die  Dauer  der  negativen  Einzelschwankung  (0,0007")  zu  Grunde 
legt,  der  Schwankungsstrom  (  d.  h.  der  in  Folge  der  negativen 
Schwankung  im  Bussolkreise  entstandene  Strom)  im  Augenblicke 
seiner  maximalen  Intensität  4V2 — 9  mal  so  stark  werden,  wie  der  Nerven- 
strom, was  sehr  unwahrscheinlich  ist,  „solange  die  Stärke  der  reizenden 
Inductionsströme  innerhalb  jener,  allerdings  engen  Grenzen  bleibt, 
wo  eine  directe  Reizung  der  Nerven  in  der  abgeleiteten  Strecke 
(Bussolstrecke)  durch  unipolare  Wirkungen  mit  voller  Sicherheit 
ausgeschlossen  ist."  Seine  eigenen  Versuche,  bei  welchen  es  aller- 
dings die  angewendete  Methode  nicht  gestattete,  die  Intensität  des 
Schwankungsstromes  direct  festzustellen,  sondern  nur  zu  berechnen, 
wie  hoch  die  Curve  der  negativen  Schwankung  mindestens  sein 
muss,  nicht  aber,  wie  es  das  Bernstein'sche  Verfahren  ermöglicht,  wie 
hoch  sie  wirklich  ist,  boten  keinen  Anlass,  so  starke  Schwankungs- 
ströme anzunehmen,  wie  dies  Bernstein  und  Hermann  thun. 

Für  den  marklosen  Nerven  der  C  e  p  h  al  o  p  o  d  e  n  ergaben  die  Versuche 
von  S.  Fuchs  durchwegs  das  Resultat,  „dass  auch  bei  jener  Schieber- 
stellung (am  Rheotom),  welche  dem  Maximum  der  negativen  Schwankung 
entspricht,  diese  letztere  nur  eine  mehr  oder  weniger  beträcht- 
liche Schwächung  des  Ruhestromes  bewirkt,  nie  aber 
zur  Annullirung  desselben  oder  gar  zur  Stromumkehr 
führt.'- 

Unvei'gleichlich  viel  schwieriger  als  bei  Ableitung  von  Längs- 
schnitt und  künstlichem  Querschnitt  gelingt  der  Nachweis  der 
phasischen  Actio nsströme  zwischen  zwei  Längsschnitt- 
punkten des  unversehrten  Nerven.  Wie  früher  auseinandergesetzt 
wurde ,  hat  Bernstein  am  quergestreiften  Muskel  zuerst  den  Nach- 
weis geliefert,  dass  beim  Ablauf  einer  direct  erzeugten  Erregungswelle 
immer  diejenige  Stelle,  an  welcher  sich  jene  gerade  befindet,  sich  gegen 
alle  übrigen ,  unerregten  Punkte  negativ  verhält.  Hermann  dehnte 
dann  diesen  Satz  auch  auf  die  natürlichen  Enden  des  unversehrten 
Muskels,  sowie  auf  den  Fall  indirecter  Reizung  aus  und  wies  das 
allgemeine  Vorkommen  doppelsinniger,  phasischer  Actions- 
ströme  an  allen  unversehrten  Muskeln  mit  Einschluss  derjenigen 
des  Menschen  nach.  Es  ist  klar,  dass  von  vorneherein  auch  am 
Nerven  ein  ähnliches  Verhalten  zu  erwarten  war.  Indessen  sind,  wie 
leicht  zu  ersehen,  die  Schwierigkeiten  des  Versuches  ausserordentlich 
gross.  Bei  der  grossen  Geschwindigkeit  der  Nervenleitung  nämlich 
sind  die  Momente,  wo  die  Welle  unter  zwei  Ableitungsstellen  hindurch- 
geht, selbst  bei  grosser  Distanz  der  letzteren,  einander  zu  nahe,  um 
durch  das  Rheotom  getrennt  dargestellt  zu  werden ;  macht  man  ferner 
die  abgeleitete  Strecke  so  lang  als  möglich,  so  wachsen  die  Wider- 
stände, schon  ohnehin  beim  Nerven  so  gross,  sehr  beträchtlich,  und  die 
Wirkungen  werden  unmerklich. 

Hermann  (27)  ist  es  dem  ungeachtet  gelungen,  durch  Herab- 
setzung der  Leitungsgeschwindigkeit  durch  Kälte  und  durch  An- 
wendung eines  Packets  von  4 — 6  Ischiadici  der  erwähnten  Schwierig- 
keiten Herr  zu  werden.  Es  Hess  sich  dann  auf  das  Deutlichste  mittels 
des  Rheotoms  eine  Sonderung  der  beiden  gegenläufigen  Ströme  erzielen 

43* 


668  I^ie  elektromotorischeii  Wirkungen  der  Nerven. 

und  so  die  Thatsache  des  wellenförmigen  Ablaufes  einer  Veränderung' 
der  Nervensubstanz  über  jeden  Zweifel  sicher  stellen,  welche  als 
galvanischer  Ausdruck  der  Erregung  durch  Negativität  charakterisirt 
ist.  Liegt  die  eine  Ablenkungsstelle  am  künstlichen  Querschnitt,  so 
fällt  wie  beim  Muskel  die  entsprechende  Phase  aus  oder  ist  wenigstens 
„bis  zur  Unnachweisbarkeit  vermindert" .  Ausnahmslos  fand  Hermann 
bei  seinen  Versuchen  die  zweite  Phase  niedriger  und  zeitlich  gedehnter 
als  die  erste,  doch  ist  dies  hier  nicht  wie  beim  Muskel  auf  ein  Decre- 
ment  der  Erregung  zu  beziehen ,  sondern  beruht  wesentlich  in  dem 
Umstände,  dass  zur  Zeit  des  Maximums  der  zweiten  Phase  die  erste 
noch  lange  nicht  abgelaufen  ist.  Die  beistehende  Figur  202  nach 
Hermann  mag  zur  Erläuterung  dienen.  „Die  Abscissenaxe  ot  be- 
deutet die  Zeiten,  positive  Ordinalen  gleichläufige,  negative  gegenläufige 
Stromrichtung;    die  Curve  Aaa  ist  der  zeitliche  Verlauf  des  Actions- 

stromes  der  ersten  Ablei- 
tungsstelle, Bhh  der  des 
Actionsstromes  der  zwei- 
ten ,  A  B  die  zur  Fort- 
pflanzung der  Erregung 
zwischen  beiden  Ablei- 
tungsstellen erforderliche 
Zeit;  Äccc  ist  dann  die 
Curve  des  resultirenden 
doppelsinnigen  Actions- 
stromes ,  dessen  zweite 
Phase  (2)  niedriger  und 
gedehnter  ist,  als  die  erste 
(1),  und  ausserdem  ihr 
^^^"  Maximum  an  anderer  Stelle 

hat,  als  das  Maximum  der 
Erregung  an  der  zweiten  Ableitungsstelle.  Der  Flächeninhalt  der  den 
beiden  Phasen  entsprechenden  Curvenstücke  muss  übrigens  gleich  gross 
sein ;  daher  heben  sich  beim  Tetanisiren  ihre  Wirkungen  auf  die  Bus- 
sole gegenseitig  auf." 

Beim  Muskel  haben  wir  ein  ausserordentlich  bequemes  Hülfsmittel 
sowohl  zum  Nachweis  der  discontinuirlichen  Natur  der  negativen 
Schwankung  des  Demarcationsstromes,  wie  auch  zum  Nachweis  der 
Actionsströme  des  unversehrten,  an  sich  stromlosen  Muskels  in  der 
Anwendung  des  physiologischen  Rheoskopes  und  dessen  secundärer 
Erregung.  Schon  Du  Bois-Reymond  bemühte  sich  vergeblich, 
secundäre  Erregung  auch  von  einem  Nerven  zum  andern  zu  erhalten, 
und  spätere  Beobachter  sind  hierin  nicht  glücklicher  gewesen,  so  dass 
es  unmöglich  schien,  mit  Hülfe  eines  erregbaren  Nerven  zu  entscheiden, 
ob  ein  anderer  erregt  sei  oder  nicht.  Von  vornherein  hätte  man  aller- 
dings eher  das  Gegentheil  erwarten  sollen.  Denn  die  elektrische 
Schwankung  im  Nerven  ist  absolut  und  relativ  genommen  ein  mäch- 
tigerer Vorgang  als  die  des  Muskels,  und  es  bleiben  somit  keine  jetzt 
zu  bezeichnenden  Gründe  übrig,  welche  uns  begreiflich  machen,  wes- 
halb anscheinend  kein  Nerv  erregend  auf  einen  anderen  anliegenden 
zu  wirken  vermag.  In  der  That  ist  es  nun  aber  Hering  (11)  ge- 
lungen, die  Möglichkeit  echter  secundärer  Erregung  von  Nerv  zu 
Nerv  sicher  nachzuweisen,  indem  er  alle  Vortheile,  insbesondere  auch 
die  gesteigerte  Erregbarkeit  in  der  Nähe  eines  künstlichen  Querschnittes, 


Die  elektromotorischeu  Wirkungen  der  Nerven.  QQQ 

ausnützte.  Wird  das  pei'iphere  Ende  eines  möglichst  erregbaren,  von 
der  Wirbelsäule  bis  zum  Knie  präparirten  und  beiderseits  abgeschnit- 
tenen Ischiadicus  von  einem  Kaltfrosch  derart  an  das  centrale  Ende 
eines  zweiten ,  noch  mit  dem  Schenkel  zusammenhängenden  Nerven 
angelegt,  dass  beide  Nerven  5—6  mm  lang  dicht  aneinander  und  ihre 
Querschnitte  in  einer  Flucht  liegen,  so  compensirt  der  Demarcations- 
strom  des  einen  Nerven  sozusagen  den  des  andern.  „Gesetzt  nun,  es 
verschwände  in  Folge  einer  Momentreizung  des  primären  Nerven 
plötzlich  der  Längs-Querschnittstrom  seines  peripheren  Endes  (durch 
negative  Schwankung  bis  auf  Null),  so  ist  damit  für  den  Strom  des 
anliegenden  Nerven  die  Compensation  plötzlich  aufgehoben;  das  in 
diesem  Augenblicke  stromlos  gewordene  Endstück  des  primären  Nerven 
fungirt  jetzt  lediglich  als  eine  Nebenschliessung  für  den  Strom  des  secun- 
dären  Nerven,  und  letzterer  muss  durch  die  plötzliche  Nebenschliessung 
seines  eigenen  Stromes  schwach  erregt  werden.  Kehrt  aber  gar  der 
Strom  des  erregten  Nerven  seine  Richtung  um,  so  wirkt  derselbe  nach 
erfolgter  Umkehr  auf  den  secundären  Nerven  als  ein  schwacher  ab- 
steigender Strom,  der  sich  zu  dem  plötzliche  Nebenschliessung  finden- 
den eigenen  Strom  dieses  Nerven  addirt"  (Hering). 

Wird  dann,  um  die  Erregbarkeit  möglichst  zu  steigern,  dem 
peripheren  Ende  des  primären  und  zugleich  dem  centralen  des  dicht 
anliegenden  secundären  Nerven  durch  einen  Scheerenschnitt  ein  neuer 
gemeinsamer  Querschnitt  gegeben  und  dann  das  centrale  Ende  des 
primären  Nerven  schwach  tetanisirt,  so  sah  Hering  stets  auch  eine 
schwache  tetanische  Unruhe  des  secundären  Präparates 
eintreten,  wobei  Stromschleifen  oder  unipolare  Wirkungen  schon  da- 
durch gänzlich  ausgeschlossen  waren,  dass  die  schwachen  Reizströme 
nur  wirkten,  wenn  die  Elektroden  in  der  Nähe  des  Querschnittes  lagen 
und  jede  secundäre  Wirkung  ausblieb,  wenn  dieselben  an  eine  dem 
secundären  Präparate  nähere  Stelle  des  primären  Nerven  gelegt  wurden. 
Da  auch  elektrotonische  Wirkungen  in  Folge  des  grossen  Abstandes 
zwischen  dem  Reizorte  und  der  Anlagerungsstelle  des  secundären 
Nerven  ausgeschlossen  sind,  so  ist  es  schon  hierdurch  als  festgestellt 
anzusehen,  dass  wahre  secundäre  Wirkungen  von  Nerv  zu  Nerv  mög- 
lich sind.  Dies  Hess  erwarten,  dass  der  Erfolg  noch  sicherer  und 
überzeugender  ausfallen  würde,  wenn  man  sich,  statt  zwei  Nerven 
mühsam  aneinander  zu  fügen,  eines  Präparates  bediente,  in  welchem 
die  beiden  Nervenfaserbündel,  das  als  primäres  und  das  als  secundäres 
dienende,  von  Natur  in  einer  Scheide  beisammen  liegen. 

Hering  legte  daher  bei  einem  Kaltfrosch  den  Schenkelnerven 
über  dem  Knie  frei,  unterband  seine  beiden  Aeste  gemeinschaftlich, 
durchschnitt  sie  unterhalb  des  Fadens,  präparirte  den  Nerven  bis  in 
die  Nähe  seiner  Oberschenkeläste  frei,  durchschnitt  hierauf  den  Plexus 
ischiadicus  und  reizte,  als  alle  Muskeln  wieder  ganz  ruhig  waren,  das 
Knieende  des  Nerven  mit  schwachen  Strömen.  Sofort  geriethen 
die  Muskeln,  deren  Nerven  noch  mit  dem  Plexus  in  Ver- 
bindung standen,  in  kräftigen  secundären  Tetanus.  Der 
Versuch  misslingt  nie,  sofern  das  Präparat  so  erregbar  ist,  dass  schon 
die  Durchschneidung  des  Plexus  ischiadicus  ausser  der  Zuckung  eine 
schwache  und  schnell  vorübergehende  Muskelunruhe  am  Schenkel  zur 
Folge  hat,  und  wenn  der  Querschnitt  frisch  angelegt  wurde.  Der 
sichere  Beweis,  dass  es  sich  auch  hier  nicht  um  Stromschleifen,  Elek- 
trotonus    oder   unipolare  Wirkungen    gehandelt  hat,    liegt    wieder   vor 


670 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


Allem  in  dem  Umstände,  dass  der  Erfolg  regelmässig  ausblieb,  sobald 
die  Elektroden  nur  wenig  vom  Querschnitt  abgerückt  und  somit  dem 
Muskel  genähert  wurden.  Im  Uebrigen  hat  Hering  an  drei  Präpa- 
raten, und  zwar  in  zwei  Fällen  zwei-,  bezw.  dreimal  nacheinander  beim 
Zerquetschen  des  primären  Nerven  eine  schwache  partielle  Zuckung 
eines  Oberschenkelmuskels  eintreten  sehen.  Es  kann  dies,  wie 
der  ausnahmslose  Misserfolg  bei  andersartigen  Reizen,  kaum  über- 
raschen, wenn  man  die  schon  erwähnten  Schwierigkeiten  berücksichtigt, 
durch  nicht  elektrische  Reizung  eine  kräftige  negative  Schwankung 
des  Nervenstromes  herbeizuführen.  Bei  Anwendung  des  mechanischen 
Tetanomotors  erhielt  neuerdings  v.  Uexküll  mehrfach  positive  Resul- 
tate (29)  und  lieferte  ausserdem  noch  dadurch  einen  Beweis  für  die 
Richtigkeit  der  Hering'schen  Auffassung,  dass  das  ganze  Phänomen 
auch  bei  elektrischer  Reizung  ausbleibt,  resp.  verlischt,  wenn  Längs- 
und Querschnitt  des  Plexus  durch  Eintauchen  in  physiologische  Koch- 
salzlösung in  leitende  Verbindung  gebracht  werden,  bevor  oder  wäh- 
rend der  Actionsstrom  auftritt. 


III.    Die  galyaiiischen  Erscheinungen  im  Elektrotoniis. 

Es  wurde  schon  früher  erwähnt,  dass  unter  dem  Einfluss  eines 
Kettenstromes,  welcher  mit  gleichbleibender  Dichte  irgend  einen  Theil 
eines  markhaltigen  Nerven  dauernd  durchfliesst,  polare  Erregbarkeits- 
änderungen hervortreten,  welche  nicht,  wie  beim  Muskel,  im  Wesent- 
lichen auf  die  Berührungspunkte  der  Elektroden  bezw.  die  unmittel- 
bar sichtbaren  Ein-  und  Austrittsstellen  des  Stromes  beschränkt  bleiben, 

sondern  darüber  hinaus 
nicht  nur  die  intrapolare 
Strecke  ergreifen,  sondern 
sich  auch  extrapolar  mehr 
oder  weniger  weit  aus- 
breiten. Dem  entsprechen 
nun,  wie  Du  Bois-Rey- 
mond  schon  1843  fand, 
auch  Veränderungen 
im  galvanischenVer- 
h  alten,  welche,  wie  jene, 
als  eine  Theilerscheinung 
des  Elektrotonus  zu  be- 
zeichnen sind  und  gewisser- 
maassen  nur  zwei  verschie- 
dene Seiten  eines  und  desselben  Vorganges  darstellen.  Sei  n  n^  (Fig. 
203)  ein  Nerv,  Ä  und  K  zwei  Elektroden,  durch  welche  ein  Kettenstrom 
in  der  Richtung  von  A  nach  K  geleitet  wird ;  Ä  ist  also  die  Anode,  K  die 
Kathode  des  zur  Erzeugung  des  Elektrotonus  angewendeten  Stromes. 
Sobald  dieser  geschlossen  wird,  werden  alle  Stellen  des  Nerven 
zur  Seite  der  Kathode  (vonÄ'bise)  negativer,  alle  Stellen 
zur  Seite  der  Anode  (von  A  bis  e)  positiver,  als  sie  vor- 
her waren.  Der  Grad  dieser  Veränderungen  ist  aber  nicht  an  allen 
Stellen  gleich,  sondern  dicht  an  den  Elektroden  am  grössten  und 
nimmt  mit  der  Entfernung  von  denselben  ab.  Stellen  wir  von  A  nach 
e  hin  den  Grad  des  positiven  Zuwachses  durch  Linien  dar,  deren  Höhe 


K 

^1 

riA          ^(t 

i\  yi 

/i 

A   '•'/    yi 

Fig.  203. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


671 


6-> 


den  Zuwachs  ausdrückt,  und  verbinden  die  Kuppen  dieser  Linien,  so 
erhalten  wir  eine  Curve,  deren  Gestalt  uns  ein  anschauliches  Bild  von 
der  an  jeder  Stelle  auftretenden  Veränderung  der  Spannung  gewährt. 
In  gleicher  Weise  stellen  wir  die  Veränderungen  an  der  Kathodenseite 
dar,  nur  ziehen  wir,  um  gleich  anzudeuten,  dass  hier  die  Spannungen 
negativ  werden,  die  betreffenden  Ordinaten  nach  abwärts  vom  Nerven 
als  Abscissenaxe.  Die  beiden  Curvenstücke  lehren  uns  nur  das  Ver- 
halten der  extrapolaren  Nervenstrecken.  In  der  That  wissen  wir  nicht, 
wie  sich  der  Nerv  in  der  intrapolaren  Strecke  verhält,  weil  es  aus 
äusseren  technischen  Gründen  unmöglich  ist,  diese  Strecke  zu  unter- 
suchen. Wir  können  nur  vermuthen,  dass  die  Spannungsänderungen 
sich  dort  ähnlich  gestalten,  wie  es  durch  die  verbindende,  durch  (i) 
gehende  Linie  versinnlicht  wird.  Es  muss  ausdrücklich  bemerkt 
werden ,  dass  durch  diese  Curven  keineswegs  die  wirkliche  relative 
Grösse  der  Spannvmgen  an  den  einzelnen  Punkten  der  extrapolaren 
Nervenstrecke  ausgedrückt  werden  soll,  sondern  dass  dieselben  nur 
ganz  im  Allgemeinen  die  Thatsache  der  allgemeinen  Abnahme  von 
den  Polen  aus  versinnlichen. 

Da   der    zu   unter-  a  rr 

suchende  Nerv  in  der 
Regel  von  zwei  Quer- 
schnitten begrenzt  und 
daher  von  vornherein 
elektromotorisch  wirk- 
sam ist,  so  muss  es 
bei  entsprechender  Ab- 
leitung nothwendig  zu 
einer  Interferenz  zwi- 
schen dem  Demarcationsstrom  und  dem  natürlich  stets  im  Sinne  des 
polarisirenden  gerichteten  elektrotonischen  Zuwachsstromes  kommen, 
wodurch  an  dem  einen  Ende  des  Nerven  eine  negative,  an  dem  andern 
eine  positive  Schwankung  des  Längs  -  Querschnittsstromes  bedingt 
wird ,  die  so  lange  dauert  als  der  polarisirende  Kettenstrom  ge- 
schlossen bleibt  (Fig.  204).  Verschiebt  man  den  ableitenden  Bogen 
vom  Querschnittsende  nach  der  Mitte  hin,  so  erhält  man,  wie  leicht 
ersichtlich,  beiderseits  von  der  durchflossenen  Strecke  stets  Ab- 
lenkungen am  Galvanometer  im  Sinne  des  polarisirenden  Stromes. 
Dies  wird  natürlich  auch  dann  der  Fall  sein,  wenn  der  beiderseits 
durchschnittene  Nerv  in  unwirksamer  Anordnung  aufliegt,  d.  h.  mit 
zum  Aequator  symmetrischen  Punkten  die  Bussolelektroden  berührt 
und  seitlich  davon  durchströmt  wird.  Man  kann  daher  den  Thatbestand 
auch  in  folgender  Weise  ausdrücken: 

Wird  durch  einen  Theil  eines  markhaltigen  Nerven 
ein  constanter  elektrischer  Strom  geleitet,  so  wird  der 
ganze  Nerv  unter  Beibehaltung  seiner  ursprünglichen 
elektromotorischen  Wirksamkeit  auf  allen  Punkten  im 
Sinne  des  polarisirenden  Stromes  elektromotorisch 
wirksam,  indem  jeder  beliebige  Punkt  des  Nerven  sich 
gegen  jeden  in  der  Richtung  des  Stromes  vor  ihm  ge- 
legenen Punkt  negativ  verhält. 

Die  Grösse  der  elektrotonischen  Ablenkungen  nimmt,  wie  aus  der 
Vertheilung  der  Spannungen  ohne  Weiteres  ersichtlich  ist,  mit  der 
Entfernung   der   abgeleiteten    Strecke    von    den  Polen    stetig    ab,    was 


Fig.  204. 


ß72  J^iß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nen-en. 

besonders  in  der  Nähe  dieser  letzteren  sehr  auffallend  hervortritt;  sie 
ist  ferner  abhängig  von  der  Stärke  des  polarisir enden 
Stromes,  wobei  es  bemerkenswerth  ist,  dass  mit  der  Steigerung  der 
Intensität  die  elektrotonischen  Wirkungen  fortdauernd  zunehmen,  ohne 
dass  schliesslich  eine  Grenze  erreicht  wird.  Versuche  von  Du  Bois- 
Reymond  (29),  deren  Ziel  die  Bestimmung  des  eventuellen  Maximal- 
werthes  des  Elektrotonus  war,  hatten  nicht  den  gewünschten  Erfolg, 
zeigten  aber,  dass  die  elektromotorische  Kraft  des  Zuwachsstromes  auf 
Seite  der  Anode  und  Kathode  (Anoden-  und  Kathodenstrom  Grün- 
hagen's)  diejenige  des  gewöhnlichen  Längs-Querschnittsstromes  um 
mehr  als  das  22 fache  übertreflFen  kann,  ohne  noch  die  Grenze  erreicht 
zu  haben.  In  der  Einheit  des  Daniell' sehen  Elementes  ausgedrückt, 
betrug  die  elektromotorische  Kraft  des  Anodenstromes  0,5  Dan. ,  die 
des  Kathodenstromes  0,05  Dan, 

Der  eben  bemerkte  Unterschied  der  Kraft  des  an-  und  katelektro- 
tonischen  Zuwachsstromes,  der  sich  auch  bezüglich  der  Intensität  in 
gleichem  Sinne  äussert,  tritt  in  jedem  Falle  deutlich  hervor  und  be- 
dingt es,  dass  bei  graphischer  Darstellung  die  Spannungscurve  auf  Seite 
der  Kathode  kürzer  ausfällt  und  die  entsprechenden  Ordinaten  niedriger 
sind,  als  auf  Seite  der  Anode  (Fig.  203).  Das  Maximum  des 
An  elektrotonus  übertrifft  unter  allen  Umständen  jenes 
des  K  a  t  e  1  e  k  t  r  0 1  o  n  u  s. 

Ein  weiteres  Moment,  welches  für  die  Grösse  des  Elektrotonus 
in  Beträcht  kommt,  ist  die  Länge  der  vom  p  olarisi  r  enden 
Strom  durchflossenen  Nerven  strecke.  Rückt  man  einfach 
die  Elektroden  der  Kette  zur  Verlängerung  der  erregten  Nervenstrecke 
allmählich  auseinander,  so  findet  man  Abnahme  der  Zuwachsströme 
mit  der  Verlängerung  der  vom  Strom  durchflossenen  Strecke;  diese 
Abnahme  ist  aber,  wie  leicht  ersichtlich,  lediglich  durch  die  Schwächung 
des  polarisirenden  Stromes  verursacht,  welche  man  durch  die  Ver- 
grösserung  des  so  grosse  Widerstände  bietenden  Leiters  herbeiführt. 
Sorgt  man ,  wie  dies  zuerst  Du  Bois-Reymond  gethan  hat,  durch 
Einschaltung  eines  grossen  Widerstandes  (Alkoholrohr)  in  den  polari- 
sirenden Kreis  oder  durch  Unterbindung  der  intrapolaren  Strecke  mit 
einem  feuchten  Faden  dafür,  dass  die  Intensität  des  polarisirenden 
Stromes  sich  nicht  ändert,  so  sieht  man  die  Grösse  des  elektro- 
tonischen Zuwachses  mit  der  Verlängerung  der  durch- 
flossenen wirksamen  Strecke  wachsen,  beziehungsweise 
mit  deren  Verkürzung  abnehmen.  Einen  grossen  Einfluss  übt 
ferner  auf  die  Stärke  der  elektrotonischen  Wirkungen  auch  die 
Richtung  des  polarisirenden  Stromes  zur  Längsaxe  des 
Nerven  aus,  und  zwar  zeigt  sich,  dass  der  Zuwachs  wie  auch  die 
Erregung  am  grössten  ist,  wenn  der  polarisirende  Strom  den  Nerven 
der  Länge  nach  durchfliesst,  dagegen  gleich  Null  bei  reiner  Quer- 
durchströmung. 

Für  die  theoretische  Erklärung  und  Deutung  der  elektrotonischen 
Wirkungen  ist  vor  Allem  die  Abhängigkeit  derselben  von  der  Be- 
schaffenheit und  dem  jeweiligen  Zustande  des  Nerven  von  der  grössten 
Bedeutung.  Die  Vermuthung,  dass  sie  durch  ein  Hereinbrechen  ge- 
wöhnlicher Stromschleifen  in  den  Galvanometerkreis  bedingt  werden, 
die  ja  auf  den  ersten  Blick  nach  dem  ganzen  Verhalten  nicht  unbe- 
gründet erscheinen  könnte,  wird  sofort  durch  den  Umstand  widerlegt, 
dass  Durchschneidung    oder  Quetschung   des  Nerven    zwischen  polari- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  673 

sirter  und  abgeleiteter  Strecke  jede  Spur  von  Wirkung  aufhebt.  Es 
ist  dadurch  erwiesen ,  dass  die  Ausbreitung  des  Elektrotonus  ähnlich 
wie  die  der  Erregung  an  die  unversehrte  Continuität  des  markhaltigen 
Nerven  gebunden  ist.  Aber  nicht  nur  eine  vollstäudige  Unterbrechung 
des  Leitungsvermögens,  sondern  auch  jede  irgend  erhebliche  Vermin- 
derung desselben,  sowie  überhauj3t  der  Leistungsfähigkeit  des  Nerven 
beeinflusst  in  mehr  oder  weniger  hohem  Grade  die  Stärke  des  Elektro- 
tonus. An  gänzlich  abgestorbenen  oder  sonstwie  in  ihren  physika- 
lischen und  chemischen  Eigenschaften  eingreifender  veränderten  Nerven 
lässt  sich  kein  Elektrotonus,  nachweisen  oder  es  treten  höchstens 
Spuren  der  gesetzmässigen  Wirkungen  hervor.  Die  ganze  Er- 
scheinung ist  somit  zweifellos  an  bestimmte,  nur  im 
lebenden,  unversehrten,  markhaltigen  Nerv  vorhan- 
dene Struktureigenthümlichkeiten  geknüpft.  Von  ganz 
besonderer  Wichtigkeit  ist  hier  vor  Allem  auch  die  später  noch  näher 
zu  berücksichtigende  Thatsache,  dass  unter  sonst  gleichen  Umständen 
elektrotonische  Zuwachsströme  in  dem  bisherigen  Sinne  weder  an 
marklosen  Nerven  noch  an  Muskeln  und  andern  feuchten  Leitern 
(feuchten  Fäden)  beobachtet  werden,  so  dass  unter  den  erforder- 
lichen Struktureigenthümlichkeiten  das  Vorhanden- 
sein   der  Markscheide    in  erster  Linie  zu  stehen  scheint. 

Die  Erfahrung,  dass  glatte  Durchschneidung  des  Nerven  zwischen 
polarisirter    und    abgeleiteter  Strecke    auch  dann  die  Entwicklung  des 
Elektrotonus  hemmt,  wenn  die  Schnittflächen  möglichst  sorgsam  wieder 
aneinander  gelegt  werden,    legt 
zunächst    die    Frage    nahe,    ob 
sich    die   zu    Grunde    liegenden 
Veränderungen,  ähnlich  wie  die       ^ 
Erregung  im  Nerven,  mit  einer 

messbaren  Geschwindigkeit  fort-  '^" 

pflanzen.      Nachdem    bereits 

Du  Bois-Reymond  gezeigt  hatte,  dass  der  Elektrotonus  zu  seiner 
Entwicklung  so  gut  wie  keine  Zeit  beansprucht,  indem  er  anscheinend 
sofort  bei  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  in  voller  Stärke  vor- 
handen und  selbst  bei  den  flüchtigsten  Inductionsstr-men  nachweisbar 
ist,  hat  zuerst  Helmholtz  mit  Hülfe  des  physiologischen  Rheoskopes 
dieselbe  Thatsache  zu  erweisen  versucht  (30). 

Bei  der  bekannten  grossen  Empfindlichkeit  des  letzteren  für  selbst 
sehr  viel  schwächere  Ströme,  als  sie  hier  in  Betracht  kommen,  ist  es 
leicht  verständlich,  dass  die  elektrotonischen  Zuwachsströme  bei  Weitem 
ausreichen,  um  den  Nerven  eines  stromprüfenden  Froschschenkels  zu 
erregen,  wenn  sie  demselben  in  passender  Weise  zugeleitet  werden. 
Gelingt  es  doch  sogar,  wie  schon  Du  Bois-Reymond  gezeigt  hat, 
durch  den  elektrotonischen  Zuwachsstrom  eines  Nerven  einen  zweiten 
anliegenden  Nerven  in  secundären  Elektrotonus  zu  versetzen.  Legt 
man  an  das  eine  Ende  {B)  (Fig.  205)  emes  bei  (A)  polarisirten,  mark- 
haltigen Nerven  einen  zweiten  (CD)  mit  einem  Theil  seiner  Länge  an, 
so  geräth  auch  dieser  in  den  elektrotonischen  Zustand  ;  das  Ende  (D) 
befindet  sich  jedoch  in  der  entgegengesetzten  Phase  wie  (B),  indem 
der  Zuwachsstrom  in  (B)  das  eine  Nebenschliessung  bildende  Ende 
(C)  des  anliegenden  Nerven  in  umgekehrter  Richtung  durchfliesst. 
Befindet  sich  nun  dieser  noch  im  Zusammenhang  mit  Muskeln,  so 
wird  sowohl  bei  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes,  wie  günstigen 


674  I^ie  elektromotorischen  Wirkungen  der  Ner^'en. 

Falles  bei  der  Oeffnung  eine  „secundäre"  Zuckung  erfolgen,  die  mit 
der  wahren,  durch  den  Actionsstrom  des  Nerven  bedingten  und  zuerst 
von  Hering  nachgewiesenen  secundären  Zuckung  von  Nerv  zu  Nerv 
nicht  verwechselt  werden  darf.  Eine  besonders  interessante  Form 
dieser  auf  dem  Elektrotonus  beruhenden  secundären  Zuckung  ist  die 
sogenannte  „paradoxe  Zuckung"  Du  Bois-Reymond's. 
Offenbar  würden  die  Bedingungen  für  die  Auslösung  der  in  Rede 
stehenden  secundären  Zuckung  durch  den  elektrotonischen  Zuwachs- 
strom besonders  günstige  sein,  wenn  die  Fasern  der  beiden  Nerven, 
soweit  sie  aneinander  liegen,  so  zu  sagen  ineinander  gesteckt,  d.  h. 
zu  einem  einzigen  Stamme  verschmolzen  wären.  Dies  ist  aber  beim 
Ischiadicus  des  Frosches  der  Fall,  wenn  man  die  beiden  Aeste  berück- 
sichtigt, in  die  er  sich  am  Knie  spaltet.  (Peronaeus  und  Tibialis, 
Fig.  206.)  Reizt  man  den  einen  oder  andern  auf  nicht  elektrischem 
Wege,  so  gerathen  immer  bloss  die  von  dem  betreffenden  Aste  in- 
nervirten  Muskeln  und  niemals  auch  die  dem  andern  zugehörigen  in 
Erregung.  Wird  aber  z.  B.  der  Tibialis  in  nicht  zu  grosser  Ent- 
fernung von  der  Gabelungsstelle  von  einem  elektrischen 
Strome  durchflössen,  so  zuckt  bei  der  Oeffnung  und 
Schliessung  nicht  bloss  der  Muskel  A,  sondei-n  auch  der 
vom  Peronaeus  versorgte  B,  weil  der  primär  elektro- 
tonische  Nerv  den  andern  mit  ihm  weiterhin  zu  einem 
gemeinsamen  Stamme  vereinigten  Nerven  in  secundären 
Elektrotonus  versetzt.  Da  auch  die  kürzesten  Strom- 
stösse  oder  Inductionsströme  elektrotonisirend  wirken, 
so  ist  klar,  dass  man  bei  tetanisirender  Reizung  des  pri- 
mären Nerven  leicht  auch  secundären  Tetanus  wird  er- 
zielen können.  Stets  nehmen,  wie  mit  Rücksicht  auf  das 
rasche  Wachsen  der  Spannungen  in  der  Nähe  der  polari- 
sirten  Strecke  leicht  ersichtlich  ist,  die  Reizwirkungen 
Fig.  206.  sowohl  des  primären  wie  secundären  Elektrotonus  mit 
der  Annäherung  der  polarisirten  an  die  abgeleitete 
Strecke  rasch  zu,  wodurch,  wie  oben  schon  erwähnt  wurde,  ein  Mittel 
gegeben  erscheint,  die  wahre  secundäre  Erregung  von  Nerv  zu  Nerv 
von  der  paradoxen  Zuckung  zu  unterscheiden  (Hering  11). 

Helmhol tz  benützte  nun  diese  letztere  in  folgender  M^eise,  um 
die  zeitlichen  Verhältnisse  der  Etablirung  der  galvanischen  Ver- 
änderungen im  Elektrotonus  zu  ermitteln.  An  den  N.  ischiadicus, 
welcher  noch  mit  dem  Gastrocnemius  in  Zusammenhang  stand,  wurde 
ein  zweiter  freipräpanrter  Nerv  derart  angelegt,  dass  die  dem  zeich- 
nenden Muskel  nähere  Hälfte  seines  Nerven  in  Bei'ührung  mit  der 
entsprechenden  Hälfte  des  andern  gebracht  wurde  (Fig.  207).  Elektro- 
tonische  Reizung  entsprechender  Stellen  am  centralen  Ende  beider 
Nerven  lieferte  nacheinander  zwei  Zuckungen,  von  denen  die  eine  durch 
directe  Reizung  des  Muskelnerven,  die  andere  durch  secundären  Elektro- 
tonus bewirkt  war.  Es  zeigte  sich,  dass  die  secundäre  Zuckung 
vom  Nerven  aus  nicht  merklich  später  eintritt  als  die 
primäre,  woraus  Helmhol  tz  den  Schluss  zieht,  „dass  der  elek- 
trotonische  Zustand  nicht  merklich  später  eintritt  als 
der  ihn  erregende  elektrotonische  Strom"  und  somit  nicht, 
wie  die  Erregung,  eine  messbare  Zeit  [braucht,  um  sich  über  den 
Nerven  extrapolar  auszubreiten.  Schon  Du  Bois-Reymond  hat 
jedoch  darauf  aufmerksam  gemacht  (6,  p.  258),    dass  aus  dem  Helm- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  675 

holtz'schen  Versuche  streng  genommen  nur  gefolgert  werden  könne, 
dass  sich  die  dem  Elektrotonus  zu  Grunde  liegenden  Veränderungen 
und  der  Erregungsvorgang  mit  derselben  Geschwindigkeit  im 
Nerven  fortpflanzen.  Dies  ergiebt  sich  unmittelbar  aus  der  folgenden 
Erwägung  von  Hermann  (19,  p.  162).  „Ist  die  Zeit  zwischen  Rei- 
zung und  Zuckung  des  Muskels  (M)  (Fig.  207)  die  gleiche,  mag  bei 
a  oder  b  gereizt  werden,  so  beweist  dies,  dass  der  Elektrotonus, 
um  im  Nerven  1  von  a  bis  c  sich  auszubreiten,  so  viel  Zeit  braucht 
wie  die  Erregung,  um  im  Nerv  2  von  b  bis  c'  zu  gelangen. 
Aber  wenn  der  Elektrotonus  in  c  stark  genug  ist,  um  den  zweiten 
Nerven  zu  erregen,  so  wird  er  in  c'  gewiss  mindestens  ebenso  stark 
direct  erregen,  wenn  er  durch  Reizung  bei  b  im  Nerven  2  direct  er- 
zeugt wird ;  mit  andern  Worten :  bei  der  angewandten  Reizstärke  wird 
der  Nerv  2,  sobald  der  Strom  bei  b  applicirt  ist,  bis  c'  direct  erregt, 
und  der  Versuch  beweist  also  nur,  dass  der  Elektrotonus  sich  in  beiden 
Nerven  mit  gleicher  Geschwindigkeit  ausbreitet;  über  die  Grösse  dieser 
Geschwindigkeit  giebt  er  jedoch  keinen  Aufschluss." 


Fig.  207.  Fig.  208. 

Eine  Reihe  anderer  Versuche  bezieht  sich  auf  die  zeitliche 
Entwicklung  der  elektrotoni sehen  Erregbarkeitsver- 
änderungen, welche  ja,  wie  schon  Pflüg  er  gezeigt  hat,  zu  den 
galvanischen  Erscheinungen  in  nächster  Beziehung  stehen  und  so  zu 
sagen  nur  ein  anderes  Symptom  oder  eine  andere  Seite  desselben  zu 
Grunde  liegenden  Vorganges  im  Nerv  darstellen.  Man  wird  daher 
berechtigter  Weise  aus  den  Verhältnissen  der  zeitlichen  Entwicklung 
der  einen  Veränderung  auf  die  der  anderen  schliessen  dürfen. 
Pf  lüg  er  (31)  hat  übrigens,  wenigstens  für  den  Anelektrotonus,  direct 
durch  den  Versuch  erwiesen,  dass  die  Erregbarkeitsveränderung  völlig 
gleichzeitig  mit  der  galvanischen  Veränderung  eintritt. 

Wird  (Fig.  208)  das  centrale  Ende  des  Nerven  eines  gewöhnlichen 
Nerv-Muskel-Präparates  dauernd  von  einem  starken  aufsteigenden  Strom 
{ab}  durchflössen,  so  geräth  natürlich  die  myopolare  Strecke  des  Nerven 
in  den  Zustand  des  Anelektrotonus;  durch  ein  zweites,  innerhalb  der- 
selben angelegtes  Elektrodenpaar  (c  d)  kann  der  betreffende  Zuwachs- 
strom dem  Nerv  (B)  eines  andern  Präparates  zugeleitet  werden,  so 
dass  derselbe  in  demselben  Abstand  vom  Muskel,  aber  in  entgegen- 
gesetzter Richtung,  d.  h.  bei  der  gegensätzlichen  Lage  beider  Prä- 
parate, wieder  aufsteigend  durchströmt  wird.  Sobald  nun  unter  der 
Voraussetzung  einer  mit  einer  gewissen  Geschwindigkeit  von  der 
polarisirten  Strecke  {a  b)  aus  erfolgenden  Fortpflanzung  der  elektro- 
tonischen  Veränderung  der  primäre  Nerv  (c  d)  elektromotorisch  zu 
wirken  beginnt,  wird  sich  im  gleichen  Augenblick  ein  Zweigstrom 
durch  (e  f)  ergiessen  und  diesen  Nerven  secundär  erregen.  Aus  dem 
Umstände  nun,  dass  in  diesem  Falle  immer  nur  der  Muskel  {B)  und 
niemals    der   des  primären  Präparates  (Ä)  zuckt,    schliesst  Pflüger, 


(376  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

dass  zu  der  Zeit,  wo  der  elektrotonisclie  Zuwachsstrom  durch  die 
Strecke  (c  d)  des  ersten  Nerv-Muskel-Präparates  fliesst  und  den  zweiten 
Muskel  zu  secundärer  (paradoxer)  Zuckung  anregt,  auch  schon  die 
Erregbarkeit  in  (c  d)  so  weit  herabgesetzt  ist,  dass  derselbe  Zuwachs- 
strom, der  den  zweiten  Muskel  erregt,  den  ersten  ganz  ruhig  lässt, 
d.  h.  mit  andern  Worten:  die  Erregbarkei  ts  verän  derung  ist 
gleichzeitig  mit  der  entsprechenden  galvanischen  Ver- 
änderung vorhanden. 

Spätere  Versuche,  welche  von  verschiedenen  Autoren  in  der  Ab- 
sicht angestellt  worden  sind,  die  eigentliche,  uns  hier  beschäftigende 
Grundfrage  zu  entscheiden,  wie  sich  nämlich  die  absolute  Zeit  der 
Entwicklung  der  elektrotonischen  Veränderungen  des  Nerven  nach 
Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  verhält,  haben  bisher  nicht  zu 
übereinstimmenden  Resultaten  geführt.  Nach  Wundt  (33),  welcher 
eine  umfassende  und  ausserordentlich  verwickelte  Untersuchung  über 
den  zeitlichen  Verlauf  der  elektrotonischen  Erregbarkeitsveränderungen 
am  Nerv-Muskel-Präparat  des  Frosches  anstellte,  sind  dieselben 
nicht  gleichzeitig  mit  der  Schliessung  des  polarisiren- 
den Stromes  an  allen  Stellen  des  Nerven  entwickelt, 
sondern  breiten  sich  von  den  Polen  aus  mit  einer  ver- 
h alt niss massig    sehr   geringen,  jedenfalls    immer   leicht 

messbarenGeschwindigkeitvon 
Querschnitt  zu  Querschnitt 
ganz  nach  Analogie  des  Er- 
regungsvorganges wellen  fö  rm  ig 
aus.  In  diesem  Sinne  spricht  Wundt 
■^^    'i-^)    ',  ~::.|.— ^=»  von  einer  „a n  o  d  i  s  c h  e  n  H  e mm  u  n  g  s  - 

welle",  d.  h.  einer  durch  verminderte 
Anspruchsfähigkeit  charakterisirten  Zu- 
standsänderung  der  Nervensubstanz, 
welche  sich  von  der  Anode  her  mit  einer  je  nach  der  Stärke 
des  polarisirenden  Stromes  zwischen  80  und  1700  mm  p.  See.  wech- 
selnden Geschwindigkeit  fortpflanzt  und  einer  k  a t h  o d  i  s c h e n  Er- 
regungswelle (d.h.  katelektrotonischen  Erregbarkeitssteigerung), 
deren  Fortpflanzungsgeschwindigkeit,  wie  es  scheint,  jener  der  wirk- 
samen Erregung  selbst  entspricht.  Hinsichtlich  der  angewandten 
Methode  sei  nur  erwähnt,  dass  es  sich  im  Wesentlichen  darum  handelte, 
zu  verschiedenen  Zeiten  nach  Schliessung  eines  aufsteigenden  oder  ab- 
steigenden, polarisirenden  Kettenstromes  verschiedene  Stellen  der  myo- 
polaren  Nervenstrecke  durch  einzelne  Inductionsschläge  zu  reizen  und 
die  ausgelösten  Zuckungen  graphisch  zu  verzeichnen ;  die  dabei  hervor- 
tretenden Unterschiede  in  Bezug  auf  den  zeitlichen  Verlauf,  die  Grösse 
(Höhe)  und  Dauer  der  Zuckungen  vor  und  nach  Schliessung  des 
polarisirenden  Stromes  gestatten  dann  eventuell  Schlussfolgerungen 
bezüglich  des  zur  gegebenen  Zeit  an  der  betreffenden  Nervenstelle 
herrschenden  Erregbarkeitszustandes.  Die  Beobachtungen  von  Wundt, 
auf  deren  weitere  Einzelheiten  hier  nicht  näher  eingegangen  werden 
kann,  haben,  wie  es  scheint,  in  der  Folge  nur  wenig  Beachtung  ge- 
funden, sie  beflnden  sich  zudem  in  directem  Widerspruch  mit  dem  oben 
erwähnten  Pflüger'schen  Versuch,  sowie  mit  gewissen  Versuchsresultaten 
von  Grünhagen  (34),  denen  zufolge  der  Beginn  der  elektro- 
tonischen Erregbarkeitsveränderungen  an  jeder  Stelle 
des  Nerven  mit  dem  Momente  der  Schliessung  des  polari- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  677 

sirenden  Stromes  zeitlich  zusammenfällt.  Wird  (Fig.  209) 
in  den  Kreis  der  den  polarisirenden  Strom  liefernden  Kette  (K)  zugleich 
auch  ein  Rheochord  (r  r^)  und  die  primäre  Spirale  eines  Inductions- 
apparates  aufgenommen,  so  kann  man  dem  Nerven  eines  Nerv-Muskel- 
Präparates  leicht  einen  Zweig  des  primären  Stromes  in  aufsteigender 
Richtung  zuleiten  (cd),  der  an  sich  nicht  ausreicht  zu  wirksamer  Er- 
regung des  Muskels,  wohl  aber  zur  Entwicklung  einer  nachweisbaren 
anelektro tonischen  Erregbarkeitsherabsetzung  innerhalb  der  myopolaren 
Nervenstrecke.  Es  zeigte  sich  nun,  dass  bei  emplindlichen  Präparaten 
die  Höhe  der  durch  den  aufsteigenden  Schliessungsinductionsschlag  bei 
(a  b)  ausgelösten  Zuckung  regelmässig  niedriger  ausfiel,  wenn  die 
Strecke  (c  d)  gleichzeitig  durch  einen  Zweig  des  primären  Stromes 
polarisirt  wurde.  Gegen  den  daraus  von  Grünhagen  abgeleiteten 
Schluss,  dass  die  anelektrotonische  Erregbarkeitsherabsetzung  in  (a  h) 
schon  zur  Zeit  der  Schliessungsinduction  vorhanden,  also  thatsächlich 
gleichzeitig  mit  dem  polarisirenden  Strom  entsteht,  hat  jedoch  Tschir- 
jew  (35)  den  Einwand  erhoben,  dass  bei  vereinigter  Wirkung  beider 
Ströme  der  inducirte  Reizstrom  nothwendig  schwächer  ausfallen  muss, 
als  in  dem  andern  Falle,  weil  jetzt  ein  Theil  des  ihn  inducirenden 
Stromes  mittels  des  Rheochords  in  den  Nerven  abgeleitet  wird.  Dieser 
Einwand  ist  aber,  wie  He  rm  an  n  (35)  späte i-^bemerkte,  in  Anbetracht 
der  Widerstands  Verhältnisse  thatsächlich  ohne  Belang,  da  es  für  den 
Strom  in  der  primären  Spirale  mit  ihrem  geringen  Widerstand  (von 
1 — 2  Siemens'schen  Einheiten)  kaum  etwas  ausmachen  kann,  „ob  noch 
ein  Nebenzweig,  der  den  Nerven  mit  seinen  40000 — 70000  Ein- 
heiten enthält,  geschlossen  oder  geöffnet  wird",  was  übrigens  auch 
thatsächlich  durch  Versuche  von  Baranowsky  und  Garre  nach- 
gewiesen worden  ist  (35,  p.  449). 

Tschirjew  gelangte  bei  seinen  Versuchen  über  die  Fortpflan- 
zungsgeschwindigkeit der  galvanischen  sowohl  wie  der  Erregbarkeits- 
veränderungen im  Elektrotonus  markhaltiger  Nerven  zu  fundamental 
verschiedenen  Ergebnissen  wie  seine  Vorgänger,  die  wenig  später 
durch  eine  noch  zu  erwähnende  Untersuchung  von  Bernstein  im 
Wesentlichen  bestätigt  wurden. 

Hiernach  würden  sich  die  elektrotonischen  Ver- 
änderungen im  Nerven  mit  einer  Geschwindigkeit  fort- 
pflanzen, welche  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
der  Erregung  sehr  nahe  kommt,  aber  doch  im  Allge- 
meinen kleiner  ist,  als  diese  letztere. 

Um  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  anelektrotonischen  Er- 
regbarkeitsabnahme im  Nerven  zu  finden ,  bediente  sich  T  s  c  h  i  r  j  e  w 
einer  im  Princip  analogen  Methode  wie  vordem  Wundt.  „Für  eine  be- 
stimmte Stelle  des  Nerven  eines  Froschgastrocnemius-Präparates  wurde 
die  minimale  Reizstärke  aufgesucht,  welche  Zuckung  auslöste.  Dann 
wurde  in  der  dem  centralen  Ende  näher  liegenden  Partie  des  Nerven 
in  einem  bestimmten  Abstand  \^on  der  geprüften  Stelle  ein  starker 
aufsteigender  Strom  geschlossen.  Die  Schliessung  dieses  Stromes  gab 
natürlich  in  diesem  Falle  keine  Zuckung.  Eine  gewisse,  sehr  kurze 
Zeit  nachher  wurde  die  Erregbarkeit  des  Nerven  an  der  früheren 
Stelle  wieder  geprüft.  Erzeugte  die  früher  gefundene  minimale  Reiz- 
stärke noch  merkliche  Zuckung,  so  wurde  der  Moment  dieser  Reizung 
in  der  Zeit  von  dem  Momente  der  Schliessung  des  polarisirenden 
Stromes  entfernt  vmd  der  Versuch  wiederholt.     Damit  wurde  so  lange 


g78  Di^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

fortgefahren,  bis  die  minimale  Reizung  ohne  Erfolg  blieb,"  „Der  dann 
sich  ergebende  Zeitunterschied  zwischen  den  beiden  Momenten  musste 
die  Zeit  geben,  welche  für  die  Fortpflanzung  der  Erregbarkeitsabnahme 
von  der  intrapolaren  Strecke  bis  zur  gereizten  Stelle  nöthig  war.  War 
dieser  Abstand  bekannt,  so  konnte  daraus  die  gesuchte  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit bestimmt  werden." 

Um  den  Eintritt  der  galvanischen  Veränderungen  des  Elektro- 
tonus  an  einer  ausserhalb  der  polarisirten  Nervenstrecke  gelegenen 
Stelle  des  Nerven  festzustellen,  wurde  zunächst  von  zwei  symmetrisch 
zum  elektromotorischen  Aequator  gelegenen  Punkten  dauernd  abge- 
leitet und  etwa  vorhandene  SpannungsdifFerenzen  compensirt.  Dieser 
Kreis,  in  welchem  eine  empfindliche  Bussole  eingeschaltet  war,  konnte 
nun  vermittels  eines  Federmyographions  zu  verschiedenen  Zeiten  nach 
ganz  kurz  dauernder  Schliessung  eines  Kettenstromes,  der  eine  in  be- 
stimmter Entfernung  von  der  abgeleiteten  befindliche  Nervenstrecke  auf- 
oder  absteigend  durchfliesst,  geöfinet  werden,  wobei  das  Zeitintervall 
zwischen  dem  Moment  der  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  im 
Nerven  und  dem  Momente  der  Oeffiiung  des  Bussolkreises  beliebig 
variirt  werden  konnte.  Es  ist  klar,  dass  durch  Bestimmung  der  Zeit, 
welche  zwischen  diesem  letzteren  Momente  und  dem  Momente  der 
Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  verfliessen  musste,  damit  die 
erste  Spur  der  elektrotonischen  Stromschwankung  an  der  Bussole 
sichtbar  wurde,  auch  zugleich  die  Zeit  bestimmt  ist,  welche  dieselbe 
in  jedem  beobachteten  Falle  für  ihre  Fortpflanzung  von  der  polarisirten 
bis  zur  abgeleiteten  Nervenstrecke  braucht. 

Beide  Versuchsreihen  von  T  s  c  h  i  r  j  e  w  erfuhren  in  der  Folge 
eine  sehr  eingehende  und  scharfe  Kritik  von  Seiten  Hermann 's 
(36),  welcher  vor  Allem  in  Bezug  auf  die  galvanischen  Messungen 
Tschirjew's  nachdrücklich  hervorhebt,  dass,  wie  noch  zu  zeigen 
sein  wird,  der  Elektrotonus  an  einer  bestimmten  Nerven - 
stelle  nicht  gleich  im  erstenMomenteseiner  Entstehung 
die  volle  Intensität  hat,  sondernall  mählich  anwächst, 
„Wenn  aber  der  Elektrotonus  in  der  ersten  Zeit  nach  seinem  Ent- 
stehen nur  um  ein  Viertel  seines  Betrages  schwächer  ist  als  später, 
so  sind,  wie  Hermann  zeigt,  die  Resultate  Tschirj  ew  '  s  mit  einem 
momentanen  Entstehen  ebenso  gut  vereinbar."  Dasselbe  gilt  natür- 
lich auch  von  den  Versuchen,  bei  welchen  die  Zeit  bestimmt  werden 
sollte,  Avelche  nach  Schliessung  des  polarisirenden  .Stromes  vergehen 
muss,  um  an  einer  entfernten  Nervenstelle  einen  Anelektrotonus  hervor- 
zurufen, der  hinreichend  stark  ist,  um  hier  die  durch  einen  Prtifungs- 
reiz  ausgelöste  Zuckung  zu  unterdrücken.  „Diese  Zeit  ist  durchaus 
nicht  nothwendig  identisch  mit  derjenigen,  welche  vergehen  muss,  da- 
mit der  Anelektrotonus  an  jener  Nervenstelle  überhaupt  beginne," 
sondern  höchst  wahrscheinlich  kleiner.  Dazu  kommt  noch,  dass,  wie 
ebenfalls  Hermann  hervorhebt,  die  elektrotonischen  Veränderungen 
ganz  abweichend  von  der  Erregung,  mit  zunehmender  Entfernung  von 
der  polarisirten  Nervenstrecke  sehr  rasch  an  Intensität  abnehmen  und 
schliesslich  unmerklich  werden.  Es  Avird  daher,  Avenn  der  Elektrotonus 
unmittelbar  bei  der  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  noch  nicht 
voll  entwickelt  ist,  „die  Strecke,  in  welcher  er  in  diesem  ersten  Augen- 
blicke nachweisbar  ist,  noch  kleiner  sein  müssen,  als  die  Strecke  der. 
definitiven  Nachweisbarkeit," 


Die  elektromotorisclieii  Wirkungen  der  Nerven. 


679 


Später  hat  Tschirjew  dieselben  Versuche  mit  gleichem  Erfolge 
auch  unter  Anwendung  des  für  rasche  Stromschwankungen  besonders 
empfindlichen  Capillar-Elektrometers  und  des  Bernstein 'sehen  Rheotoms 
wiederholt,  für  welche  natürlich  dieselben  Einwände  gelten.  Erinnert 
man  sich  der  Theorie  dieses  letzteren,  ingeniösen  Instrumentes,  so  ist 
ohne  Weiteres  ersichtlich,  dass  es  mit  Hülfe  desselben  in  einer  sehr 
bequemen  Weise  gelingt,  einen  polarisirenden  Strom  in  einem  be- 
stimmten Zeitmomente  dem  Nerven  zuzuführen  und  ihn  kurz  darauf 
zu  unterbrechen,  zugleich  aber  in  verschiedenen  Zeitmomenten  nach 
jener  Schliessung  die  elektrotonischen  Ströme  einer  davon  entfernten 
Nervenstrecke  abzuleiten.  Die  von  Bernstein  selbst  bei  seiner 
schon  kurz  erwähnten  Untersuchung  benützte  Versuchsanordnung  wird 
durch  das  beistehende  Schema  versinnlicht  (Fig.  210).  Man  sieht,  dass 
während  der  Rotation  des  Rheotoms  der  polarisirende  Strom  periodisch 


Fig.  210. 


geschlossen  jwird,  sobald  die  Spitzen  in  die  Quecksilbergefässe  {qq) 
tauchen,  der  Bussolkreis  dagegen,  so  oft  die  Spitze  Q;^)  in  {q^)  taucht. 
Die  Schliessungszeit  des  polarisirenden  Stromes  schwankte  zwischen 
^/8o  und  V200  See,  die  Dauer  des  abgeleiteten  Stromes,  dessen  Schliessung 
durch  Veränderung  der  Schieberstellung  am  Rheotom  in  jedem  be- 
liebigen Zeitmoment  zwischen  der  Schliessung  und  Oeffnung  beziehungs- 
weise nach  Oeffnung  des  polarisirenden  Stromes  erfolgen  konnte,  betrug 
meist  jedesmal  Viooo  See.  Wie  man  leicht  sieht,  lassen  sich  unter 
diesen  Umständen  die  elektrotonischen  Zuwachsströme  überhaupt  nicht 
rein  beobachten,  sei  es  nun,  dass  die  Bussolelektroden  den  Nerven  in 
stromloser  Anordnung  berühren,  oder  von  Längsschnitt  und  Quer- 
schnitt ableiten ;  stets  interferiren  dieselben  entweder  mit  dem  phasischen 
Actionsstrom  oder  mit  der  negativen  Schwankung.  Die  Abnahme  des 
Nervenstromes,  welche  man  im  letzteren  Falle  auch  ohne  Rheotom  bei 
tetanisirender  Reizung  mit  absteigenden  Strömen  beobachtet,  muss 
sich  bei  hinreichender  Nähe  der  abgeleiteten  und  der  Reizstrecke 
•  stets  aus  der  negativen  Schwankung  und  dem  katelektro tonischen 
Zuwachsstrom  zusammensetzen.  Die  Anwendung  des  Rheotoms  ge- 
stattet nun  aber  diesen  Gesammteffekt  so  zu  sagen  in  seine  einzelnen 


680 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


Componenten  zu  zerlegen  und  das  zeitliche  Verhältniss  zwischen  dem 
Eintreffen  der  Erregungswelle  (Reizwelle)  und  des  elektrotonischen 
Stromes  bei  jeder  Einzelreizung  festzustellen.  Würde  der  letztere 
bereits  im  Augenblicke  der  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes 
in  seiner  vollen  Höhe  vorhanden  sein,  so  müsste  offenbar  von  diesem 
Momente  ab  die  Ablenkung  am  Galvanometer  beginnen  und  in  dem 
Maasse  stetig  wachsen,  als  der  Schieber  des  Rheotoms  vom  Nullpunkt 
(d.  h.  der  Stellung,  bei  welcher  die  Oeffnung  des  Bussolkreises  gleich- 
zeitig mit  der  Schliessung  des  Kettenstromes  erfolgt)  aus  bis  zu  der- 
jenigen Stellung  vorgeschoben  wird,  wo  die  Schliessung  des  polarisirenden 
Stromes  mit  der  des  Nervenkreises  zusammenfällt.  Dies  war  aber  bei 
Bernstein's  Versuchen  niemals  der  Fall;  vielmehr  zeigte  sich  stets^ 
dass  nach  Schluss  des  polarisirenden  Stromes  eine  gewisse,  gut  mess- 
bare Zeit  vergeht,  ehe  überhaupt  Ausschläge  am  Galvanometer  erfolgen. 
Bedeutet   SO   (Fig.  211)    die  Abscisse   der   Zeit,   S  den  Moment   der 

Schliessung,  0  den  der 
Oeffnung  des  Ketten- 
stromes, Sy  die  Höhe 
des  „ruhenden  Nerven- 
stromes", so  lässt  sich  der 
ganze  Vorgang  der  jeden 
Einzelreiz  begleiten- 
den katelektrotonischen 
Veränderung  der  abge- 
leiteten Nervenstrecke 
durch  die  Curven  ng  s 
lit  e  darstellen.  Man 
sieht  offenbar  als  gal- 
vanischen Ausdruck  der 
sonst  die  Schliessungs- 
zuckung bedingenden 
Erregung  zunächst  eine 
rasch  verlaufende  nega- 
tive Schwankung  ein- 
treten, welche  im  ge- 
gebenen Falle  den  Ner- 
venstrom vorübergehend  umkehrt  (absolut  negativ  ist).  Merklich 
später  bei  h  beginnt  erst  die  durch  den  langsam  ansteigenden  katelek- 
trotonischen Strom  bedingte  neuerliche  negative  Schwankung,  Avelche 
den  Moment  der  Oeffnung  des  polarisirenden  Stromes  etwas  überdauert, 
um  dann  rasch  abzufallen.  Häufig  fällt  übrigens  das  Ende  der  katho- 
dischen Schliessungswelle,  wie  Bernstein  die  durch  die 
Schliessungserregung  bedingte  anfängliche  negative  Schwankung  be- 
zeichnet, in  den  Anfang  der  katelektrotonischen  Schwankung  hinein, 
so  dass  es  von  diesem  nicht  zu  trennen  ist. 

Auch  aus  diesen  Versuchen,  ebenso  wie  aus  den  früher  er- 
wähnten von  Tschirjew,  scheint  sich  daher  zu  ergeben,  dass  das 
Entstehen  des  katelektrotonischen  Stromes  an  der  ab- 
geleiteten Stelle  zeitlich  nicht  mit  dem  Moment  der 
Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  zusammenfällt, 
und  dass  die  zu  Grunde  liegen  deVeränderung  des  Nerven 
sich  lang sam  er  ausbreitet  als  die  Erregungs  welle,  welche 
ihm  gleichsam  vorauseilt.    Diese  Sonderung  beider  Curvengipfel 


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Fig.  211. 


Die  elektromotorischen  Wirkuugen  der  Nerven.  681 

tritt  allerdings  nur  dann  deutlich  hervor,  wenn  die  abgeleitete  Nerven- 
strecke sich  in  genügender  Entfernung  von  der  polarisirten  befindet, 
da  voraussichtlich  beide  Processe  an  der  Kathode  selbst  gleichzeitig, 
d.  h.  im  Augenblick  der  Schliessung,  beginnen  und  sich  nach 
Bernstein's  Auffassung  erst  bei  weiterer  Fortpflanzung  von  einander 
sondern.  In  Folge  dessen  lässt  sich  auch  der  absolute  Werth  der 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  katelektrotonischen  Veränderung 
aus  solchen  Versuchen  kaum  mit  Genauigkeit  feststellen,  doch  schätzt 
sie  Bernstein  im  Mittel  auf  etwa  9  —  10  m  pro  Secunde.  Im 
Wesentlichen  gleichartig  gestaltet  sich  bei  demselben  Versuchsverfahren 
die  Entwicklung  und  Ausbreitung  des  galvanischen  Anelektrotonus, 
wenn  die  durch  das  Rheotom  vermittelte  Reizung  mit  Rücksicht  auf 
das  abgeleitete  Quersehnittsende  des  Nerven  durch  aufsteigende  Ströme 
bewirkt  wird.  Stets  zeigte  sich  auch  hier  (selbst  bei  starken  Strömen) 
eine  allerdings  viel  kleinere  negative  Initialschwankung  (Reizwelle), 
als  bei  absteigender  Reizung,  welcher  die  mit  der  Zeit  immer  mehr 
zunehmende,  positive,  anelektrotonische  Ablenkung  sich  anschliesst 
(Fig.  211,  ng'at'e).  Es  handelt  sich  also  auch  hier  wieder  um  die 
Fortpflanzung  einer  gewissen  Veränderung  des  Nerven,  deren 
absolute  Geschwindigkeit  sich  am  besten  bei  stromloser  Ableitung 
von  zwei  Längsschnittspunkten  bestimmen  lässt,  da  in  diesem  Falle 
die  negative  Schwankung  sich  kaum  störend  einmischt.  Nach  Bern- 
stein beträgt  dieselbe  6 — 13  m  p.  See.  Für  beide  Phasen  des 
galvanischen  Elektrotonus  würde  es  sich  hiernach  also 
um  Veränderungen  handeln,  welche  sich  im  Nerv  von 
Querschnitt  zu  Querschnitt  mit  einer  Geschwindigkeit 
fortpflanzen,  welche  unter  allen  Umständen  erheblich 
hin  ter  j  ener  d  es  Erregungs  Vorganges  zurückbleibt.  Es 
ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  dieser  Umstand  für  die  theoretische  Auf- 
fassung und  Deutung  der  elektrotonischen  Veränderungen  von  der 
grössten  Wichtigkeit  ist. 

Bei  allen  diesen  Versuchen  wurde  jedoch,  wie  es  scheint,  der 
zeitliche  Verlauf  der  an-  oder  katelektrotonischen  Ver- 
änderung an  einem  und  demselben  Punkte  des  Nerven 
bei  einmaliger  Schliessung  nicht  genügend  berücksichtigt. 
Schon  aus  älteren  Versuchen  von  Du  Bois-Reymond  und  P f  1  ü g e r 
geht  hervor,  dass  bei  dauernder  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes 
sowohl  der  Zustand  herabgesetzter  Erregbarkeit,  wie  auch  die  ent- 
sprechenden galvanischen  Veränderungen  im  Anelektrotonus  an 
jeder  Stelle  des  Nerven  nur  ganz  allmählich  ihr  Maximum  erreichen, 
um  dann  langsam  wieder  abzunehmen.  Pflüger  (32  p.  319  f.)  sah 
oft  bei  schneller  Reizung  nach  erfolgter  Schliessungszuckung  noch 
keine  Spur  einer  veränderten  Erregbarkeit,  die  erst  nach  30  See.  oder 
1  Min  sehr  stark  herabgesetzt  war.  „Wie  aber  der  Anelektrotonus 
an  einer  Stelle  anschwillt,  sein  Maximum  erreicht,  so  nimmt  er  nachher 
auch  wieder  ab  und  zieht  sich  ebbend  nach  der  intrapolaren  Strecke 
zurück,  wenn  man  fortwährend  geschlossen  lässt."  „Die  Dauer  der 
Flutzeit  wird  kleiner,  wenn  derselbe  Strom  öfter  geschlossen  wird  oder 
wenn  er  bereits  anfänglich  stärker  wai',  so  dass  auch  der  Anelektrotonus 
bei  sehr  starken  Strömen  urplötzlich  hereinzubrechen  scheint."  Nach 
Du  Bois-Reymond  (30  p.  446  und  6  p.  255)  lässt  sich  dieses 
Verhalten  in  Bezug  auf  die,  wie  es  scheint,  ganz  correspondirenden 
galvanischen   Wirkungen    des   Anelektrotonus    durch    eine   Curve    von 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  44 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Xei-ven. 


der  Form  %  a^  üo,  (Fig.  212)  darstellen;  S  ist  der  Moment  der 
Schliessung,  /^  der  Moment  der  ersten  Bussolablesung,  Ganz  wesent- 
lich unterscheidet  sich  davon  der  zeitliche  Verlauf  der  katelektro- 
tonischen  Veränderungen  während  der  Dauer  des  Stromschlusses. 
Ausnahmslos  erreicht  der  Katelektrotonus  an  einer  bestimmten  Nerven- 
stelle seinen  grössten  Werth,  der  übrigens  immer  hinter  jenem  des 
Anelektrotonus  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen  zurücksteht,  viel 
früher  als  dieser,  und  scheint  wenigstens  hinsichtlich  der  galvanischen 
Veränderungen  vom  ersten  Beginn  der  Beobachtung  continuirlich  ab- 
zusinken (Curve  Ti(^Ti]^h2).  Bezüglich  der  Erregbarkeit  konnte  Pflü- 
ger (1.  c.  p.  349)  unmittelbar  nach  Schliessung  des  polarisirenden 
Stromes  eine  kurzdauernde  Zunahme  feststellen.  Es  ist  klar  und  wurde 
oben  schon  hervorgehoben,  dass  das  verhältnissmässig  langsame  An- 
wachsen der  elektrotonischen  Veränderungen  an  einer  bestimmten 
Nervenstelle,  sowie  die  rasche  Intensitätsabnahme  in  irgend  grösserer 
Entfernung  von  der  polarisirten  Strecke,  allen  auf  die  Bestimmung 
der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  gerichteten  Versuchen  von  vorne- 
herein grosse  Schwierigkeiten  bereitet;  und  speciell  die  galvano- 
metrischen Zeitmessungen  schei- 
tern, wie  schon  Hermann  her- 
vorhebt (35  p.  453),  auf  diesem 
Gebiete  an  der  Unkenntniss  des 
zeitlichen  Verlaufes  des  Elektro- 
tonus  in  seinen  allerersten  Stadien. 
Es  können  daher  auch  die  oben 
erwähnten  Versuche  von  Bern- 
stein nicht  wohl  als  eine  end- 
gültige Entscheidung  der  schwe- 
benden Frage  betreffs  der  Fort- 
pflanzung des  elektrotonischen 
Zustandes  angesehen  werden,  umsomehr  als  ihnen  Versuche  gegenüber- 
stehen, deren  Beweiskraft  bisher  nicht  widerlegt  worden  ist.  Valerius 
von  Baranowsky  und  Carl  G a r r e  haben  unter  der  Leitung  H e r - 
m an n's  Versuche  über  die  Ausbreitungsgeschwindigkeit  der  anelektro- 
tonischen  Erregbarkeitsveränderung  theils  nach  dem  schon  früher  be- 
sprochenen Grünhagen'schen  Princip,  theils  nach  einer  von  Hermann 
angegebenen  Methode  aufgestellt.  Dem  centralen  Ende  eines  mit  dem 
Muskel  in  Verbindung  stehenden  Nerven  wird  ein  starker  aufsteigender 
Strom  zugeleitet,  während  (mittels  einer  Helmholtz'schen  Wippe) 
absolut  gleichzeitig  ein  anderer  schwächerer  Kettenstrom  ebenfalls  in 
aufsteigender  Richtung  als  Prüfungsreiz  geschlossen  werden  kann;  hat 
man  sich  dann  überzeugt,  dass  der  polarisirende  Strom  für  sich  nur 
Oeffnungs-  und  keine  Schliessungszuckung  giebt,  während  der  schwächere 
Reizstrom  bei  der  Schliessung  sicher  erregend  wirkt,  und  vergleicht 
man  die  Grösse  dieser  Schliessungszuckung  ohne  und  mit  gleichzeitiger 
Schliessung  des  polarisirenden  Stromes,  so  zeigte  sich,  dass  letzteren- 
falls  selbst  bei  grossen  Abständen  beider  Nervenstrecken  der  Prüfungs- 
reiz unwirksam  bleibt  oder  doch  eine  schwächere  Schliessungszuckung 
auslöst  als  vorher.  Mit  Berücksichtigung  des  Umstandes,  dass  bei 
diesen  Versuchen  das  Intervall  zwischen  der  Schliessung  beider  Ströme 
etwas  kleiner  als  0,0001  See.  war,  ergab  sich  für  die  Ausbreitungs- 
geschwindigkeit des  Anelektrotonus  ein  Werth,  der  bei  dem  Abstand 
beider  Nervenstrecken  von  16,5  mm  jedenfalls  grösser  ist  als  10,000X  16,5, 


Fig.  212. 


Die  elektromotorischeu  Wirkungen  der  NeiTen.  683 

d.  h.  grösser  als  165  m.  Bei  weiteren  Versuchen,  welche  mittels  des 
Hermann 'sehen  Fallrheotoms  nach  dem  von  Tschirjew  benützten 
Princip  angestellt  wurden,  zeigte  sich  mit  vollster  Bestimmtheit,  dass 
die  anelektro tonische  Erregbarkeitsherabsetzung  an 
einer  10  mm  entfernten  Nervenstrecke  bereits  im  Mo- 
mente der  Schliessung  des  polarisir enden  Stromes  vor- 
handen ist;  man  darf  annehmen,  dass  dasselbe  auch  hinsichtlich 
der  katelektrotonischen  Steigerung  der  Erregbarkeit,  sowie  für  den 
galvanischen  Ausdruck  des  Elektrotonus  gelten  wird.  Diesen  Ver- 
suchen zu  Folge  würde  es  sich  hier  also  nicht  um  Veränderungen 
handeln,  welche  sich  wie  die  Erregung  von  Querschnitt  zu  Querschnitt 
wellenartig  fortpflanzen,  sondern  um  solche,  die  an  allen  Stellen  gleich- 
zeitig, d.  h.  im  Moment  der  Schliessung  des  polarisirenden  Stromes,  be- 
ginnen. Zur  Zeit  ist  dieser  diametrale  Gegensatz  der  Anschauungen 
nicht  ausgeglichen ,  doch  wird  man  zugeben  müssen ,  dass  die  zuletzt 
erwähnten  Versuche  Hermann 's  und  seiner  Schüler  keinen  be- 
gründeten Einwand  zulassen,  während  die  Resultate  der  Bernstein'schen 
Rheotomversuche  aus  schon  bemerkten  Gründen  nicht  ganz  eindeutig 
sein  dürften. 

Für  die  Erkenntniss  der  wahren  Natur  und  des  eigentlichen 
Wesens  der  elektrotonischen  Veränderungen  markhaltiger  Nerven  sind 
eine  Reihe  Thatsachen  von  grosser  Bedeutung  geworden,  welche  einer- 
seits an  gewissen  unbelebten  (todten)  Leitern  von  besonderer  Be- 
schaffenheit, andererseits  aber  an  marklosen  Nerven  beobachtet 
worden  sind.  In  letzterer  Beziehung  wurde  schon  oben  darauf  hin- 
gewiesen, dass  das  Hervortreten  des  wirklich  typischen,  extrapolaren 
Elektrotonus  an  gewisse  Struktureigenthümlichkeiten  der  markhaltigen 
Nervenfasern ,  insbesondere  an  das  Vorhandensein  und  die  Integrität 
der  Markscheide  geknüpft  sei.  Es  bleibt  nun  übrig,  noch  näher  auf 
die  hierher  gehörigen  Thatsachen  einzugehen.  Unter  den  wenigen,  hier 
zur  Verfügung  stehenden  Versuchsobjekten  empliehlt  sich  neben  dem 
zuerst  von  Kühne  benützten  N.  olfactorius  des  Hechtes  und  den  leider 
zu  emprindlichen  Scheerennerven  des  Krebses  (Hummers)  ganz  besonders 
die  bei  grossen  Exemplaren  unserer  Ano  donta-Arten  sehr  langen, 
unverzweigten,  marklosen  Nervenstränge,  welche  zwischen  den  beiden 
vorderen  und  dem  hinteren  Ganglion  ausgespannt  sind  und  sich  vor  Allem 
durch  eine  grosse  Widerstandsfähigkeit  auszeichnen  (B  i  e  d  e  r  m  a  n  n). 
In  Betreff  der  elektromotorischen  Eigenschaften  dieser  dünnen  Nerven- 
fäden, die  zusammengenommen  noch  bei  Weitem  nicht  die  Dicke  eines 
Froschischiadicus  erreichen,  wurde  schon  früher  bemerkt,  dass  ähn- 
lich wie  beim  Hechtolfactorius  der  Demarcationsstrom  ungewöhnlich 
stark  erscheint.  Leitet  man  diesen  letzteren  mittels  unpolarisirbarer 
Elektroden  zu  einer  empfindlichen  Bussole  und  führt  am  andern 
Ende  des  horizontal  ausgespannten  Nervenpaares  einen  Ketten  ström 
zu  (1 — 2  Dan.),  so  beobachtet  man,  wie  früher  bereits  beschrieben 
wurde,  nach  Compensation  des  Demarcationsstromes  bei  jeder  Schliessung 
des  Reizkreises  eine  mehr  oder  minder  beträchtliche  Ablenkung  des 
Magneten  im  Sinne  einer  Abnahme  (negativen  Schwankung)  des  Nerven- 
stromes, deren  Grösse  sehr  wesentlich  mit  von  der  Richtung  des 
polarisirenden  Stromes  abhängt.  Sie  ist  ausnahmslos  stärker,  wenn  der 
letztere  nach  dem  abgeleiteten  Ende  hinfliesst  (3).  Im  Folgenden  soll 
diese  Richtung  als  absteigende,  die  entgegengesetzte  als  aufsteigende 
bezeichnet    werden.     Der   Umstand,    dass    die   Ablenkung    in    beiden 

44* 


684  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

Fällen  gleichsinnig,  aber  von  verschiedener  Grösse  ist,  sowie  die  Un- 
abhängigkeit dieser  Wirkungen  von  dem  Abstand  der  abgeleiteten  und 
der  polarisirten  Nervenstrecke  lassen  keinen  Zweifel  daran  aufkommen^ 
dass  man  es  hier  nicht  oder  doch  nicht  allein  mit  elektrotonischen 
Erscheinungen,  sondern  mit  einer  Folgewirkung  der  Erregung  des 
Nerven  durch  den  Strom  zu  thun  hat.  Der  zeitliche  Verlauf  der 
negativen  Schwankung  gestaltet  sich  bei  absteigender  und  aufsteigender 
Richtung  des  Reizstromes  wesentlich  verschieden.  Ersterenfalls  klingt 
dieselbe  während  der  Schliessungsdauer  nur  langsam  ab ,  andernfalls 
viel  rascher.  Befindet  sich  die  polarisirte  Nervenstrecke  in  möglichst 
grosser  Entfernung  von  der  abgeleiteten,  so  bildet  die  negative 
Schliessungsschwankung  in  der  Regel  den  einzigen  Reizerfolg  bei 
beiden  Stromesrichtungen ;  ist  dagegen  die  Zwischensti-ecke  nicht  zu  gross, 
so  schliesst  sich  der  negativen  Anfangsschwankung  bei  aufsteigender 
Stromesrichtung  regelmässig  eine  positive  an,  deren  Entwicklung 
und  weiterer  Verlauf  wesentlich  von  dem  Verhältniss  ihrer  Grösse  zu 
der  der  vorausgehenden  negativen  Schwankung  abhängt;  je  grösser  diese 
ist,  desto  später  tritt  jene  nach  der  Schliessung  ein  und  desto  lang- 
samer wächst  sie  während  der  Schliessungsdauer  an.  Oft  kann  man 
eine  zunehmende  Beschleunigung  der  Ablenkung,  ein  förmliches  An- 
schwellen der  positiven  Wirkung  bis  zu  ihrem  grössten  Werthe  wahr- 
nehmen, worauf  der  Magnet  in  seiner  neuen  Gleichgewichtslage  ver- 
harrt, so  lange  der  Strom  geschlossen  bleibt.  Das  Maximum  der 
positiven  Schwankung  liegt  stets  bei  einer  höheren  Stromesintensität 
als  das  der  negativen  Anfangswirkung.  Für  die  Auffassung  der 
letzteren  als  einer  Folgewirkung  der  Schliessungserregung  ist  es  sehr 
bezeichnend,  dass  dieselbe  um  so  schwächer  wird,  je  mehr  die  Intensität 
des  Reizstromes  wächst  und  schliesslich  gänzlich  ausbleibt  (entsprechend 
der  dritten  Stufe  des  Zuckungsgesetzes).  Die  Schliessung  bleibt  dann 
entweder  ohne  erkennbare  Wirkung,  wenn  der  Abstand  der  Reiz- 
strecke vom  abgeleiteten  Nervenende  zu  gross  ist,  um  eine  wirkliche 
positive  Schwankung  hervortreten  zu  lassen,  oder  es  erfolgt  anderenfalls 
eben  nur  diese  letztere,  wobei  die  negative  Anfangswirkung  oft  noch 
durch  ein  deutliches  Zögern  vor  Beginn  der  positiven  Ablenkung 
angedeutet  sein  kann.  In  sehr  charakteristischer  Weise  tritt  die 
Verschiedenheit  der  Wirkung  des  aufsteigend  und  absteigend  ge- 
richteten Stromes  auch  bei  der  Oeffnung  hervor.  Nur  selten  kommt 
es  bei  absteigender  Oeffnung  zu  einer  deutlichen  Verstärkung  der 
während  der  Dauer  bestehenden  negativen  Ablenkung  (in  Folge  der 
von  der  Anode  ausgehenden  Oeffnungserregung) ,  meist  fehlt  jede 
deutliche  Wirkung  oder  es  tritt  nur  ein  leises  Zögern  im  Rückgang 
des  Magneten  ein.  Viel  häufiger  und  regelmässiger  kommt  die 
negative  „Oeff"nungsschwankung"  bei  aufsteigender  Stromesrichtung  zur 
Beobachtung. 

Vergleicht  man  die  eben  mitgetheilten  Thatsachen  mit  den  oben 
erwähnten  Resultaten  der  von  Bernstein  am  markhaltigen  Frosch- 
nerven mittels  des  Rheotoms  angestellten  Versuche,  so  lässt  sich  eine 
gewisse  Analogie  kaum  verkennen. 

Sieht  man  zunächst  ab  von  den  auf  „Elektrotonus"  zu  beziehenden 
Erscheinungen,  so  zeigt  sich  in  beiden  Fällen  eine  stärkere  negative 
Ablenkung  unmittelbar  nach  Schliessung  des  absteigend  gerichteten 
polarisirenden  Reizstromes,  die  ihrem  ganzen  Verhalten  nach  unzweifel- 
haft als   galvanischer   Ausdruck   der   Schliessungserregung   anzusehen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  685 

ist.  Dass  es  sich  beim  FroschpVäparat  um  eine  rasch  verlaufende 
Schwankung,  beim  marklosen  Muschelnerven  um  eine  dauernde  Ab- 
lenkung handelt,  kann  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  man  sich  der 
schon  früher  hervorgehobenen  Thatsache  erinnert,  dass  auch  indirecte 
Erregung  des  Krebsmuskels  durch  den  Kettenstrom  in  der  Regel  in 
der  Form  des  Schliessungstetanus  auftritt.  Schliessung  eines  nicht 
allzu  starken  aufsteigenden  Stromes  bewirkt  ferner  in  beiden  Fällen 
eine  schwächere,  ebenfalls  negative  Schwankung,  die  wie  die  erstere 
auf  die  Schliessungserregung  zu  beziehen  ist  und  nur  bei  starkem 
Strom  (der  dritten  Stufe  des  Zuckungsgesetzes  entspreciiend)  ausbleibt. 
In  einem  gewissen  nicht  allzu  grossen  Abstände  von  der  polari- 
sirten  Strecke  sieht  man  in  diesem  Falle  beim  Muschelnerven  im 
unmittelbaren  Anschluss  an  die  negative  Anfangswirkung  eine  während 
der  Schliessungsdauer  langsam  anschwellende  positive  Ablenkung  sich 
entwickeln,  ganz  wie  dies  nach  Bernstein  unter  gleichen  Umständen 
auch  für  den  Froschnerven  gilt.  Die  mitgetheilte  graphische  Darstellung 
dieses  Verhaltens  (Fig.  211)  kann  geradezu  mit  geringen  Modificationen 
auch  als  Ausdruck  der  Folgewirkungen  aufsteigender  Durchströmung  des 
Muschelnerven  angesehen  werden,  wenn  die  Ableitung  von  Querschnitt 
und  Längsschnitt  erfolgt  und  der  polarisirende  Strom  in  nicht  zu 
grosser  Entfernung  davon  fliesst.  In  Folge  des  zeitlichen  Unter- 
schiedes im  Ablauf  der  Erregungserscheinungen  lassen  sich  jedoch  im 
einen  Falle  Erscheinungen,  zu  deren  Analyse  andernfalls  die  Anwendung 
der  Repetitionsmethode  erforderlich  ist,  während  einer  einmaligen 
Schliessung  des  polarisirenden  Stromes  in  ihrem  ganzen  Verlaufe  so 
zu  sagen  unmittelbar  erkennen.  Es  scheint  hiernach,  dass  auch  beim 
marklosen  Nerv  von  der  Anode  eines  polarisirenden  Stromes  aus 
eine  mit  der  Entwicklung  positiver  Spannung  verknüpfte  Veränderung 
sich  mit  abnehmender  Intensität  extrapolar  über  eine  gewisse  Strecke 
verbreitet,  deren  Ausdehnung  mit  der  Stärke  des  polarisirenden  Stromes 
zunimmt.  Man  wird  kaum  Anstand  nehmen,  diese  zunächst  nur 
galvanisch  nachgewiesene  Veränderung  dem  „Anelektrotonus"  mark- 
haltiger  Nerven  gleichzustellen ,  wenn  man  die  Uebereinstimniung  be- 
rücksichtigt, welche  hinsichtlich  aller  wesentlichen  Punkte  in  beiden 
Fällen  besteht.  Um  so  bemerkenswerther  ist  daher  die  Thatsache, 
dass  eine  dem  (galvanischen)  Katelektrotonus  mark- 
haltiger  Nerven  vergleichbare  Veränderung  bei  dem 
marklosen  Muse  hei  nerven  nicht  nachweisbar  ist.  Dies 
ergiebt  sich  am  Klarsten  aus  Versuchen,  wobei  die  ßussolelektroden 
in  stromloser  Anordnung  im  Verlaufe  des  Nerven  liegen.  Bei  ab- 
steigender Richtung  eines  polarisirenden  Stromes  bleibt  dann  in  der 
Regel  jegliche  Wirkung  aus;  der  Magnet  bleibt  bei  und  während  der 
Schliessung  des  Reizkreises  vollkommen  ruhig,  und  dies  ist  selbst 
dann  der  Fall,  wenn  die  Entfernung  der  Bussolstrecke 
von  der  Reiz  strecke  nur  wenige  Millimeter  beträgt.  Dies 
beweist  zugleich,  dass  von  einer  Ausbreitung  des  ])olarisirenden 
Stromes  über  die  unmittelbar  durchflossene  Strecke  hinaus  durch 
Bildung  von  Stromschleifen '  irgend  welcher  Art  bei  dem  in  Rede 
stehenden  Präparat  von  vorneherein  nicht  die  Rede  sein  kann.  Von 
•diesem  Gesichtspunkt  aus  sind  nun  die  unter  gleichen  Umständen  zu 
beobachtenden  Folgeerscheinungen  bei  und  während  der  Schliessung 
eines  aufsteigend  gerichteten  Stromes  nur  um  so  mehr  geeignet,  die 
Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  lenken.    Rückt  man  die  Bussolelektroden 


536  I^i^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

bei  unverändertem  gegenseitigen  Abstand  der  Anode  des  polarisirenden 
Stromes  immer  näher,  so  beobachtet  man  stets  zunehmende  Ab- 
lenkungen im  Sinne  eines  rasch  wachsenden  Anelektrotonus,  der  noch 
in  verhältnissmässig  beträchtlicher  Entfernung  von  der  Anode  sehr 
bedeutende  Werthe  erreichen  kann. 

Die  Stärke  der  in  Rede  stehenden  positiven  Wirkungen  des  auf- 
steigenden Stromes  hängt  nicht  allein  von  der  Intensität  desselben, 
sondern  sehr  wesentlich  auch  von  dem  Erregbarkeitszustande  des  be- 
nützten Präparates  ab.  Immer  sind  die  betreffenden  Erscheinungen 
um  so  deutlicher  und  stärker,  je  lebensfrischer  der  Nerv  ist. 

Bei  einer  gegebenen  Lage  der  Bussolelektroden  lässt  sich  durch 
Verstärkung  des  aufsteigenden  Stromes  die  Grösse  der  positiven  Ab- 
lenkungen nur  innerhalb  verhältnissmässig  enger  Grenzen  verändern, 
und  besteht  auch  nicht  annähernd  eine  Proportionalität 
zwischen  beiden.  Ich  fand  die  Wirkungen  in  der  Regel  schon  bei 
Anwendung  des  vollen  Stromes  von  zwei  Daniell' sehen  Elementen 
nahezu  maximal  und  erreichte  nur  eine  unwesentliche  Zunahme  der 
Ablenkung  durch  weitere  Steigerung  der  Stromstärke.  Dies  gilt  eben- 
sowohl für  die  in  der  Nähe  der  Reizstrecke  zu  beobachtenden  starken 
Wirkungen,  wie  auch  für  die  schwächereu  und  schwächsten  in  grösserer 
Entfernung.  Weil  die  Entwicklung  der  den  gleich  gerichteten  Zuwachs- 
strömen unterhalb  des  aufsteigenden  Reizstromes  zu  Grunde  liegenden 
Veränderungen  des  Nerven  eine  unverhältnissmässig  längere  Zeit  für 
sich  in  Anspruch  nehmen,  als  die  Entstehung  und  Fortpflanzung  der 
Erregung,  so  erscheint  auch  die  Schliessungsdauer  des  Kettenstromes 
für  die  betreffenden  positiven  Wirkungen  von  wesentlicher  Bedeutung. 
Immer  sieht  man  entweder  unmittelbar  nach  Schliessung  des  auf- 
steigenden Stromes  oder  nach  Ablauf  der  negativen  Schwankung  das 
Scalenbild  den  Nullpunkt  in  positiver  Richtung  überschreiten  und 
Anfangs  langsam,  dann  rascher  dem  Grenzwerth  der  Ablenkung  zu- 
streben, den  es  in  der  Regel  erst  nach  einer  Schliessungsdauer  von 
5 — 6  Secunden  erreicht.  Je  mehr  man  sich  mit  den  Bussolelektroden 
der  Reizstrecke  nähert,  je  grösser  demnach  die  positiven  W^irkungen 
werden,  desto  deutlicher  tritt  auch  dieses  allmähliche  Anschwellen  des 
dem  Reizstrom  gleich  gerichteten  Zuwachsstromes  hervor,  dessen  Stärke 
während  der  ferneren  Schliessungsdauer  nahezu  constant  bleibt.  Ist 
die  Schwankung,  wie  in  der  Regel  bei  Ableitung  vom  Querschnitts- 
ende des  Nerven,  eine  doppelsinnige,  erst  negative,  dann  positive,  so 
überwiegt  bei  beträchtlicher  Länge  der  Zwischenstrecke  und  An- 
wendung eines  mittelstarken  aufsteigenden  Stromes  fast  immer  die 
erstere,  und  es  bedarf  dann  bei  dem  langsamen  Abklingen  derselben 
einer  M^esentlich  längeren  Schliessungszeit,  um  die  allmählich  hervor- 
tretende schwache  positive  Wirkung  überhaupt  zu  erkennen,  als  im 
Verlaufe  des  Nerven  bei  geringerem  Abstand  der  Bussol-  und  Reiz- 
strecke, wo  die  positive  Wirkung  die  negative  an  Grösse  in  der  Regel 
weit  übertrifft,  beziehungsweise  allein  hervortritt.  Um  daher  mit 
grösserer  Sicherheit  festzustellen,  bis  zu  welcher  Entfernung  von  der 
Anode  sich  die  Wirkung  derselben  erstreckt,  erscheint  es  zweckmässig, 
die  störenden  negativen  Ablenkungen  gänzlich  auszuschliessen,  indem 
man  entweder  von  vorneherein  sehr  starke  Ströme  benützt  oder  den 
obersten  Theil  der  Reizstrecke  abtödtet  und  so  die  von  der  Kathode 
ausgehende  Schliessungserregung  unmöglich  macht.  In  jedem  solchen 
Falle  beobachtet  man  dann  sowohl  bei  Querschnittsableitung  wie  auch 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  687 

im  ganzen  Verlauf  des  Nerven  immer  nur  einsinnig-  positive  Ab- 
lenkungen, oder  es  fehlt  bei  Ueberschreitung  der  Grenze,  bis  zu 
welcher  sieh  die  von  der  Anode  ausgehende  Veränderung  erstreckt, 
überhaupt  jede  merkliche  Wirkung  auf  das  Galvanometer  bei  Schliessung 
und  während  der  Dauer  eines  aufsteigenden  Stromes.  Die  rasche 
Zunahme  der  Wirkungen  bei  Annäherung  der  Bussolelektroden  an 
die  Reizstrecke  lässt  sich  so  mit  besonderer  Deutlichkeit  nach- 
weisen. 

Was  nun  die  Deutung  dieser  elektromotorischen  Wirkungen 
unterhalb  der  Anode  des  aufsteigenden  Stromes  betrifft,  so  kann,  da 
eine  irgendwie  vermittelte  Ausbreitung  des  polarisirenden  Stromes  zur 
Seite  der  Kathode  nicht  nachweisbar  ist,  eine  solche  füglich  wohl  auch 
auf  Seite  der  Anode  nicht  angenommen  werden,  und  müssen  dann 
die  unter  dem  Einfluss  des  Stromes  sich  entwickelnden 
Spannung  sdi  ff  er  enzen  im  Verlaufe  des  Nerven  durch 
eine  physiologische  Zustand  sän  derung  desselben  be- 
dingt sein,  welche  sich  unabhängig  von  einer  etwaigen 
Ausbreitung  des  Stromes  selbst,  von  der  Anode  aus 
fortpflanzt.  Dies  muss  mit  einem  sehr  starken  Decrement  erfolgen, 
denn  nur  unter  dieser  Voraussetzung  ist  es  erklärlich,  dass  in  grösserer 
Entfernung  von  der  Anode  unter  Umständen  nur  Spuren  positiver 
Wirkungen  hervortreten,  während  im  Verlaufe  unter  sonst  gleichen 
Versuchsbedingungen  sehr  starke  Ablenkungen  beobachtet  werden. 
Aber  nicht  nur  in  dieser  Beziehnung  unterscheidet  sich  die  positive, 
von  der  Anode  ausgehende  Veränderung  des  Nerven  von  der  an  der 
Kathode  ausgelösten  Erregung,  welche  sich  mit  nur  geringem  Decre- 
ment und  wahrscheinlich  auch  viel  grösserer  Geschwindigkeit  fort- 
pflanzt, sondern  auch  dadurch,  dass  jene  während  der  Schliessungs- 
dauer des  Stromes  in  fast  unverminderter  Stärke  bestehen  bleibt 
oder  sogar  noch  zunimmt  und  erst  bei  der  Oeffnung  des  Reizkreises 
rasch  schwindet. 

Aehnlich  wie  Anodonta -Nerven  scheinen  sich  nach  neueren 
Untersuchungen  von  v.  U e x k  ü  1 1  auch  jene  von  Cephalopoden 
(Eledone  moschata)  zu  verhalten,  wenigstens  insofern ,  als  auch 
bei  ihnen  ein  irgend  erheblicher  (physikalischer)  Elektrotonus  nicht 
nachweisbar  ist  (37). 

Es  ist  mir  in  der  Folge  gelungen,  auch  an  mark  halt  igen 
Froschnerven  unter  gewissen  Bedingungen  Erscheinungen  zu  be- 
obachten, welche  den  eben  geschilderten  an  marklosen  Nerven  voll- 
kommen analog  sind  (38).  Es  betrifft  dies  insbesondere  die  elektro- 
motorischen Veränderungen  der  ersteren  unter  dem  Einfluss  des 
Constanten  Stromes  in  möglichster  Entfernung  von  der  Reizstrecke 
und  bei  Anwendung  der  schwächsten  Ströme.  Für  gewöhnlich  be- 
obachtet man  unter  diesen  Umständen  bei  einmaliger  Schliessung  eines 
auf-  oder  absteigenden  Stromes  und  Ableitung  vom  Querschnittsende 
höchstens  spurweise  Wirkungen  im  Sinne  einer  negativen  Schwankung 
des  Demarcationsstromes.  Handelt  es  sich  aber  im  gegebenen  Falle 
um  ein  Präparat  von  einem  Kaltfrosch,  dessen  Nerven  erfahrungs- 
gemäss  oft  schon  bei  Reizung  mit  den  schwächsten  Strömen  tetanisch 
reagiren,  legt  man  die  Bussolelektroden  bei  geringem  gegenseitigen 
Abstände  an  das  eine,  die  Reizelektroden,  möglichst  davon  entfernt, 
an  das  andere  Ende  des  Nerven  und  bedient  man  sich  eines  recht 
schwachen  absteigenden  Kettenstromes  zur  Reizung,  so  sind  damit  die 


688  Die  el^ktromotoi-ischen  Wirkuugen  der  Nei-veu. 

Bedingungen  für  das  Auftreten  elektrotonischer  Wirkungen  im  ge- 
wöhnlichen Sinne  die  ungünstigsten,  und  eine  unter  solchen  Umständen 
beobachtete  negative  Schwankung  des  Nervenstromes  wird  mit  Wahr- 
scheinlichkeit auf  die  von  der  Kathode  aus  fortgeleitete  Dauererregung 
bezogen  werden  dürfen.  Es  kommen  aber  noch  einige  andere  Um- 
stände hinzu,  die  für  die  Beurtheilung  von  grosser  Bedeutung  sind. 

Zunächst  zeigt  sich  die  Grösse  der  anfänglichen  Ablenkung  sowohl 
von  der  Stärke  des  Reizstromes  wie  auch  innerhalb  gewisser  Grenzen 
von  der  Länge  der  Zwischenstrecke  unabhängig.  Das  Maximum  der 
Wirkung  tritt  in  der  Regel  schon  bei  sehr  schwachen  Strömen  hervor, 
und  es  ist  dann  durchaus  gleichgiltig,  ob  man  einen  geringen  Bruch- 
theil  des  Stromes  von  einem  einzigen  Elemente  oder  den  vollen  Strom 
mehrerer  Elemente  zur  Reizung  verwendet,  ja  es  wird  letzterenfalls 
die  Wirkung  oft  geringer  als  bei  schwächeren  Strömen.  Ebensowenig 
lässt  sich  bei  gleich  bleibender  Stromesintensität  durch  Annäherung  der 
Reizelektroden  an  die  Bussolstrecke  eine  verstärkte  Wirkung  erzielen, 
wenn  man  hierbei  eine  bestimmte  Grenze  nicht  überschreitet.  Wird 
dagegen  die  Zwischenstrecke  durch  allmähliches  Abrücken  der  Bussol- 
elektroden vom  Querschnittsende  des  Nerven  bei  unveränderter  Lage 
des  Reizelektroden  verkürzt,  so  beobachtet  man  Anfangs  regelmässig 
eine  Abnahme  der  negativen  Schhessungsschwankung  bei  ab- 
steigender Stromesrichtung,  die  unter  Umständen  bis  zum  völligen 
Verschwinden  derselben  gehen  kann.     (Vergl.  die  folgende  Tabelle  I.) 

Nähert  man  jedoch  die  Bussolelektroden  der  Kathode  über  ein 
gewisses  Maass,  so  treten  neuerdings  gleichsinnige  (negative)  Ab- 
lenkungen hervor,  welche  sich  sowohl  hinsichtlich  ihres  Verhaltens 
während  der  Schliessungsdauer,  als  auch  in  ihrer  Stärke  ganz  wesent- 
lich von  den  ersterwähnten  unterscheiden  und  in  jeder  Beziehung  die- 
jenigen Eigenschaften  erkennen  lassen ,  welche  allgemein  als  Kenn- 
zeichen der  elektrotonischen  Zuwachsströme  gelten.  So  in  erster  Linie 
die  Abhängigkeit  von  der  Stärke  des  Reizstromes  und  die  ausser- 
ordentlich rasche  Zunahme  der  Wirkungen  bei  weiterer  Annäherung 
an  die  Reizstrecke.  Während  der  Schliessungsdauer  des  Reizkreises 
bleiben  die  betreffenden  Ablenkungen  entweder  constant,  oder  es  erfolgt 
eine  geringe,  aber  nie  bis  zum  Verschwinden  der  Wirkung  gehende 
Verminderung  derselben. 

Als  Beispiel  für  das  eben  geschilderte  Verhalten  möge  die  neben- 
stehende Versuchsreihe  dienen.  Es  wurden  dabei  beide  N.  ischiadici 
eines  sehr  empfindlichen  Kaltfrosches  {R.  esculenta)  gleichzeitig  am 
centralen  Ende  gereizt.  Mit  NS  ist  die  Grösse  der  durch  den  Demar- 
cationsstrom  bewirkten  Ablenkung,  mit  RW  der  eingeschaltete 
Rheochordwiderstand,  mit  ZS  die  Länge  der  Zwischenstrecke  und 
mit  SFi  die  Stromesrichtung  bezeichnet.  Das  Zeichen  >  bedeutet 
die  während  der  Schliessungsdauer  eintretende  Abnahme  der  Ab- 
lenkung. 

Viel  stärkere  negative  Ablenkungen  sowohl  bei  absteigender  wie 
bei  aufsteigender  Schliessung  habe  ich  unter  sonst  gleichen  Umständen 
in  mehreren  Fällen  an  Nerven  von  Kaltfröschen  beobachtet,  welche 
vor  der  Untersuchung  12  bis  24  Stunden  nebst  den  zugehörigen  ent- 
häuteten Unterschenkeln  bei  Zimmertemperatur  in  0,6^  u  Kochsalz- 
lösung aufbewahrt  worden  waren. 

Die  durch  Verdunstung  allmählich  zunehmende  Concentration  der 
Salzlösung  scheint   hier  die  von   vorneherein  vorhandene  Neiffuns:  der 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nervi 
I. 


689 


1  Daniell 

ZS 

SS 

Grösse  der  Ablenkung 

Bemerkungen 

NS 

Schliessung 

Oeffliung 

130  sc 

SW  =10  cm 

40  mm 

—  9>  — 2 

-  1+       6 

+2 
-3 

Der   Nerv   wurde    zu- 
nächst mit  Quer-  und 
Längsschnitt    auf   die 
Bussolelektroden     ge- 

-6> -2 

+4 

legt. 

55 

30 

+10  >  +4 

2 

Die    Grösse   der    Bus- 

sol-    und    Reizstrecke 

betrug  je  10  mm. 

—  1 

+3 

Die   ZS   wird   allmäh- 

20 

22 

+16 

-3 

lich  durch  Annäherung 
der  beiden  Bussolelek- 
troden   an    die    Reiz- 

20 

" 

19 

0 

+25 

+2 
-4 

strecke  verkürzt. 

35 

11 

-17 

+40 

+3 
—7 

100 

40 

-6 

+  3 

+2 
—2 

Nerven  zu  tetanischer  Erregung  bei  Reizung  mit  dem  Kettenstrom 
noch  wesentlich  zu  steigern,  wie  sich  aus  der  Beobachtung  der  an- 
hängenden Muskehl  unmittelbar  ergiebt,  indem  dieselben  sowohl  bei 
Schliessung  des  absteigenden,  wie  auch  bei  Schliessung  des  auf- 
steigenden Stromes  in  mächtigen,  lang  anhaltenden  Tetanus  geriethen. 
Dem  entsprechend  sind  auch  die  Wirkungen  am  Gralvanometer  unter 
denselben  Verhältnissen  wie  früher  sehr  viel  stärker,  und  negative 
Ablenkungen  von  15  bis  20  sc  bei  absteigender,  von  4  bis  7  sc  bei 
aufsteigender  Schliessung  sind  dann  nicht  selten  zu  beobachten,  wenn 
vom  (unteren)  Querschnittsende  eines  solchen  Nervenpaares  abgeleitet 
wird.  Die  Abnahme  der  betreffenden  Wirkungen  bei  Verkürzung  der 
Zwischenstrecke  durch  Abrücken  der  Bussolelektroden  vom  Querschnitt 
ist  dann  nur  um  so  auffallender. 

Wenn,  wie  die  eben  erwähnten  Thatsachen  beweisen,  Ablenkungen, 
welche  hinsichtlich  ihrer  Richtung  den  katelektrotouischen  entsprechen, 
in  grösserer  Entfernung  von  der  Kathode  nur  in  dem  Falle  merklich 
werden,  wenn  zwischen  den  beiden  Ableitungsstellen  von  vorneherein 
eine  Spannungsdifferenz  besteht,  so  durfte  man  bei  unversehrten,  strom- 
losen Froschnerven  in  möglichster  Entfernung  von  der  Reizstrecke  ein 
Verhalten  der  an-  und  katelektrotouischen  Wirkungen  erwarten,  welches 
den  elektrotonischen  Erscheinungen  innerhalb  der  ganzen  extrapolaren 
Strecke  des  marklosen  Muskelnerven  im  Wesentlichen  entspricht  und 
vor  Allem  durch  das  Fehlen  zweifelloser  katelektrotonischer  Wirkungen 
charakterisirt  erscheint. 


ßQQ  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

Präparirt  man  den  Nervus  ischiadicus  eines  Kaltfrosches  in  Zu- 
sammenhang mit  dem  zugehörigen  Unterschenkel  und  leitet  bei 
gleicher  Lage  der  Reizelektroden  wie  früher  (am  centralen  Ende) 
zunächst  von  zwei  dem  Muskel  möglichst  nahe  gelegenen  Stellen  des 
Nerven  ab,  so  bleibt,  wenn  keine  erhebliche  SpannungsdifFerenz  be- 
steht, die  Schliessung  eines  absteigend  gerichteten  Stromes  selbst 
dann  ohne  merklichen  Erfolg,  wenn  dessen  Intensität  sehr  beträcht- 
lich ist.  Dies  ist  auch  dann  noch  der  Fall,  wenn  die  Zwischenstrecke 
durch  Hinaufrücken  der  Bussolelektroden  bis  in  die  Nähe  der  Ab- 
zweigung der  für  die  Oberschenkelmuskeln  bestimmten  Nervenäste 
verkürzt  wird. 

Dabei  ist  allerdings  immer  vorausgesetzt,  dass  irgend  erhebliche 
SpannungsdifFerenzen  innerhalb  der  unverzweigten  Nervenstrecke 
nicht  vorhanden  sind.  Sinkt  der  Abstand  der  Bussol-  und  Reizstrecke 
unter  ein  gewisses  Maass  herab,  so  treten  natürlich  hier,  wie  immer 
an  markhaltigen  Nerven,  katelektrotonische  Wirkungen  hervor,  die 
bei  Verkürzung  der  Zwischenstrecke  rasch  an  Grösse  zunehmen  und 
ausserdem  wesentlich  von  der  Stromstärke  abhängen.  Auf  das  Ver- 
halten der  anelektrotonischen  Erscheinungen  an  unversehrten  Nerven 
komme  ich  unten  noch  zurück  und  will  hier  nur  erwähnen,  dass  die- 
selben stets  schon  in  grösster  Entfernung  von  der  (aufsteigend  durch- 
strömten) Reizstrecke  nachweisbar  sind  und  bei  Verkürzung  der 
Zwischenstrecke  stetig  wachsen. 

Als  Beispiele  mögen  nebenstehende  zwei  Versuchsreihen  II  und  III 
dienen,  die  sich  auf  höchst  erregbare  Präparate  von  B.  esculenta  be- 
ziehen.   Die  Bezeichnungen  sind  dieselben  wie  in  der  früheren  Tabelle. 

Berücksichtigt  man  vorerst  nur  die  elektromotorischen  Verände- 
rungen zur  Seite  der  Kathode,  so  scheint  es  demnach,  dass  die  extra- 
polare Nervenstrecke  bei  genügender  Länge  in  zwei  Abschnitte  zerfällt, 
innerhalb  deren  die  bei  und  während  der  Schliessungsdauer  eines  Ketten- 
stromes zu  beobachtenden  elektromotorischen  Wirkungen  ungeachtet 
ihrer  Gleichsinnigkeit  doch  wesentlich  verschiedenen  Ursachen  ihre 
Entstehung  verdanken. 

In  grösster  Entfernung  von  dem  wirksamen  Pole  treten  deutlich 
ausgeprägte  Wirkungen  im  Sinne  des  Katelektrotonus  nur  bei  vor- 
handenem Ruhestrom,  und  zwar  besonders  an  Nerven  hervor,  welche 
zu  tetanischer  Erregung  neigen.  Entsprechend  der  Abnahme  der 
Spannungsdifferenz  bei  Abrücken  der  Bussolelektroden  vom  Querschnitt 
nehmen  auch  diese  Wirkungen  ungeachtet  der  Verkürzung  der  Zwischen- 
strecke ab,  während  in  der  Nähe  der  Reizstrecke  unter  allen  Umständen 
und  ganz  unabhängig  von  dem  Erregbarkeitszuslande 
des  Präparates  oder  einem  etwa  vorhandenen  Ruhestrom 
viel  stärkere,  aber  gleichsinnige  elektromotorische  Veränderungen  unter 
dem  Einflüsse  des  Stromes  hervortreten,  Avelche  bei  weiterer  Verkür- 
zung der  Zwischenstrecke  rasch  wachsen.  Die  weitgehende  Unab- 
hängigkeit jener  erstgenannten  schwächeren  Wirkungen  von  der  Stärke 
des  Stromes  (sie  nehmen  unter  Umständen  sogar  an  Grösse  ab,  wenn 
die  Stromesintensität  Avächst),  sowie  von  der  Länge  der  Zwischen  strecke 
lässt  es  kaum  zweifelhaft  erscheinen,  dass  es  sich  hier  nicht  um  ge- 
wöhnlichen Elektrotonus ,  sondern  um  Folgewirkungen  der  Erregung 
handelt. 

Das  Verhalten  des  marklosen  Muschelnerven,  bei 
dem    wirklicher   Katelektrotonus    vollständig   zu   fehlen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


691 


II. 
Rana  esculenta  (Kaltfrosch).     Nerv  mit  anhängendem  Schenkel. 


Grösse  der  Ablenkung 

NS 

Stromstärke 

ZS 

SE 

Bemerkiuagen 

Schliessung 

Oefihung 

0 

1  Dan. 

28  mm 

0 
+  6>2 

0 
-2 

Es      wurde      zunächst 
möglichst     nahe      der 
Eintrittsstelle  des  Ner- 
ven in  den  Muskel  ab- 

» 

2  Dan. 

28 

0 
+  4>2 

0 

0 
—1 

0 

geleitet. 
Die   Grösse    der   Bus- 
sol-    und    Reizstrecke 

beträgt  je  10  mm. 
Die  ZS  wird  durch  An- 

3 Dan. 

2b 

■ 

+  3>0 
Spur— 

0 
0 

näherung    der    beiden 
Bussolelektroden      an 
die    Reizstrecke     ver- 
kürzt.    Bei   jeder    ab- 

" 

1  Dan. 

19 

+  12>8 

-3 

steigenden  Schliessung 

heftiger    Tetanus    des 

Schenkels. 

" 

2  Dan. 

19 

t 

—  1 

+12 

0 
-2 

" 

2  Dan. 

15 

-  2 
+21 

0 
—2 

III. 

R.  temporar ia  (Kaltfrosch).     Ischiadicus  mit  anhängendem 
Schenkel. 


NS 

Stromstärke 

ZS 

SJi 

Grösse  der  Ablenkung 

Bemerkungen 

Schliessung 

Oeiifnung 

0 

4  sc 
0 
10  sc 

2  Dan. 

32 
25 
17 
11 

I 

0 
+  6>2 

-  1 
+11>3 

2 

+20>8 

-13 

+34 

0 
-1 

0 

-1 

0 
-2 

0 
-4 

Versuchsanordnung 
wie    im    vorigen   Ver- 
suche. 

g92  I^iß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

scheint,  würde  daher  unter  gleichen  Verhältnissen  nur 
dem  von  der  Reizstrecke  möglichst  entfernten  Ab- 
schnitt markhaltiger  Nerven  zu  vergleichen  sein. 

Untersucht  man  die  elektromotorischen  Veränderungen  mark- 
haltiger Nerven  unterhalb  eines  aufsteigend  gerichteten  Stromes,  so 
ergeben  sich  im  Vergleich  zu  den  entsprechenden  Wirkungen  auf 
Seite  der  Kathode,  abgesehen  von  der  entgegengesetzten  Richtung  der 
Ablenkungen  am  Galvanometer,  in  mehrfacher  Hmsicht  wesentliche 
Unterschiede. 

Leitet  man  vom  peripheren,  mit  künstlichem  Querschnitt  ver- 
sehenen Ende  eines  empfindlichen  Kaltnerven  ab  (man  nimmt  zweck- 
mässig beide  zusammengelegten  Ischiadici)  und  setzt  das  centrale 
Schnittende  der  Wirkung  eines  schwachen,  aufsteigenden  Stromes  aus 
(l  Dan.,  RW  =  10 — 20  cm),  so  sieht  man  ausnahmslos  bei  Schliessung 
des  Reizkreises  eine  positive  Schwankung  des  (compensirten)  Ruhe- 
stromes erfolgen  (vergl.  Tabelle  I);  sie  betrugen  bei  meinen  Ver- 
suchen durchschnittlich  5—15  Scalentheile  und  übertrafen  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  die  unter  gleichen  Umständen  zu  erzielenden 
Wirkungen  des  absteigenden  Stromes.  Sie  sind,  was  besonders  her- 
vorgehoben werden  muss,  durchaus  unabhängig  von  dem  Vorhanden- 
sein oder  Fehlen  eines  Demarcationsstromes  und  treten  daher  in  fast 
gleicher  Stärke  auch  an  gänzlich  unversehrten,  stromlosen  Nerven 
hervor  (Tabelle  II  und  III).  Als  Unterschied  ist  nur  das  Hinzutreten 
eines  meist  nur  wenig  ausgeprägten  negativen  Vorschlages  im  ersteren 
Falle  zu  erwähnen,  der  oft  nur  durch  ein  etwas  verzögertes  Eintreten 
der  positiven  Ablenkung  angedeutet  ist.  Nur  in  seltenen  Fällen 
(wenn  der  aufsteigende  Strom  einen  starken  Schliessungstetanus  be- 
wirkt) entspricht  dem  negativen  Vorschlag  eine  Ablenkung  von  mehr 
als  1 — 2  Scalentheilen.  Die  positive  Wirkung  erreicht  rasch  ihren 
grössten  Werth,  u  m  d  a  n  n  s  o  f  o  r  t  wie  d  er  abzunehmen  (bisweilen 
bis  auf  Null). 

Bei  Oeffnung  des  Reizkreises  erfolgt  in  der  Regel  eine  in  ihrer 
Grösse  wesentlich  von  der  Dauer  der  vorhergehenden  Durchströmung 
abhängige  negative  Ablenkung,  die  langsam  abklingt. 

Nähert  man  die  Bussolelektroden  bei  unverändertem  gegenseitigen 
Abstand  der  Reizstrecke  und  verkürzt  auf  diese  Weise  die  Zwischen- 
strecke, so  nehmen  unabhängig  von  einer  etwa  vorhandenen  Spannungs- 
differenz die  durch  Schliessung  des  aufsteigenden  Stromes  zu  erzielenden 
positiven  Ablenkungen  stetig  sehr  rasch  an  Grösse  zu  und  übertreffen 
die  bei  gleicher  Lage  der  ableitenden  Elektroden  durch  Schliessung 
des  absteigenden  Stromes  bewirkte  negative  Schwankung  bald  um  ein 
Vielfaches. 

Der  bei  Querschnittsableitung  meist  vorhandene  oder  doch  an- 
gedeutete negative  Vorschlag  fehlt  fast  immer  im  Verlaufe  des  Nerven, 
so  dass  hier  nur  einsinnig  positive  Ablenkungen  erfolgen,  deren  Grösse 
während  der  Schliessungsdauer  um  so  weniger  abnimmt,  je  geringer 
der  Abstand  zwischen  Bussol-  und  Reizstrecke  ist.  In  der  Nähe  der 
Anode  beobachtet  man  sogar  in  der  Regel  ein  Anwachsen  derselben, 
während  der  Strom  geschlossen  bleibt.  Meist  erfolgt  nach  der  Oeffnung 
des  Reizkreises  auch  im  Verlaufe  des  Nerven  ein  gegensinniger  negativer 
Ausschlag  von  mehr  oder  minder  beträchtlicher  Grösse.  Dies  muss 
wenigstens  als  Regel  gelten  in  der  Nähe  der  Reizstrecke.  In  grösserer 
Entfernung  von  derselben  scheint   dagegen  das  Auftreten  oder  Fehlen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  693 

einer  negativen  OefFnungswirkung  in  ähnlicher  Weise  wie  die  negative 
Schliessimgswirkung  zur  Seite  der  Kathode  wesentlich  von  dem  Vor- 
handensein einer  Spannlingsdifferenz  zwischen  den  beiden  Ableitungs- 
punkten mitbedingt  zu  sein.  Die  mitgetheilten  Versuchstabellen 
enthalten  die  Belege  für  Alles,  was  soeben  bezüglich  der  galvanischen 
Veränderungen  der  extrapolaren  Nervenstrecke  zur  Seite  der  Anode 
bemerkt  wurde. 

Was  nun  die  Deutung  der  betreffenden  Thatsachen  betrifft,  so 
dürfte  dieselbe,  soweit  es  sich  um  die  negativen  Wirkungen  unmittel- 
bar bei  der  Schliessung  und  nach  Oeffnung  des  aufsteigenden  Stromes 
handelt,  kaum  zweifelhaft  sein.  Die  Uebereinstimmung  mit  den  ent- 
sprechenden Erscheinungen  am  marklosen  Muschelnerven  ist  hier  eine 
so  auffallende,  dass  die  gleiche  Auffassung  derselben  als  Folgen  der 
Schliessungs- ,  beziehungsweise  Oeflfnimgserregung  unmittelbar  nahe- 
gelegt wird.  Das  häufige  Fehlen  des  negativen  Vorschlages  bei  auf- 
steigender Reizung  des  markhaltigen  Nerven  und  die  geringe  Grösse 
desselben  im  Falle  seines  Vorhandenseins  kann  nicht  überraschen, 
wenn  man  berücksichtigt,  dass  die  betreffende  Wirkung  einerseits  ab- 
hängt von  einem  bestimmten,  nicht  immer  in  gleichem  Grade  vor- 
handenen Erregbarkeitszustand  des  Kaltnerven ,  und  dass  anderseits 
ein  kräftig  entwickelter  Schliessungstetanus  bei  aufsteigender  Stromes- 
richtung unter  den  gegebenen  Versuchsbedingungen  überhaupt  zu  den 
Ausnahmen  gehört;  dazu  kommt  noch,  dass  die  nachfolgende,  viel 
stärkere  positive  Wirkung  der  Entwicklung  der  gegensinnigen  Anfangs- 
wirkung alsbald  ein  Ziel  setzt.  Es  ist  daher  auch  selbstverständlich, 
dass  die  letztere  bei  dem  Abrücken  der  Bussolelektroden  von  dem 
Querschnittsende  des  Nerven,  wobei  die  wesentlichen  Bedingungen 
ihres  Hervortretens  immer  ungünstiger  werden,  sehr  bald  verschwindet 
oder  nur  angedeutet  erscheint.  Ich  brauche  endlich  kaum  noch 
hervorzuheben,  dass  man  in  jedem  Falle  durch  Anwendung  starker 
aufsteigender  Kettenströme  den  negativen  Vorschlag  ebenso  Avie  die 
Fortpflanzung  der  Schliessungserregung  zu  verhindern  vermag  und 
dass  derselbe  auch  bei  stromloser  Ableitung  im  Verlaufe  unversehrter 
Nerven,  sowie  unter  allen  Umständen  an  Präparaten  von  Warm- 
fröschen fehlt. 

Wie  schon  erwähnt  wurde,  hat  bereits  Engelmann  gezeigt,  dass 
der  Demarcationsstrom  des  markhaltigen  Froschnerven  bei  Oeffnung 
eines  Kettenstromes  eine  deutliche  negative  Schwankung  erfährt,  wenn 
die  Reizung  unter  Bedingungen  erfolgt,  bei  welchen  eine  tetanische 
Oeffnungserregung  zu  erwarten  steht. 

Als  solche  sind  einerseits  hinreichende  Stärke  und  Schliessungs- 
dauer des  aufsteigenden  Reizstromes,  dann  aber  vor  Allem  die  mehr- 
fach erwähnte  Disposition  des  Nerven  zu  dauernder  Erregung  zu 
bezeichnen. 

Unter  günstigen  Umständen  steht  die  negative  Oeffnungswirkung 
bei  Ableitung  vom  Querschnittsende  des  Nerven  der  negativen 
Schliessungswirkung  bei    absteigender  Reizung  an  Grösse    nicht  nach. 

Hinsichtlich  der  Natur  der  positiven,  anelektrotonischen  Schliessungs- 
wirkungen lässt  sich  auf  Grund  der  mitgetheilten  Versuchsergebnisse 
ein  sicherer  Schluss  nicht  ableiten,  denn  dieselben  zeigen  längs  der 
ganzen  extrapolaren  anodischen  Nervenstrecke  im  Wesentlichen  ein 
gleichartiges  Verhalten,  wie  an  dem  marklosen  Muschelnerven,  wenn 
man    es    nicht   etwa  als  einen  Unterschied  gelten  lassen  will,    dass  sie 


594  I^iß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

sich  im  ersteren  Falle  stets  noch  bei  schwächeren  Strömen  und  in  vnel 
grösserer  Entfernung  von  der  durchflossenen  Nervenstrecke  nachweisen 
lassen  als  hier.  Da  nun,  wie  gezeigt  wurde,  die  anelektrotonischen 
Veränderungen  des  marklosen  Nerven  kaum  anders  als  durch  eine 
von  der  Anode  aus  fortgepflanzte  physiologische  Zustands- 
änderung  desselben  erklärt  werden  können,  so  wird  es  allerdings  in 
hohem  Grade  wahrscheinlich  gemacht,  dass  ein  derartiger  Vorgang 
auch  bei  Durchströmung  markhaltiger  Nerven  zur  Seite  der  Anode 
Platz  greift",  andererseits  aber  legt  im  letzteren  Falle  das  Vorkommen 
eines  mit  den  zweifellos  durch  Leitung  fortgepflanzten  Veränderungen 
gleichsinnigen,  extrapolaren  Katelektrotonus  die  Vermuthung  nahe,  dass 
auch  der  galvanische  Anelektrotonus  markhaltiger  Nerven  so  zu  sagen 
aus  zwei  Componenten  resultirt,  einer,  wie  beim  marklosen  Nerven, 
von  der  Anode  aus  fortgeleiteten  physiologischen  ZuStands- 
änderung  und  einer  nur  dem  markhaltigen  Nerv  eigenthümlichen,  dem 
eigentlichen  Katelektrotonus  desselben  entsprechenden  galvanischen 
Veränderung,  deren  rein  physikalische  Entstehung  noch  zu  er- 
örtern bleibt.  Man  würde  dann  voraussetzen  dürfen,  dass  in  grösster 
Entfernung  von  der  Reizstrecke  die  Wirkungen  des  „physiolo- 
gischen Anelektrotonus"  rein  hervortreten,  während  sich  in 
der  Nähe  der  Anode  andere,  durch  eine  eigenthümliche  Ausbreitung 
des  polarisirenden  Stromes  bewirkte,  allerdings  gleichsinnige,  örtliche 
Veränderungen  des  Nerven  hinzugesellen.  Für  ein  derartiges  Ver- 
halten scheint  übrigens  auch  schon  der  Umstand  zu  sprechen,  dass  die 
anelektrotonischen  Wirkungen  den  katelektrotonischen,  wie  schon  er- 
wähnt, immer  sehr  bedeutend  an  Stärke  und  Ausbreitung  überlegen 
sind;  eine  Thatsache,  welche  sich  mit  Rücksicht  auf  die  bei  marklosen 
Nerven  obwaltenden  Verhältnisse  leicht  erklären  würde.  Immerhin 
scheint  es  erwünscht,  noch  weitere  Anhaltspunkte  und  womöglich 
Beweise  für  eine  derartige  Unterscheidung  eines  physikalischen 
und  physiologischen  Elektro tonus  zu  gewinnen.  Eine  Aus- 
sicht hierzu  schien  sich  durch  Versuche  an  mit  Aether  oder  Chloro- 
form narkotisirten  markhaltigen  Nerven  zu  ergeben,  bei  welchen 
alle  durch  Leitung  fortgepflanzten  Veränderungen 
sicher   ausgeschlossen  erscheinen. 

Bei  derartigen  Versuchen,  bezüglich  deren  Methodik  auf  meine  oben 
citirte  Abhandlung  (38)  verwiesen  werden  darf,  stellte  sich  nun  heraus, 
dass  schon  kurze  Zeit  nach  Beginn  der  A  e  t  h  e  r  w  i  r  k  u  n  g 
(etwa  nach  5 — 10  Min.)  alle  sonst  in  grösser  er  Entfernung 
von  der  durchflossenen  Strecke  zu  beobachtenden  elek- 
tromotorischen Veränderungen  des  Nerven  wegfallen. 
Dies  gilt  sowohl  hinsichtlich  der  oben  erwähnten  negativen  Schwankung 
bei  Schliessung  eines  absteigend  gerichteten  Kettenstromes,  wie  auch 
bezüglich  der  positiven  Wirkungen  bei  aufsteigender  Reizung.  Zur 
selben  Zeit  bleibt  auch  die  gewöhnliche  negative  Schwankung  bei 
tetanisirender  Reizung  der  Nerven  aus,  was  beweist,  dass  das  Leitungs- 
vermögen wirklich  aufgehoben  ist  (zugleich  ein  weiterer  Einwand  gegen 
die  früher  besprochene  Auffassung  der  negativen  Schwankung  von 
Boruttau).  Da  gleichzeitig  die  physikalische  und  chemische  Be- 
schafi'enheit  des  Nerven  durch  die  Aetherbehandlung  nicht  wesentlich 
alterirt  sein  kann,  wofür  einerseits  das  vollkommene  Gleichbleiben  der 
Spannungsdifi'erenz  zwischen  Quer-  und  Längsschnitt,  andererseits  aber 
auch  die  Möglichkeit  rascher  Wiederherstellung  aller  normalen  Lebens- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nei'ven.  (395 

eigen  Schäften  des  Nerven  nach  Aufhören  der  Narkose  spricht,  so  wird 
schon  hierdurch  die  erwähnte  Doppelnatur  des  Elektrotonus  wahr- 
scheinlich gemacht;  denn  es  erscheint  derselbe  dann  nicht 
allein  abhängig  von  dem  Erhaltensein  der  normalen 
Struktur  Verhältnisse  des  Nerven,  sondern  auch  wesent- 
lich von  dessen  Leitungsvermögen. 

Es  lässt  sich  nun  aber  ausserdem  stets  zeigen,  dass  zu  einer  Zeit, 
wo  während  der  Aethernarkose  keine  Spur  elektrotonischer  Wirkungen 
in  grösserer  Entfernung  von  der  Reizstrecke  nachgewiesen  werden 
kann,  in  der  Nähe  derselben  starke  und  gesetzmässige  Elektrotonus- 
ströme  vorhanden  sind,  deren  Verhalten  bei  länger  fortgesetztem 
Aetherisiren  von  grossem  Interesse  ist. 

Bekanntlich  lässt  sich  unter  normalen  Verhältnissen  ausnahmslos 
eine  sehr  beträchtliche  Verschiedenheit  in  der  Stärke  der  zur  Seite 
der  Anode  und  Kathode  hervortretenden  elektromotorischen  Wirkungen 
nachweisen,  was  insbesondere  bei  Anwendung  schwacher  und  mittel- 
starker Kettenströme  überaus  deutlich  ist.  Daher  kommt  es,  dass  in 
einiger  Entfernung  von  der  Reizstrecke  Ablenkungen  im  Sinne  des 
Katelektrotonus  oft  gänzlich  fehlen  oder  nur  spurweise  auftreten, 
während  nach  Wendung  des  Stromes  unter  sonst  ganz  gleichen  Ver- 
hältnissen Anelektrotonus  in  sehr  beträchtlicher  Stärke  vorhanden  sein 
kann.  Aber  auch  in  der  Nähe  der  Reizstrecke  ist  der  Grössenunter- 
schied  der  kat-  und  anelektrotonischen  Ablenkungen  immer  sehr  be- 
deutend und  beträgt  oft  mehr  als  das  Doppelte. 

Dies  ändert  sich  nun  aber  vollkommen  unter  dem  Einfluss  der 
fortschreitenden  Aetherwirkung  und  zwar  derart,  dass  die  anelek- 
trotonischen Ablenkungen  bei  stets  gleicher  Reizung 
rasch  an  Grösse  abnehmen,  während  die  Wirkungen  des 
Katelektrotonus  zunächst  ganz  unverändert  bleiben 
oder  sogar  an  Stärke  etwas  zunehmen.  Es  tritt  dann  in 
der  Folge  immer  ein  Zeitpunkt  ein,  wo  die  kat-  und 
anelektrotonischen  Ablenkungen  sowohl  hinsichtlich 
ihrer  Grösse  wie  auch  bezüglich  ihres  zeitlichen  Ver- 
laufes vollkommen  gleich  sind  und,  wie  schon  hier  be- 
merkt sei,  es  dann  auch  bei  jeder  beliebigen  Stromes- 
intensität bleiben.  Dabei  ist  hervorzuheben,  dass  die  Zunahme 
der  Ablenkungen  bei  wachsender  Stromstärke  in  späteren  Stadien  der 
Aethernarkose  nahezu  proportional  erfolgt.  Setzt  man  die  Narkose 
genügend  lange  fort,  so  werden  schliesslich,  wie  es  ja  von  vorneherein 
erwartet  werden  musste,  auch  die  katelektrotonischen  Wirkungen  be- 
einflusst,  allein  die  mit  der  Zeit  zunehmende  Verminderung  der  be- 
treffenden Ablenkungen  hält  dann  durchaus  gleichen  Schritt  mit  der 
gleichzeitigen  Abnahme  des  Anelektrotonus. 

Unterbricht  man  die  Aetherwirkung  erst  zu  einer  Zeit,  wo  bereits 
jeder  merkliche  elektrotonische  Reizerfolg  verschwunden  ist,  so  tritt 
niemals  eine  Wiederherstellung  der  normalen  Lebenseigenschaften  des 
Nerven  ein;  derselbe  ist  dann,  Avie  sich  sowohl  durch  die  physio- 
logische, wie  auch  durch  die  anatomische  Untersuchung  herausstellt, 
als  abgestorben  zu  betrachten,  indem  die  Markscheide  der  einzelnen 
Fasern  jene  bekannten  Zerklüftungen  zeigt,  welche  für  todte  Nerven 
so  charakteristisch  sind.  Wird  dagegen  das  Präparat  schon  früher, 
unmittelbar  nach  erreichter  Gleichheit  der  gegensinnigen,  elektro- 
tonischen  Ablenkungen,  der  Einwirkung  des  Aethers  entzogen  und  in 


696 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


eine  geräumige,  feuchte  Kammer  gebracht,  so  tritt  alsbald  Erholung 
ein,  die  sich  zunächst  durch  ein  rasches  Zunehmen  der  Grösse 
der  anelektrotonischen  Ablenkungen  bei  völligem 
Gleichbleiben  der  Wirkungen  des  Katelektrotonus 
äussert.  Unter  günstigen  Umständen  erfolgt  an  lebenskräftigen 
Präparaten  nach  vorsichtig  durchgeführter  Narkose  eine  vollständige 
Wiederherstellung  der  normalen  Eigenschaften,  insbesondere  auch  des 
Leitungsvermögens  des  Nerven ;  in  anderen  Fällen  bleibt  dagegen  eine 
merkliche  Schädigung  zurück,  die  z.  B,  an  Präparaten  von  Kaltfröschen 
sich  dadurch  äussert,  dass  die  oben  erwähnte  negative  Schwankung 
des  Nervenstromes  als  galvanischer  Ausdruck  der  Schliessungs-  oder 
Oeffnungsdauererregung  nach  Beendigung  der  Narkose  sehr  oft  nicht 
wieder  hervortritt,  so  dass  sich  der  Nerv  dann  ganz  ebenso  wie  ein  von 
einem  Warmfrosch  stammendes  Präparat  verhält.  Auch  lässt  sich  nicht 
selten  eine  deutliche  und  bleibende  Verminderung  der  negativen  Schwan- 
kung bei  tetanisirender  Reizung  mit  Inductionsströmen  nachweisen. 

Als  Belege  für  die  vorstehend  mitgetheilten  Thatsachen  mögen 
die  in  beistehender  Tabelle  enthaltenen  Zahlenangaben  dienen,  welche 
sich  auf  Ablenkungen  beziehen,  die  unter  gleichen  Verhältnissen,  wie 
bei  den  früher  mitgetheilten  Versuchsreihen  beobachtet  wurden.  NS 
bedeutet  die  Stärke  des  Nervenstromes,  E  die  Zahl  der  (Daniel  l'schen) 
Elemente,  ZS  die  Grösse  der  Zwischenstrecke,  SR  die  Stromesrichtung. 


IfS 

E 

ZS 

SE 

Ablenkung 

Bemerkungen. 

Schlies- 

Oeff- 

sung. 

niing. 

0 

1 

10  mm 

—25 

+3 

ei 

o 

a, 
E 

» 

2 
3 

» 

+46 

-48 
+73 

-60 

—5 

+2 
—6 

+2 

Vor  Beginn  der  Narcose ;  die  Grösse 
der   Bussol-,   Beiz-  und  Zwischen- 
strecke    betrug    je     10   mm.      Die 
'  Bussolelektroden  lagen  in  der  Con- 
tinuität   des  Nerven,   die   Eeizelek- 
troden  am  centralen  Ende. 

ei 

n 

jj 

+96 

—7 

a 

n 

1 

» 

-30 
+30 

0 
0 

11 

: 

2 
3 

» 

-53 

+54 

-66 

+68 

0 
0 

0 
0 

\  nach  12  Minuten  dauernder  Aether- 
einwirkung. 

ä3 

" 

1 

;j 

-24 

+24 

0 
0 

^ 
'^ 

" 

2 
3 

)) 

—40 

+41 

-60 

0 
0 

0 

nach  weiteren  10  Minuten. 

n 

!J 

+60 

0 

Die  elektromotorischen  Wiriiungen  der  Nerven. 


697 


iVÄ 

ZÄ 

SR 

Ablenkung 

Bemerkungen. 

E 

Schlies- 

Oeff- 

sung. 

nung. 

0 

10  mm 

—24 

+37 

0 
0 

(  10    Minuten     nach     Aufhören     der 
/                     Aetherwirkung. 

» 

" 

-24 

+42 

0 
2 

>  nach  weiteren  10  Minuten. 

1 

ei 

12  sc 

1 

9  mm 

-75 
+  120 

+4 
-9 

\  9I1    55'    unmittelbar     nach    Beginn 

)  der  Aethereinwirkung.     Grösse   der 

Bussol-,  Reiz-  und  Zwischenstrecke 

je  9  mm.     Lage  der  Elektroden  wie 

im  vorigen  Versuch. 

Vi 

u 

o 

S 

c3 

n 

" 

-80 

+78 

-73 

+73 

0 
-5 

0 
-5 

llOh 

1  10h  5' 

o3 
1 

" 

-60 

+60 

0 
-3 

jlOh  12' 

ES 

10 

» 

ji 

-45 
+46 

0 
0 

jlOh  17' 

1 
> 

6 

» 

-30 

+30 

-17 
+  17 

0 
0 

0 
0 

\  10h  25' 
j  10h  33' 

a 

s 

5 

» 

-10 

+10 

0 
0 

}  10h  40' 

« 

2 

" 

—20 

+20 

0 
0 

l  10h    41' 

)) 

3 

" 

-30 

+30 

0 
0 

1  10h  42' 

Wenn  durch  die  mitgetheilten  Thatsachen  die  Existenz  physio- 
logischer, d.  h.  durch  Leitung  von  den  Polen  aus  fortgepflanzter  Zu- 
standsänderungen,  welche  dem  Elektrotonus  durchaus  gleichen,  als 
sicher  erwiesen  angesehen  werden  kann,  so  scheint  hierdurch  zugleich 
eine  befriedigende  Erklärung  der  bisher  unvermittelten  Versuchsergeb- 
nisse  von  Bernstein,  sowie  von  Hermann  und  seinen  Schülern 
angebahnt  zu  sein. 

Es  wurde  schon  oben  darauf  hingewiesen ,  dass ,  soweit  es  sich 
um  den  Anelektrotonus  handelt,  die  galvanometrischen  Befunde  am 
marklosen  Nerv  in  jeder  Beziehung  mit  den  Resultaten  der  Rheotom- 

Biedermaun,  Elektrophysiologie.  45 


()98  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

versuche  Bernstein's  an  marklialtigen  Froschnerven  übereinstimmen, 
was  nach  den  vorstehenden  Auseinandersetzungen  leicht  erklärlich 
wird,  wenn  man  annimmt,  dass  bei  dem  gewählten  Abstand  zwischen 
Bussol-  und  Reizstrecke  sich  nur  die  galvanischen  Wirkungen  der 
Erregung  und  des  fortgeleiteten,  physiologischen  Elektrotonus  geltend 
machen  konnten,  während  es  sich  bei  den  Versuchen  von  Grün- 
h  a  g  e  n  und  Hermann  wohl  im  Wesentlichen  um  die  Folgewirkungen 
des  physikalischen  Anelektrotonus  handelt,  dessen  zeitliche  Ent- 
wicklung an  verschiedenen  Nervenstellen  durchaus  anderen  Gesetzen 
folgt.  Möglicherweise  ünden  auch  die  Angaben  von  Wundt  in  der 
hier  vertretenen  Auffassung  eine  Erklärung.  Unter  allen  Umständen 
bedarf  es  aber  noch  weiterer  Untersuchung,  ehe  hierüber  ein  ent- 
scheidendes Urtheil  möglich  wird.  Vor  Allem  erscheint  es  fraglich, 
ob  auch  in  dem  bei  marklosen  Nerven  anscheinend  ganz  fehlenden 
Katelektrotonus  markhaltiger  Fasern  eine  „physiologische  Componente" 
steckt,  was  nach  Bernstein's  Versuchen  allerdings  der  Fall  zu  sein 
scheint. 


4 

1 

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Fig.  213. 

Es  bleibt  jetzt  noch  übrig,  weitere  Aufklärungen  über  die  Natur 
des  „physikalischen  Elektrotonus"  zu  geben,  wie  er  uns 
beim  markhaltigen  Nerv  im  Zustande  der  Aethernarkose  rein  ent- 
gegentritt. Vom  Standpunkte  seiner  Molekulartheorie  aus  hat  Du 
Bois-Reymond  es  seinerzeit  versucht,  die  Gesammtheit  der  galva- 
nischen Erscheinungen  des  Elektrotonus  aus  einer  richtenden  Ein- 
wirkung des  polarisirenden  Stromes  auf  die  elektromotorischen  Molekeln 
des  Nerven  zu  erklären,  die  sich  nicht  nur  auf  die  unmittelbar  durch- 
flossene  Strecke  beschränkt,  sondern  mehr  oder  weniger  weit  darüber 
hinausgreift.  Denkt  man  sich  den  Nerven  aus  lauter  peripolaren, 
aus  je  zwei  dipolaren  Hälften  bestehenden  Molekeln  zusammen- 
gesetzt (Fig.  213),  so  erzeugt  der  erregende  (polarisirende)  Strom,  der 
eine  Strecke  des  Nerven  durchsetzt,  im  ganzen  Nerv  den  ihm  gleich 
gerichteten  Zuwachsstrom,  indem  er  die  elektrisch  ungleichartigen 
Theilchen  nach  dem  Bilde  der  Volta'schen  Säule  ordnet,  so  dass  die 
positiven  Zonen  nach  der  Seite  hin  gerichtet  werden,  nach  welcher 
jener  Strom  im  Nerven  fliesst,  die  negativen  dagegen  nach  der  Seite, 
von  welcher  der  Strom  kommt,  wie  in  der  Grotthuss'schen  Theorie 
der  Elektrolyse.  Du  Bois-Reymond  nimmt  dann  weiter  an,  dass 
jene  säulenartige  Anordnung  im  Sinne  des  Stromes  sich  nicht  nur 
auf  die  intrapolare  Strecke  beschränkt,    sondern  sich  in  allerdings  ab- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  (599 

nehmendem  Maasse  auf  die  extrapolaren  Strecken  fortsetzt,  wodurch 
eben  die  elektrotonischen  Zuwachsströme  erklärt  werden.  Da  diese 
Deutung  mit  der  Annahme  der  Präexistenz  elektromotorischer  Kräfte 
im  Nerv  steht  und  fällt,  welche  zur  Zeit  wohl  als  widerlegt  ange- 
sehen werden  kann,  so  soll  hier  nicht  näher  darauf  eingegangen  und 
gleich  derjenigen  Versuche  gedacht  werden,  durchweiche  Matte  ucci 
schon  im  Jahre  1863  eine  wirklich  physikalische  Erklärung  des  gal- 
vanischen Elektrotonus  anbahnte  (39).  Er  fand  an  übersponuenen 
Metalldrähten  (Platin),  deren  Bewickelung  mit  einer  leitenden  Flüssig- 
keit getränkt  war,  gesetzmässige  Spannungsdifferenzen,  wenn  eine 
beliebige  Strecke  des  Drahtes  von  einem  constanten  Strom  durch- 
flössen wurde.  An  jeder  Stelle  der  extrapolaren  Strecken  zeigte  sich 
zwischen  je  zwei  zum  Galvanometer  abgeleiteten  Punkten  ein  dem 
primären  (polarisirenden)  gleich  gerichteter  Strom  von  um  so  geringerer 
Stärke,  je  weiter  die  geprüfte  Stelle  von  der  polarisirten  Strecke  ent- 
fernt war. 

Später  hat  insbesondere  Hermann  (39)  dasselbe  Phänomen  in 
eingehendster  Weise  untersucht  und  zugleich  eine  vollständige  theoretische 
Erklärung    gegeben,    indem    er   zeigte,    dass    es  sich  dabei  nicht,  wie 


-^ 


Fig.  214. 

Matte  ucci  ursprünglich  meinte,  um  die  Folge  einer  durch  Diffusion 
vermittelten  Ausbreitung  der  an  den  Elektroden  abgeschiedenen  Elektro- 
lyte,  sondern  um  einen  besonderen  Fall  von  Polarisation  („secundäre 
Polarisation")  handelt.  Wird  der  feuchten  Hülle  eines  Drahtes 
(Fig.  214)  an  zwei  Punkten  ein  Strom  zugeleitet,  so  hängt  es, 
wie  Hermann  zeigt,  ganz  wesentlich  von  der  Polarisirbarkeit  bezw. 
Unpolarisirbarkeit  der  Combination  ab,  wie  weit  sich  der  Strom  im 
Mantel  des  metallischen  Kernes  ausbreitet.  Schon  Matteucci  giebt 
an,  dass  ein  amalgamirter  Zinkdraht,  dessen  Hülle  mit  Zinkvitriollösung 
befeuchtet  ist,  keinerlei  extrapolai*e  Spannungsdiflferenzen  erkennen 
lässt,  und  Hermann  fand  diese  Angabe  durchaus  bestätigt.  In  der 
That  ist  leicht  einzusehen,  dass  unter  diesen  Umständen  der  Strom 
im  Wesentlichen  nur  an  den  Elektrodenstellen  selbst  und  deren  aller- 
nächster Umgebung  in  den  metallischen  Kern  ein-  bezw.  aus  demselben 
austreten  wird,  da  ja  die  betreffenden  Stromfäden  in  Folge  der 
wachsenden  Widerstände  mit  zunehmender  Länge  rasch  an  Intensität 
abnehmen.  Findet  jedoch  beim  Uebergang  der  Stromfäden  aus  der 
Flüssigkeit  ins  Metall  eine  Polarisation  statt,  und  tritt  in  Folge  dessen 
ein  so  beträchtlicher  Uebergangswiderstand  auf,  dass  die  durch  die  ver- 
schiedene Länge  der  Stromfäden  bedingten  Widerstände  dagegen  nicht 
wesentlich  in  Betracht  kommen,  so  steht  natürlich  einer  weiten  Ausbrei- 
tung derselben  in  der  feuchten  Hülle  längs  des  Kernes  nichts  im  Wege 
(L,  Hermann).  Wie  das  beistehende  Schema  ohne  Weiteres  erkennen 
lässt,  muss  in  jedem  extrapolar,  beliebig  angelegten,  ableitenden  Bogen  ein 

45* 


700 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


Zweigstrom  in  der  Richtung  des  polarisirenden  fliessen  (Fig.  214), 
Sehr  anschaulich  ist  auch  die  folgende,  zu  dem  gleichen  Resultat 
führende  Betrachtungsweise  Hermann  's  (39.  V.  p.  270).  „In  Fig.  215 
mögen  die  Linien  Äh  und  Cg  die  Wege  bezeichnen,  welche  ohne 
Polarisation  der  Strom  bei  der  Dünne  der  feuchten  Umhüllung 
und  dem  guten  Leitungsvermögen  des  metallischen  Kernes  fast 
ausschliesslich  nehmen  Avürde,  um  sich  von  den  Elektrodenpunkten 
Ä  und  C  zum  Kern  zu  begeben.  Findet  nun  eine  Polarisation  bei  h 
und  g  statt,  so  wird  das  Metall  (es  sei  Platin  in  verdünnter  Schwefel- 
säure) bei  h  sich  mit  Wasserstoff,  bei  g  mit  Sauerstoff  beladen.  Nun 
verhält  sich  die  mit  Wasserstoff  beladene  Platinstelle  h  sofort  elektro- 
motorisch gegen  die  unbeladenen  Nachbarstellen  h^  Äj,  und  es  entstehen 
in  der  feuchten  Umhüllung  dadurch  Ströme  von  der  Richtung,  die  in 
der  Figur  angegeben  ist.  Diese  Ströme  scheiden  bei  h^  h^  Wasser- 
stoff, bei  h  Sauerstoff  ab,  aber  zu  wenig,  um  den  dort  vorhandenen 
und   durch    den  Strom    stets    neu  entstehenden  Wasserstoff  vollständig 


/TQ- 


^^^ 


Fig.  215. 


Fig.  216. 


ZU  neutralisiren.  Die  beladenen  Stellen  h^  wirken  nun  ebenso  gegen 
ihre  unbeladene  Nachbarschaft  /«g  elektromotorisch,  es  entstehen  die 
Ströme  h^  Äg,  die  wieder  Ag  ''^^^  Wasserstoff  beladen  und  so  fort.  Die 
ganze  Umgebung  von  A  ist  aber,  sobald  ein  stationärer  Zustand  ein- 
getreten ist,  in  mit  der  Entfernung  abnehmendem  Grade  mit  Wasser- 
stoff, ebenso  die  Umgebung  von  C  mit  Sauerstoff  beladen.  Die  durch 
diese  Ladungen  entstehenden  und  sie  erhaltenden  Ströme  werden  nun 
in  einem  angelegten  leitenden  Bogen  in  der  gezeichneten  Weise  zur 
Anschauung  kommen."     (Hermann.) 

Um  diese  für  die  Theorie  des  Elektrotonus  wichtigen  Erschei- 
nungen noch  genauer  untersuchen  zu  können,  bediente  sich  Hermann 
in  der  Folge  eines  Modells,  in  welchem  die  feuchte  Umhüllung  durch 
freie  Flüssigkeit  (gesättigte  Zinksulfatlösung)  ersetzt  war.  Dieselbe 
befand  sich  in  einem  mit  seitlichen  Ansätzen  versehenen  Glasrohr 
(Fig.  216),  durch  welches  ein  Platindraht  durchgezogen  war.  Als 
zu-  resp.  ableitende  Elektroden  dienten  amalgamirte  Zinkdrähte.  Ab- 
gesehen von  den  schon  erwähnten  Thatsachen  hat  sich  bei  diesen 
Versuchen  noch  ergeben,  dass  jede  Unterbrechung  des  Drahtes  (Kern- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Ners'en.  701 

leiters)  oder  des  Flüssigkeitsmantels  zwischen  der  polarisirten  und 
abgeleiteten  Strecke  das  Zustandekommen  der  extrapolaren  Ströme 
verhindert,  welche  im  Uebrigen  stets  dem  polarisirenden  Strome  pro- 
portional sind.  Mit  den  elektrotonischen  Zuwachsströmen  markhaltiger 
Nerven  stimmen  sie  auch  insofern  überein,  als  bei  gegebenem  Abstände 
beider  Strecken  ihre  Stärke  mit  der  Länge  der  durchflossenen  Strecke 
(bei  gleich  bleibender  Intensität  des  polarisirenden  Stromes)  zunimmt. 
Die  Ströme  sind  ferner  im  Augenblick  der  Schliessung  voi'handen, 
und  falls  die  gewählte  Combination  (wie  z.  B  Platin  in  Zinksulfat 
oder  Schwefelsäure)  beiderseits  polarisirbar  ist,  auf  der  Anoden-  und 
Kathodenseite  gleich  stark;  dagegen  fehlen  die  extrapolaren  Ströme 
auf  der  Kathodenseite  gänzlich  oder  sind  doch  nur  in  nächster  Nähe 
des  betreffenden  Poles  merklich,  wenn  es  sich  um  eine  nur  einseitig 
(an  der  Anode)  polarisirbare  Combination  handelt,  wie  etwa  Zinkdraht 
in  Schwefelsäure  oder  Kochsalzlösung,  Kupferdraht  in  Schwefelsäure 
oder  Zinksulfat.  Wie  beim  Nerv,  fehlen  endlich  die  extrapolaren 
Zuwachsströme    auch    an    dem  Kernleitermodell   bei  querer  Zuleitung. 

Im  Jahre  1883  machte  Hermann  an  einem  zwei  Meter  langen 
Kernleitermodell  (Platin  in  Zinksulfat)  bei  Zuleitung  kurzer,  frequenter 
Kettenströme  von  gleich  bleibender  Richtung  mittels  des  Bernstein'schen 
Rheotoms  die  interessante  Beobachtung,  dass  bei  grossem  Abstand 
zwischen  durchflossener  und  abgeleiteter  Strecke  die  elektrotonischen 
Ströme  unter  Umständen  erst  beginnen,  oder  wenigstens  ihr  Maximum 
erreichen,  nachdem  der  polarisirende  Strom  bereits  wieder  geöffnet 
ist,  woraus  naturgeraäss  auf  einen  wellenförmigen  Ablauf  der 
betreffenden  galvanischen  Vorgänge  zu  schliessen  sein  würde.  Bei 
geringerem  Abstand  der  „Reiz-"  und  Bussolstrecke  fällt  das  Maximum 
der  gleichsinnigen  elektromotorischen  Wirksamkeit  noch  in  das  Ende 
der  Schlusszeit  des  polarisirenden  Stromes.  Auch  Hessen  sich  zwischen 
den  beiden  ableitenden  Elektroden,  ähnlich  den  phasischen  Actions- 
strömen,  zwei  aufeinander  folgende,  entgegengesetzte  und  ungleich  grosse 
Stromphasen  erkennen,  von  denen  die  erste  stärkere  dem  polarisirenden 
Strom  gleich,  die  zweite  dagegen  entgegengesetzt  gerichtet  ist.  Es 
Hess  sich  zeigen,  dass  diese  letztere  nicht  wie  dort  davon  herrührt, 
dass  der  wellenförmig  mit  einer  Geschwindigkeit  von  20 — 65  Meter 
in  der  Secunde  vorrückende  Process,  welcher  an  der  ersten  ableitenden 
Elektrode  angelangt,  die  erste  Phase  macht,  an  der  zweiten  anlangend 
und  gleichzeitig  an  der  ersten  erloschen  oder  stark  vermindert,  eine 
entgegengesetzte  Phase  hervorbringt,  sondern  durch  den  Gegenstrom 
bedingt  ist,  welcher  nach  Oeffnung  des  polarisirenden  Stromes  in 
der  intrapolaren  Strecke  des  Kernleiters  entsteht.  „Die  zweite  Phase 
ist  kurz  ausgedrückt  nichts  Anderes,  als  der  vergleichsweise  be- 
harrende Zustand,  in  welchen  der  Kernleiter  durch  die  Polarisation 
in  Folge  der  rasch  wiederholten  Momentanschliessungen  des  polari- 
sirenden Stromes  geräth.  Die  erste  Phase  aber  ist  die  auf  diesen  Zu- 
stand sich  superponirende ,  wellenförmig  ablaufende  Wirkung  jeder 
einzelnen  Momentanschliessung.  Letztere  tritt  völlig  rein  auf,  wenn 
die  beiden  entgegengesetzten  Polarisationen  des  Kerndrahtes  sich 
nicht  abgleichen  können  oder  wenn  überhaupt  nur  eine  Polarisation 
vorhanden  ist,  also  wenn  ein  Bipolarstrom  nicht  zu  Stande  kommen 
kann."     (Hermann.) 

Wenn  Hermann  die  immerhin  möglichen  Beziehungen  dieser 
bemerkenswerthen ,    leider    theoretisch    noch    nicht    hinlänglich    aufge- 


702  I^i^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

klärten  Erscheinungen  zur  Fortpflanzung  der  Erregung  im  Nerven 
nur  sehr  vorsichtig  betont  und  die  Möglichkeit  nicht  verkennt,  dass 
es  sich  vielleicht  nur  um  scheinbare  Analogien  handelt,  stellte  sich 
neuerdings  Boruttau  (20)  auch  hier  wieder  auf  den  extremsten 
physikalischen  Standpunkt.  Er  findet,  dass  auch  bei  Zuleitung  der 
Wechselströme  eines  Schlittenapparates  zu  einem  aus  Platin-  oder 
Palladiumdraht  in  0,6  ^lo  Kochsalzlösung  bestehenden  Kernleiter  mittels 
des  Rheotoms  galvanische  Wellenerscheinungen  hervortreten,  welche 
auf  der  sehr  raschen  (über  100  Meter  pro  Secunde)  Fortpflanzung  einer 
negativen  Phase  auf  weite  Entfernungen  hin  beruhen  und  den  pha- 
sischen Actionsströmen  durchaus  (unter  Anderem  auch  hinsichtlich  des 
Einflusses  der  Temperatur  auf  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit) 
entsprechen  und  hält,  wie  erwähnt,  auch  die  negative  Schwankung  für 
nichts  weiter  als  wellenförmig  ablaufenden  Katelektrotonus.  Bei  Be- 
nutzung sehr  langer,  aus  mehreren  Glasröhren  zusammengesetzter  Kern- 
leitermodelle, wobei  der  Abstand  zwischen  durchströmter  und  abge- 
leiteter Strecke  auf  vier  Meter  gesteigert  werden  konnte ,  konnte 
Boruttau  immer  noch  die  wellenförmige  Fortpflanzung  der  Nega- 
tivität,  und  zwar  nur  dieses  ganz  deutlich  beobachten.  Bei  An- 
wendung eines  Kettenstromes  entstand  nur  im  Momente  der  Schliessung 
auf  Seite  der  Kathode  und  bei  Oeffnung  nur  auf  der  Anodenseite  ein 
.,wenn  auch  geringfügiger,  kurz  dauernder  Ausschlag  im  Sinne  einer 
Negativität  der  proximalen  Elektrode".  „Bedeutend  ansehnlicher  zeigte 
sich  ein  solcher  momentaner,  negativer  Ausschlag,  als  einzelne  In- 
ductionsschläge  mittels  Schlüssels  durch  die  „Reizstrecke"  ge- 
führt wurden :  Ganz  unabhängig  von  ihrer  Richtung  ent- 
sprach jedem  ein  kurzer  negativer  Ausschlag."  Wurden  Wechsel- 
ströme benützt,  so  zeigte  sich  eine  Negativität  der  proximalen  Elektrode, 
die  so  lange  dauerte  wie  jene  „Tetanisation".  „Auch  die  Analyse  durch 
das  Differentialrheotom  führte  zu  dem  Ergebniss,  dass  auf  solche 
Entfernungen  hin  nur  noch  eine  Negativitätswelle  (d.  h.  der  Katelektro- 
tonus) sich  fortpflanzt",  wobei  es  für  das  Ergebniss  gleichgültig  ist, 
ob  der  „Reizstrecke"  vermittels  des  Rheotoms  kurze  frequente  Ketten- 
ströme oder  Inductionsschläge  zugeleitet  werden:  „in  beiden  Fällen 
zeigt  sich  die  in  zwei  Phasen  über  die  abgeleitete  Strecke  hinlaufende 
Negativitätswelle,  durch  welche  die  proximale  Elektrode  gegen  die 
distale  erst  negativ,  dann  positiv  ist." 

Ungeachtet  der  zahlreichen  und  in  der  That  sehr  auffallenden 
Analogien  zwischen  den  eben  geschilderten  Erscheinungen  am  Kern- 
leitermodell und  den  galvanischen  W^irkungen  elektrisch  durchströmter 
markhaltiger  Nerven,  wird  man  zunächst  wohl  gegen  die  völlige 
Gleichstellung  der  als  Begleiterscheinung  der  Erregung  auftretenden 
Negativität  und  jener  katelektrotonischen  Wellen  protestiren  müssen. 
Die  meiner  Ansicht  nach  zwingenden  Gründe,  welche  dagegen  sprechen, 
sind  erstlich  einmal  in  dem  Auftreten  ganz  analoger  galvanischer 
Erscheinungen  bei  elektrischer  Erregung  der  verschiedensten  irritablen 
Gebilde  gegeben,  deren  Bau  in  keiner  Weise  berechtigt,  sie  als  Kern- 
leiter in  dem  Sinne  wie  markhaltige  Nerven  aufzufassen;  unvereinbar 
scheint  mir  ferner  auch  die  Thatsache  zu  sein,  dass  mit  Aether 
narkotisirte  markhaltige  Nerven,  bei  welchen  die  physikalische  „feste 
Polarisation"  nach  wie  vor  eintritt,  keine  Spur  fortgeleiteter 
Wirkungen  zeigen,  und  endlich  vor  Allem  der  Umstand ,  dass  die 
galvanischen    Err  egungs  erscheinungen    in    gleicher  Weise   an  allen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  703 

überhaupt  geeigneten  Objecten  auch  bei  nicht  elektrischer 
Reizung  hervortreten.  Boruttau  nimmt  nun  freilich  keinen  An- 
stand, auch  hier  wieder  Eigenschaften  der  Kernleiter  zur  Erklärung 
heranzuziehen.  Er  glaubt  ein  Analogen  der  mechanischen  Reizung 
der  Nerven  und  ihrer  galvanischen  Erfolge  in  dem  plötzlichen  Durch- 
brechen des  innerhalb  der  feuchten  Umhüllung  befindlichen,  vorher 
an  einer  bestimmten  Stelle  angefeilten  Kernleiterdrahtes  erblicken  zu 
dürfen,  indem  er  jedesmal  „mit  grösster  Präcision  eine  relativ  gross- 
artige momentane  Strom-  resp.  Ladungserscheinung"  an  einer  ent- 
fernten abgeleiteten  Strecke  beobachtete,  „welcher  sofort  die  Rückkehr 
zum  vorhergehenden  Ruhezustande  folgte."  Ohne  nun  an  dem  That- 
sächlichen  der  Beobachtung  zweifeln  zu  wollen,  dürfte  doch  wohl 
kaum  Jemand,  der  auf  dem  Standpunkte  steht,  nur  lebende  thierische 
oder  pflanzliche  Zellen  für  reizbar  zu  halten,  den  aus  dem  angeführten 
Versuch  gezogenen  Schlussfolgerungen  beizupflichten  geneigt  sein. 
Wie  so  oft,  zeigt  sich  gerade  in  diesem  Falle,  wie  verhängnissvoll  es 
werden  kann,  Beobachtungen  an  einem  bestimmten  Objecto  zu  ver- 
allgemeinern und  ohne  Rücksicht  auf  die  Verschiedenheiten  der  Structur 
Lebenserscheinungen  von  einseitig  physikalischen  Gesichts- 
punkten aus  zu  beurtheilen. 

Ohne  leugnen  zu  wollen,  dass  weitere  Forschungen  auf  diesem 
Gebiete  vielleicht  gewisse  weitere  Analogien  zwischen  der  Leitung 
der  Erregung  einerseits  und  der  des  wellenförmig  fortschreitenden 
Elektrotonus  an  Kernleitern  andererseits  zu  Tage  fördern  werden, 
dürfte  es  doch  gerathen  sein,  vorläufig  im  Auge  zu  behalten,  dass 
Erregung  und  Erregungsleitung  an  Objecten  und  unter  Umständen 
beobachtet  werden,  wo  die  physikalischen  Voraussetzungen  Boruttau's 
schlechterdings  nicht  gegeben  sind. 

Aber  auch  für  die  „feste  Polarisation",  d.  h.  die  elektrotonischen 
D  a  u  e  r  s  t  r  ö  m  e  in  grösserer  Nähe  der  durchflossenen  Strecke  eines 
markhaltigen  Nerven,  erscheint  es  zum  mindesten  noch  fraglich,  ob  sie, 
wiewohl  zum  Theil  sicher  nur  physikalisch  bedingt,  lediglich  nach 
dem  Hermann'  sehen  Erklärungsprincip  zu  deuten  sind ,  zumal  das- 
jenige Structurverhältniss  der  markhaltigen  Fasern,  das  hier  wohl  vor 
Allem  (und  vielleicht  sogar  allein)  in  Betracht  kommt,  nämlich  die  Um- 
hüllung des  Axencylinders  mit  der  Markscheide,  auf  den  ersten  Blick, 
wie  man  meinen  sollte,  wenige  Eigenschaften  zeigt,  die  bei  dem  ur- 
sprünglichen Kernleiterraodell  aus  Metall  und  Flüssigkeit  als  wesent- 
lich zu  betrachten  sind.  Hier  handelt  es  sich  zunächst  um  den  enormen 
Unterschied  des  Leitungsvermögens  zwischen  der  feuchten  Hülle  und 
dem  metallischen  Kern.  Eine  auch  nur  annähernd  so  grosse  Ver- 
schiedenheit des  Leitungsvermögens  zwischen  Axencylinder  und  Mark- 
scheide ist  natürlich  von  vorneherein  ausgeschlossen,  ja  es  fragt  sich, 
ob  überhaupt  ein  merklicher  Unterschied  besteht.  Eine  zweite  Frage  ist 
ferner  die,  ob  an  der  Grenzfläche  der  beiden  genannten  Elementar- 
bestandtheile  markhaltiger  Nervenfasern  eine  Polarisation  überhaupt 
vorhanden  ist  und  wenn  ja,  ob  eine  solche  Polarisation  an  der  Grenze 
zweier  Elektrolyten  hinsichtlich  des  Einflusses  auf  die  Stromausbrei- 
tung so  behandelt  werden  kann,  wie  die  an  der  Grenzfläche  zwischen 
Metall  und  Flüssigkeit. 

Hinsichtlich  des  ersten  Punktes  hat  Hermann  schon  vor  längerer 
Zeit  den  experimentellen  Nachweis  geliefert,  dass  der  schon  früher 
erwähnte    sehr    beträchtliche  Unterschied    des  Längs-    und  Querwider- 


704  I^ie  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

Standes  des  Nerven  im  Wesentlichen  auf  eine  dem  Strom  entgegen- 
wirkende elektromotorische  Kraft  zu  beziehen  ist,  welche  von  Polari- 
sation herrührt,  die  bei  Querdurchströmung  hauptsächlich  an  der 
Grenze  zwischen  Neurilemm  (Schwann' scher  Scheide)  und  Markscheide 
stattzufinden  scheint,  sodass  man  nach  Hermann  als  Kernsubstanz  nicht 
sowohl  den  Axencylinder,  sondern  den  „ganzen  protoplasmatischen 
Röhreninhalt",  als  Hülle  nicht  die  Markscheide,  sondern  „das  Neuri- 
lemm und  das  interstitielle  Bindegewebe"   anzusehen  hätte. 

Her  m  a  n  n  brachte  parallel  neben  einander  gelagerte  Froschnerven 
zwischen  zwei  quadratische  Glasplatten  und  bestimmte  den  Widerstand 
nach  der  Wh  eats  tone  '  sehen  Methode,  wenn  der  Strom  das  eine  Mal 
in  der  Längsrichtung  der  Fasern  und  dann  quer  durchgeleitet  wurde. 
„Der  Querwiderstand  ergab  sich  fünfmal  so  gross  als  der  Längswider- 
stand; ersterer  ist  etwa  12^/2  Millionen,  letzterer  nur  2V'2  Millionen 
mal  so  gross  wie  der  des  Quecksilbers." 

Hält  man  hiernach  das  Vorhandensein  einer  Grenzpolarisation 
nach  Analogie  der  Kernleiter  am  markhaltigen  Nerven  für  sicher  be- 
wiesen, so  würde  es  sich  weiter  noch  darum  handeln,  ob  die  Stärke 
einer  solchen  Polarisation  an  der  Grenze  zweier  Elektrolyten  ausreicht, 
um  die  beobachtete  Stromausbreitung  am  Nerven  zu  erklären.  Vom 
rein  theoretischen  Standpunkte  lässt  sich  nun  freilich  gegen  eine  solche 
Annahme  kein  begründeter  Einwand  erheben.  Mit  Rücksicht  auf  die 
Stärke  der  elektrotonischen  Wirkungen  sieht  man  sich  aber  allerdings 
gezwungen,  den  Nerven  mit  Hermann  (40)  eine  „beispiellos  be- 
deutende" Grenzpolarisationskraft  zuzuerkennen,  da  voraussichtlich 
„die  im  Vergleich  zu  den  Metall-Flüssigkeits-Combinationen  sehr 
schwachen  Polarisationen  an  der  Grenze  gewöhnlicher  Flüssigkeiten 
nur  zu  einer  sehr  schwachen  Ausbreitung  durch  Uebergangs widerstand 
führen  können,  die  den  Fehlerquellen  gegenüber  unnachweisbar  wird". 

Nichtsdestoweniger  giebt  es  aber  erfahrungsgemäss  doch  Combi- 
natiouen  von  feuchten  Leitern,  welche  ganz  ausserordentlich  starke 
Wirkungen  im  Sinne  eines  streng  gesetzmässigen  Elektrotonus  erkennen 
lassen,  deren  Entstehung  aber  wohl  weniger  auf  eine  Grenzpolarisation 
im  Sinne  Her  m  a  n  n's ,  als  vielmehr  auf  eine  eigenartige  Stromschleifen- 
bildung im  Sinne  einer  von  Grünhagen  (41)  und  Hering  (24) 
vertretenen  Theorie  zurückzuführen  sein  dürfte.  Seit  lange  bedient 
sich  Hering  zur  Demonstration  des  „physikalischen  Elektrotonus", 
eines  ausserordentlich  einfachen  Modells,  welches  alle  Erscheinungen 
in  schönster  Weise  darbietet,  nämlich  der  langen  und  internodienfreien 
Halme  des  Pfeifengrases,  welche  zuvor  mit  Wasser  getränkt  und 
unmittelbar  vor  dem  Versuch  mit  einer  concentrirten  Kochsalzlösung 
gefüllt  werden.  Ein  nicht  minder  bequem  zu  handhabendes  Versuchs- 
object  habe  ich  selbst  in  den  Fühlern  und  Beinen  des  Krebses  ge- 
funden, welche  in  Alkohol  aufbewahrt  und  vor  dem  Versuch  einfach 
mit  0,6  ^/ü  Kochsalzlösung  durchtränkt  werden. 

Die  Aehnlichkeit  der  elektrotonischen  Erscheinungen  in  diesem  Falle 
mit  denen,  welche  man  unter  gleichen  Umständen  an  ätherisirten  Nerven 
beobachtet,  springt  sofort  in  die  Augen  und  erstreckt  sich  ebensowohl 
auf  die  Gleichheit  der  an-  und  katelektrotonischen  Ablenkungen,  wie 
auch  auf  die  mehr  oder  Aveniger  angenäherte  Proportionalität,  welche 
bei  einer  gegebenen  Lage  der  stromzuführenden  und  der  Bussolelek- 
troden zwischen  der  Grösse  der  betreffenden  Wirkungen  und  der  Stärke 
des   polarisirenden    Stromes   besteht   (38).      Als   ein   wesentliches   und 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


705 


charakteristisches  Merkmal  „elektrotonischer"  Ströme  gegenüber  ge- 
wöhnlichen Stromschleifen  muss  der  Umstand  gelten,  dass  die  Richtung 
des  extrapolar  abgeleiteten  Stromes  von  der  Lage  des  ableitenden 
Bogens  abhängt.  Dies  geht  unmittelbar  aus  der  Betrachtung  der  bei- 
stehenden schematischen  Figur  (Fig.  217)  hervor,  welche  erkennen 
lässt,  dass  die  von  entgegengesetzten  Seiten  des  Leiters  abgeleiteten 
extrapolaren  Stromzweige  auch  nothwendig  entgegengesetzte  Richtung 
haben  müssen.  Dagegen  ist  dies  weder  bei  dem  Nerven  noch  auch 
bei  einem  der  vorhin  erwähnten  Modelle  der  Fall.  Wie  immer  auch 
die  Bussolelektroden    hier    angelegt    werden    mögen ,    stets    ist    der 


W 


Fig.  217.     Schema  der  Stromschleifenbilduug   in    einem  gewöhnlichen  partiell 
durchströmten  Leiter. 


i^'' 


Fig.  218.     Schema  der  Stromausbreitung  in   einem  „Kernleiter".     (Nach  Grünhagen.) 


abgeleitete  Strom   dempolarii 

richtet.  Eine  wesentliche  Bedingung  ist  nur  die,  aass 
in  der  Axe  eines  feuchten  Leiters  ein  Kern  steckt, 
welcher  besseres  Leitungsvermögen  als  die  Hülle  be- 
sitzt. Dabei  ist  gleichgültig,  ob  es  sich,  wie  bei  dem  Kernleiter- 
modell Matteucci's,  um  ein  Metall,  oder  wie,  bei  den  Versuchen 
von  Hering,  dem  sich  ein  ganz  analoger  von  Grünhagen  (42), 
sowie  neuerdings  gewisse  von  Boruttau  benutzte  Combinationen 
anschliessen,  um  einen  flüssigen  Leiter  als  besser  leitenden  Kern 
handelt.  Nach  Grünhagen  würde  man  sich  vorzustellen  haben, 
dass  in  jeder  derartigen  Leitercombination  im  Sinne  des  beistehenden 
Schemas  (Fig.  218)  „die  in  der  Hülle  verlaufenden  Stromzweige  nur 
eine  einzige  Richtung  nach  dem  besser  leitenden  Kern  einschlagen, 
die  rückläufigen  Stromarme  dagegen  sämmtlich  von  der  besser  leitenden 


706  I^iß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nei^v'en. 

Axe  eingeschlossen  werden".  „In  Folge  dieser  Absorption  aller  rück- 
läufigen Partialströme  durch  den  Kernleiter  ist  dann  aber  auch  die 
Hülle  frei  von  ihnen,  und  wo  man  immer  die  ableitenden  Fusspunkte 
eines  Galvanometerkreises  derselben  anlegen  mag,  ob  seitlich  neben 
oder  gegenüber  den  stromzuführenden  Elektroden,  überall  werden  nur 
Partialströme  von  einsinniger  Richtung,  derjenigen  entsprechend  ab- 
geleitet werden,  welche  den  vorhin  erwähnten  divergirenden  Strom- 
fäden eigen  ist."  (Grünhagen.)  Lässt  man  diese  Anschauung 
gelten,  so  würde  dem  Axencylinder  ein  wesentlich  besseres  Leitungs- 
vermögen zuzuerkennen  sein,  als  der  Markscheide,  was  übriges  auch 
vom  histo-chemischen  Standpunkte  aus  nicht  gerade  unwahrscheinlich 
ist.  Das  vollständige  Fehlen  eines  gut  ausgesprochenen  physika- 
lischen Elektrotonus  bei  marklosen  Nerven  und  Muskeln  würde 
daher  nach  dieser  Theoi'ie  im  Wesentlichen  auf  den  Mangel  schlechter 
leitender  Hüllen  der  einzelnen  Elemente  zu  beziehen  sein,  wobei  noch 
besonders  betont  werden  muss,  dass,  wie  ich  mich  erst  neuerdings 
wieder  überzeugt  habe,  elektrotonische  Erscheinungen  auch  in  solchen 
Fällen  vermisst  werden,  wo,  wie  bei  vielen  Crustaceennerven,  die 
einzelnen  Axencylinder  von  mächtig  entwickelten,  geschichteten  Binde- 
gewebshüllen umschlossen  sind.  Es  scheint  also  speciell  die  physika- 
lisch-chemische Natur  der  Markscheide  für  das  Zustandekommen  der 
Ausbreitungserscheinungen  des  Stromes  wesentlich  zu  sein.  Mit  Rück- 
sicht hierauf  Avären  Versuche  an  den  Nerven  von  Palaemon  von 
Interesse,  welche  nach  Retzius  markhaltige  Fasern  führen  und 
sich  dadurch  ganz  wesentlich  von  denen  der  meisten  übrigen  Crusta- 
ceen  unterscheiden. 

Als  gesichertes  Resultat  aller  im  Vorhergehenden  mitgetheilten 
Thatsachen  und  Erörterungen  ergiebt  sich  für  den  markhaltigen  Nerven 
das  Vorhandensein  einer  irgendwie,  sei  es  nun  durch  „secundäre 
Polarisation"  oder  durch  directe  Stromschleifen,  vermittelten  Ausbreitung 
eines  zugeleiteten  Stromes  über  die  unmittelbar  durchflossene  Strecke 
hinaus,  d.  h.  eines  physikalisch  verursachten  Elektrotonus,  der 
jedoch,  wie  gezeigt  wurde,  seinerseits  in  der  Regel  durch  gleichsinnige 
physiologische  Zustandsänderungen  des  Nerven  complicirt  er- 
scheint. Vom  physiologischen  Standpunkte  aus  liegt  das  Hauptinteresse 
desselben  auf  Seite  der  durch  die  Ausbreitung  des  Reizstromes  be- 
dingten Veränderungen  des  Nerven,  insbesondere  seiner  Erregbarkeit. 
Beim  Muskel,  wo  der  Aus-  und  Eintritt  des  Stromes  im  Wesentlichen 
auf  die  Elektroden  selbst  und  deren  nächste  Umgebung  beschränkt 
bleibt,  äussern  sich  natürlich  auch  die  polaren  Wirkungen  des  Stromes 
einerseits  als  Erregung,  andererseits  als  Hemmung  nur  local  an  der 
Stelle  ihrer  Entstehung.  Besitzt  aber,  wie  beim  markhaltigen  Nerven, 
die  physiologische  Anode  beziehungsweise  Kathode,  d,  h.  das  Gebiet, 
innerhalb  dessen  überhaupt  Stromfäden  in  die  erregbare  Substanz  des 
Axencylinders  ein-  beziehungsweise  aus  derselben  austreten,  eine  er- 
hebliche Ausdehnung,  so  wird  natürlich  das  Gleiche  auch  hinsichtlich 
aller  Folgewirkungen  der  Erregung  und  Hemmung  gelten  müssen.  Die 
räumliche  Ausdehnung  des  physikalischen  Elektrotonus  als  der  Ge- 
sammtheit  aller  durch  den  elektrischen  Strom  direct  bewirkten  Ver- 
änderungen deckt  sich  mit  andern  Worten  mit  der  räumlichen  Ver- 
breitung der  anodischen  und  kathodischen  Stellen  an  dem  durch- 
strömten Gebilde.  Wenn  daher  für  Muskeln  sowohl  wie  für  Nerven 
ganz    allgemein    der  Satz   gilt,    dass   innerhalb   gewisser  Grenzen    der 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nei-ven.  707 

Stromstärke  und  Stromesdauer  an  der  physiologischen  Kathode,  d.  h. 
an  jedem  Punkte,  wo  der  Strom  aus  der  erregbaren  Substanz  austritt, 
während  der  Schliessungszeit  ein  Zustand  erhöhter  Anspruchsfähigkeit 
besteht,  während  das  Umgekehrte  an  der  physiologischen  Anode  der 
Fall  ist,  so  ergiebt  sich  unmittelbar  auch  ein  Verständniss  für  die 
Thatsache  der  intra-  und  extrapolar  sich  ausbreitenden  polar-antago- 
nistischen Erregbarkeitsänderungen  eines  polarisirten  markhaltigen 
Nerven.  Es  erklärt  sich  ferner  leicht  die  auf  den  ersten  Blick  so 
auffallende  Erregbarkeitssteigerung  in  der  Nähe  jedes 
künstlichen  Querschnittes.  Denn  gerade  wie  ein  künstlich 
zugeführter  Strom  wird  auch  der  Demarcationsstrom  jeder  markhaltigen 
Nervenfaser  nicht  nur  in  nächster  Nähe  der  Demarcationsfläche  sich 
innerlich  abgleichen,  sondern  aus  gleichen 
Gründen  wie  dort  werden  sich,  wie  im  bei- 
stehenden Schema  angedeutet  ist  (Fig. 
219),  Stromfäden  weithin  vom  Quer- 
schnitt erstrecken ,  welche ,  allerorts 
aus  dem  Axencylinder  austretend,  den- 
selben   in   den    Zustand    des   Katelektro- 

tonus  mit  alle,,  seinen  Folgen  versetzen,  S;n,?,f de.Sl^'^t™  J^ 
dessen  Intensität  natürlich  mit  der  Ent-  längs  des  Nerven  (schwache  Längs- 
fernung  vom  Querschnitt  rasch  abnimmt.  schnittsströme). 

Auch  die  sogenannten  schwachen  Längs-  (Nach  Hermann.) 

schnittströme    können,    wie    Hermann 

zuerst  hervorgehoben  hat  und  Fig.  219  ohne  Weiteres  erkennen  lässt, 
einfach  als  elektrotonische  Ausbreitung  des  Demarcationsstromes  be- 
trachtet werden. 

Endlich  sei  hier  auch  noch  auf  die  schon  früher  besprochene 
Thatsache  hingewiesen,  dass  bei  elektrischer  Reizung  eines  local  ab- 
getödteten,  markhaltigen  Nerven  sich  nur  dann  die  physiologische 
Wirkung  des  einen  Poles  wie  beim  Muskel  ausschalten  lässt,  wenn 
ein  mehr  oder  weniger  grosser  Theil  der  intrapolaren  Strecke  mit 
möglichster  Erhaltung  der  histologischen  Structur  ab- 
getödtet  wird.  Auch  dies  erklärt  sich  nun  leicht  und  unmittelbar 
durch  die  räumliche  Vertheilung  der  Aus-  und  Eintrittsstellen  des 
Stromes,  ebenso  wie  die  auch  schon  früher  hervorgehobene  Ver- 
schiedenheit abterminaler  und  atterminaler  Inductionsströme,  welche 
auf  das  Querschnittsende  eines  markhaltigen  Nerven  einwirken.  Da 
die  elektromotorische  Kraft  des  Gegensatzes  zwischen  „alterirter"  und 
nicht  alterirter  Nervensubstanz  voraussichtlich  sehr  gross  ist,  indem  schon 
die  Wirkungen  von  Seite  der  nach  aussen  abgeleiteten  Zweigströme 
sehr  beträchtlich  sind,  so  muss  die  Intensität  der  Strömchen,  welche 
sich  in  der  Nähe  eines  künstlichen  Querschnittes  markhaltiger  Nerven 
durch  die  Hüllensubstanzen  abgleichen,  zweifellos  schon  wegen  des 
geringen  Widerstandes  bei  mikroskopischer  Längendimension  ausser- 
ordentlich gross  sein.     (Hermann.) 


Secundär-elektromotorische  Erscheinungen  an  Nerren. 

Wie  beim  Muskel,  so  hatte  Du  Bois-Reymond  auch  bei  mark- 
haltigen Nerven  gezeigt,  dass  jede  von  einem  hinreichend  starken 
Kettenstrom  durchflossene  Strecke  nach  Oeffnung  des  Kreises  in  einem 


708  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Xei-ven. 

bestimmten  Simie  gesetzmässig  elektromotorisch  wirkt,  und  die  Er- 
scheinungen in  beiden  Fällen  auf  „innere  Polarisation"  bezogen ,  da 
sich  ergab,  dass  ein  entgegengesetzter  (eventuell  gleich  gerichteter) 
Nachstrom  auch  dann  beobachtet  wird,  wenn  sich  beide  ableitende 
Bussolelektroden  zwischen  den  Reizelektroden  innerhalb  der  intra- 
polaren Strecke  befanden.  Dass  diese  Annahme  sich  in  der  Folge, 
wenigstens  in  Bezug  auf  den  Muskel,  als  iin-ig  erwies,  wurde  schon 
früher  (p.  378)  gezeigt.  Für  den  Nerven  gestaltet  sich  die  Unter- 
suchung einerseits  wegen  der  geringeren  Stärke  der  Wirkungen,  beson- 
ders aber  wegen  der  elektrotonischen  Ausbreitung  des  (polarisirenden) 
Reizstromes  sehr  viel  schwieriger.  Nichtsdestoweniger  lässt  sich  aber 
auf  Grund  der  bis  jetzt  vorliegenden  Beobachtungen  sagen,  dass  ein 
wesentlicher  Unterschied  in  Bezug  auf  die  secundär-elektromotorischen 
Erscheinungen  an  Muskeln  und  Nerven  nicht  besteht.  So  fand  schon 
Du  Bois-Reymond  die  stärksten  negativen  Wirkungen  nach  längerem 
Hindurchleiten  verhältnissmässig  schwacher  Ströme,  während  die  stärkste 
„positive  Polarisation"  nach  ganz  kurzer  Schliessung  einer  starken  Kette 
(25  — -J^O  Grrove !)  hervortritt (43).  Hermann,  welcher  Anfangs  bei  Durch- 
strömung einer  40  mm  langen  Nervenstrecke  (zwei  mit  den  entgegen- 
gesetzten Enden  zusammengelegte  Ischiadici  vom  Frosch)  keinen  durch- 
greifenden Unterschied  in  den  Ablenkungen  fand,  wenn  sich  die  ab- 
geleitete Strecke  einmal  in  möglichster  Nähe  der  Anode  und  dann  der 
Kathode  befand,  stellte  in  der  Folge  fest,  dass  „auch  am  Nerven  wie 
am  Muskel  die  gleichsinnige  Nachstromphase  regelmässig  ausbleibt, 
wenn  die  physiologische  Anode  am  künstlichen  Querschnitt  liegt  und 
von  diesem  auch  abgeleitet  wird",  so  dass  darüber  kein  Zweifel  be- 
stehen kann,  dass  auch  hier  der  gleichsinnige  Nachstrom  (die  „positive 
Polarisation")  lediglich  als  der  galvanische  Ausdruck  der  Oeffnungs- 
erregung  aufzufassen  ist. 

Die  weithin  sich  erstreckende  extrapolare  Ausbreitung  des  polari- 
sirenden Stromes  bei  raarkhaltigen  Nerven  macht  es  erforderlich,  auch 
das  Verhalten  der  extrapolaren  Nachströme  nach  Oeffnung  des 
Kreises  zu  prüfen.  Die  erste  Untersuchung  rührt  von  Fick  (44)  her, 
welcher  fand,  dass  zu  beiden  Seiten  des  polarisirenden  Stromes  ein 
demselben  entgegengesetzter  Nachstrom  hervortritt,  welcher  sehr  bald 
schwindet.  Wenig  später  constatirte  dagegen  L.  Hermann  (45), 
dem  sich  dann  auch  Fick  anschloss,  dass  dies  nur  auf  Seite  der 
Anode  der  Fall  ist,  während  ausserhalb  der  Kathode  ein  dem  polari- 
sirenden gleichsinniger  Strom  erscheint,  dessen  Stärke  immer  hinter 
der  des  anodischen  Nachstromes  zurückbleibt.  Bezüglich  des  letzteren 
stellte  Hermann  später  auch  noch  fest  (46),  dass  demselben  ein 
kurzer,  mit  dem  polarisirenden  Strom  gleichsinniger  Vorschlag 
vorausgeht. 

Zur  Erklärung  aller  dieser  Erscheinungen  macht  Hermann 
einerseits  die  von  ihm  näher  untersuchten  („polarisatorischen")  Nach- 
ströme an  „Kernleitern"  geltend,  mit  denen  sich  andererseits  die 
„irritativen",  auf  die  polaren  Erregungserscheinungen  und  speciell  die 
OefFnungserregung  zu  beziehenden  Nachströme  combiniren  sollen.  Da, 
wie  früher  gezeigt  wurde,  die  letzteren  allein  zur  Erklärung  aller 
secundär-elektromotorischen  Wirkungen  am  Muskel  vollkommen  aus- 
reichend scheinen,  so  darf  dies  wohl  auch  für  den  Nerven  als  das 
von  vornherein  Wahrscheinlichste  gelten.  Doch  werden  weitere  Unter- 
suchungen erforderlich  sein,  ehe  sich  hierüber  ein  endgültiges  Urtheil 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  709 

fällen  lässt.  Jedenfalls  aber  beruht  der  dem  polarisirenden  entgegen- 
gesetzte ,  extrapolare ,  anodisehe  Nachstrom  auf  der  vom  Pole  nach 
aussen  allmählich  abnehmenden  Negativität,  welche  als  galvanische 
Folge  der  Oeffnungserregung  entsteht,  und  ebenso  würde  auch  der 
gleichsinnige  extrapolare,  kathodische  Nachstrora  als  „irritativer"  ge- 
deutet werden  können,  wenn  man  analog  wie  beim  Muskel  die 
wiederum  nach  aussen  vom  Pole  abnehmende  Negativität  als  Nach- 
wirkung der  vorausgehenden  Erregung  auffasst,  die  sich  natürlich  beim 
markhaltigen  Nerven  so  weit  erstrecken  muss,  als  Austrittsstellen  von 
Stromfäden  vorhanden  sind. 

Es  bleiben  jetzt  nur  noch  die  Gründe  zu  erörtern,  welche  insbe- 
sondere G r ü t z n e r  und  Tiger stedt  (48)  für  die  von  ihnen  vertretene 
Annahme  geltend  machten,  dass  gewisse  Formen,  ja  vielleicht  alle 
Oeffnungszuckungen  durch  den  negativen  Polarisationsstrom  verursachte 
Schliessungszuckungen  sind.  Mit  Rücksicht  auf  das  früher  Gesagte 
ist  leicht  ersichtlich,  wie  dieser  Strom  bei  genügender  Stärke  in  der 
That  dieselbe  Rolle  in  der  Continuität  des  Nerven  spielen  könnte, 
wie  der  Demarcationsstrom  am  Querschnittsende,  d.  h.  eventuell  zur 
Entstehung  scheinbarer  Oeffnungszuckungen  führen  wird. 

In  der  That  versuchte  denn  auch  schon  Peltier,  welcher  im 
Jahre  1836  die  negative  Polarisation  durchströmter  Froschgliedmaassen 
zuerst  beobachtete,  und  dessen  Untersuchungen  den  Ausgangspunkt 
der  diesbezüglichen  Arbeiten  von  Du  Bois-Reymond  bildeten,  die 
OefFnungszuckung  durch  den  Polarisationsstrom  zu  erklären.  Indess 
machte  bereits  Du  Bois-Reymond  gegen  diese  Auffassung  den 
Umstand  geltend,  dass  doch  „diese  Ladungen,  um  einen  Strom  durch 
den  Nerven  hervorzubringen,  allem  Anschein  nach  eine  geschlossene 
Kette  brauchen  dürften,  diese  Bedingung  aber  eben  durch  das  Oeffnen 
verloren  geht".  (23,  I,  p.  381.)  Auch  Matteucci  schloss  sich  der 
Meinung  Peltier's  an,  dass  durch  die  (negative)  Polarisirbarkeit  des 
Nerven  die  Erscheinung  der  Oeffnungszuckung  erklärt  werden  könne, 
ohne  jedoch  beweisende  Thatsachen  beizubringen  (47). 

Was  den  eben  berührten  Einwand  Du  Bois-Reymond 's  be- 
trifft, so  hat  derselbe  seither  an  Bedeutung  verloren,  indem  erfahrungs- 
gemäss  feststeht,  dass  die  im  Muskel  und  ebenso  im  Nerven  statt- 
findende innere  Abgleichung  eines  Demarcationsstromes  zur  Auslösung 
scheinbarer  Oeffnungszuckungen  durchaus  hinreicht.  Unter  der  Vor- 
aussetzung genügender  Intensität  wird  man  daher  ein  Gleiches  auch 
hinsichtlich  des  durch  den  Reizstrom  erzeugten  negativen  Polarisations- 
stromes erwarten  dürfen,  und  es  kam  nur  darauf  an,  auf  experimen- 
tellem Wege  zu  beweisen,  dass  gewisse  Oeffnungszuckungen  wirklich 
in  der  angedeuteten  Weise  zu  Stande  kommen. 

Grützner  (1.  c.)  stellte  Versuche  an  mit  Rücksicht  darauf,  ob 
es  nicht  etwa  gelingen  würde,  Unterschiede  hinsichtlich  des  Auftretens 
der  Oeffnungszuckung  bei  indirecter  Muskelreizung  zu  constatiren,  je 
nachdem  dem  polarisatorischen  Gegenstrom  Gelegenheit  geboten  wird, 
sich  im  Momente  der  Oeflfnung  des  Reizstromes  durch  eine  äussere 
gut  leitende  Nebenschliessung  abzugleichen,  oder  wenn  eine  solche  fehlt 
und  nur  die  innere  Abgleichung  im  Nerven  selbst  möglich  ist.  In  der 
That  zeigte  sich  nun ,  dass  sich ,  insbesondere  bei  Anwendung  me- 
tallischer Elektroden,  immer  ein  Unterschied  im  Sinne  der  theoretischen 
Voraussetzung  bemerkbar  machte,  indem  die  OefFnungszuckung  viel 
früher    (d.  h.   bei    schwächerem  Reizstrom)    auftrat    oder    stärker   war, 


710  Die  elektroinotorisclieu  Wirkungen  der  Nerven. 

wenn  eine  äussere  Nebenschliessung  für  den  Polarisationsstrom  vor- 
handen war,  als  im  andern  Falle.  Auch  Hermann  theilt  analoge 
Versuche  mit,  welche  er  bereits  1875/76  mit  gleichem  Erfolge  ange- 
stellt hatte,  deren  Ergebnisse  jedoch  damals  nicht  veröffentlicht  wurden. 

Es  geht  aus  diesen  Thatsachen  hervor,  dass  der  polarisato- 
rische  Gegen  ström  unter  den  gegebenen  Bedingungen 
bei  der  Auslösung  der  Oeffnungszuckung  mitbetheiligt 
ist,  wenn  sich  auch  keineswegs  daraus  schliessen  lässt, 
dass  er  dieselbe  unter  allen  Umständen  allein  bedingt. 
Dieser  Schluss  scheint  jedoch  Grützner  und  Tigerstedt  haupt- 
sächlich durch  den  Umstand  gerechtfertigt,  dass  alle  jene  Momente, 
welche  das  Entstehen,  beziehungsweise  die  Zunahme  eines  negativen 
Polarisationsstromes  begünstigen,  auch  das  Auftreten  der  Oeffnungs- 
zuckung befördern. 

Der  normale,  lebensfrische  und  unversehrte  Nerv  zeichnet  sich, 
wie  früher  bereits  bemerkt  wurde,  durch  eine  gewisse  Resistenz  gegen- 
über der  Erregung  durch  Oeffnung  eines  elektrischen  Stromes  aus, 
so  dass  es  meist  ziemlich  starker  Kettenströme  bedarf,  um  nach  kurzer 
Schliessungsdauer  Oeffnungszuckungen  auszulösen.  Wenn  jedoch  durch 
einen  hierzu  genügend  starken  Strom  einmal  eine  Oeffnungszuckung 
ausgelöst  wurde,  wirkt,  wie  oben  gezeigt  wurde  (p.  594),  unmittelbar 
nachher  auch  das  Verschwinden  vorher  nur  bei  Schliessung  wirksamer, 
schwacher  Ströme  erregend,  vorausgesetzt,  dass  in  beiden  Fällen  die- 
selbe Nervenstrecke  vom  Strome  durchflössen  wird.  Nach  kurzer 
Zeit  der  Ruhe  verschwindet  dieser  Reizerfolg  wieder  vollständig. 
Nach  Grützner  und  Tigerstedt  würde  nun  dieses  Verhalten  so 
zu  deuten  sein,  dass  der  durch  den  stärkeren  Strom  in  der  durch- 
flossenen  Strecke  erzeugte,  nach  Oeffnung  des  Reizstromes  allmählich 
abklingende,  negative  Polarisationsstrom  dieselbe  während  seines  Be- 
stehens für  Auslösung  „scheinbarer"  Oeffnungszuckungen  disponirt, 
wobei  natürlich  die  Abgleichung  des  Polarisationsstromes  bei  der  ge- 
wöhnlichen Art  und  Weise,  den  Reizstrom  zu  öffnen,  lediglich  eine 
innere,  im  Nerven  selbst  stattfindende  sein  kann. 

Tigerstedt  gelangte  bei  seinen  Untersuchungen  über  den  zeit- 
lichen Verlauf  der  negativen  Polarisation  von  Froschnerven,  sowie 
über  deren  Abhängigkeit  von  Intensität  und  Schliessungsdauer  des 
Reizstromes  zu  folgenden  Resultaten: 

1.  Innerhalb  gewisser  Grenzen  der  Stromstärke  ist  die  (negative) 
Polarisation  des  Nerven  der  Stärke  des  Reizstromes  direct 
proportional. 

2.  Wenn  der  polarisirende  Strom  während  ungleich  langer  Zeit 
auf  den  Nerven  einwirkt,  so  nimmt  die  Polarisation  zu ;  dieselbe 
steigt  im  Beginn  schneller  und  später  immer  langsamer,  schliess- 
lich äusserst  langsam  ihrem  Maximum  sich  nähernd. 

3.  Wenn  der  polarisirende  Strom  geöffnet  wird,  erreicht  die  Po- 
larisation augenblicklich  ihren  höchsten  Werth  und  sinkt  dar- 
nach unaufhörlich  herab;  dieses  Herabsinken  geschieht  im 
Beginn  sehr  schnell,  später  aber  immer  langsamer,  so  dass  die 
Polarisation  noch  lange  Zeit  nach  dem  Oeffnen  des  polarisiren- 
den  Stromes  anhält  und  nur  assymptotisch  dem  Nullpunkte  sich 
nähert. 

In  allen  di-ei  Punkten  zeigt  aber  auch  die  Oeffnungszuckung  Ueber- 
einstimmuns"   mit  dem  negativen  Polarisationsstrom.     Oben  wurde  die 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  711 

Thatsache  besprochen,  dass  durch  Einwirkung  verdünnter  Lösungen  von 
Kalisalzen  oder  alkoholischer  Kochsalzlösung  motorische  Froschnerven 
derart  verändert  werden,  dass  in  einem  gewissen  Stadium  selbst  sehr 
schwache  Kettenströme  nach  ganz  kurzer  Schliessungszeit  Oeffnungs- 
zuckungen  vom  Charakter  der  Querschnittsöffnungszuckungen  auslösen, 
und  dass  diese  Veränderung  durch  Auslaugen  der  betreffenden  Sub- 
stanzen wieder  vollständig  beseitigt  werden  kann. 

Tiger stedt  fand  nun,  dass  auch  „die  (negative)  Polarisirbarkeit 
des  Nerven  bei  Behandlung  mit  alkoholischer  Kochsalzlösung  steigt  bis 
zu  1,5 mal  ihrer  ursprünglichen  Stärke",  und  erblickt  in  diesem  Um- 
stände eine  weitere  Stütze  für  die  Auffassung  der  betreffenden  Oeff- 
nungszuckungen  als  durch  den  negativen  Polarisationsstrom  bedingter 
Schliessungszuckungen.  Endlich  wäre  nach  Tigerstedt  auch  das 
frühere  Auftreten  der  Oeffnungszuckung  bei  Reizung  des  durchschnit- 
tenen Plexus  ischiadicus  gegenüber  der  Reizung  peripherer  Nerven- 
stellen, welches  ich  und  Grützner  beobachteten,  auf  eine  leichtere 
Polarisirbarkeit  des  betreffenden  Nervenabschnittes  zurückzuführen. 
Indess  dürfte  doch  wohl  der  Demareationsstrom  die  Hauptrolle  spielen. 
Wenn  man  die  Gesammtheit  der  angeführten  Thatsachen  überblickt, 
so  kann  es  kaum  zweifelhaft  sein,  dass  in  der  That  gewisse  Formen 
von  Oeffnungszuckungen  als  durch  den  negativen  Polarisationsstrom  be- 
dingte Schliessungszuckungen  zu  deuten  sind.  Für  eine  so  weitgehende 
Verallgemeinerung  jedoch,  wie  sie  von  Tigerstedt  und  ganz  neuer- 
dings von  Hoorweg  (49)  statuirt  wurde,  wonach  „die  Ursache  der 
Oeffnungserregung  und  aller  beim  Oeffnen  eines  polarisirenden  Stromes 
stattfindenden  Erscheinungen  der  (negative)  Polarisationsstrom  und  in 
gewissen  Ausnahmen  der  Nerven- (Muskel-)  Strom  ist",  liegt  keinerlei 
Berechtigung  vor.  Es  spricht  dagegen  vor  Allem  auch  der  Umstand, 
dass,  wie  besonders  Hermann  hervorgehoben  hat,  Oeffnungs- 
zuckungen auch  bei  blosser  Verminderung  des  Stromes  (bei  negativen 
Intensitätssch wankungen)  auftreten,  in  welchem  Falle  ein  Polarisations- 
strom überhaupt  nicht  zu  Stande  kommt,  indem  die  Anode  nie  zur 
Kathode  werden  kann,  wenn  die  Verminderung  weniger  als  die  Hälfte 
beträgt. 

Noch  von  einem  anderen  Gesichtspunkte  aus,  als  dem,  der  im 
Vorhergehenden  geltend  gemacht  wurde,  schien  es  möglich,  der  Frage 
näher  zu  treten,  ob  die  elektrotonischen  Zuwachsströme  lediglich  auf 
physikalischer  Stromschleifenbildung  beruhen  oder  durch  physiologische 
Zustandsänderungen  der  Nervensubstanz  bedingt  sind.  Einen  Finger- 
zeig für  die  Beurtheilung  schien  die  Untersuchung  der  Frage  liefern 
zu  können,  wie  sich  die  Elektrotonusströme  bei  der  Erregung  des 
Nerven ,  resp.  wie  sich  die  Actionsströme  im  elektrotonisirten  Nerven 
verhalten.  Die  ersten  diesbezüglichen  Angaben  verdanken  wir  Bern- 
stein (50). 

Derselbe  begann  mit  der  Untersuchung  der  Veränderungen,  welche 
die  negative  Schwankung  des  Demarcationsstromes  erleidet,  wenn 
gleichzeitig  eine  Strecke  des  Nerven  ober-  oder  unterhalb  der  Reiz- 
strecke von  einem  Kettenstrom  durchflössen  wird.  Ist  dieser  zunächst 
sehr  schwach,  und  liegen  die  polarisirenden  Elektroden  so  entfernt  von 
dem  abgeleiteten  Querschnittsende,  dass  eine  merkliche  Einmischung 
elektrotonischer  Ströme  zunächst  ausgeschlossen  erscheint,  so  beobachtet 
man,  wenn  sich  die  mit  der  secundären  Spirale  eines  Inductions- 
apparates    verbundenen  Reizelektroden    zwischen   der  polarisirten    und 


712  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

der  abgeleiteten  Nervenstrecke  befinden  („infrapolar"  liegen),  regel- 
mässig eine  Verstärkung  der  negativen  Schwankung  bei  absteigender, 
eine  Schwächung  bei  aufsteigender  Richtung.  Umgekehrt  verhält 
sich  der  Erfolg  bei  Reizung  oberhalb  des  polarisirten  Nerven- 
abschnittes. 

Wie  man  sieht,  stimmen  diese  Ergebnisse  im  Wesentlichen  mit 
den  durch  Pflüger  bekannt  gewordenen  elektrotonischen  Erregbar- 
keitsänderungen überein ,  indem  ja  in  der  That  nur  an  Stelle  des 
normalen  Index  der  Erregung  des  Muskels  das  Galvanometer  getreten 
ist.  Rückt  man  aber  dann  die  polarisirenden  Elektroden  dem  abge- 
leiteten Querschnittsende  näher,  so  dass  die  elektrotonischen  Spannungs- 
difFerenzen  erst  nur  schwach,  dann  immer  stärker  merklich  werden 
und  daher  je  nach  der  Richtung  des  polarisirenden  Stromes  den 
Demarcationsstrom  entweder  schwächen  (in  der  negativen  Phase)  oder 
verstärken  (positive  Phase),  so  zeigt  sich  bei  infrapolarer  tetanisirender 
Reizung  eine  deutliche  Abnahme  der  negativen  Schwankung  in  der 
negativen,  durch  den  absteigenden  Strom  erzeugten,  ein  Anwachsen 
dagegen  in  der  positiven  Phase  des  Elektrotonus  bei  aufsteigender 
Stromesrichtung.  Ersterenfalls  kann  die  negative  Schwankung,  wenn 
die  Stärke  des  polarisirenden  Stromes  eine  gewisse  Grenze  über- 
schreitet, gleich  Null  werden,  ja  sogar  ihr  Zeichen  ändern.  Das  erstere 
ist  immer  dann  der  Fall,  wenn  in  der  negativen  Phase  der  Demarca- 
tionsstrom ganz  verschwindet.  Tritt  dagegen  an  seine  Stelle  ein  ver- 
kehrter Strom,  so  nimmt  die  Spannungsdifferenz  während  der  Reizung 
im  gleichen  Sinne  zu.  Es  ergiebt  sich  daher  „eine  sehr  deutliche 
Abhängigkeit  der  negativen  Schwankung  von  der  Stärke  und  Richtung 
der  eintretenden  elektrotonischen  Phase.  Verstärkt  dieselbe  den 
Nervenstrom,  so  wächst  auch  die  negative  Schwankung;  schwächt  sie 
ihn,  so  nimmt  diese  ab,  und  die  negative  Schwankung  wird  Null, 
sobald  in  der  negativen  Phase  der  abgeleitete  Strom  ganz  verschwindet. 
Die  bei  der  Reizung  eintretende  Schwankung  ist  also  stets  negativ 
gegen  das  Vorzeichen  des  abgeleiteten  Nervenstromes."  Man  sieht 
leicht,  dass  sich,  wie  Bernstein  bemerkt,  diese  Resultate  einfach 
aus  der  Annahme  erklären  Hessen,  „dass  der  im  elektrotonischen  Zu- 
stande vom  Nerven  abgeleitete  Strom  sich  verhalte  wie  ein  gewöhn- 
licher Nerven-(Demarcations-)Strom.  Je  schwächer  er  wird,  desto 
schwächer  seine  negative  Schwankung  und  umgekehrt.  Gleichzeitig 
verschwindet  sie  mit  ihm  ebenso,  Avie  die  negative  Schwankung  ver- 
schwindet, wenn  man  von  zwei  symmetrischen  Punkten  eines  nicht 
polarisirten  Nerven  ableitet,  und  sie  nimmt  mit  der  Umkehr  des 
Stromes  auch  das  umgekehrte  Vorzeichen  an"  (1.  c.  p.  622). 

In  der  That  hat  Bernstein  durch  weitere  Versuche,  bei  welchen 
die  Reizung  suprapolar,  sowie  andere,  wo  in  der  Continuität  des 
Nerven,  von  zwei  Längsschnittpunkten  abgeleitet  wurde,  über  jeden 
Zweifel  festgestellt,  dass  die  elektrotonischen  Zuwachsströme 
sich  bei  der  Erregung  mark  haltiger  Nerven  ganz  ebenso 
verhalten,  wie  der  gewöhnliche  Demarcationsstrom.  Am 
klarsten  ergiebt  sich  dies  bei  einer  Vei'suchsordnung,  wo  die  polari- 
sirenden und  die  Reizelektroden  an  je  einem  Ende  eines  möglichst 
langen  Nerven  angebracht  sind ,  während  von  zwei  Punkten  der 
Zwischenstrecke  abgeleitet  wird.  Da  in  diesem  Falle  weder  die 
elektrotonischen  Veränderungen  die  Reizstelle,  noch  auch  die  Erregung 
die  polarisirte  Strecke  zu  passiren  braucht,  um  den  ableitenden  Bogen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  713 

ZU  erreichen,  so  lässt  sich  der  Einfluss  der  Reizung  auf  die  Elektro- 
tonusströme  ganz  rein  untersuchen.  Während  Bernstein  die  be- 
obachteten Erscheinungen  aus  einer  durch  die  Erregung  bedingten 
Abnahme  der  Kraft  oder  Wirksamkeit  der  angenommenen  elektromo- 
torischen Molekeln  erklären  will,  sieht  sich  Hermann  durch  die  von 
ihm  vertretene  Auffassung  der  galvanischen  Erscheinungen  im  Elektro- 
tonus  veranlasst,  die  beschriebenen  Thatsachen  dahin  zu  deuten ,  dass 
die  negative  Erregungswelle  während  ihres  Ablaufes  durch  den  Nerven 
in  ihrer  Intensität  verändert  wird,  wenn  derselbe  polarisirt  ist;  „und 
zwar  langt  sie  an  einer  Nervenstelle  um  so  stärker  an ,  je  stärker 
positiv  und  je  schwächer  negativ  die  letztere  polarisirt  ist,  d.  h.  sie 
wächst ,  wenn  sie  nach  in  algebraischem  Sinne  positiveren ,  und  sie 
nimmt  ab,  wenn  sie  nach  negativeren  Stellen  vorschreitet."  (Her- 
mann's  Satz  vom  „polarisatorischen  Incremen  t"  der 
Erregung.) 


Theoretisches. 

Obgleich  es  zur  Zeit  noch  kaum  möglich  ist,  eine  alle  Erscheinungen 
umfassende  Theorie  der  elektrischen  Erregung  aufzustellen,  erscheint 
es  doch  zweckmässig,  auf  Grund  der  vorliegenden  Erfahrungen,  die 
sich  auf  eine  grosse  Summe  von  Einzelbeobachtungen  stützen,  den 
Versuch  zu  wagen,  einige  allgemeine  Gesichtspunkte  aufzustellen,  von 
denen  aus  ein  gewisser  Ueberblick  des  ganzen  grossen  Gebietes 
ermöglicht  wird.  Dass  es  sich  zur  Zeit  dabei  nur  um  eine  ganz  all- 
gemeine Orientirung  handeln  kann,  erscheint  bei  dem  gegenwärtigen 
Stande  unseres  Wissens  fast  selbstverständlich,  und  man  kann  viel- 
leicht berechtigter  Weise  sagen,  dass  hier  wie  auf  anderen  Gebieten 
der  Physiologie  die  endgültige  Erklärung  der  Thatsachen  in  weitere 
Ferne  gerückt  ist,  als  es  noch  vor  nicht  zu  langer  Zeit  den  Anschein 
hatte.  Hatten  doch  die  glänzenden  Leistungen  DuBois-Reymond's 
seiner  Zeit  die  Hoffnung  erweckt  und  bei  Vielen  vielleicht  sogar  die 
Ueberzeugung  befestigt,  dass  durch  die  mit  so  grossem  Scharfsinn 
ersonnene  und  mit  so  bewundernswerther  Consequenz  durchgeführte 
Molekulartheorie  ein  wirkliches  physikalisches  Verständniss  aller 
Erscheinungen  der  Nerven-  und  Muskelthätigkeit  angebahnt  sei,  obwohl 
es  ja  von  vornherein  klar  war,  dass  chemische  Vorgänge  dabei 
eine  nicht  minder  bedeutsame  Rolle  spielen.  Allein  so  sehr  hatte 
unter  dem  überwältigenden  Eindruck  der  durch  rein  physikalische 
Methoden  errungenen  Erfolge  der  Experimentalphysiologie  die  erstere 
Anschauung  das  Ueberge wicht  erhalten,  dass  man  keinen  Anstand 
nahm,  Muskeln  und  Nerven  mit  todten,  anorganischen  Körpern  in  eine 
Parallele  zu  stellen.  Dem  gegenüber  muss  es  als  ein  Avesentlicher 
Fortschritt  bezeichnet  werden,  wenn  in  neuerer  Zeit  die  Mehrzahl  der 
Forscher  die  chemische  Seite  der  Lebensvorgänge  in  den  Vorder- 
grund stellt  oder  doch  wenigstens  als  den  physikalischen  Processen 
gleichberechtigt  anerkennt.  Zwar  hat  schon  Du  Bois-Reymond 
später  die  elektromotorischen  Molekeln,  aus  welchen  sich  seiner  Ansicht 
zu  Folge  Nerven  und  Muskeln  aufbauen  sollten,  als  in  bestimmter  Weise 
orientirte  Herde  einer  lebhaften  chemischen  Thätigkeit  bezeichnet 
und  Bernstein,  auf  dessen    diesbezügliche  Anschauungen  wir   noch 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  46 


714  Die  elektromotoi'isclien  Wirkungen  der  Nerven. 

zurückkommen,  folgte  ihm  hierin;  dem  ungeachtet  aber  wurde  bei 
Beurtheilung  der  Bedeutung  dieser  hypothetischen  Molekularstructur 
für  die  Lebensvorgänge  und  speciell  die  elektromotorischen  Verände- 
rungen bei  der  Thätigkeit  der  Nerven  und  Muskeln  das  Schwergewicht 
nicht  in  die  damit  verknüpften  Aenderungen  der  chemischen  Con- 
stitution, sondern  in  physikalisch  verursachte  Lageänderungen  jener 
Molekel  verlegt.  Du  Bois-Reymond  selbst  hat  es  übrigens 
niemals  versucht,  seine  Theorie  auch  zur  Erklärung  der  Erregung 
selbst  und  der  Fortleitung  vom  Orte  der  directen  Reizung  zu  benutzen ; 
er  liess  es  sich  vielmehr  genügen,  die  begleitenden  galvanischen  Er- 
scheinungen daraus  herzuleiten,  und  warnte  ausdrücklich  davor,  die 
„säulenartige  Polarisation"  des  Nerven,  in  welcher  er  das  Wesen  des 
Elektrotonus  erblickte,  „für  einerlei  halten  zu  wollen  mit  dem  Bewegung 
und  Empfindung  vermittelnden  Vorgang"  (23  p.  385).  Dem  un- 
geachtet hat  es  nicht  an  Versuchen  gefehlt,  in  dieser  Beziehung  über 
den  Begründer  der  Molekulartheorie  weit  hinauszugehen,  und  es  ist 
von  grossem  Interesse  und  sehr  bezeichnend  für  die  vor  noch  nicht 
allzulanger  Zeit  in  der  Physiologie  vorherrschende,  physikalische  Be- 
trachtungsweise, die  Anschauungen  kennen  zu  lernen,  welche  in  der 
Folge  unter  Zugrundelegung  der  Molekularhypothese  über  das  Wesen 
insbesondere  der  elektrischen  Erregung  geäussert  wurden.  In 
Funke's  trefflichem  Lehrbuch  (IL  Auflage  vom  Jahre  1863)  linden 
sich  Band  I  p.  859  folgende  sehr  charakteristische  Ausführungen: 
„Der  erregende  elektrische  Strom  ordnet  die  Nervenmolekeln  zwischen 
den  Elektroden  nach  dem  Schema  der  Säule  dipolar;  die  an  den 
Grenzen  dieser  primär  vom  elektrischen  Strome  dipolar  geordneten 
Schicht  liegenden  Molekeln  drehen  diejenigen  zunächst  ausserhalb  der 
Elektroden  liegenden  Molekeln,  welche  im  Sinne  des  erregenden 
Stromes  verkehrt  gerichtet  sind;  diese  wirken  ebenso  wieder  auf  die 
folgenden  verkehrten  und  so  fort,  bis  sämmtliche  Molekeln  bis  zum 
Nervenende  im  Sinne  der  Säule  geordnet  sind.  Es  geht  also  hieraus 
hervor,  dass  im  Moment  der  Erregung  des  Elektrotonus  in  der  Nerven- 
röhre ein  analoger  Fortpflanzungsvorgang  statthat,  wie  beim  Ablauf 
einer  Welle  längs  eines  mit  Wasser  gefüllten  Grabens.  In  letzterem 
zeigt  uns  die  Physik  eine  successiv  von  der  Erregungsstelle  der  Welle 
nach  dem  Ende  des  Grabens  zu  mit  gewisser  Geschwindigkeit  fort- 
schreitende Verrückung  der  einzelnen  Flüssigkeitstheilchen,  im  Nerven 
finden  wir  eine  von  der  erregten  Stelle  successiv  nach  beiden  Enden 
fortschreitende  Lageveränderung  der  Molekeln,  in  Folge  der  elektrischen 
Fernwirkung  jeder  Molekel  auf  ihre  Nachbarn.  Die  Fortpflanzung 
dieser  Molekularbewegung  geschieht  wie  bei  der  Wasserwelle  mit  ver- 
hältnissmässig  geringer,  genau  gemessener  Geschwindigkeit.  Ein 
gewissermaassen  der  negativen  Welle  entsprechender  mechanischer 
Fortpflanzungsvorgang  findet  in  der  Nervenröhre  im  Moment  der  Be- 
endigung des  Elektrotonus  statt.  Sowie  der  erregende  Strom  geöffnet 
wird,  kehren  zunächst  die  zwischen  den  Elektroden  befindlichen  Mo- 
lekel vermöge  einer  unbekannten  richtenden  Kraft  in  die  peripolare 
Anordnung  zurück;  damit  verschwindet  der  richtende  Einfluss  dieser 
auf  die  ausserhalb  gelegenen  Nachbarn,  es  kehren  auch  diese  in  die 
peripolare  Anordnung  zurück ,  eben  dadurch  auch  die  folgenden  und 
so  fort  bis  zum  Nervenende.  Die  Drehung  der  Molekel  beim  Schluss 
des  Elektrotonus  (Oefi^nung  des  Stromes)  ist  die  entgegengesetzte,  wie 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  715 

die  im  Beginn  stattfindende,  die  Richtung  der  Fortpflanzung  ist 
dieselbe,  analog  den  Verhältnissen  der  positiven  und  negativen 
Wasserwelle.  Nun  haben  wir  oben  gesehen,  dass  der  Beginn 
und  das  Ende  des  Elektrotonus ,  die  Schliessung  und  Oeftnung 
des  erregenden  Stromes,  von  einer  Zuckung  des  mit  dem  Nerven 
verbundenen  Muskels  begleitet  sind,  dass  also  die  Muskelzuckung, 
welche  der  in  den  Muskelenden  des  Nerven  ankommende  Erregungs- 
zustand verursacht,  in  den  beiden  Momenten  stattfindet,  in  welchen 
die  successiv  fortschreitende  Lagenveränderung  der  Nervenmole- 
keln die  Molekeln  jener  Muskelenden  erreicht.  Ferner  ist  oben  er- 
wiesen, dass  eine  Muskelzuckung  jede  plötzliche  Dichtigkeitsver- 
änderung des  erregenden  Stromes  begleitet;  auch  hier  fällt,  wie  sich 
leicht  zeigen  lässt,  die  Zuckung,  welche  den  Erregungszustand  be- 
kundet, mit  einer  successiv  im  Nerven  von  Molekel  zu  Molekel  bis 
zum  Muskel  fortgepflanzten  Bewegung  derselben  zusammen.  Es  ist 
nämlich  die  säulenartige  Anordnung  im  Elektrotonus  keine  ganz  voll- 
ständige, d.  h,  also,  die  im  Sinne  der  Säule  verkehrt  gerichteten 
Molekeln  werden  nicht  ganz  um  180°,  sondern  nur  um  verschieden 
grosse  Bruchtheile  des  Halbkreises  gedreht.  Die  Grösse  dieser 
Drehung  hängt,  ausser  von  anderen  Umständen,  hauptsächlich  von  der 
Dichtigkeit  des  erregenden  Stromes  ab.  Vermehren  wir  also  diese 
Dichtigkeit  plötzlich  um  eine  gewisse  Grösse,  so  wird  ebenso  plötzlich 
der  Reihe  nach  jede  Molekel,  jede  von  der  Nachbarin  gerichtet,  um 
ein  Stück  weiter  gedreht;  umgekehrt  dreht  sich  jede  Molekel  ein  Stück 
zurück  bei  momentaner  Verminderung  der  Stromdichte.  Diese  successiv 
fortschreitende  partielle  Drehung  der  bereits  aus  der  peripolaren  An- 
ordnung abgelenkten  Molekeln  ist  ebenso  wie  die  ursprüngliche 
Drehung  im  Beginn  des  Elektrotonus  von  Muskelzuckung  begleitet, 
während  keine  Muskelzuckung  stattfindet,  solange  die  Molekeln  ruhen, 
gleichviel,  ob  in  peripolarer  oder  mehr  oder  weniger  dipolarer  Anordnung, 
oder  sobald  die  Drehung  der  einzelnen  Molekeln  allmählich  in  grösseren 
Zeiträumen  erfolgt,  wie  dies  bei  allmählicher  Vermehrung  oder  Ver- 
minderung der  Stromdichte  der  Fall  ist.  Je  beträchtlicher  die  von 
Nachbarin  zu  Nachbarin  mitgetheilte  momentane  Drehung,  desto 
beträchtlicher  die  durch  den  Grad  der  Muskelzuckung  ausgedrückte 
Grösse  des  Erregungszustandes." 

„Ein  anhaltender,  scheinbar  stetiger  Erregungszustand  des  Nerven 
wird  durch  einen  in  kurzen  Zwischenräumen  unterbrochenen  Strom  (ent- 
weder durch  gleichgerichtete  oder  abwechselnde  entgegengesetzt-gerich- 
tete  Schläge)  erzeugt;  hierbei  müssen  wir  uns  vorstellen,  dass  jedes 
dieser  kurzen  Strömchen  bei  seinem  Anfange  und  Ende  von  Bewegungen 
der  Nervenmolekeln  begleitet  ist,  dass  demnach  während  des  elektrischen 
Tetanisirens  die  Nervenmolekeln  in  schneller  Aufeinanderfolge  Drehungen 
in  verschiedenem  Sinne  erleiden.  Unter  allen  diesen  Umständen  also 
fallen  in  dem  auf  elektrischem  Wege  gereizten  Nerven  fortgepflanzte  Be- 
wegungen der  elektromotoi'ischen  Molekeln  und  Erregungszustand  genau 
zusammen;  keines  zeigt  sich  ohne  das  andere,  keines  überdauert  das 
andere.  Es  müssen  daher  beide  im  innigsten  Zusammenhange  stehen, 
oder  beide  sind  identisch,  d.  h.  der  fortgepflanzte  Erregungs- 
zustand besteht  in  der  fortgepflanzten  Bewegung  der 
elektromotorischen   Molekeln." 

Die     Schwierigkeiten,     welche     einer     derartigen     schematisclien 

46* 


716  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

und  einseitigen  Anschauungsweise  selbst  in  dem  günstigsten  Falle 
der  Erregung  durch  den  elektrischen  Strom  entgegenstehen  — 
es  sei  nur  an  die  Thatsache  der  raschen  Intensitätsabnahme  der 
elektrotonischen  Wirkungen  mit  der  Entfernung  von  der  Reiz- 
stelle erinnert  — ,  haben  gleichwohl  nicht  abgeschreckt  von  dem 
Versuch,  auch  die  Wirkungsweise  anderer  Reize  nach  dem  gleichen 
Princip  zu  deuten.  So  meinte  Eckhardt  den  Erfolg  der  chemischen 
Reizung  des  Nerven  auf  eine  fortgepflanzte  Stellungsänderung  der  ange- 
nommenen Molekeln  beziehen  zu  dürfen,  indem  er  von  der  übrigens 
irrigen  Ansicht  ausging,  dass  die  noth wendige  Bedingung  jeder  nicht 
elektrischen  Reizung  die  momentane  Tödtung  der  gereizten  Nerven- 
strecke sei.  Die  Zerstörung  der  elektromotorischen  Molekeln  in  der 
abgetödteten  Strecke  und  somit  der  Wegfall  ihres  richtenden  Ein- 
flusses auf  die  unversehrt  gebliebenen  Nachbarn  sollte  nun  diese 
veranlassen,  neue  Stellungen  einzunehmen  und  so  Ursache  einer  sich 
fortpflanzenden  Lageänderung  aller  folgenden  Molekeln  werden. 

Aber  auch  die  vorhin  entwickelte  einfache  Molekulartheorie  der 
elektrischen  Erregung  erwies  sich  sofort  gänzlich  unhaltbar,  als 
der  Satz  von  der  ausschliesslich  polaren  Erregung  irritabler  Substanzen 
als  ein  allgemein  gültiges  Gesetz  anerkannt  werden  musste.  Der 
insbesondere  von  Pflüger  gelieferte  Nachweis,  dass  im  Bereich  der 
beiden  Pole  eines  dem  Nerven  zugeführten  Kettenstromes  antagonistische 
Zustandsänderungen  Platz  greifen,  die  sich  durch  eine  im  entgegengesetzten 
Sinne  veränderte  Erregbarkeit  kundgeben,  sowie  der  fernere  Nachweis, 
dass  die  Erregung  bei  der  Schliessung  nur  von  der  einen  Elektrode 
(der  Kathode) ,  bei  der  Oeffnung  dagegen  nur  von  der  andern  (der 
Anode)  ausgeht,  lassen  sich,  wie  man  leicht  sieht,  selbst  vom  Stand- 
punkte der  Molekulartheorie  aus  nicht  ohne  Weiteres  mit  der  Vor- 
stellung einer  völligen  Identität  der  fortschreitenden  „säulenartigen" 
Polarisation  und  der  Erregung  vereinen.  Denn  es  ist  durchaus  nicht 
einzusehen,  weshalb  eine  Lageveränderung  der  Molekel  bei  der 
Schliessung  nur  an  der  Kathode,  bei  der  Oeffnung  dagegen  nur  an 
der  Anode  erfolgen  sollte;  vielmehr  würde  jeder  Punkt  der  ganzen 
durchflossenen  Strecke  in  gleicher  Weise  an  der  Auslösung  des  Er- 
regungsvorganges theilnehmen,  da  doch  die  nach  der  Du  Bois'schen 
Elektrotonus-Theorie  vorausgesetzten  primären  Lageänderungen  der 
Molekeln  gleichmässig  zwischen  beiden  Polen  in  der  ganzen  intra- 
polaren Strecke  stattfinden. 

Ohne  directe  Anlehnung  an  die  Du  Bois-Reymond'sche  Mole- 
kulartheorie hat  daher  Pflüg  er  (32)  mit  grossem  Scharfsinn  eine 
Anschauung  entwickelt  und  zu  begründen  versucht,  welche  zwar  eben- 
falls an  die  Vorstellung  eines  molekularen  Aufbaues  der  Nervensub- 
stanz anknüpft  und  die  Erscheinungen  im  Wesentlichen  unter  dem 
Bilde  physikalischer  Aenderiingen  innerhalb  des  Systemes  erläutert, 
aber  sich  andererseits  mit  allen  bis  dahin  bekannten  Erfahrungsthat- 
sachen  in  Uebereinstimmung  befindet.  Ich  werde  mich  im  Folgenden 
hauptsächlich  an  die  klare  und  übersichtliche  Darstellung  halten, 
welche  Funke  (Physiol.,  4.  Aufl.,  I  p.  865  ff".)  von  der  Pflüger'schen 
Theorie  gegeben  hat.  Pflüger  geht  von  der  Vorstellung  aus,  dass 
es  sich  beim  Nerven  —  und  man  müsste  dies  wohl  auf  alle  irritablen 
Substanzen  verallgemeinern  —  um  Molekelcombinationen  handelt, 
„welche    fortwährend    bestrebt   sind,    in    Bewegung   zu   gerathen,    dies 


Die  elektromotorischen  Wirkuntren  der  Nerven. 


717 


aber  nicht  können,  weil  ein  Hinderniss,  eine  M  o  1  e  k  u  1  a  r  h  e  m  m  u  n  g , 
vorhanden  ist.  Da  die  Molekelcorabinationen  des  Systems  ein  fort- 
währendes Bewegungsstreben  haben,  muss  fortwährend  eine  Kraft 
vorhanden  sein,  welche  sie  antreibt.  Da  die  Molekeln  aber  in  Ruhe 
bleiben,  so  muss  die  Kraft,  welche  von  der  Hemmung  herrührt,  jener 
gleich  und  entgegengesetzt  sein."  (Pflüg er,  1.  c.  p.  478.)  Im 
ruhenden  Zustand  des  Nerven  halten  sich  beide,  die  Molekular- 
sjaannung  und  die  Molekularhemmung,  das  Gleichgewicht, 
wobei  die  letztere  durch  bestimmte  Kräfte  in  einer  gegebenen  Lage 
erhalten  und  in  dieselbe  augenblicklich  zurückgeführt  werden  muss, 
wenn  andere  auf  sie  wirkende  Kräfte  sie  daraus  entfernt  haben;  es 
muss  ferner  eine  Verschiebung  dieser  elastischen  Molekularhemmung 
in  doppelter  entgegengesetzter  Richtung  möglich  sein,  und  durch  die 
Verschiebung  in  einer  dieser  Richtungen  müssen  die  Bedingungen 
zur  Entladung  von  Spannkräften  herbeigeführt  werden,  und  zwar  so, 
dass  um  so  mehr  Spannkräfte  in  lebendige  Kraft  umgesetzt  werden, 
je  weiter  die  Hemmung  in  jener  einen  Richtung  verschoben  wird, 
während  die  Verschiebung  in  der  entgegengesetzten  Richtung  umgekehrt 
eine  Anhäufung  von  Spannkräften  bedingt. 

Durch  ein  ausserordentlich  anschauliches  Bild  versinnlicht 
Pflüg  er  den  Auslösungsmechanismus  in  einem  beliebigen  Nervenquer- 
schnitt. Ein  rechtwinklig  gebogener 
Cylinder  ABC  (Fig.  220)  trägt  in 
seinem  horizontalen  Schenkel  A  B 
einen  wasserdichten,  in  der  Richtung 
der  Pfeile  a  h  und  c  d  verschiebbaren 
Kolben  D.  Auf  der  einen  Seite  drückt 
gegen  diesen  Kolben  eine  gespannte 
Stahlfeder,  welche  am  Kolben  befestigt 
ist,  und  sucht  ihn  mit  einer  gewissen 
Kraft  in  der  Richtung  a  h  zu  ver- 
schieben. Auf  der  anderen  Seite  drückt 
gegen  den  Kolben  die  in  den  senk- 
rechten Arm  des  Cylinders  eingegossene 
Flüssigkeit  mit  demjenigen  hydrostati- 
schen Druck,  welcher  der  Höhe  der 
Flüssigkeitssäule  im  senkrechten  Schen- 
kel B  C  entspricht,  und  sucht  den  Kol- 
ben in  der  Richtung  c  d  zu  verschieben. 
Der   Kolben    kommt    offenbar   in    der 

Stellung  zur  Ruhe,  bei  welcher  sich  die  Spannung  der  Feder  und 
der  Druck  der  Flüssigkeitssäule  das  Gleichgewicht  halten.  Hinter 
dem  Kolben  befindet  sich  im  waagrechten  Schenkel  des  Cylinders 
eine  Oeflfnung,  g,  welche  aber  nach  Pflüger  als  Schlitz  in  Form 
einer  Spirale,  deren  höchster  Punkt  dem  Kolben  zunächst  liegt,  zu 
denken  ist.  Vermehren  wir  nun  die  Elasticität  der  Feder,  so  drückt 
sie  stärker  auf  den  Kolben,  schiebt  ihn  weiter  von  der  Oeffnung  g 
weg  und  schiebt  dadurch  mittelbar  die  Flüssigkeit  vor  sich  her,  so 
dass  sie  im  verticalen  Schenkel  höher  steigt,  und  der  hydrostatische 
Druck  wächst.  Vermindert  sich  dagegen  die  Elasticität  der  Feder, 
so  verschiebt  die  Flüssigkeit  den  Kolben  in  der  entgegengesetzten 
Richtung  c  d,  schiebt  ihn  mehr  oder  weniger  weit  über  die  Oeffnung  g 


Fig.  220. 


718  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

hinweg,  so  dass  die  Flüssigkeit  diese  erreicht  und  beim  Ausströmen 
eine  von  der  Fallhöhe  abhängige  lebendige  Kraft  gewinnt.  Mit  dem 
Ausströmen  mindert  sich  der  hydrostatische  Druck  so,  dass  die  Kraft 
der  Feder  allmählich  den  Kolben  wieder  über  die  Oeffnung  verschiebt 
und  das  Ausströmen  beendigt. 

Sehen  wir  nun,  wie  dieser  schematisirte  Mechanismus  das  Ver- 
halten des  lebendigen  Nervenquerschnitts  in  Bezug  auf  Reizung, 
Leitung  und  Erregbarkeit  erklärt,  und  zwar  zunächst  die  Erscheinungen 
und  Gesetze  des  Elektrotonus.  Diese  Erklärung  ergiebt  sich  als  einfache 
Consequenz  der  folgenden,  von  Pflüg  er  aufgestellten  hypothetischen 
Prämisse.  Der  elektrische  Strom,  während  er  eine  Strecke  des  Nerven 
durchfliesst,  verändert  direct  die  Kräfte  der  Molekularhemmung  und 
nur  diese,  während  er  die  Spannkräfte  unmittelbar  ungeändert  lässt. 
Die  vom  Strom  bewirkte  Veränderung  der  Hemmungs- 
kräfte besteht  darin,  dass  er  sie  im  Bereich  des  An  elektrotonus 
vermehrt,  im  Bereich  des  Katelektrotonus  herabsetzt,  also 
die  elastische  Kraft  der  Kolbenfeder  in  allen  Cylindei'schleussen,  welche 
die  anelektrotonisirten  Nervenquerschnitte  repräsentiren,  vermehrt,  in 
allen  katelektrotonisirten  schwächt.  Daraus  folgt  weiter,  dass  im  Be- 
reich des  Anelektrotonus  die  Hemmungen,  d.  h.  die  Kolben  D,  sich 
in  der  Richtung  des  Pfeiles  a  h  verschieben,  wodurch  indirect  auch  die 
Spannkraft,  d.  h.  die  Höhe  der  Flüssigkeitssäule  in  B  C,  Avächst, 
Avährend  im  Bereich  des  Katelektrotonus  umgekehrt  die  Kolben  sich 
in  der  Richtung  c  d  verschieben,  so  dass  die  Spannkraft  indirect  ab- 
nimmt. Ein  positiver  Zuwachs  der  Hemmungskraft  inducirt  also 
indirect  auch  einen  positiven  Zuwachs  der  Spannkraft  und  ebenso 
umgekehrt  ein  negativer  der  einen  Kraft  einen  negativen  der  anderen. 
Bei  dieser  Annahme  ist  die  Herabsetzung  der  Erregbarkeit 
auf  den  anelektrotonisirten  Strecken  und  ihre  Erhöhung  auf 
den  katelektrotonisirten  leicht  begreiflich ;  die  grössere  elastische 
Kraft  der  Hemmungsfedern  im  Gebiet  des  Anelektrotonus  macht  eine 
grössere  Kraft  zur  Zurückdrängung  des  Kolbens  bis  zur  Oeffnung 
der  Cylinderschleusse  nothwendig,  als  im  Normalzustand,  die  ver- 
ringerten Hemmungskräfte  im  Bereich  des  Katelektrotonus  eine 
geringere.  Schwieriger  ist  es  zu  erklären,  erstens,  wie  es  kommt, 
dass  bei  geringer  Stärke  des  polarisirenden  Stromes  eine  von 
einem  beliebigen  Querschnitt  aus  erzeugte  Erregung  sich  durch  kat- 
elektrotonisirte  sowohl  als  anelektrotonisirte  Strecken  in  derselben 
Weise  fortpflanzt,  wie  durch  den  Nerven  im  natürlichen  Zustand 
(was  freilich  thatsächlich  im  strengen  Sinne  wohl  nicht  der  Fall  ist), 
so  dass  also  die  stärkere  Erregung,  welche  oberhalb  eines  aufsteigenden 
Stromes  ausgelöst  wird,  eine  stärkere  Zuckung  als  im  natürlichen  Zu- 
stand bedingt,  obwohl  sie  sich  durch  die  anelektrotonisirten  Strecken, 
welche  bei  directer  Reizung  einen  geringeren  Effect  geben,  fortpflanzen 
muss.  Zweitens  gilt  es,  zu  erklären,  wie  es  kommt,  dass  bei  beträcht- 
lichen Stärken  des  polarisirenden  Stromes  die  anelektrotoni- 
sirten Strecken  auch  die  Leitungsfähigkeit  verlieren. 
Auch  diese  Schwierigkeit  überwindet  Pflüg  er.  Die  Leitung  einer 
von  einem  beliebigen  Querschnitt  ausgelösten  Erregung  kommt  dadurch 
zu  Stande,  dass  die  am  Ort  der  Reizung  ausgelösten  lebendigen  Kräfte 
zur  Verschiebung  der  Molekularhemmung  im  folgenden  Querschnitt, 
die  auf  diese  Weise  im  zweiten  Querschnitt  freigewordenen  lebendigen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nei-ven.  719 

Kräfte  zur  Verschiebung  der  Molekularhemmung  im  nächstfolgenden 
Querschnitt  u.  s.  f.  verwendet  werden.  Nun  sind  die  Molekular- 
hemmungen in  den  anelektrotonisirten  Strecken  in  Folge  der  ver- 
mehrten elastischen  Kräfte  der  Federn  schwerer,  in  den  katelektrotoni- 
sirten  Strecken  leichter  als  im  natürlichen  Zustand  verschiebbar;  die 
Thatsache  der  unveränderten  Leitungsfähigkeit  im  schwachen 
Elektrotonus  bedeutet  demnach,  dass  in  allen  leitenden  Querschnitten 
des  Nerven  die  Grösse  der  Verschiebung  der  Molekularhemmungen 
lediglich  von  der  Grösse  der  am  direct  gereizten  Querschnitt  frei 
werdenden  lebendigen  Kraft  abhängt,  dieser  an  allen  Querschnitten 
proportional  ist,  gleichviel,  ob  die  Verschiebung  der  Hemmungen  er- 
schwert oder  erleichtert  ist.  Das  ist  nur  möglich,  wenn  bei  der 
Uebertragung  der  Erregung  von  Querschnitt  zu  Querschnitt  nicht 
jedesmal  die  ganze  Summe  der  freigewordenen  lebendigen  Kräfte  auf- 
gezehi't,  sondern  nur  ein  so  grosser  aliquoter  Theil  derselben  auf  die 
Verschiebung  der  Molekularhemmung  verwendet  wird ,  als  zur  Er- 
reichung der  durch  die  Reizgrösse  gebotenen  Verschiebungsgrösse 
nothwendig  ist,  ein  gi'össerer  Theil  also  im  Gebiet  des  Anelektrotonus, 
wo  die  Verschiebung  erschwert  ist,  ein  geringerer  im  Gebiete  des 
Katelektrotonus,  wo  die  Verschiebung  erleichtert  ist.  Pflüger  er- 
läutert diese  Hypothese  durch  das  Bild  eines  um  eine  horizontale  Achse 
drehbaren  Rades,  dessen  Drehung  durch  den  stärkeren  oder  geringeren 
Druck  einer  schleifenden  Feder  erschwert  oder  erleichtert  werden 
kann;  dieses  Rad  trägt  am  peripherischen  Ende  einer  horizontal 
liegenden  Speiche  eine  seitlich  hervorragende  horizontale  Schaufel,  auf 
welche  von  oben  ein  dünner  Wasserstrahl  herabfällt,  und  dadurch  das 
Rad  nach  abwärts  dreht,  bis  die  Schaufel  aus  dem  Bereich  des  Wasser- 
strahles gedreht  ist.  Zu  dieser  gleichbleibenden  Grösse  der  Rad- 
drehung wird  ein  um  so  grösserer  Theil  des  herabfallenden  Wasser- 
strahles, also  der  zu  Gebote  stehenden  lebendigen  Kraft,  verbraucht 
werden,  je  stärker  die  Feder  auf  das  Rad  drückt,  je  schwerer  dasselbe 
beweglich  ist.  Die  Ursache,  dass  bei  starkem  Elektrotonus  die  an- 
elektrotonisirten Strecken  ihr  Leitungsvermögen  verlieren,  erklärt  sich 
bei  dieser  Annahme  so,  dass  in  Folge  der  übermässigen  Steigerung 
der  Hemmungskräfte  die  ganze  Summe  der  durch  den  Reiz  ausgelösten 
lebendigen  Kräfte  nicht  mehr  ausreicht,  die  der  Reizgrösse  entsprechende 
Grösse  der  Verschiebung  der  Molekularhemmungen  zu  Stande  zu 
bringen,  ebenso  wie  bei  übermässigem  Druck  der  Feder  gegen  das 
Rad  der  ganze  zu  Gebote  stehende  Wassercylinder  nicht  mehr  aus- 
reicht, die  Schaufel  mit  dem  Rade  aus  seinem  Bereiche  wegzudrehen. 
Das  von  Pflüg  er  erwiesene  Grundgesetz  der  polaren  elektrischen 
Reizung ,  wonach  das  Entstehen  des  Katelektrotonus  die 
Schliessungszuckung,  das  Verschwinden  des  Anelektro- 
tonus die  Oeffnungszuckung  erzeugt,  erklärt  P f  1  ü g e r  folgender- 
maassen  aus  seiner  Theorie.  Der  entstehende  Anelektrotonus  verstärkt 
die  Hemmungskräfte,  verschiebt  daher  den  Kolben  D  unseres  Schemas 
in  der  Richtung  des  Pfeiles  a  h,  entfernt  ihn  von  der  Schleussenöff- 
nung ;  selbstverständlich  kann  dann  keine  Flüssigkeit  aus "  der  Oeff- 
nung  g  ausströmen,  im  Gegentheil,  das  Ausströmen,  d.  h.  die  Um- 
setzung von  Spannkräften  in  lebendige  Kraft,  ist  jetzt  noch  weniger 
möglich,  als  bei  der  vorhergehenden  Ruhelage  der  Hemmung,  es  kann 
also  unmöglich  Reizung  durch  den  Eintritt  des  Anelektrotonus  bedingt 


720  I)'*5  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

sein.  Umgekehrt  verhält  es  sich  im  Bereich  der  Kathode.  Der  ein- 
tretende Katelektrotonus  vermindert  die  Hemmungskräfte,  schwächt 
die  elastische  Kraft  der  Kolbenfedern,  der  Kolben  wird  durch  den 
das  Uebergewicht  gewinnenden  hydrostatischen  Druck  in  der  Richtung 
des  Pfeiles  c  d  verschoben,  die  OefFnung  wird  zum  Ausströmen  von 
Flüssigkeit  freigegeben,  mit  anderen  Worten :  es  entladen  sich  Spann- 
kräfte. Werden  die  mit  der  Entladung  verloren  gehenden  Spannkräfte 
nicht  ersetzt,  so  kann  die  Entladung  nur  eine  momentane  sein;  denn 
mit  dem  Ausströmen  von  Flüssigkeit  wird  der  hydrostatische  Druck 
\n  B  C  geringer,  die  Feder  kann  also  den  Kolben  B  wieder  über  die 
OefFnung  schieben,  daher  nur  momentane  Schliessungszuckung. 
Werden  aber  die  verloren  gehenden  Spannkräfte  immer  wieder  ersetzt, 
so  wird  die  Entladung  derselben  unterhalten,  ebenso  wie  das  Aus- 
strömen von  Flüssigkeit  unterhalten  wird,  wenn  in  den  verticalen 
Schenkel  des  Cylinders  immer  soviel  Flüssigkeit  nachgegossen  wird, 
als  eben  abfliesst,  d.  h.  es  entsteht  Schliessungstetanus.  Entgegen- 
gesetzt gestalten  sich  die  Verhältnisse  bei  der  Oeffnung  des  Stromes. 
Im  Moment  der  OefFnung  kehren  die  vorher  gesteigerten  Hemmungs- 
kräfte im  Gebiete  des  Anelektrotonus  auf  ihr  normales  Maass  zurück ; 
nothAvendiger  Weise  erhalten  daher  die  Spannkräfte  das  Uebergewicht 
und  verschieben  in  ihrem  Sinne,  d.  h.  in  der  Richtung  des  Pfeiles  c  d, 
die  Hemmungen.  Die  zurückweichenden  Hemmungen  werden  aber, 
ebenso  wenig  wie  ein  Pendel,  zur  Ruhe  kommen,  sobald  sie  die  Gleich- 
gewichtslage,  aus  welcher  der  Anelektrotonus  sie  verdrängt  hatte, 
wieder  erreicht  haben,  sondern  werden  ein  Stückchen  über  diese  Lage 
hinausgehen,  so  dass  für  einen  Moment  die  OefFnung  g  dem  Aus- 
strömen von  Flüssigkeit  geöfFnet  wird ;  so  entsteht  die  Oeffnungszuckung. 
Dass  im  Gebiete  des  Katelektrotonus,  wo  im  Momente  der  (JefFnung 
des  Stromes  die  wieder  gestärkten  Kräfte  der  Feder  die  Hem- 
mungen in  der  Richtung  des  Pfeiles  a  b  verschieben,  keine  Spann- 
kräfte frei  werden,  also  auch  keine  Reizung  entstehen  kann,  versteht 
sich  von  selbst.  Auch  die  aus  den  Erscheinungen  des  Zuckungsgesetzes 
gefolgerte  Annahme,  dass  die  Schliessung  eines  gegebenen  Stromes 
stärker  als  die  OefFnung  reizt,  ergiebt  sich  als  natürliche  Folge  der 
Pflüger  '  sehen  Au-slösungshypothese;  denn  wenn  bei  der  Schliessung 
des  Stromes  die  Hemmungen  an  der  Anode  um  ebensoviel  in  der 
Richtung  a  b  als  an  der  Kathode  in  der  Richtung  c  d  verschoben 
werden,  so  können  bei  der  OefFnung  die  Hemmungen  im  Bereich  des 
Anelektrotonus  nicht  um  ebensoviel  über  die  Normallage  hinaus  in 
der  Richtung  c  d  verschoben  werden,  als  die  Hemmungen  im  Bereich 
des  Katelektrotonus  bei  der  Schliessung,  können  also  nicht  ebensoviel 
Spannkräfte  entladen  werden.  Lassen  wir  eine  Reihe  kurz  dauernder, 
schnell  sich  folgender  elektrischer  Ströme  den  Nerven  treffen,  so  ent- 
steht die  scheinbar  continuirliche,  tetanische  Erregung  durch  die 
fortwährend  alternirende  Entladung  von  Spannkräften  an  der  Anode 
und  Kathode  und  wird  so  lange  unterhalten,  als  der  Stoffwechsel  im 
Stande  ist,  die  bei  jedem  Schlag  verloren  gehende  Spannkraft  in  der 
Pause  bis  zum  folgenden  Schlag  wieder  zu  ersetzen.  So  gestaltet  sich 
also  die  Mechanik  des  Zuckungsgesetzes  ganz  einfach  nach  Pf lüger's 
Hypothese. 

Untersuchen    wir    ferner   noch,    wie    sich   die  oben   beschriebenen 
Nachwirkungen    des  constanten  Stromes,    die  sogenannten  Modifi- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  721 

cationen  des  Nerven,  aus  Pflüger' s  Auslosungsliypothese  erklären 
lassen.  Wir  haben  gesehen,  dass  in  der  vorher  anelektrotonischen 
Nervenstrecke  nach  der  Oeffnung  des  Stromes  ein  Zustand  erhöhter 
Erregbarkeit  (positive  Moditication)  eintritt  und  langsam  abklingt. 
Nach  Pflüger  erklärt  sich  dieselbe  durch  die  naheliegende  Annahme, 
dass  der  constante  Strom  durch  seine  Einwirkung  die  Kräfte  der 
Molekül  arhemmung  schwächt,  was  darum  sehr  wahrscheinlich 
ist,  weil  nach  Pflüger 's  Hypothese  der  Strom  während  seines  Be- 
stehens überhaupt  nur  auf  die  Hemmungskräfte,  aber  gar  nicht  direct 
auf  die  Spannkräfte  einwirkt.  Die  nach  der  Oeffnung  geschwächt 
zurückbleibenden  Hemmungskräfte  werden  offenbar  der  Umsetzung 
von  Spannkräften  in  lebendige  Kraft  weniger  Widerstand  entgegen- 
setzen, als  wenn  sie  ihre  normale  Stärke,  welche  ihnen  vor  der  Schlies- 
sung des  Stromes  eigen  war,  wieder  annähmen,  und  so  erklärt  es  sich, 
dass  der  durch  den  Strom  geschwächte  Nerv  sich  erregbarer,  also 
anscheinend  gestärkt  zeigt.  Die  durch  den  Stoffwechsel  allmählich 
herbeigeführte  Restitution  der  normalen  Heramungskraft  erklärt  das 
Abklingen  der  positiven  Modification.  Die  im  Gebiete  des  Katelek- 
trotonus  nach  der  Oeffnung  hervortretende,  kurz  dauernde  negative 
Modification  erklärt  sich  nach  Pflüg  er  aus  einem  momentanen  Mangel 
an  Spannkraft  und  dieser  aus  dem  Umstand,  dass  der  Katelektrotonus, 
wie  wir  oben  sahen,  fortwährend  die  Schleusse  offen  hält,  also  eine 
fortwährende  Verausgabung  von  Spannkraft  bedingt. 

Was  schliesslich  diejenigen  Nachwirkungen  des  polarisirenden 
Stromes  betrifft,  welche  sich  durch  mehr  oder  weniger  anhaltende  Ent- 
ladung von  Spannkräften  kundgeben,  so  hat  Pflüger  gezeigt,  dass 
der  Oeffnungstetanus  im  Gebiete  des  Anelektrotonus  entsteht ;  es  zeigt 
uns  derselbe  also  an,  dass  nach  der  (Jeffnung  des  länger  dauernden 
Stromes  innerhalb  der  vorher  anelektrotonisirten  Strecken  eine  anhal- 
tende Entladung  von  Spannkräften  eintritt.  Denkt  man  sich,  dass 
durch  die  verstärkte  Feder  der  Kolben  vorgeschoben  wurde  und  dass 
durch  den  Zufluss  von  Wasser  in  A  die  Säule  so  hoch  gestiegen  sei, 
dass  der  Kolben  wieder  bis  zum  Schlitz  zurückgeschoben  ist,  so  wird 
sich  eine  bedeutende  Wassermasse  in  Ä  angesammelt  haben.  Nimmt 
nun  plötzlich  die  Elasticität  der  Feder  wieder  ab,  so  drängt  die 
Wassersäule  den  Kolben  weit  zurück ,  und  es  wird  längere  Zeit  eine 
grössere  Wassermenge  abfliessen,  bis  das  Gleichgewicht  wieder  her- 
gestellt ist.     Dieser  Vorgang  entspricht  dem  Oeffnungstetanus. 

Man  sieht,  dass  die  Pflüg  er 'sehe  Theorie  in  der  That  durchaus 
geeignet  ist,  die  wesentlichsten  Erscheinungen  der  elektrischen  Nerven- 
erregung unter  dem  Bilde  eines  complicirten  mechanischen  Schemas 
zu  versinnlichen ;  eine  wirkliche  Erklärung  ist  damit  freilich  nicht 
gewonnen.  Ich  hielt  dem  ungeachtet  eine  ausführlichere  Darlegung 
für  erforderlich,  da  diese  Theorie  in  der  Folgezeit  einen  grossen  und 
tiefgehenden  Einfluss  übte.  Während,  wie  schon  erwähnt.  Pflüg  er 
selbst  seine  Anschauungen  durchaus  unabhängig  von  der  Du  Bois- 
Reym  ond 'sehen  Molekulartheorie  entwickelte,  suchte  später  Bern- 
stein eine  directe  Beziehung  zwischen  beiden  zu  vermitteln  (28  p.  52). 
Die  „Molekularspannung",  d.  h.  die  jedem  Molekül  innewohnende 
Spannkraft,  die  „durch  den  Process  der  Ernährung  fortdauernd  an- 
gehäuft wird",  identificirt  Bernstein  mit  der  elektrischen  Spannung 
der    Du  Bois-Reymond'schen    peripolaren  Molekeln,    die    sich    bei   der 


722  ^iö  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven, 

Erregung  abgleicht,  womit  eine  Bewegung  der  Molekeln  verknüpft  ist. 
„Dem  Bestreben  dieser  letzteren,  ihre  elektrische  Spannkraft  abzu- 
gleichen, wirkt  nun  eine  ihrer  Natur  nach  unbekannte  hemmende 
Kraft  entgegen,  welche  es  verhindert,  dass  im  ruhenden  Zustande  eine 
Bewegung  der  Molekeln  eintritt''  („Molekularhemmung"  Pflüger's). 
Ob  es  sich  dabei  um  Reibung,  elastische  Kraft  oder  Beides  handelt, 
bleibt  dahingestellt;  jedenfalls  aber  sind  Kräfte  im  kSpiele,  „welciie  die 
Bestandtheile  der  Molekeln  (d.  h.  der  peripolaren,  aus  zwei  dipolaren 
zusammengesetzten  Molekeln)  immer  in  der  natürlichen  Lage  zu  er- 
halten streben  und  sie  auch  nach  jeder  Aenderung  wieder  in  dieselbe 
zurückführen".  Jeder  wie  immer  geartete  Reiz  „erschüttert  die  natür- 
liche Lage  der  Molekeln",  wobei  die  Molekularhemmung  durchbrochen 
wird  und  ein  Ausgleich  elektrischer  Spannkraft  eintritt.  Was  speciell 
die  elektrische  Erregung  betrifft,  so  glaubte  Bernstein  die  Ver- 
stärkung der  Molekularhemmung  am  positiven  Pol  und  die  dadurch 
bedingte  geringere  Beweglichkeit  der  Molekeln  (verminderte  Erreg- 
barkeit) daselbst,  sowie  umgekehrt  die  geringere  Hemmung  und  leichtere 
Beweglichkeit  (gesteigerte  Erregbarkeit)  am  negativen  Pol  auf  die 
Anziehung  beziehungsweise  Abstossung  beziehen  zu  dürfen ,  welche 
von  Seite  der  polarisirenden  Elektroden  auf  die  ihnen  zunächst- 
liegenden peripolaren  Molekeln  ausgeübt  wird.  Die  positive  Elek- 
trode soll  dieselben  so  zu  sagen  in  ihrer  Lage  fixiren,  da  die 
negativen  Zonen  dem  Pole  zugewendet  sind,  während  die  Kathode 
sie  durch  Abstossung  der  gleichnamigen  Zonen  beweglicher  macht. 
So  würde  sich  erklären,  weshalb  bei  der  Schliessung  des  Stromes  die 
Erregung  nur  von  der  Kathode  ausgeht;  denn  am  positiven  Pol  werden 
die  Molekeln  in  ihrer  natürlichen  Lage  festgehalten;  „am  negativen 
Pol  dagegen  wird  ihre  Hemmung  geschwächt,  die  vorhandene 
Spannung  erhält  das  Uebergewicht  und  verursacht  eine  Erregung." 
Beim  Oeffnen  der  Kette  sinkt  dagegen  am  positiven  Pol  plötzlich  die 
von  ihm  bewirkte  Hemmung,  und  die  verstärkte  Spannkraft  der 
Molekeln  führt  nun  hier  zu  einer  Entladung  derselben,  die  sich  als 
Erregung  geltend  macht.  In  ähnlicher  Weise  lassen  sich  hiernach 
auch  die  elektrotonischen  Erregbarkeitsänderungen  und  andere  Er- 
scheinungen deuten. 

Der  vor  vielen  Jahren  von  Du  Bois-Reymond  ausgesprochene 
Satz  (Untersuchungen  IL,  1  p.  387),  dass  galvanische  Reizung 
nichts  weiter  ist,  als  die  erste  Stufe  der  Elektrolyse  des 
reizbaren  Gebildes,  darf  vielleicht,  wiewohl  in  einem  etwas  ver- 
schiedenen Sinne,  auch  gegenwärtig  noch  als  die  zutreffendste  theore- 
tische Definition  der  physiologischen  Wirkungsweise  des  Stromes  gelten. 
Es  ist  bemerkenswerth ,  dass  der  erwähnte  Ausspruch  aus  einer  Zeit 
stammt,  wo  das  polare  Erregungsgesetz  noch  unbekannt  war,  durch 
dessen  Nachweis  der  Blick  fast  nnwillkürlich  Avieder  in  dieselbe 
Richtung  gelenkt  werden  musste.  Ganz  direct  äussert  sich  von  Bezold 
in  diesem  Sinne  am  Schlüsse  seiner  ausgedehnten  Untersuchungen 
über  die  elektrische  Erregung  der  Nerven  und  Muskeln.  Er  er- 
blickt in  dem  Umstände,  „dass  der  Molekularvorgang  der  Erregung  in 
so  regelmässiger  Weise  sowohl  bei  der  Schliessung  als  während  des 
Geschlossenseins  und  bei  der  Oeffnung  an  einem  ganz  bestimmten 
Pole  unmittelbar  entsteht  und  nicht  in  der  ganzen  Ausdehnung  der 
unmittelbar    durchflossenen    Strecke",    einen    Hinweis    darauf,     „die 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  723 

erregend e  Wi rkung  des  galvanischen  Stromes  in  den 
chemischen  Einwirkungen  zu  suchen,  welche  der  Strom 
in  dem  von  ihm  durch flossenen  feuchten  Leiter  hervor- 
ruft" (1.  c.  p.  327).  Er  erinnert  an  den  Antagonismus  der  polaren 
Veränderungen,  an  die  Beobachtung  Kühne 's,  dass  eine  vom  Strom 
durchflossene  Muskelstrecke  in  der  Gegend  der  Anode  eine  Gerinnung 
zeigt,  an  der  Kathode  dagegen  eine  Anätzung  erfährt,  sowie  an  die 
Versuche  Jürgensen's  über  die  kathaphorischen  Wirkungen  des 
Stromes,  und  sieht  sich  auf  Grund  aller  Erwägungen  zu  dem  Schlüsse 
gedrängt,  in  dem  Erregungsvorgang  nichts  weiter  zu  erblicken,  als 
eine  Wirkung  der  durch  den  Strom  erzeugten  Elektro- 
lyse. „Die  elektrische  Erregung  wäre  hiernach  nichts 
Anderes,  als  eine  bestimmte  Form  der  chemischen 
Reizung,  welcher  Vorgang  ebenso  wie  der  Vorgang  der  Wasserstoff- 
entwicklung während  der  Stromschliessung  am  negativen  Pol  allein 
unmittelbar  auftritt"  (1.  c.  p.  328).  Der  insbesondere  von  Bezold  ge- 
lieferte Nachweis,  dass  der  Vorgang  der  Erregung  an  der  Kathode  während 
der  ganzen  Schliessungsdauer  des  Stromes  ausgelöst  wird ,  steht ,  wie 
man  leicht  sieht,  mit  dieser  Auffessung  in  voller  Uebereinstimmung. 

Der  grösste  Fortschritt  in  der  angedeuteten  Richtung  wurde 
aber  in  der  Folge  durch  die  Arbeiten  L.  Hermann 's  auf  elektro- 
physiologischem  Gebiete  angebahnt,  welche  vor  Allem  dazu  bei- 
trugen, dass  der  chemischen  Seite  des  Geschehens  bei  allen  hier 
in  Betracht  kommenden  Lebenserscheinungen  mehr  Aufmerksamkeit 
zugewendet  wurde,  als  bisher,  und  durch  die  Entschiedenheit,  mit 
welcher  darin  die  Du  Bois-Reymond'sche  Molekulartheorie  bekämpft 
wird ,  eines  der  wesentlichsten  Hindernisse  beseitigen  halfen ,  welches 
einer  Avirklich  fruchtbaren  Weiterentwicklung  der  allgemeinen  Nerven- 
und  Muskelphysik  entgegenstand.  Mit  dem  Gesetz  von  den  aus- 
schliesslich polaren  Wirkungen  des  elektrotonischen  Stromes  in  irritablen 
Substanzen  bildet  das  von  Hermann  aufgestellte  „Gesetz  des 
Actionsstromes",  demzufolge  jeder  erregte  Theil  sich  negativ 
gegen  einen  weniger  oder  nicht  erregten  verhält,  in  der  That  die 
Grundlage  aller  unserer  derzeitigen  Anschauungen  und  liefert  den 
Schlüssel  zum  Verständniss  einer  ausserordentlich  grossen  Zahl  von 
Thatsachen.  Wie  von  Hermann,  wurde  auch  von  Hering  stets  betont, 
dass  alle  Vorgänge  in  den  erregbaren  lebendigen  Substanzen  in  erster 
Linie  als  chemische  aufzufassen  sind,  „und  das  man  nicht  über  den 
physikalischen  Symptomen  der  Lebensprocesse  das  eigentlich  chemische 
Wesen  derselben  vergessen  dürfe"  (24,  p.  59).  Von  sehr  allgemeinen 
Gesichtspunkten  aus  und  so  zu  sagen  als  letzte  Consequenz  seiner 
sinnesphysiologischen  Anschauungen  hat  Hering  die  Grundzüge  einer 
Theorie  der  Vorgänge  in  den  lebendigen  Sub,stanzen  und  speciell  auch 
der  elektrischen  Erregung  entwickelt,  welche,  obschon  sie  bisher 
kaum  Beachtung  fand,  zur  Zeit  wohl  als  der  umfassendste  Ausdruck 
aller  auf  diesem  Gebiete  bekannten  Thatsachen  gelten  darf,  die  sie  in 
einfacher  und  befriedigender  Weise  unter  Zugrundelegung  nur  weniger 
fundamentaler  Sätze  des  Stoffwechsels  abzuleiten  und  zu  erklären  ge- 
stattet. Hering  geht  von  der  Voraussetzung  aus ,  dass  die  einen 
Muskel  oder  Nerven  in  der  Längsrichtung  durchsetzende  elektrische 
Strömung  die  erregbare  Substanz  an  der  physiologischen  Anode  und 
Kathode    in    entgegengesetztem    Sinne    chemisch    verändert    oder,   wie 


724  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

man  es  wohl  richtiger  ausdrücken  würde,  an  beiden  Stellen  ant- 
agonistische Veränderungen  des  Chemismus  der  betreffenden  Substanz 
herbeiführt,  indem  an  allen  Punkten,  wo  der  Strom  in  die  unversehrte 
lebende  Substanz  eintritt,  die  assimilatorischen  Processe  ins 
Uebergewicht  kommen  und  im  Sinne  der  von  Hering  gewählten 
Ausdrucksweise  (vergl.  p.  71  f.)  eine  „allonome  aufsteigende" 
Aenderung  bewirken,  während  an  der  Gesammtheit  der  Austrittsstellen 
die  D  i  s  s  i  m  i  1  a  t  i  0  n  (der  Zerfall)  vorherrscht  und  zu  einer  „allonomen 
absteigenden"  Aenderung  führt.  Nun  ist  unstreitig  jede  Erregung  im 
gewöhnlichen  M^ortsinne  charakterisirt  durch  das  Vorherrschen  der 
dissimilatorischen  Processe,  wobei  es  zunächst  ganz  gleichgültig  ist, 
ob  dieselbe  auf  den  Ort  ihrer  Entstehung  beschränkt  bleibt  oder  sich 
von  da  aus  durch  Leitung  weiter  fortpflanzt.  Unter  allen  Um- 
ständen wird  daher  die  physiologische  Kathode  der  Sitz  einer  während 
der  Schliessungsdauer  des  Stromes  anhaltenden  Erregung,  der 
Schliessungserregung,  sein  müssen.  Minder  geläufig  sind  die 
Anschauungen,  Avelche  Hering  in  Anlehnung  an  gewisse  Folgerungen 
seiner  Theorie  des  Lichtsinnes  bezüglich  der  Vorgänge  an  der  Anode 
entwickelt.  „Wie  man  sich  äussere  Reize  denken  kann,  welche  die 
lebende  Substanz  zu  stärkerer  Dissimilirung  (D)  nöthigen,  so  kann 
man  sich  auch  solche  denken,  welche  sie  zu  stärkerer  Assimilirung  (Ä) 
veranlassen.  Die  stärkere,  nicht  mehr  lediglich  „autonome"  Assimilirung, 
welcher  jetzt  keine  gleich  starke  Dissimilirung  das  Gleichgewicht  hält, 
bewirkt  eine  Beschaffenheit  der  Substanz,  welche  das  Gegentheil  der 
durch  die  D  bewirkten  „unterwerthigen"  ist  und  daher  von  Hering 
als  „  über  wer  thig"  bezeichnet  wird."  „Nach  Schluss  des  (assimila- 
torisch wirkenden)  Reizes  befindet  sich  die  Substanz  gleichsam  in 
einem  übernährten  Zustande;  ihre  Disposition  zur  J.  ist  jetzt  geringer 
als  vorher,  und  zwar  um  so  mehr,  je  grösser  die  Stärke  und  Dauer 
des  Reizes  und  dem  entsprechend  das  Ueberwiegen  der  allonomen 
A  über  die  autonome  D  war.  Entsprechend  grösser  ist  jetzt 
ihre  Disposition  zur  D.  So  entsteht  nach  Schluss  der  Reizung 
ein  Ueberwiegen  der  autonomen  D  über  die  autonome  A  (d.  h.  eine 
Erregung  im  gewöhnlichen  Wortsinn),  durch  welche  unter  allmählicher 
Abnahme  der  Ueberwerthigkeit  die  Substanz  wieder  in  den  mittel- 
werthigen  Zustand  zurück  gelangt"  (1.  c.  p.  39).  Den  Einfluss  der 
Anode  auf  Muskel  und  Nerv  hätten  wir  nun  nach  Hering  als  einen 
solchen  assimilatorisch  wirkenden  Reiz  aufzufassen.  „War  die  lebende 
Substanz  zuvor  z.  B.  im  Zustande  der  Mittelwerthigkeit  und  also 
zugleich  im  autonomen  Gleichgewichte  zwischen  D  und  A,  so  wird 
sie  unter  der  Einwirkung  des  Stromes  an  der  Eintrittsstelle  über- 
werthig.  Nach  Schluss  der  Durchströmung  tritt  demzufolge  an  der 
Eintrittsstelle  eine  autonome  absteigende  Aenderung  ein,  welche  um 
so  rascher  ist,  je  überwerthiger  die  Substanz  durch  die  vorausgegangene 
aufsteigende  Aenderung  geworden  war;  so  kann  die  Eintrittsstelle 
zum  Ausgangspunkt  einer  abermaligen,  sich  über  die  Faser  fort- 
pflanzenden Erregung  (Oeffnungserregung)  werden."  „An  der  Kathode 
dagegen  tritt  nach  der  Oeffnung  eine  autonome  aufsteigende  Aenderung 
ein,  wenn  die  Austrittsstelle  nicht  etwa  durch  die  vorausgegangene 
Wirkung  des  Stromes  wesentlich  geschädigt  wurde  oder  überhaupt 
ihre  Assimilirungsbedingungen  gestört  sind. 

Da  während  der  Durchströmung  an  der  Austrittsstelle  eine  rasche 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  725 

allonome  absteigende  Aenderimg  stattündet,  so  verhält  sich  dieselbe 
negativ  zur  übrigen  Faser,  insoweit  sich  dieselbe  nicht  in  fortgepflanzter 
„Erregung"  befindet ,  während  die  Eintrittsstelle  in  Folge  der  hier 
stattündenden  allonomen  aufsteigenden  Aenderung  sich  entgegengesetzt 
verhält.  Dies  würde  also  an  sich  einen  dem  durchgeleiteten  Strom 
entgegengesetzten  Eigenstrom  der  Faser  im  Kreise  bedingen.  Dieser 
Eigenstrom  schAvächt  den  zugeleiteten  Strom.  Man  hat  ihn  als  einen 
Poiarisationsstrom  bezeichnet.  Er  ist  jedoch  als  ein  vitaler  Gegen- 
strom und  als  eine  eigentliche  Lebenserscheinung  streng  zu  unter- 
scheiden von  jenen  Polarisationsströmen,  welche  nicht  eigentlich  vitale 
sind,  weil  sie  nicht  durch  die  an  den  Ein-  und  Austrittsstellen  statt- 
findende, auf-  oder  absteigende  Aenderung  der  lebendigen  Substanz 
bedingt  werden;  denn  auch  im  todten  Gewebe,  beziehungweise  an  den 
nicht  eigentlich  erregbaren  Theilen  der  noch  lebenden  Organe  können 
bei  künstlicher  Durchströmung  Gegenströme  entstehen. 

Nach  der  Oeffnung  des  zugeleiteten  fremden  Stromes  kann,  wie 
wir  sahen,  unter  Voraussetzung  normaler  Beschaffenheit  der  lebendigen 
Substanz  an  der  Eintrittsstelle  eine  autonome  absteigende  Aenderung 
eintreten,  daher  sich  diese  Stelle  jetzt  negativ  zur  übrigen  Faser 
verhält,  insoweit  dieselbe  nicht  auch  in  fortgeleiteter  absteigender 
Aenderung  begriffen  ist,  während  die  Austrittsstelle  sich  in  Folge  ihrer 
autonomen  aufsteigenden  Aenderung  positiv  zur  übrigen  Faser  ver- 
halten kann.  So  entsteht  ein  vitaler  Eigenstrom  der  Faser  von  der- 
selben Richtung  wie  der  geöffnete  fremde  Strom.  Diesen  Eigenstrom 
könnte  man  im  Gegensatz  zu  dem  soeben  besprochenen  vitalen  Gegen- 
strom als  vitalen  Gleichstrom  bezeichnen.  Er  tritt  um  so  sicherer 
auf,  je  lebensfähiger  die  Substanz  und  je  weniger  sie  durch  den 
fremden  Strom  in  ihren  Lebenseigenschaften  geschädigt  ist,  je  rascher 
die  durch  den  Strom  gesetzten  allonomen  Aenderungen  nach  Oeffnung 
des  Stromes  (Nachdauer  der  Erregung)  verschwinden  und  die  entgegen- 
gesetzt gerichteten  autonomen  Aenderungen  sich  entwickeln.  Durch 
Complication  mit  etwaigen  nicht  vitalen,  stets  dem  fremden  Strom 
entgegengesetzt  gerichteten  Polarisationsströmen  kann  er  mehr  oder 
weniger  gestört  werden. 

In  einem  markhaltigen  Nerven,  durch  dessen  mittleren  Theil  ein 
fremder  Strom  geleitet  wird,  breiten  sich  die  Eintrittsstellen  des  Stromes 
in  die  erregbare  Substanz  ebenso  wie  seine  Austrittsstellen  weit  über 
die  Berührungsstellen  der  beiden  physikalischen  Elektroden  aus.  Soweit 
diese  Eintritts-  und  Austrittsstellen  sich  erstrecken,  besteht  zunächst 
ein  auf  Ausbreitung  der  Stromfäden  beruhender,  rein  physikalischer 
„An-  und  Katelektr otonus",  wie  er  sich  auch  z.  B.  an  einem 
dürren  hohlen  Grashalm  ohne  Indernodien  oder  an  einem  Bündel 
solcher  Halme  demonstriren  lässt,  die  längere  Zeit  in  destillirtem 
Wasser  oder  schwacher  Alkohollösung  gelegen  haben  und  dann  mit 
einer  Salzlösung  äusserlich  benetzt  und  innerlich  gefüllt  worden  sind. 
An  dieser  weit  ausgebreiteten  Gesammtheit  der  Ein-  und  Austritts- 
stellen des  fremden  Stromes  in  die  erregbare  Substanz  (Axencylinder) 
des  Nerven,  d.  h.  an  der  eigentlichen  physiologischen  Anode  und 
Kathode,  entwickelt  sich  nun  im  Nerven  einerseits  die  aufsteigende, 
andererseits  die  absteigende  Aenderung,  welche  das  bedingen,  was 
den  vitalen  Elektr  otonus  ausmacht.  Sowohl  die  abstei- 
gende  als    die   aufsteigende   Aenderung    kann    sich    nach    Schluss    des 


"726  I-*^6  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

fremden  Stromes  über  die  durch  directe  Wirkung  dieses  Stromes 
kathodisch  (negativ)  oder  anodisch  (positiv)  alterirten  Strecken  hinaus 
im  Nerven  fortpflanzen  und  selbst  in  sehr  entfernten  Theilen  des 
Nerven  vorübergehende  Aenderungen  herbeiführen^  welche  sich  auch 
im  elektromotorischen  Verhalten  der  Faser  äussern.  Nach  Wieder- 
öffnung des  fremden  Stromes  tritt  ebensowohl  an  den  Eintritts-  wie  an 
den  Austrittsstellen  eine  der  vorhergegangenen  entgegengesetzte 
Aenderung  mit  ihren  Folgeerscheinungen  in  der  lebendigen  Substanz 
ein,  dort  eine  autonome  absteigende,  hier  eine  autonome  aufsteigende 
Aenderung;  beide  Stellen  haben  so  zu  sagen  ihre  Rolle  vertauscht,  und 
die  für  den  vitalen  Anelektrotonus  charakteristische  aufsteigende 
Aenderung  entwickelt  sich  jetzt  an  den  gewesenen  Austrittsstellen,  die 
für  den  vitalen  Katelektrotonus  charakteristische  absteigende  Aenderung 
an  den  gewesenen  Eintrittsstellen. 

„Im  marklosen  Nerven,  wie  z.  B.  im  N.  olfactorius,  und  im  Muskel, 
deren  reizbare  Substanz  keine  schlechtleitende  Hülle  hat,  wie  der 
mark  haltige  Nerv,  fehlt  die  für  letzteren  charakteristische  Ausbi'eitung 
der  Ein-  und  Austrittsstellen  des  fremden  Stromes.  Es  fehlen  also 
jene  elektrischen  Erscheinungen,  welche  auf  diese,  zunächst  nur  durch 
die  Leitungsverhältnisse  bedingte  Ausbreitung  zurückzuführen  sind, 
sowie  auch  die  vitalen  1  o  c  a  1  e  n  Folgen  dieser  Ausbreitung.  Jene 
Erscheinungen  aber,  welche  durch  Fortpflanzung  der  an  den  Ein- 
und  Austrittsstellen  des  fremden  Stromes  bedingten  auf-  oder  absteigen- 
den Aenderungen  entstehen,  zeigen  sich  mehr  oder  minder  deutlich 
auch  an  der  marklosen  Nervenfaser  und  an  der  Muskelfaser." 

„Ist  eine  Nervenstrecke  einige  Zeit  von  einem  fremden  Strome 
längs  durchflössen  worden,  und  wendet  man  jetzt  den  letzteren,  so 
findet  er  die  erregbare  Substanz  an  seiner  Austrittsstelle,  weil  dieselbe 
zuvor  Eintrittsstelle  war,  absolut  oder  relativ  überwerthig  und  daher 
in  erhöhter  Disposition  zur  absteigenden  Aenderung;  dem  entsprechend 
bewirkt  der  Strom  eine  raschere  absteigende  Aenderung,  als  dies  sonst 
der  Fall  gewesen  sein  würde  (Volta's  Alternative)." 

„Die  Muskelfaser  bietet  uns  gegenüber  der  Nervenfaser  den  grossen 
Vortheil,  dass  sich  an  ihr  die  durch  absteigende  Aenderung  bedingte 
Erregung  durch  eine  Gestaltveränderung  der  bezüglichen  Stelle  ver- 
rathen  kann,  und  dass  wir  einen  fremden  Strom  durch  die  natürlichen 
Enden  der  Faser  aus-  und  eintreten  lassen  können.  Thun  wir  letz- 
teres ,  so  sehen  wir  die  bei  der  Schliessung  an  der  Austrittsstelle  er- 
folgende allonome  Aenderung  sich  zunächst  über  die  Länge  der  Faser 
fortpflanzen,  nach  Ablauf  dieser  Schli  essuugszuckung  aber  nur 
in  der  Nähe  der  Austrittsstelle  während  der  Schliessungsdauer  in  stetig- 
abnehmender  Weise  fortbestehen  (kathodische  Dauercontraction). 
Unterdess  besteht  an  der  Eintrittsstelle  die  autonome  aufsteigende  Aen- 
derung, welche  hier  zu  merklicher  Ueberwerthigkeit  der  lebendigen 
Substanz  führen  kann,  wenn  der  Strom  hinreichende  Stärke  und 
Dauer  hat.  Nach  der  Oeffnung  tritt  deshalb  hier  eine  autonome  ab- 
steigende Aenderung  ein,  welche  bei  hinreichender  Geschwindigkeit 
zur  Oeffnungszuckung  bez w.  Oeffnungsdauercontraction 
in  der  Nähe  der  Eintrittsstelle  führt.  Aber  auch  wenn  diese  autonome 
absteigende  Aenderung  so  schwach  ist,  dass  sie  sich  nicht  durch  sicht- 
bare (3^estaltveränderung  des  Muskels  verräth,  kann  sie  sich  doch  noch 
durch  den  oben  erwähnten  vitalen  Gleichstrom  äussern,    welcher  nach 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  727 

der  Oeffnung  nachweisbar  ist,  sofern  Avir  das  anodische  Muskelende 
z.  B.  mit  der  Muskehnitte  leitend  verbinden." 

„An  der  Austrittsstelle  lässt  sich  nach  Oeffnung-  des  fremden  Stromes 
die  autonome  aufsteigende  Aenderung  nicht  immer  nachweisen,  weil 
die  autonome  Assimilirung  der  lebendigen  Substanz  im  ausgeschnittenen 
Muskel  eine  zu  langsam  verlaufende  und  ungenügende  ist,  wie  schon 
oben  betont  wurde.  Doch  verräth  sich  in  günstigen  Fällen  die  auto- 
nome aufsteigende  Aenderung  durch  einen  nach  der  Oeffnung  auf- 
tretenden vitalen  Gleichstrom,  wenn  wir  das  kathodisch  gewesene 
Muskelende  z.  B.  mit  der  Muskelmitte  leitend  verbinden." 

„Dass  die  Muskelfaser,  wie  auch  die  Nervenfaser,  auf  quer  hin- 
durchgehende Ströme  nicht  reagirt,  hängt  offenbar  damit  zusammen, 
dass  die  lebendige  Substanz  in  querer  Richtung  kein  lebendiges  Con- 
tinuum  von  derselben  Art  darstellt,  wie  in  der  Längsrichtung,  was 
auch  in  den  optischen  Polarisationserscheinungen  und  den  Elasticitäts- 
verhältnissen  Ausdruck  findet.  Das  Ausbleiben  der  Reaction  Hesse 
sich  vielleicht  auch  schon  daraus  erklären,  dass  die  antagonistisch 
wirkenden  Ein-  und  Austrittsstellen  des  Stromes  in  dem  querdurch- 
flossenen  Structurelemente  einander  allzu  nahe  liegen." 

„Hat  ein  stärkerer  fremder  Strom  einen  unversehrten  Muskel 
so  lange  in  der  Längsrichtung  durchflössen,  dass  die  kathodische 
Dauercontraction  bereits  wieder  verschwunden  ist,  so  tritt  nach  der 
Oeffnung  die  schon  erwähnte  anodische  Dauercontraction  ein ,  welche 
sich  über  einen  grossen  Theil  des  Muskels  erstrecken  und  lange  an- 
dauern kann.  Schliesst  man  jetzt  den  Strom  abermals,  so  wirkt  er 
als  ein  H  e  m  m  u  n  g  s  r  e  i  z  auif  den  contrahirten  Muskel ,  und  der 
letztere  erschlafft  sofort  vollständig.  Der  sonst  an  der  Eintrittsstelle 
nach  der  Oeffnung  stattfindenden  raschen  autonomen  absteigenden 
Aenderung  wirkt  jetzt  der  anodische  Reiz  des  fremden  Stromes, 
welcher  die  Substanz  aufsteigend  zu  ändern  strebt,  entgegen  und  leitet 
an  ihrer  Statt  wieder  aufsteigende  Aenderung  ein.  An  der  Austritts- 
stelle tritt  dabei  wegen  vorausgegangener  erschöpfender  allonomer 
absteigender  Aenderung  nicht  nothwendig  eine  neue  Schliessungs- 
contraction  ein." 

„Ebenso  wie  sich  die  Oeffnungsdauercontraction  eines  Muskels 
durch  abermalige  Schliessung  des  Stromes  sofort  hemmen  lässt,  kann 
man  auch  eine  andere,  auf  autonomer  absteigender  Aenderung  be- 
ruhende Contraction  eines  Muskels  durch  anodische  Stromeswirkung 
hemmen.  Lässt  man  durch  eine  Pinselelektrode,  welche  mit  ihrer 
Spitze  das  freigelegte  und  noch  vom  Blute  durchströmte  Herz  des 
Frosches  berührt,  einen  stärkeren  Strom  in  dem  Augenblicke  eintreten, 
wo  eben  eine  Systole  begonnen  hat,  während  die  andere  Elektrode 
z.  B.  die  Kehlhaut  berührt,  so  zeigt  sich  sofort  eine  von  der  Eintritts- 
stelle ausgehende  und  sich  mehr  oder  weniger  ausbreitende  locale 
Diastole  der  Herzwand.  Die  eben  begonnene  autonome  absteigende 
Aenderung  wird  hier  durch  die  anodische  Wirkung  des  Stromes  sofort  in 
eine  allonome  aufsteigende  verwandelt,  und  der  erschlaffte  Theil  der  Herz- 
wand wölbt  sich  unter  dem  Drucke  des  Blutes  hoch  empor.  Die  entgegen- 
gesetzte Erscheinung  beobachten  wir,  wenn  der  Strom  durch  die  Pinsel- 
spitze aus  dem  Herzen  austritt.  Schliessen  wir  den  Strom  mit  Beginn 
der  allgemeinen  Diastole,  so  entwickelt  sich  an  der  Austrittsstelle  sofort 
eine  neue  Systole  (kathodische  Schliessungsc  on  traction)," 


728  I^'ß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

„Lassen  wir  den  Strom  in  der  zuletzt  angewandten  Richtung  einige 
Zeit  bestehen  und  öffnen  ihn  während  einer  allgemeinen  Diastole,  so 
nimmt  in  Folge  der  starken  autonomen  aufsteigenden  Aenderung  die 
Herzwand  in  der  Gegend  der  Pinselspitze  an  der  folgenden  Systole 
nicht  Theil,  sondern  bleibt  diastolisch  erschlafft,  und  der  Druck  des 
systolisch  gepressten  Blutes  wölbt  die  erschlaffte  Stelle  stark  hervor. 
Dies  ist  die  kathodische  Oeffn  ungshemmung,  welche  sich 
also  in  ganz  derselben  Weise  äussert,  wie  die  vorhin  besprochene 
anodische  Schliessungshemmung,  und  hiernach  nicht  als 
blosse  Ermüdungserscheinung  aufzufassen  wäre.  Lassen  wir  dagegen 
den  Strom  längere  Zeit  durch  die  Pinselspitze  in  die  Herzwand  e  i  n  - 
treten,  so  zeigt  sich  nach  Oeffnung  des  Stromes  in  der  Gegend  der 
Austrittsstelle  sofort  eine  Contraction,  welche  sogar  stärker  sein  kann, 
als  die  natürliche  systolische  Contraction,  was  sich  äusserlich  durch 
weisslichere  Färbung  der  Herzwand  verräth.  Dies  ist  die  auf  autonomer 
absteigender  Aenderung  beruhende  anodische  Oeffnungscon- 
traction,  das  Analogon  der  oben  erwähnten  kathodischen 
Schliessungscontraction,  welche  letztere  auf  allonomer  ab- 
steigender Aenderung  beruht"  (vergl.  oben  p.  220  f.). 

„Die  anodische  Oeffnungscontraction  und  die  kathodische  Oeff- 
nungserschlaffung  sind  durchaus  analog  den  successiven  Contrast- 
erscheinungen ,  welche  wir  an  anderen  lebendigen  Substanzen  be- 
obachten, und  ebenso  wie  diese  keineswegs  auf  blosse  Ermüdung 
zurückzuführen. " 

Diesen  einfachen  und  klaren  Ausführungen  gegenüber  erscheint 
ungeachtet  ihrer  sehr  detaillirten  Ausarbeitung  eine  neuerdings  (1888) 
von  Bernstein  (52)  aufgestellte  „modilicirte"  Molekulartheorie  wenig- 
befriedigend,  zumal  sie  von  gewissen  Annahmen  ausgeht,  deren  Zu- 
lässigkeit  zum  mindesten  bezweifelt  werden  kann.  Dies  gilt  schon 
von  der  behaupteten  Notliwendigkeit,  den  lebenden  Faserinhalt  (bei 
Muskeln  und  Nerven)  sich  als  aus  Längsreihen  von  Molekülen  zu- 
sammengesetzt zu  denken,  welche,  am  natürlichen  Querschnitt  des 
Muskels  (Sehnenende)  schlingenartig  mit  einander  verbunden,  „in  der 
Flüssigkeit,  in  der  sie  sich  befinden,  polarisirbar  seien,"  wobei  jedoch 
wegen  des  nahen  Zusammenhanges  in  der  Längsrichtung  die  Polari- 
sation immer  nur  „an  der  freien  Oberfläche"  einer  solchen  Molekülreihe 
stattfinden  kann.  Nur  unter  dieser  Voraussetzung,  für  w^elche  er  eine 
wesentliche  Stütze  auch  in  der  bekannten  Unerregbarkeit  des  künstlichen 
Muskel-Querschnittes  gegenüber  dem  elektrischen  Strome  erblickt,  glaubt 
Bernstein  die  Unerregbarkeit  der  betreffenden  Gebilde  bei  ihrer 
Querdurchströmung  erklären  zu  können,  da  nicht  einzusehen  wäre, 
wie  es  zu  einer  gegenseitigen  Annullirung  der  anodischen  und  katho- 
dischen Polarisation  kommen  sollte,  wenn  nicht  die  betreffenden 
Jonen  so  zu  sagen  unmittelbar  neben  einander  liegen;  es  fragt  sich  aber 
immerhin,  ob  es  wirklich  so  unvorstellbar  ist,  dass  beide  Polarisationen 
sich  in  ihrer  Wirkung  auf  die  lebende  Substanz  schon  dann  neutra- 
lisiren,  wenn  sie  nur  an  den  beiden  Grenzflächen  einer  sichtbaren 
Fibrille  entstehen.  Bernstein  nimmt  weiter  an,  dass  seine  Molekül- 
reihen in  Bezug  auf  die  räumliche  Vertheilung  der  Polarisation  sich 
ganz  ebenso  verhalten,  wie  Hermann  '  s  Kernleitermodell  beziehungs- 
weise die  diesem  gleichgestellte,  markhaltige  Nervenfaser,  und  bezieht  die 
Erregung  beim  Schliessen   und  Oeffnen   des  Stromes   lediglich  auf  das 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  729 

Entstehen  der  negativen  und  Verschwinden  der  positiven  Jonen  an 
sämmtlichen,  im  Bereich  der  Elektrode  liegenden  Molekülen  der  lebenden 
Substanz,  eine  Auffassung,  die  an  die  elektrolytische  Theorie 
V.  Bezold's  erinnert,  welche  die  elektrische  Erregung  durch  eine 
chemische  Reizung  von  Seiten  der  abgeschiedenen  Jonen  zu  erklären 
bestrebt  ist  oder  doch  die  M()glichkeit  einer  solchen  Erklärung  betont. 
Einer  derartigen  rein  chemischen  Theorie  der  elektrischen  Reizung 
bereitet  jedoch  die  Erklärung  der  Oeffnungserregung,  sowie  der 
während  der  Stromesdauer  vorliandenen  Erregbarkeitsänderungen  unter 
allen  Umständen  grosse  Schwierigkeiten,  und  Bernstein  sieht  sich 
daher  zu  weiteren  Annahmen  hinsichtlich  der  Natur  und  des  Ver- 
haltens der  abgeschiedenen  Jonen  veranlasst,  indem  er  folgende  vier 
Sätze  aufstellt: 

1.  Das  negative  Jon  an  der  Kathode  (Sauerstoff  oder  eine  sauer- 
stoffreiche Substanz)  ist  die  Ursache  der  Schliessungserregung. 

2.  Dasselbe  wird  durch  einen  chemischen  Process  daselbst  be- 
ständig verzehrt,  entsprechend  der  Menge,  in  welcher  es  sich 
entwickelt. 

3.  Das  positive  Jon  an  der  Anode  ruft  keine  Erregung  hervor; 
es  wird  daselbst  nicht  verzehrt,  sondern  angesammelt. 

4.  Durch  die  innere  Polarisation,  insbesondere  an  der  Anode,  wird 
der  Strom  in  dem  erregbaren,  polarisirbaren  Leiter  bis  auf 
einen  entsprechenden  Rest  aufgehoben ,  solange  das  Polarisa- 
tionsmaximum nicht  erreicht  ist. 

Der  im  Bereich  der  Kathode  an  den  erregbaren  Molekülen  sich 
ablagernde  aktive  Sauerstoff  soll  nun  hier  durch  seine  oxydirende 
Wirkung  eine  Spaltung  der  sehr  labilen  Moleküle  einleiten,  bei  welcher 
auch  der  intramolekulare  Sauerstoff  in  Action  tritt  und  Erregung 
herbeiführt.  Die  Veränderungen  der  Erregbarkeit  während  der  Pola- 
risation führt  Bernstein  darauf  zurück,  „dass  das  mit  negativen 
Jonen  (Sauerstoff)  beladene  Molekül  leichter,  das  mit  positiven  Jonen 
beladene  dagegen  schwerer  spaltbar  ist  als  das  unveränderte".  Speciell 
findet  in  der  kathodischen  Strecke  während  der  ganzen  Stromes- 
dauer eine  zwar  langsame,  aber  beständige  Sauerstoffentwicklung  statt 
und  ebenso  eine  beständige  Verzehrung  desselben  durch  die  oxydablen 
Atomgruppen  der  erregbaren  Moleküle.  „Bei  schwächeren  Strömungen 
ist  dieser  Vorgang  nicht  intensiv  genug,  um  auch  den  intramolekularen 
Sauerstoff  in  erheblicher  Menge  freizumachen  und  sich  als  Erregung 
weithin  fortzupflanzen.  Aber  er  ist  im  Prineip  gleichbedeutend  mit 
Erregung,  da  beständig  vorhandene  Spannkräfte  ausgelöst  werden. 
Das  Molekül  wird  aber  hierdurch  in  einen  Zustand  labileren  Gleich- 
gewichtes versetzt,  da  der  sich  abscheidende  Sauerstoff  dessen  Bestand 
in  hohem  Grade  lockert,  d.  h.  die  Erregbarkeit  desselben  steigt;  der 
intramolekulare  Sauerstoff  kann  in  diesem  Zustande  durch  jeden  Reiz 
leichter  freigemacht  werden."  Sieht  man  ab  von  den  ganz  speciellen 
Vorstellungen  über  die  Natur  der  chemischen  Processe  an  der  Kathode 
und  ihre  Localisirung  an  bestimmt  geordneten,  präformirten  „Mole- 
külen", so  stimmt,  wie  man  sieht,  die  Hering'sche  Theorie  insofern  mit 
der  von  Bernstein  überein,  als  sie  ebenfalls  eine  dauernde  Auslösung 
von  Spannkräften  oder,  mit  anderen  Worten  und  ganz  allgemein  ausge- 
drückt, ein  Ueberwiegen  derDissimilationsprocesse  über  die  gleichzeitigen 
Assimilationsvorgänge  im  ganzen  Bereich  der  Kathode  annimmt  und 
damit  über  den  Kreis  der  vorliegenden  Erfahrungen  nicht  hinausgeht. 

Biedermaun,  Elektrophysiologie.  47 


730  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

Auch  hinsichtlich  der  Vorgänge  an  der  Anode  entwickelt  Bernstein 
sehr  detaillirte  Anschauungen.  „Das  positive  Jon,  welches  sich  daselbst 
an  den  Molekülreihen  ablagert,  hat  naturgemäss  entgegengesetzte  che- 
mische Eigenschaften ,  als  der  an  der  Kathode  auftretende  aktive 
Sauerstoff."  Dass  demnach  beim  Schliessen  des  Stromes  daselbst  eine 
Erregung  nicht  eintritt,  erscheint  nach  Bernstein  sehr  plausibel. 
Mit  Rücksicbt  auf  die  gleichzeitige  Herabsetzung  der  Erregbarkeit 
nimmt  Bernstein  an,  „dass  das  positive  Jon  in  eine  molekulare 
Beziehung  zu  dem  erregbaren  Moleklü  der  Faser  tritt  und  dass  durch 
seinen  Einfluss  der  Bestand  des  Moleküls  ein  festerer  wird".  Man 
könnte  sich  etwa  denken,  „dass  das  positive  Jon  sich  als  oxydabler 
Bestandtheil  an  die  Atomgruppen  des  erregbaren  Moleküls  derart  an- 
lagert, dass  der  intramolekulare  Sauerstoff  als  elektronegativer  Bestand- 
theil darin  fester  gebunden  wird".  Von  grossem  Interesse  ist  auch 
hier  wieder  die  Aehnlichkeit  der  Auffassung  Bernstein's  und 
H  e  r  i  n  g  '  s  hinsichtlich  der  Ursache  der  Auslösung  der  Oeffnungs- 
erregung.  Nach  der  oben  erwähnten  Pflüger'schen  Theorie  ist  der 
Anelektrotonus  ein  Zustand,  in  welchem  entsprechend  der  verstärkten 
Molekularhemmung  eine  Ansammlung  von  Spannkraft  stattfindet.  Dies 
würde  nun  nach  Bernstein  dahin  zu  deuten  sein,  „dass  nicht  nur 
eine  festere  Bindung  des  intramolekularen  Sauerstoffs  eintritt,  sondern 
dass  auch  eine  grössere  Menge  desselben  von  dem  Molekül  assimi- 
1  i r t  werden  kann .  Der  Anelektrotonus  ist  somit  mit  einem 
V  0  r  g  a  n  g  e  beständiger  A  s  s  i  m  i  1  i  r  u  n  g  verbunden,  wäh- 
rend im  Katelektrotonus  der  entgegengesetzte  Process 
Platz  greift."  Bei  der  Oeffnung  findet  nun  plötzlich  eine  „De- 
polarisation  statt,  bei  welcher  das  positive  Jon  an  der  Anode  ver- 
schwindet. Die  festere  Bindung  des  intramolekularen  Sauerstoffs  hört 
plötzlich  daselbst  auf,  und  da  das  Molekül  während  der  Stromesdauer 
einen  Ueberschuss  desselben  angesammelt  hatte,  den  es  nun  nicht  zu 
binden  vermag,  so  wird  dieser  Antheil  frei  und  verursacht  eine  Spal- 
tung des  Moleküls,  welche  gleichbedeutend  mit  Erregung  ist."  Ohne 
auf  die  weiteren  Details  bezüglich  der  Erklärung  des  Oeffnungstetanus 
sowie  der  Modificationen  der  Erregbarkeit  nach  der  Oeffnung  näher 
einzugehen,  sei  nur  noch  erwähnt,  dass  die  Unwirksamkeit  der  Quer- 
durchströmung sich  nach  dieser  Theorie  dadurch  erklärt,  „dass  das 
positive  Jon  jedes  erregbare  Molekül  in  demselben  Maasse  festigt, 
als  das  negative  Jon  es  zu  lockern  strebt;  das  abgeschiedene  negative 
Jon  wird  daher  auch  die  oxydablen  Atomgruppen  des  Moleküls 
nicht  angreifen  können,  und  dasselbe  bleibt  im  Ruhezustand  bestehen." 
Es  dürfte,  wie  ich  glaube,  kaum  am  Platze  sein,  an  dieser  Stelle  noch 
näher  auf  die  von  Bernstein  angestellten,  sehr  weitgehenden  Be- 
trachtungen über  die  mögliche  Constitution  der  von  ihm  postulirten 
Moleküle  einzugehen,  und  sei  nur  erwähnt,  dass  er  sich  dieselben  als 
aus  stickstoffhaltigen  Kernen  bestehend  denkt,  welche  der  Länge  nach 
durch  Sauerstoffatome  verkettet  sind,  während  ihre  freie  Oberfläche 
mit  kohlenstoffreichen  (stickstofffreien)  oxydablen  Atomgruppen  besetzt 
ist.  Diese  letzteren  sollen  sich  dem  Kern  gegenüber  selbst  wieder  wie 
elektropositive  Ladungen  verhalten,  während  der  „assimilirte"  ver- 
bindende Sauerstoff  am  künstlichen  Querschnitt  als  elektronegative 
Ladung  des  Kerns  auftritt  (vergl.  Fig.  111).  Die  Molekülreihen  sind 
daher  nicht  nur  in  dem  früher  besprochenen  Sinne  polarisirbar,  „son- 
dern sie  sind    in    ihrem    normalen  Bestände  bereits  mit  ge- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  731 

wissen  Jonen  belade n,  gleichsam  als  ob  sie  durch  einen  von 
aussen  zugeführten  Strom  polarisirt  worden  wären".  Es  wurde  schon 
an  anderer  Stelle  bemerkt,  dass  Bernstein  auf  Grund  dieser  „elek- 
trochemischen Molekulartheorie"  alle  galvanischen  Erschei- 
nungen an  Muskeln  und  Nerven  zu  erklären  bestrebt  ist.  Es  darf  aber 
füglich  bezweifelt  werden,  ob  derartige  weitgehende  und  detaillirte 
Speculationen  über  Molekularstructur  und  den  Aufbau  der  lebenden 
Substanzen  besser  geeignet  sind,  einer  alle  Erscheinungen  des  vor- 
liegenden Gebietes  umfassenden  Theorie  zur  Grundlage  zu  dienen,  als 
jene  einfachen,  sich  lediglich  auf  Erfahrungsthatsachen  und  fundamen- 
tale Gesetze  des  Stoffwechsels  stützenden  Aufstellungen  von  Hering, 
und  Mancher  wird  vielleiclit  geneigt  sein,  die  Bemerkung,  welche 
Bernstein  hinsichtlich  der  Du  Bois-Keymond'schen  Molekulartheorie 
macht,  dass  dieselbe  einen  weiteren  Ausbau  in  mechanischer  und 
elektrischer  Beziehung  nicht  gestatte,  ohne  zu  sehr  einseitigen  An- 
schauungen über  die  Constitution  der  lebenden  Materie  zu  gelangen, 
schon  jetzt  auch  auf  die  „elektrochemische  Molekulartheorie"  zu  be- 
ziehen. 

Ein  Wort  sei  schliesslich  noch  bemei'kt  bezüglich  der  theoretischen 
Anschauungen,  welche  bisher  über  das  eigentliche  Wesen  der  Er- 
regungs  1  e  i  t  u  n  g  geäussert  worden  sind, 
bei  deren  Vermittelung,  wie  zuerst  Her- 
mann bemerkte,  die  elektromotorischen 
Wirkungen  der  reizleitenden  Gebilde 
vielleicht  in  erster  Linie  betheiligt  sind. 
Erinnert  man  sich  der  Thatsache,  dass 
sowohl  Muskeln  wie  Nerven  durch  den 
eigenen  Demarcationsstrom,  sowie  durch  Yig.  221.  Schema  der  Ströme  in 
die  Actionsströme  eines  zweiten  Präparats  der  Umgebung'  einer  erregten  und 
erregt    werden    können,    wenn   anders   nur  einer  absterbenden  Faserstelle, 

die  Abgleichungsbedingungen  günstig  sind,  (^^^'^  "  ermann.) 

so  erscheint  es  von  vornherein  nicht  aus- 
geschlossen, dass  auch  bei  der  Fortleitung  der  negativen  Reiz-  (be- 
ziehungsweise Contractions-)Welle  die  innere  Abgleichung  des  Actions- 
stromes  ganz  wesentlich  mit  betheiligt  ist.  Betrachten  wir  mit  Her- 
mann (Handb.  d.  Physiol.  I.  1.  p.  256  und  H.  1.  p.  194)  die  galva- 
nische Wirkung  einer  erregten  Stelle  in  Bezug  auf  ihre  Nachbarschaft, 
so  besteht  dieselbe,  wie  das  beistehende  Schema  (Fig.  221 E)  unmittelbar 
erkennen  lässt,  in  der  „Entstehung  von  Strömchen  in  ihrer  nächsten  Um- 
gebung", welche  sich  innerhalb  der  indifferenten  Umhüllung  der  elektro- 
motorisch wirksamen  Theile  abgleichen.  Wie  in  nächster  Nähe  eines 
künstlichen  Querschnitt,  werden  auch  beiderseits  von  dem  erregten 
Segment  zahlreiche  Stromfäden  an  der  nicht  erregten  Oberfläche  aus- 
treten und  daher  eventuell  hier  Erregung  bewirken  können,  während 
an  der  erregten  Stelle  selbst  durch  die  daselbst  eintretenden 
Stromfäden  eine  Tendenz  zu  einer  Veränderung  im  entgegengesetzten 
Sinne  erzeugt  wird.  Hermann  macht  noch  ausserdem  ausdrücklich 
auf  die  voraussichtlich  grosse  Intensität  dieser  Strömchen  aufmerksam, 
deren  Abgleichungslinien  ja  von  mikroskopischer  Kleinheit  sind,  so 
dass  die  Widerstände  kaum  in  Betracht  kommen.  Man  sieht,  dass 
auf  diese  Weise  ganz  wohl  eine  fortschreitende  Erregungswelle  zu 
Stande  kommen  könnte. 

47* 


732  I^iß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

Eine  leider  noch  ganz  ungelöste  Frage,  welche  an  dieser  Stelle 
wohl  am  besten  erörtert  wird,  bezieht  sich  auf 

Die  Einwirkung  des  Nerven  auf  den  Muskel. 

Obschon  dem  Muskel  selbständige  Irritabilität  ganz  ebenso  wie 
dem  Nerven  und  überhaupt  dem  lebenden  Plasma  zukommt,  so  sehen 
wir  doch  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  die  Erregung 
quergestreifter  und  glatter  Muskeln  indirect  vom  Nerven  aus  erfolgen, 
und  es  erhebt  sich  daher  naturgemäss  die  Frage,  wie  die  Uebertragung 
eigentlich  stattfindet,  zumal  ja  der  Muskel  nicht  so  ohne  Weiteres  als 
mit  contractiler  Substanz  umlagerte  Fortsetzung  des  Nerven  angesehen 
werden  kann,  obschon  von  mancher  Seite  ähnliche  Anschauungen  in 
der  That  geäussert  worden  sind.  Wenn  irgendwo,  so  zeigt  sich  hier, 
wie  sehr  unter  Umständen  die  physiologische  Auffassung  eines  Pro- 
cesses  von  der  jeweiligen  Kenntniss  der  Morphologie  des  Substrates 
bedingt  und  beeinflusst  wird.  Nicht  immer  ist  in  der  Physiologie 
das  Bewusstsein  von  dem  innigen  Zusammhang  zwischen  Bau  und 
Function  der  Theile  so  lebendig  gewesen,  wie  man  es  wünschen 
müsste,  und  wie  es  eine  wirklich  fruchtbringende  Weiterentwicklung 
unserer  Kenntnisse  durchaus  erfordert ;  vielfach  hat  man,  einer  allzu 
streng  physikalischen  Richtung  huldigend,  erst  spät  die  Erfahrung 
machen  müssen,  wie  wenig  förderlich  es  erscheint,  die  sicheren  That- 
sachen  histologischer  Forschung  durch  allgemein  -  theoretische  Er- 
wägungen zu  ersetzen  oder  gänzlich  zu  ignoriren.  Zur  Zeit  hat  sich 
die  Ansicht  wohl  allgemein  Bahn  gebrochen,  dass  Histologie  und  Phy- 
siologie nicht  als  zwei  von  einander  unabhängige  Wissensgebiete  zu 
behandeln  sind,  sondern  vielmehr  in  innigster  Wechselbeziehung  stehen, 
sich  gegenseitig  fördernd  und  belebend.  Ebenso  sehr  wie  mit  den 
Lehren  der  Physik  und  Chemie  hat  die  Physiologie  daher  auch  mit 
den  Thatsachen  der  Histologie  zu  rechnen.  Zum  Beweis  des  Gesagten 
braucht  bloss  an  die  Errungenschaften  der  neueren  Zellenlehre  erinnert 
zu  werden,  sowie  an  die  Bedeutung,  welche  in  der  allgemeinen  Muskel- 
und  Nerven-Physiologie  und  der  Secretionslehre  die  mikroskopischen 
Untersuchungsmethoden  gewonnen  haben.  Um  ein  Gebiet  nun,  auf 
welchem  die  grundlegende  Bedeutung  der  anatomischen  Erforschung 
des  Baues  für  die  richtige  Erkenntniss  der  Function  überhaupt  nie- 
mals verkannt  wurde,  handelt  es  sich  bei  den  motorischen  Nerven- 
endigungen, sowie  bei  den  später  zu  behandelnden  elektrischen  Organen. 

Bekanntlich  hat  zuerst  Doyere  1840  an  einem  mikroskopisch 
kleinen  Arthropoden,  dem  viel  besprochenen  Bärenthierchen  (Milnesium 
tardigradum)  beobachtet,  dass  die  zarten  Nervenfädchen  an  die  Muskel- 
fasern herantreten  und  in  einer  konischen  Anschwellung  zu  endigen 
scheinen.  In  der  Folge  hat  sich  die  Aufmerksamkeit  hauptsächlich 
den  motorischen  Nervenendigungen  in  den  quergestreiften  Skelett- 
muskelfasern der  W^irbelthiere  zugewendet,  einerseits  aus  rein  techni- 
schen Gründen ,  weil  es  leichter  schien ,  die  derberen  markhaltigen 
Fasern  bis  ans  äusserste  Ende  zu  verfolgen,  anderseits  aber  wohl  auch 
in  Hinblick  auf  die  Möglichkeit,  der  Frage  hier  auch  eher  vom  phy- 
siologischen Standpunkte  aus  näher  treten  zu  können.  Waren  doch 
seit  jeher  die  Froschmuskeln  mit  ihren  Nerven  das  bevorzugteste,  ja 
man  darf  sagen  das  einzige  Object,  aus  dessen  Studium  alle  Erfah- 
rungen der  Nerven-  und  Muskel-Physiologie  abgeleitet  wurden.     Ohne 


Die  elektromotorischen  Wirkiingeii  der  Nerven. 


733 


auf  die  historische  Entwicklung  der  Frage  näher  einzugehen,  sei  hier 
nur  bemerkt,  dass  es  Dank  der  Untersuchungen  zahlreicher  Forscher, 
und  vor  Allem  Kühne 's  (53),  zur  Zeit  als  feststehend  betrachtet 
werden  darf,  dass  jede  quergestreifte  Muskelfaser  eines  Wirbelthieres 
eine  oder  mehrere  distincte  Nervenendigungen  besitzt,  deren  Bau 
in  den  wesentlichsten  Zügen  überall  derselbe  ist.  Ist  die  markhaltige 
Faser,  nachdem  sie  sich  vorher  in  der  Regel  mehrfach  getheilt  hat, 
schliesslich  an  eine  Muskelfaser  herangetreten,  so  verschmilzt  ihre 
Schwann'sche  Scheide  mit  dem  Sarkolemm,  während  der  Axencylinder 
allein  hindurchtritt,  um  mit  der  contractilen  Substanz  in  Beziehung  zu 
treten ;  die  Markscheide  hört  in  der  Regel  schon  eine  Strecke  vor  der 
definitiven  Endigung  auf.  Es  ist  besonderer  Nachdruck  auf  die  früher 
vielfach  bestrittene  Thatsache  des  Durchtritts  des  Axencylinders  zu 
legen,  da  unter  gewissen  Voraussetzungen  über  die  Art  der  Reizüber- 
tragung das  Sarkolemm  durchaus  kein  absolutes  Hinderniss  darbieten 
würde.     Kaum  jemals  bleibt  nun  der  Axencylinder  ungetheilt,  sondern 


Fig.  222.     Stangengeweih   aus   dem  M.  gastrocnemius    des   Frosches.     (Nach  Kühne.) 


stets  erfolgt  eine  mehr  oder  weniger  reichliche  geweihartige  Verzwei- 
gung (Kühne's  „Endgeweih"),  welche  „hypolemmal"  gelegen  nach 
zwei  verschiedenen  Typen  erfolgt,  deren  einen  die  Amphibien  (Fig.  222), 
den  andern  die  Reptilien,  Vögel  und  Säugethiere  darbieten.  Ersterenfalls 
handelt  es  sich  um  ziemlich  gerade,  parallel  der  Muskelfaseraxe  ver- 
laufende, rundliche  oder  platte  Endzweige,  welche  sich  dicht  unter  dem 
Sarkolemm  eine  Strecke  weit  verbreiten  und  stets  ganz  distinct  mit 
einer  stumpfen  Spitze  endigen ;  im  Verlaufe  erkennt  man  hier  und  da 
länglich-ovale  Kerne,  welche  von  Kühne  seiner  Zeit  als  „Endknospen" 
bezeichnet  wurden.  Im  Gegensatze  zu  diesen  „Stangengeweihen" 
zeigen  die  Aeste  der  „Plattengeweihe"  der  übrigen  Wirbelthiere 
einen  gekrümmten  und  vielfach  geschlängelten  Verlauf  oder  bilden 
plattenartig  gelappte  Ausbreitungen  innerhalb  eines  beschränkten,  rund- 
lichen oder  ovalen  „Innervationsfeldes",  das  nur  in  seltenen  Fällen 
die  Muskelfaser  ganz  umgreift  (Fig.  223 — 225).  Charakteristisch  für 
diese  „Endplatten"  ist  der  Umstand,  dass  sich  an  ihrer  Stelle  fast 
immer  eine  mehr  oder  weniger  mächtige  Anhäufung  einer  feinkörnigen, 
von  Kernen  durchsetzten  Substanz  ( Sarkoplasma)  berindet,  innerhalb 
deren  die  Verzweigungen  des  Axencylinders  eingebettet  liegen  („Plat- 
tensohle" Kühne's)  (Fig.  224).     Bei  den  „Stangengeweihen"  ist  diese 


734 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


„Granulosa"  in  der  Regel  kaum  merklich,  während  sie  bei  den  ., Plat- 
tengeweihen" oft  mächtig  entwickelt  erscheint  und  im  Proftlbild  als 
eine  hügelige  Hervorwölbung,  entsprechend  dem  Doy  er 'sehen  Nerven- 
hügel der  Insectenmuskeln,  kenntlich  wird  (Fig.  225). 

Ein    in  mehrfacher  Beziehung  abweichendes  Verhalten  bieten  die 
motorischen  Nervenendiffuns'en  beiden  Fischen  dar.    Neben  solchen, 


Fig.  223.     Plattengeweihe    aus    Muskelfasern    des    Kaninchens   (a),    des    Meei-schwein- 
chens  (c)  und  der  Ratte  (b)  [Goldpräparate].     (Nach  Kühne.) 


■^iim^^c^y: 


Fig.  224. 


Fig.  225. 

Fig.  224.  Plattengeweih,  frisch  in  0,6  % 
Kochsalzlösung,  von  Lacerta  agilis; 
Plattensohle  mit  Kernen.  (Nach  K  ü  h  n  e.) 

Fig.  225.  Plattengeweih  aus  einer  Muskel- 
faser der  Maus.     Nervenhügel  im  Profil. 
(Nach  Kühne.) 


welche  durchaus  den  „Endplatten"  höherer  Wirbelthiere  entsprechen 
(Myxine,  Raja  vergl.  Retzius  (53),  finden  sich  zum  Theil  bei  denselben 
kSpecies  auch  viel  einfachere  Formen ,  indem  der  Axencylinder  nach 
Verlust  der  Markscheide  sich  kaum  oder  nur  wenig  verzweigt,  und 
der  Muskelfaser  einfach  der  Länge  nach  anliegt,  wobei  sich  im  Verlauf 
stets  mehr  oder  weniger  grosse  knotige  Varikositäten  („Endscheiben" 
Retzius)  bemerkbar  machen.  Auch  bei  gewissen  Amphibien  und  den 
höheren    Wirbel thieren    finden    sich    alle    Uebergänge     zwischen    den 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  735 

einfachsten  Formen  der  Endigung  bis  zu  den  compHcirtesten  „ Stangen "- 
und  „Plattenge weihen".  Es  ist  dabei  bemerkenswerth,  dass  unter 
Umständen  ein  gewisser  Typus  der  Nervenendigung  bei  einem  und 
demselben  Thier  auf  ganz  bestimmte  Muskeln  oder  Muskelgruppen 
beschränkt  erscheint.  So  finden  sich  in  den  Augenmuskeln  des  Frosches 
in  tiberwiegender  Menge  Nervenendigungen,  welche  vielmehr  an  die 
einfacheren  Typen  bei  niederen  Amphibien  (Proteus)  und  Fischen 
erinnern  (Retzius  1.  c).  Noch  viel  auffallender  erscheint  in  dieser 
Beziehung  der  Gegensatz  zwischen  Augen  und  Stammesmuskeln 
bei  Säugethieren  (vergl.  Retzius  1.  c.  p.  48).  Während  sich 
bei  jenen  stets  charakteristische  „Endplatten"  finden ,  zeigen  diese 
Nervenendverzweigungen,  die  von  dem  gewöhnlichen  Typus  jener  sehr 
abweichen  und  wieder  sehr  an  die  bei  niederen  Thieren  vorkommenden 
Formen  erinnern.  Die  in  der  Längsrichtung  der  Muskelfasern  lang- 
gestreckten Endäste  sind  nur  wenig  verzweigt  und  mit  einer  wechselnden 
Zahl  von  „Endscheiben"  versehen.  Von  grossem  Interesse  sind  auch 
die  von  Retzius  (1.  c.  p.  48)  an  demselben  Object  beobachteten  „ein- 
fachsten Formen  der  Endverzweigungen",  deren  Vorkommen  ich 
durchaus  bestätigen  kann,  und  welche  aus  einem  unverästelten  mark- 
losen Seitenzweig  einer  markhaltigen  Nervenfaser  bestehen,  „an  dem 
nur  eine  einzige  End Scheibe  vorhanden  ist" .  In  andern  Fällen 
läuft  der  Zweig  ohne  Verästelung  weiter  und  trägt  zwei,  drei  oder 
mehr  Endscheiben,  welche  unter  Umständen  eine  beträchtliche  Grösse 
erreichen.  Alle  möglichen  Uebergänge  führen  von  diesen  einfachsten 
Formen  zu  sehr  complicirten  Verzweigungen  des  Axencylinders.  Wie 
immer  sich  aber  auch  im  Einzelnen  das  Verhalten  der  motorischen 
Nervenendigungen  gestalten  möge,  niemals  lässt  sich  weder  mit  Hülfe 
der  Goldmethode  noch  der  Methylenblaufärbung  ein  „intravaginales 
Nervennetz"  im  Sinne  Gerlach's  (53)  nachweisen;  stets  ist  die  Be- 
rührung zwischen  Nerv-  und  Muskelsubstanz  eine  vollkommen  distincte, 
auf  die  nächste  Umgebung  der  Eintrittsstelle  beschränkte.  Wie  man 
leicht  sieht,  ist  gerade  dieser  Punkt  für  jede  physiologische  Theorie 
von  ausschlaggebender  Bedeutung,  denn  offenbar  würden  unsere  An- 
schauungen über  die  Beziehungen  zwischen  Nerv  und  Muskel  sich 
ganz  wesentlich  verschieden  gestalten,  wenn  es  als  bewiesen  gelten 
dürfte,  dass  im  Sinne  Gerlach's  „überall  da,  wo  contractile  Substanz 
sich  findet,  auch  die  Gegenwart  nervöser  Elementartheile  vorausgesetzt 
und  überhaupt  das  Ziehen  einer  scharfen  Grenze  zwischen  Nerv-  und 
Muskelgewebe  als  nicht  zulässig  betrachtet  wird".  Viel  eher  als  die 
Befunde  bei  Wirbelthiermuskeln ,  wo  die  Gerlach'sche  Auffassung 
zweifellos  durch  eine  irrthümliche  Deutung  gewisser  Goldbilder  ver- 
anlasst war,  liessen  sich  in  demselben  Sinne  Bilder  verwerthen,  welche 
mittels  der  Methylenblaufärbung  an  gewissen  Arthropodenmuskeln 
hervortreten.  Beim  Krebs  gelingt  es  ausserordentlich  leicht,  die  Nerven 
der  Rumpf-  und  Schwanzmuskeln  in  einer  Vollständigkeit  und  Schärfe 
zu  färben,  dass  man  wohl  mit  Bestimmtheit  annehmen  darf,  in  ge- 
lungenen Fällen  die  Verzweigungen  der  Axencylinder  bis  in  ihre 
feinsten  Enden  zur  Darstellung  gebracht  zu  haben.  Unter  diesen 
Umständen  bieten  nun  insbesondere  die  breiten,  bandförmigen  Muskeln, 
welche  an  der  ventralen  Fläche  des  Thorax  verlaufen,  sowie  die  ober- 
flächlichen Schichten  der  Schwanzmuskeln  einen  geradezu  erstaunlichen 
Reichthum  an  Nerven  dar.  Jedes  kleinste  Stückchen  von  der  Ober- 
fläche eines  solchen  gutgefärbten  Muskels  erscheint  unter  dem  Mikroskop 


736  Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

wie  übersponnen  und  durchsetzt  von  einem  mehr  oder  weniger  dichten 
Geflecht  feinster,  blauer,  durch  reichliche  variköse  Anschwellungen 
ausgezeichneter  Axencylinder,  die,  hervorgegangen  aus  der  Verzweigung 
grösserer,  meist  mehrere,  durch  verschiedene  Dicke  und  Farben- 
intensität ausgezeichnete  Axencylinder  enthaltender  Stämmchen,  das 
betrefFende  Muskelbündel  seiner  ganzen  Dicke  nach  durchziehen. 
Ehrlich,  welcher  diese  Verhältnisse  zuerst  beobachtete,  ist  daher 
der  Meinung,  dass  es  sich  hier  in  der  That  um  „intramusculäre 
Plexus"  (dem  „intravaginalen  Nervennetz"  Gerlach's  entsprechend) 
handelt,  und  dass  ein  principieller  Unterschied  besteht 
zwischen  der  Endigungsw  eise  der  Nerven  in  den  eben 
erwähntenMuskelnund  andererseitsinjenen  derExtre- 
mi täten,  wo  seinen  Angaben  zu  Folge  „die  Nerven  isolirt  verlaufen 
und  Ob  er  flächen  Verzweigungen  bilden,  welche  durch  Methylenblau 
nur  ganz  ausnahmsweise  gefärbt  werden".  In  der  That  lässt  sich 
nicht  leugnen,  dass  beträchtliche  Verschiedenheiten  bestehen.  Will  man 
nicht  annehmen,  dass  die  Methylenblaufärbung  der  Nerven  in  den 
Scheerenmuskeln  des  Krebses  in  allen  Fällen  nur  eine  höchst  unvoll- 
ständige bleibt  —  und  es  liegt  nach  meinen  Erfahrungen  durchaus 
kein  Grund  zu  einer  derartigen  Annahme  vor  — ,  so  lässt  jede  auch 
nur  flüchtige  Vergleichung  von  zwei  demselben  Thiere  entnommenen 
und  in  ganz  gleicher  Weise  behandelten  Präparaten  der  Rumpf-  und 
Scheerenmuskeln  den  auffallenden  Unterschied  des  Reichthums  an 
Nervenendverzweigungen  hervortreten,  der  sich  einerseits  dadurch 
äussert,  dass  die  terminalen  Zweige  auch  das  ganze  Innere  eines  aus 
zahlreichen  grösseren  und  kleineren,  durch  Sarkoglia  getrennten 
Gruppen  von  quergestreiften  Fibrillen  bestehenden  Muskelbündels 
durchsetzen,  andererseits  aber  auch  durch  eine  ganz  unverhältnissmässig 
reichere  Verzweigung  jedes  einzelnen  Axencylinders.  Dem  gegenüber 
gleichen  die  motorischen  Endigungen  in  den  Scheerenmuskeln  (sowie 
überhaupt  den  Extremitätenmuskeln)  vielmehr  jenen,  welche  bei  den 
niedersten  Wirbelthieren  vielfach  vorgefunden  werden.  In  mehrfacher 
Beziehung  erscheint  insbesondere  der  Modus  der  Verzweigung  und 
Endigung  der  Nerven  in  dem  Oeffuungsmuskel  der  Krebsscheere  von 
Interesse.  Es  wurde  schon  früher  erwähnt,  dass  die  Axencylinder, 
deren  stets  zwei  verschieden  dicke  in  einer  gemeinsamen  Bindegewebs- 
scheide  verlaufen,  sich  wiederholt  dichotomisch  auf  das  Reichste 
verzweigen,  und  zwar  so,  dass  bis  zu  den  letzten  Endigungen  bei  jeder 
neuen  Gabelung  des  Nervenstämmchens  immer  beide  Axencylinder 
an  einer  und  derselben  Stelle  sich  theilen  (vergl.  Fig.  150).  Innerhalb 
der  gröberen  Verästelungen  erscheint  die  schmale  Faser  gewöhnlich 
zugleich  auch  dunkler  blau  gefärbt,  während  in  den  feinsten  Endästchen 
ein  derartiger  Unterschied  nicht  mehr  merklich  ist.  Dieselben  enthalten 
innerhalb  einer  sehr  dünnen  Scheide  zwei  gleich  dicke,  zarte  und  meist 
stark  variköse  Fasern ,  welche  die  Verlaufsrichtung  der  Muskelfasern 
kreuzen  und  von  Stelle  zu  Stelle  die  eigentlich  terminalen  Zweige  ab- 
geben; auch  diese  sind  stets  paarig  und  enden,  wie  es  scheint,  frei 
innerhalb  des  Sarkoplasmamantels  der  betreffenden  Muskelfaser.  Nur 
selten  zeigen  diese  letzten  Endästchen  noch  eine  spärliche  Verzweigung. 
Niemals  aber  kommt  es  weder  hier  noch  an  den  Extremitätenmuskeln 
überhaupt  zur  Entwicklung  eines  so  reichen  Nervengeäders ,  wie  bei 
den  Rumpfmuskeln.  Einem  ganz  ähnlichen  Verhalten  der  Muskel- 
nervenendigungen  begegnet  man  auch  bei  Insecten,  und  liefern  insbe- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


737 


sondere  die  Thoraxmuskeln  grösserer  Heuschreckenarten  bei  An- 
wendung derselben  Methode  überaus  schöne  und  klare  Bilder,  welche 
indessen  durch  den  Reichthum  der  Nervenverzweigungen  oft  an  die 
Rumpfmuskeln  der  Crustaceen  erinnern.  Wo  sich  jedoch  gut  ent- 
wickelte Doyer'sche  Hügel  finden,  da  bleibt  auch  "regelmässig  die 
Verzweigung  des  eintretenden  Axencylinders  ähnlich  wie  bei  den  End- 
platten der  Wirbel thiere  eine  local  sehr  beschränkte.  So  sah  ich  bei 
Hydrophilus  den  Axencylinder  in  der  Substanz  des  Hügels  sich 
meist  in  zwei  nach  entgegengesetzten  Richtungen  ausstrahlende  knotige 
Endzweige  theilen,  welche  eine  kurze  Strecke  weit  parallel  der  Längsaxe 
der  Muskelfaser  verlaufen,  um  dann 
scheinbar  frei  zu  enden.  In  andern 
Fällen  senden  dieselben  noch  einige 
kurze  Seitenzweige  aus,  deren  Vor- 
handensein bisweilen  nur  durch  ganz 
isolirte  dunkelblaue  Tröpfchen  ange- 
deutet scheint.  Sehr  oft  erscheint 
endlich  (wohl  in  Folge  der  grossen 
Zersetzlichkeit  der  an  sich  äusserst 
zarten,  nackten  Axencylinder)  die 
Nervenendigung  überhaupt  nur  als 
eine  im  Hügel  befindliche  Anhäufung 
grösserer  und  kleinerer,  nicht  mehr 
zusammenhängender  blauer  Tröpf- 
chen, deren  eigentliche  Bedeutung 
sich  nur  durch  Vergleichung  mit 
andern  Stellen  desselben  Präparates 
ergiebt.  Aehnliche  Befunde  theilte 
neuerdings  noch  Rina  Monti  (53) 
von  verschiedenen  Insecten  mit. 

Sehr  abweichende  Anschauungen 
über  das  Verhalten  der  motorischen 
Nervenendigungen  bei  Insecten  sind 
von  Foettinger  (53)  geäussert 
worden ,  denen  zu  Folge  ein  princi- 
pieller  Unterschied  zwischen  Wirbel- 
thieren  und  Insecten  bestehen  würde. 
Bei  den  von  ihm  untersuchten  Käfern 
(Chrysomela  coerulea,  Lina  tremula, 
Hydrophilus  piceus,  Passalus  glaberri- 
mus)  fanden  sich  in  der  Regel  mehrere 
und  oft  zahlreiche  Nervenendigungen 
an  einer  und  derselben  Primitivfaser, 

welche,  wie  sich  auch  an  gehärteten  Präparaten  constatiren  lässt,  häufig 
(immer?)  den  Ausgangspunkt  von  Contractionswellen  bilden.  Nach  Be- 
handlung mit  Osmiumsäure  und  Alkohol  lassen  sich  in  der  Profilansicht 
eines  Doyer'schen  Hügels  bisweilen  zarte  Fibrillen  oder  Fädchen  erkennen, 
welche  von  der  Ansatzstelle  der  zutretenden  Nervenfaser  ausgehen 
und  nach  den  Zwischenscheiben  hinziehen  (Fig.  226).  Handelt  es  sich 
hier  wirklich  um  eine  Ausstrahlung  des  Axencylinders,  so  würde  damit 
eine  directeContinuität  zwischen  bestimmten  Schichten 
der  quergestreiften  Muskelfaser  und  dem  Nerven  und  damit 
eine  Vermuthung  bewiesen    sein,  welche  Engelmann  (54)  schon  vor 


Fig.  226.     Nervenendigung 

in    einer    Muskelfaser    von 

Hydrophilus  piceus. 

(Nach    A.  Foettinger.) 


738  l^iß  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nen-eu. 

längerer  Zeit  äusserte,  indem  er  die  isotrope  Grundsubstanz  des  Muskels 
als  eine  „wenn  auch  etwas  modificirte  Fortsetzung  des  Axencylinders 
der  motorischen  Nervenfaser''  betrachtet  und  als  „nervöse"  von  der 
„contractilen"  unterscheidet.  Meine  eigenen,  mit  Hilfe  der  Methylen- 
blaufärbung gewonnenen  Erfahrungen  sprechen  freilich  sehr  Avenig  zu 
Gunsten  einer  derartigen  nahen  Beziehung  zwischen  den  letzten  Enden 
des  eintretenden  Axencylinders  und  den  Zwischenscheiben,  obschon 
ich  auch  neuerdings  wieder  meine  Aufmerksamkeit  gerade  speciell  auf 
diesen  Punkt  gerichtet  habe.  Bei  Crustaceen  (Krebs)  und  mehreren 
Heuschreckenarten  (Locusta  und  Acridium)  konnte  ich  mich  selbst  an 
den,  wie  ich  meine,  gelungensten  Präparaten  niemals  von  einem 
derartigen  Verhalten  überzeugen.  Immerhin  bleiben  ausgedehntere 
Untersuchungen  dringend  erforderlich. 

Es  liegt  natürlich  nahe,  die  auffallende  Verschiedenheit  der  Muskel- 
nervenendigungen  bei  verschiedenen  Thieren,  sowie  bei  verschiedenen 
Muskeln  einer  und  derselben  Species  mit  functionellen  Unterschieden 
der  betreffenden  Muskeln  in  Beziehung  zu  setzen  und  beispielsweise 
beim  Krebs  die  Trägheit  der  Scheeren,  sowie  die  Flinkheit  der  Schwanz- 
muskeln zu  betonen.  Indessen  reicht  die  Zahl  der  bisher  vorliegenden 
Erfahrungen  bei  Weitem  nicht  aus,  um  weitergehende  Folgerungen  in 
dieser  Richtung  zu  gestatten.  Ebensowenig  darf  es  als  bewiesen 
gelten,  dass  die  besonders  beim  Oeffnungsmuskel  der  Krebsscheere  so 
sehr  charakteristische,  morphologische  Verschiedenheit  der  beiden  bis 
zum  Ende  zusammen  verlaufenden  Axencylinder  wirklich  der  hier 
nachgewiesenen  doppelten  Innervation  von  Seite  eines  motorischen  und 
eines  Hemmungsnerven  entspricht,  obschon  eine  solche  Vermuthung 
gewiss  nicht  unbegründet  erscheint. 

Bezüglich  der  motorischen  Nervenendigungen  an  einkernigen 
quergestreiften  und  glatten  Muskelzellen  der  Wirbellosen  und  Wirbel- 
thiere  sind  unsere  derzeitigen  Kenntnisse  noch  sehr  unvollkommen. 
Als  sicherstehend  darf  vor  Allem  das  Fehlen  charakteristischer 
Endplatten  am  Herzmuskel  auch  der  höheren  Wirbelthiere  be- 
trachtet werden,  und  scheint  der  Verlauf  und  die  Endigung  der  feinsten 
marklosen  Nervenzweige  hier  allgemein  in  der  Weise  zu  erfolgen,  dass 
dieselben,  sich  vielfach  dichotomisch  theilend,  die  Muskelbündel  um- 
spinnen, schliesslich  zwischen  dieselben  eindringen  und  mit  feinsten 
varikösen  Endästchen  an  den  einzelnen  Zellen  endigen  (Retzius). 
Aehnlich  scheint  es  sich  auch  hinsichtlich  der  Endigungsweise  der 
Nerven  in  glattmuskeligen  Theilen  zu  verhalten,  wobei  vielfach  die 
Aehnlichkeit  mit  gewissen  sehr  einfachen  Formen  der  Nervenendi- 
gungen in  quergestreiften  Muskeln  niederer  Wirbelthiere  und  Wirbel- 
loser auffällt. 

Wenn  wirklich,  was  schon  D  u  B  ois-Rey  mond  seiner  Zeit  aus- 
sprach, in  der  Lehre  von  der  Muskel-Innervation  die  Hauptaufgabe 
der  Histologie  zufällt,  so  erscheint  es  durchaus  geboten,  die  Gesammt- 
heit  aller  bisherigen  Erfahrungen  über  die  Morphologie  der  motorischen 
Nervenendigungen  bei  Wirbelthieren  und  Wirbellosen  zu  berücksichtigen, 
um  zu  einer  richtigen  Würdigung  der  bisher  geäusserten  theoretischen 
Anschauungen  zu  gelangen.  Ich  habe  es  daher  auch  versucht,  im 
Vorhergehenden  eine  möglichst  gedrängte  Uebersicht  der  einschlägigen 
Forschungsresultate  zu  geben.  Ausgehend  von  der  in  mancher  Be- 
ziehung in  der  That  auffallenden,  entwicklungsgeschichtlich  übrigens 
durchaus    beoreiflichen ,    anatomischen    Aehnlichkeit    der    motorischen 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  739 

„Endplatten"  an  den  quergestreiften  Stammesrauskeln  der  höheren 
ÄVirbelthiere  mit  der  Nervenendigung  in  den  später  zu  beschreibenden 
„elektrischen  Platten"  des  elektrischen  Organs  von  Torpedo,  hat 
zuerst  W.  Krause  (55)  und  wenig  später  Kühne  (56)  die  Ansicht 
ausgesprochen,  es  möchte  die  Wirkung  des  Nerven  auf  den  Muskel 
darauf  beruhen,  dass  der  letztere  von  jenem  unter  Vermittlung  der 
Endplatte  einen  elektrischen  Schlag  erhält  und  dadurch  zur  Con- 
traction  veranlasst  wird.  Man  hätte  sich  demgemäss  vorzustellen, 
dass  durch  die  vom  Nerven  aus  zugeleitete  Erregung  in  den  Endplatten 
ein  kurzdauernder  elektrischer  Spannungsunterschied,  wie  in  den 
elektrischen  Platten,  erzeugt  wird.  „Die  eine  Fläche  der  Nervenend- 
platte ,  gleichgiltig  zunächst  welche,  würde  zeitweise  positiv,  die  andere 
negativ.  Der  dadurch  bewirkte  elektrische  Schlag  erregte  die  von 
ihm  in  hinlänglicher  Dichte  betroffene  contractile  Substanz",  woran 
sich  unmittelbar  die  Zuckung  schliesst.  „Tetanus  entstände  durch 
eine  mehr  oder  minder  dicht  gedrängte  Reihe  solcher  Schläge."  Diese 
Anschauung  (die  sogen.  Ent  ladungshypo  thes  e  nach  Du  Bois- 
Reymond)  hat  sich  auch  in  der  Folgezeit  erhalten  und  unter  Anderem 
zu  der  Vermuthung  geführt,  dass  auch  die  von  Matte ucci  entdeckte 
secundäre  Zuckung  von  Muskel  zu  Nerv  nicht  sowohl  von  einer 
Elektricitätsentwicklung  von  Seite  des  ersteren,  sondern  von  Ent- 
ladungen an  den  intramusculären  Nerven,  bezw.  den  Endplatten 
herrühre.  Hatte  doch  schon  Beq  ue  rel,  freilich  ohne  Kenntniss  jener 
histologischen  Verhältnisse,  die  secundäre  Zuckung  Matteucci's  mit 
der  physiologischen  Wirkung  des  Schlages  der  Zitterlische  in  eine 
directe  Parallele  gestellt  und  demgemäss  auf  eine  elektrische  Entladung 
in  dem  Muskel  bezogen  (vergl.  Du  B o i s - R e y m o n d  23  p.  15).  Durch 
Kühne  ist  jedoch  neuerdings  der  Annahme,  dass  es  sich  dabei  um 
Entladungen  von  Seite  der  Endplatten  handelt,  jeglicher  Boden 
entzogen  worden.  Denn  weder  zeichnet  sich  die  Gegend  der  Nerven- 
eintrittsstelle, deren  Umgebung  besonders  reich  an  Endorganen 
ist,  durch  eine  grössere  secundäre  Wirksamkeit  aus,  als  andere 
nervenarme  oder  davon  gänzlich  freie  Muskelstrecken,  noch  auch  ist 
es  Kühne  in  Weiterverfolgung  eines  von  Du  Bois-Reymond 
herrührenden  Versuchsplanes  gelungen,  von  Muskeln,  deren  Erreg- 
barkeit durch  verschiedene  Mittel  mit  möglichster  Schonung  der 
intramusculären  Nerven  vernichtet  wurde,  secundäre  Zuckung  zu 
erhalten  (Kühne  2  p.  42).  Damit  ist  allerdings  noch  keineswegs 
auch  die  oben  erwähnte  „Entladungshypothese"  widerlegt,  die  sich  ja 
zunächst  nur  auf  das  Verhältniss  zwischen  motorischer  Endplatte  und 
der  zugehörigen  Muskelfaser  bezieht,  und  es  erscheint  daher  eine  ein- 
gehendere Erörterung  derselben  durchaus  geboten.  D  u  B  o  i  s  -  R  e  y  m  o  n  d 
hat  eine  solche  in  seiner  bekannten  Abhandlung  ,,Experimentalkritik 
der  Entladungshypothese"  (57)  mit  aller  wünschenswerthen  Genauig- 
keit gegeben.  Stellt  man  sich  vor,  dass  jede  Endplatte  nach  Art  der 
elektrischen  Platte  bei  der  Erregung  an  ihrer  Rücken-  und  Sohlen- 
fläche entgegengesetzte  Spannungen  entwickelt,  so  lassen  sich  unter 
der  Voraussetzung,  dass  die  beiden  Flächen  der  Platte  isoelektrische 
Flächen  sind ,  die  daraus  resultirenden  Stromcurven  nach  Du  Bois- 
Reymond  in  der  Weise  des  beistehenden  Schemas  (Fig.  227  a,  h)  dar- 
stellen. Man  sieht  sofort,  dass  nicht  nur  die  der  Platte  entsprechende, 
sondern  eventuell  auch  umliegende  Muskelfasern  in  gleicher  Weise  ge- 
reizt werden  müssten ,  was  aber  nachweislich  unter  normalen  Verhält- 


740 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


nissen  nicht  der  Fall  ist.  Uebrigens  durchsetzen  die  Stromfäden  ge- 
rade die  nächstbetheiligten  Fasern  senkrecht  zu  deren  Längsaxe,  also 
in  unwirksamer  Richtung.  Es  lassen  sich  gewisse  künstliche  und  da- 
her von  vornherein  unwahrscheinliche  Voraussetzungen  machen,  unter 
welchen  an  der  Platte  eine  derartige  Vertheilung  der  Spannungen  zu 
Stande  kommt,  „dass  die  dadurch  gesetzte  Strömung  in  der  zuge- 
hörigen Faser  merklich  dichter  ist,  als  in  den  Nachbarfasern",  indessen 


Fig.  227. 


wird  man  um  so  weniger  geneigt  sein,  dieselben  anzunehmen,  als  damit 
gerade  die  Analogie  mit  der  elektrischen  Platte  wegfällt.  So  könnte 
man  sich  u.  A.  denken  ,  dass  bei  der  Erregung  SpannungsdifFerenzen 
nur  an  der  Sohlenfläche  der  Endplatte  entstehen  (Fig.  228),  die  dann 
„im  Augenblick  der  Entladung  eine  Mosaik  positiver  und  negativer 
Punkte"  bilden  würde,  „zwischen  denen  gleichsam  nur  Molekular- 
strörachen  kreisten,  die  schon  in  einer  Entfernung  gleich  der  geringsten 
Dicke  der  Platte  von  unmerklicher  Dichte  wären".  Nimmt  man 
hinzu,  dass    die  Thatsachen    der  vergleichenden  Histologie    der  moto- 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 


741 


rischen  Nerven-Endigungen  in  directestem  Widerspruch  mit  der  Ent- 
ladungshypothese  stehen ,  da  das  Vorkommen  wirklich  typischer 
Endplatten  auf  die  Muskeln  der  höheren  Wirbelthiere,  einiger  Fische 
und  Insecten  beschränkt  zu  sein  scheint,  so  wird  man  kaum  ge- 
neigt sein,  dieselbe  in  ihrer  ursprünglichen  Form  aufrecht  erhalten 
zu  wollen.  Du  Bois-Reymond  hat  daher  eine  „modificirte 
Entladungshypothese"  aufgestellt ,  die  freilich  ebensowenig  annehmbar 
erscheint,  wie  jene  erste,  da  die  Voraussetzungen,  auf  denen  sie  beruht, 
zur  Zeit  ebenfalls  als  nicht  zutreffend  gelten  müssen.  „Gefordert  wird 
dabei  ein  bestimmtes  anatomisches  Verhalten,  das  zugleich  die  Unwirk- 
samkeit des  Vorganges  für  benachbarte  Muskelfasern  erklären  würde 
und  in  einer  leichten ,  hakenförmigen  Umbiegung  des  äussersten  Endes 


Fig.  228. 


Fig.  229. 


jeder  hypolemmalen  Nervenfaser  zur  Mantelfläche  des  contractilen 
Cylinders  mit  der  Richtung  nach  dessen  Axe  hin  bestehen  sollte." 
(Du  Bois-Reymond  1.  c.  p.  555.)  Der  Endfläche  jedes  hypolemmalen 
Nervenhakens  legt  nun  Du  Bois-Reymond  die  Eigenschaften 
eines  künstlichen  Querschnittes  und  daher  vor  Allem  negative 
Spannung  im  Vergleich  zum  „natürlichen  Längsschnitt"  der  Endfaser 
bei  (Fig.  229).  Die  negative  Schwankung  dieses  präexistirenden  Stro- 
mes sollte  nun  den  Reiz  für  die  direct  berührte  Muskel-Substanz  bilden, 
wobei  noch  ausserdem  vorausgesetzt  werden  muss ,  dass  dieselbe,  was 
nach  allen  vorliegenden  Erfahrungen  an  sich  im  höchsten  Grade  un- 
wahrscheinlich ist,  für  einen  so  schwachen  Reiz  wie  die  negative 
Schwankung  des  Nervenstromes  hinreichende  Empfindlichkeit  besitzt. 
Kühne  (11  p.  90  fi".)  hat  zahlreiche  und  auf  das  Mannigfaltigste 
variirte  Versuche  angestellt,  um  womöglich  experimentelle  Anhalts- 
punkte für  die  modificirte  Entladungshypothese  oder  eine  ihr  ähnliche 
zu  gewinnen,  doch  blieben  dieselben  ohne  Erfolg.  Das,  was  Du 
Bois-Reymond  von  einer  einzigen  Primitivfaser  verlangt,  lässt  sich 


742  I^i^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

nicht  einmal  ei'zielen,  wenn  ein  starker,  viele  100  Fasern  enthaltender 
Froschnerv  einem  Muskel  in  günstigster  Anordnung  angelegt  und  dann 
erregt  wird,  und  ebensowenig  gelingt  die  gewünschte  künstliche  Ueber- 
tragung  der  Erregung  von  Nerv  auf  Muskel,  wenn  man  sich  nach 
Kühne' s  Vorgang  des  elektromotorisch  noch  viel  kräftiger  wirken- 
den marklosen  Hechtolfactorius  bedient. 

Gestützt  auf  ausserordenthch  umfassende  und  eingehende  Unter- 
suchungen über  die  Morphologie  der  motorischen  Nerven-Endigung 
bei  Wirbel thieren ,  hat  Kühne  selbst  später  den  Versuch  gemacht, 
die  Muskel-Innervation  auf  elektrische  Vorgänge  im  erregten  Nerven 
zurückzuführen,  der  jedoch  den  erweiterten  Kenntnissen  namentlich 
betreffs  der  Endigungsweise  motorischer  Nerven  bei  wirbellosen 
Thieren  ebenso  wenig  Stand  halten  dürfte,  wie  alle  früheren,  dasselbe 
Ziel  verfolgenden  Versuche.  K  ü  h  n  e  hat  sich  bemüht,  die  zwei  Haupt- 
typen der  hypolemmalen  Endigungen  bei  Wirbelthieren  als  Platten 
(bei  Reptilien,  Vögeln,  Säugethieren  und  Fischen)  und  Terminalfasern 
(Stangengeweihe  bei  Amphibien)  durch  Vergleichung  möglichst  vieler 
Einzelfälle  gewissermaassen  auf  ihr  einfachstes  Schema  zurückzuführen, 
um  womöglich  „zur  Erkenntniss  des  Allen  Gemeinsamen  oder  zu  der 
äussersten  den  Charakter  der  Endigung  bewahrenden  Reduction  zu 
gelangen." 

Bei  Salamandra,  wo  die  motorische  Nervenendigung  bloss  „aus 
markfreien  und  kernlosen,  direct  und  ohne  jedes  Zwischenglied  zwischen 
Sarkolemm    und    contractiles  Gewebe   gebetteten  Endfasern  bestehen", 

bot  sich  als  einfachste  Form  die  nebenstehende  dar  '~f~'  ,    worin  der 

stärkere  Balken  den  letzten  epilemmalen,  markführenden  Nerven,  die 
vier  winklig  abgehenden  die  intramusculären,  der  Muskelfaserung  meist 
annähernd  parallelen  Endfasern  darstellen.     Häufig   kommen    auch  as- 

symmetrische  Geweihe  der  beistehenden  Form  vor  |-^ — ,  f^,  da- 
gegen niemals  die  einfache  V~  Form.  Dem  gegenüber  zeichnen  sich 
die  „Plattengeweihe"  der  höheren  Wirbel thiere  hauptsächlich  durch 
die  buchtigen,  mit  kurzen  Läppchen  oder  Buckeln  besetzten  Ränder 
der  Aeste  aus.  Bei  genauerem  Zusehen  lässt  sich  jedoch  auch  hier 
wieder  jene  für  die  Stangengeweihe  charakteristische,  unsymmetrische 
Abzweigung  der  Endästchen  „mit  Knicken,  nach  Art  des  Bajonetts" 
(„niemals  in  Gestalt  der  Stimmgabel" ),  constatiren ,  wobei  „noch  eine 
andere  auf  dieselbe  Bedeutung  zurückzufidirende  Einrichtung  hinzu- 
kommt, bestehend  in  bogenförmig  gegen  einander  und  in  sich  zurück- 
rankender Krümmung  der  Aeste,  deren  seitliche  oder  endständige 
Prominenzen  so  nahe  zusammenrücken,  dass  sie  nur  sehr  schmale 
Muskelbrücken  zwischen  sich  fassen".  „Alle  Uebergänge  dieser  Fase- 
rung von  der  einfachsten,  welche  in  einer  einzigen  um  die  Fläche  ge- 
bogenen,  mit  Buckeln  versehenen  Schleife  zu  bestehen  scheint,  bis 
zur  mehr  circumscripten  und  labyrinthischen  Platte  in  Hügeln  von 
kreisförmiger,  elliptischer  und  oblonger  Basis,  kommen  vor.  Das  ein- 
fachste Schema  würde  also  hier  mit    ^f  ,  das  entwickeltere  mit  dieser 

Figur   ^r     zu   bezeichnen    sein".     Aus    dem    geschilderten  Verhalten 


des  Endfasern    leitet   nun  Kühne    eine   Eigenthümlichkeit   im  Ablauf 
der    in    sie    trelangenden  Reizwellen   her,    ., welche   von  Bedeutung   für 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  743 

die  Muskelerregung  sein  wird",  indem  „in  den  nirgends  fehlenden 
gleichgerichteten  Parallelfasern  keine  Wellen  ohne  Phasendifferenz 
neben  einander  fortschreiten".  „In  Erwägung  des  von  Bernstein 
gefundenen  ausserordentlichen  steilen,  fast  senkrechten  Abfalles  der 
elektrischen  Schwankungswelle  im  Nerven  müssen  die  Entfernungs- 
differenzen der  durch  parallelen  Verlauf  zusammengehörigen  End- 
fasern von  der  nächsten  Wurzel  auch  gross  genug  erscheinen,  um 
beträchtliche  Spannungsdifferenzen  zwischen  je  zwei  durch  Senkrechte 
zu  verbindenden  Punkten  zu  ermöglichen."  „Zwischen  diesen  Punkten, 
denen  vollends  entgegengesetzte  Vorzeiclien  zuzuschreiben  sind,  wenn 
die  Schwankungswelle  im  Sinne  Bern  stein  '  s  den  Nervenstrom  um- 
kehrt, liegt  aber  Muskelsubstanz,  durch  welche  der  Ausgleich  der 
Spannungen  geschehen  muss."  Kühne  stellt  sich  also  vor,  dass 
zwischen  gegenüberliegenden  Punkten  der  Endverzvveigungen  des 
eintretenden  Nerven  in  Folge  der  Phasendifferenz  der  Reizwelle  ein 
Strom  sich  abgleiciit,  durch  welchen  die  zwischenliegende  Muskel- 
substanz gereizt  wird.  Auch  gegen  diese  Hypothese  lassen  sich  nicht 
nur  von  rein  theoretischen  Gesichtspunkten  aus  begründete  Einwände 
erheben  (Du  Bois-Reymond  58  und  Bernstein  59),  sondern  es 
sprechen  gegen  dieselbe,  wie  schon  erwähnt,  vor  Allem  die  anatomi- 
schen Thatsachen,  insbesondere  das  Verhalten  der  motorischen  Nerven- 
endigungen bei  wirbellosen  Thieren. 

Fasst  man  Alles  im  Vorstehenden  über  die  verschiedenen  „Ent- 
ladungshypothesen" Mitgetheilte  zusammen,  so  erscheint  deren  Berech- 
tigung überhaupt  in  hohem  Grade  fraglich,  und  man  wird  Bernstein 
zustimmen  müssen,  wenn  er  (1.  c.  p.  337)  jede  Vorstellung,  wonach 
der  Muskel  durch  einen  von  den  Nervenenden  nach  aussen  sich 
ergiessenden  elektrischen  Schlag  gereizt  wird,  für  ausserordentlich 
unwahrscheinlich  hält.  Ganz  abgesehen  von  den  schon  geltend 
gemachten  Gründen  sprechen  gegen  jede  derartige  Annahme  auch 
sehr  entschieden  die  zeitlichen  Verhältnisse  der  Muskel-Erregung. 
Es  handelt  sich  dabei  um  die  Frage,  ob  es  einer  messbaren  Zeit 
bedarf,  um  den  Erregungsvorgang  vom  Nervenende  auf  den  Muskel 
zu  übertragen.  Schon  Yeo  und  Cash  hatten  bemerkt,  dass  das 
Stadium  der  Latenz  bei  indirecter  Reizung  des  M.  gastrocnemius  in 
nächster  Nähe  der  Nerven-Eintrittsstelle  erheblich  grösser  ist,  als  bei 
directer  Reizung  des  Muskels,  und  Bernstein  (59)  hat  dieselbe 
Erscheinung  später  zum  Gegenstand  einer  genaueren  Untersuchung- 
gemacht. 

„Die  beträchtliche  Grösse  des  gefundenen  Zeitunterschiedes  (im 
Mittel  0,0032  bis  0,0049  Secunde)  lässt  darauf  schliessen,  dass  derselbe 
nicht  etwa  nur  auf  die  Fortpflanzung  der  Erregung  im  Nerven  bis 
zum  Eintritt  in  die  Muskelfasern  zu  beziehen  ist,  sondern,  dass  der 
Erregungsprocess  sich  in  dem  Endorgan  der  Nervenfaser  längere  Zeit 
aufhält,  als  in  einer  gleichen  Strecke  derselben."  Durch  Subtraction 
der  Leitungszeit  im  Nerven  von  dem  gefundenen  Zeitintervall  beider 
Zuckungscurven  erhält  man  die  muthmaassliche  „  E  r  r  e  g  u  n  g  s  z  e  i  t  der 
Nervenend Organe".  Nimmt  man  mit  Rücksicht  auf  den  Bau  des 
M.  gastrocnemius  den  Mittelpunkt  der  ganzen  Muskellänge  als  mittlere 
Eintrittsstelle  der  Nerven  an,  und  rechnet  man  die  Geschwindigkeit  der 
Nervenleitung  zu  27  M.  p.  See,  so  berechnet  sich  aus  Bernstein 's 
Versuchen  die  Erregungszeit  der  motorischen  Endorgane  im  Mittel  zu 
0,0032  =  ^/3i2   See.      Auch    aus    dem    Latenzstadium    der    negativen 


744  Diö  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

Schwankung  bei  indirecter  Muskelreizung  lässt  sich,  wie  Bernstein 
gezeigt  hat,  derselbe  Zeitwerth  berechnen.  Man  darf  annehmen,  dass 
bei  der  natürlichen  Erregung  vom  Nervenende  aus  ebenso  wie  bei 
dem  künstlich  elektrisch  gereizten  Muskel  an  der  Reizstelle  selbst 
die  negative  Schwankung  im  Momente  der  Reizung,  also  ohne  merkliche 
Latenz  beginnt.  Zieht  man  daher  die  Zeit  der  Nervenleitung  von 
dem  bei  indirecter  Muskelreizung  beobachteten  Latenzstadium  der 
negativen  Schwankung  ab,  so  muss  sich  wieder  die  Erregungszeit  der 
Nervenendorgane  ergeben.  In  gleichem  Sinne  würden  auch  gewisse  Be- 
obachtungen von  Tigerstedt  zu  deuten  sein,  denen  zu  Folge  bei 
directer  Reizung  nicht  curarisirter  Muskeln  bisweilen  schon  bei  nicht 
maximaler  Reizstärke  maximale  Zuckungen  mit  auffallend  längerem 
Latenzstadium  auftreten,  als  sonst  bei  maximaler  Reizung.  Ebenso 
zeichnen  sich  auch  Zuckungen  mittlerer  und  minimaler  Höhe  bei 
nicht  curarisirten  Muskeln  durch  eine  längere  Latenzdauer  aus,  als 
wie  gleich  grosse  Zuckungen  curarisirter  Muskeln. 

Die  Berechtigung  der  Folgerungen  Bernstein's  wurde  später 
von  H  0  i  s  h  0 1 1  (60)  auf  Grund  von  Versuchen  bestritten,  welche  unter 
Kühne 's  Leitung  angestellt  worden  waren;  derselbe  beobachtete  zwar 
ebenfalls  (am  Sartorius  und  Gracilis)  ein  viel  kürzeres  Latenzstadium 
bei  Reizung  der  nervenreichen  Muskelsubstanz  in  der  Nähe  des  Hilus 
als  bei  Erregung  des  daselbst  eintretenden  Nervenstammes,  fand  aber 
andererseits  bei  directer  Reizung  der  nervenfreien  Endabschnitte 
der  genannten  Muskeln  nicht  allein  eine  gleichlange,  sondern  vielfach 
sogar  eine  längere  Latenzdauer  als  bei  indirecter  Reizung  vom  Nerven 
aus.  Hoisholt  glaubt  diese  Thatsache  durch  eine  Summation  von 
Reizen  auf  den  Muskel  und  die  intramusculären  Nerven  erklären  zu 
können,  gegen  welche  Annahme  sich  in  der  Folge  Boruttau  (60) 
wendete,  der  auf  Grund  seiner  Untersuchungen  wieder  zu  der 
ursprünglichen  Auffassung  gelangte ,  indem  er  bei  Anwendung  supra- 
maximaler Reize  die  Bernstein'sche  Zeitdifferenz  auch  am  parallel- 
faserigen Muskel  bestätigt  fand,  wenn  einmal  indirect  und  dann  vom 
nervenfreien  Ende  aus  gereizt  wurde.  Stets  war  das  Latenzstadium 
letzterenfalls  kleiner.  Doch  machte  L.  As  her  (60)  hiergegen  den 
Einwand  geltend,  dass  sich  der  supramaximale  Reiz  kaum  in  genügender 
Weise  auf  das  nervenfreie  Ende  des  Muskels  beschränken  lässt.  Auf 
Veranlassung  K  ü  h  n  e '  s  benutzte  A  s  h  e  r  eine  neue  Versuchsanordnung, 
wobei  ein  nervenfrei  es  und  ein  nervenhaltiges  Muskelstückchen  des 
Sartorius  für  sich  getrennt  zucken  und  unter  absolut  gleichen 
Bedingungen  je  eine  Curve  schreiben  sollten.  Bei  gelungenen  Ver- 
suchen, deren  Zahl  bei  der  Kürze  der  verwendeten,  parallel  neben 
einander  aufgehängten  Muskelstückchen  und  der  dadurch  bedingten 
Schwierigkeit  der  Untersuchung  nicht  allzu  gross  war,  deckten  sich 
beide  Curven  im  Anfangspunkte  völlig,  besassen  daher  dieselbe 
Latenzzeit.  Dem  ungeachtet  bleibt  die  grössere  Latenz  bei  Reizung  vom 
Nervenstamm  aus  als  noch  zu  erklärende  Thatsache  bestehen.  Sollte 
sich  bei  weiteren  Untersuchungen  doch  noch  die  Auffassung  Bern- 
stein's als  richtig  herausstellen,  so  würde  eine  „Entladungshypothese" 
überhaupt  nur  unter  der  Voraussetzung  möglich  sein,  „dass,  nachdem 
die  Reizwelle  das  Endorgan  erreicht  hat,  in  diesem  der  elektrische 
Schlag  sich  Anfangs  langsam  entwickele  und  erst  nach  etwa  ^300" 
diejenige  Steigerung  erfährt,  durch  welche  die  Muskelreizung  bewirkt 
wird". 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  745 

Seitdem  es  durch  Kühne  als  zweifellos  sichergestellt  betrachtet 
werden  darf,  dass  die  letzte  Ausbreitung  des  Axencylinders  an  quer- 
gestreiften, mit  Sarkolemm  umhüllten  Muskelfasern  hypolemmal 
gelegen  ist,  erscheint  übrigens  eine  Entladungshypothese  in  dem 
ursprünglichen  Sinne  keineswegs  mehr  als  eine  nothwendige  Voraus- 
setzung zur  Erklärung  der  Innervation,  vielmehr  ist  die  Möglichkeit 
nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  dass  es  sich  dabei  um  eine  directe 
Uebertragung  der  molekularen,  dem  Erregungsvorgang  zu  Grunde 
liegenden  Processe  von  Nerv  auf  Muskel  handelt,  in  ähnlicher  Weise, 
wie  sich  ja  auch  in  beiden  Gewebselementen  die  Fortpflanzung  der 
Erregung  von  Querschnitt  zu  Querschnitt  vollzieht,  Dass  dabei  im 
Sinne  der  früher  besprochenen  Anschauungen  Hermann's  galvanische 
Vorgänge  wesentlich  mit  betheiligt  sein  können,  ist  natürlich  keines- 
wegs ausgeschlossen ,  sondern  sogar  sehr  wahrscheinlich.  Einen 
Einwand  hiergegen  wird  man  schwerlich  in  dem  Umstände  erblicken 
können,  dass  eine  wirkliche  Continuität  der  Substanz  von  Nerv  und 
Muskel  bisher  nicht  nachgewiesen  ist,  so  dass  eine  Leitung  der 
Erregung  „per  contiguitatem"  angenommen  werden  müsste.  Indessen 
haben  sich  gerade  in  letzter  Zeit  die  Angaben  sehr  gemehrt,  wonach 
auch  centrale  Nerven-Endigungen  die  Uebertragung  der  Erregung 
lediglich  durch  Berührung  vermitteln  würden. 


LITERATUR. 

1.  L.  Fredericq,  Du  Bois  Arcli.     1880.     p.  65. 

2.  W.  Kühne  und  J.  Steiner,  Untersuchungen  des  physiol.  Instituts  der  Universi- 

tät Heidelberg.     III.     p.  149. 

3.  W.  Biedermann,  W.  S.-B.     XCIII.     LEI.  Abth.     p. 

4.  S.  Fuchs,  W.  S.-B.     1894.     CHI.     III.  Abth.     p.  207  £f. 

5.  F.  Gotch  und  V.  Horsley,  Philos.  Transact.     Vol.  182  (1891)  B.     p.  267—526. 
JDu  Boia-Reymond,  Gesammelte  Abhandlungen.     II.     p.  196. 

\M.  Mendelssohn,  Du  Bois  Arch.     1885.     p.  381. 

7.  J.  Steiner,  Du  Bois  Arch.     1876.     p.  882  und  1883.     Suppl.     p.  178. 

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(W.  Kühne,  Untersuchungen  aus   dem   physiol.  Institut   der  Universität  Heidel- 
berg.    IV.  Bd.     1881. 
Th.  W.  Engelmann,  P.  A.     15.  Bd.     1877.     p.  138. 

10.  H.  Head,  P.  A.     40.  Bd.     p.  207. 

CE.  Hering,  W.  S.-B.     LXXXV.     III.  Abth.     p.  237.     1882. 

11.  <  W.  Kühne,  Untersuch,  des  physiol.  Instit.  der  Univers.  Heidelberg.    III.    1879. 
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12.  C.  Eckhardt,  Zeitschrift  für  rat.  Med.  (2).     I.     p.  303.     1851. 
f  Ph.  Knoll,  W.  S.-B.     LXXXV.     1882. 

13.  \  O.  LangendorfiF,  Mittheilungen  aus  dem  Königsberger  physiolog.  Laboratorium. 
l  1878.     p.  54. 

14.  P.  Grützner,  P.  A.     28.  Bd.     p.  130. 

15.  E.  V.  Fleisehl,  W.  S.-B.     LXXXVIII.     III.  Abth.     1883. 

16.  Ludmilla  Nemerowsky,    Ueber  das  Phänomen  der  Lücke.     Inaug.-Diss.     Bern 

1883. 

17.  Engelmann,  P.  A.    4.  Bd.     1871. 

18.  E.  Hering,  W.  S.-B.     LXXXIX.     III.  Abth.    p.  137. 

19.  Hermann,  Handbuch  der  Physiologie.     II.  1.     p.  120. 
Biedermann,  Elektrophysiologie.  48 


746  I^it^  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven. 

20,  Boruttau,  P.  A.     58.  Bd.     1894.     p.  29. 

21.  E.  Steinach,  P.  A.     55.  Bd.     p.  516.    Anm. 
oo   T,    ^   ••.  fl"-  A.     17.  Bd.     1878.    p.  215. 
22.P.  Grutzner,|j,    ^     25.  Bd.     1881. 

23.  Du  Bois-Reymond,  Untersuchungen.     II.     p.  473. 

24.  E.  Hering,  Zur  Theorie  der  Vorgänge  in  der  lebenden  Substanz.     „Lotos".     IX. 

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25.  S.  Fuchs,  P.  A.     59.  Bd.     1895.    p.  468  ff. 

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27.  Hermann,  P.  A.     18.  Bd.     p.  584  und  24.  Bd.     p.  246  ff. 

28.  Bernstein,  P.  A.     8.  Bd. 

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31.  Helmholtz,  Monatsberichte  der  Berliner  Academie.     18.54.     p.  329. 

32.  Pflüger,  Elektrotonus.     p.  442. 

33.  Wundt,  Untersuchungen  zur  Mechanik  der  Nerven  und  Nervencentren.     1871.     I. 

34.  Grünhagen,  P.  A.    4.  Bd.     1871.    p.  547. 

(  Tschirjew,  Du  Bois  Arch.     1879.     p.  525. 

35.  ■!  Hermann,  P.  A.    21.  Bd.     1880.    p.  443. 

[v.  V.  Baranowsky  und  Garre,  P.  A.     21.  Bd.     1880.     p.  449. 

36.  Hermann,  P.  A. 

37.  V.  Uexküll,  Zeitschrift  für  Biologie.     N.  F.     X.     p.  550. 

38.  Biedermann,  W.  S.-B.     XCVII.     III.  Abth.     1888.     p.  84  ff. 

iMatteucci,  Compt.  rend.     LVI.     p.  760.     LXV.     1867.     LXVI.     1868.     p.  580. 
M.   Schiff,  Zeitschrift  für  Biologie.     VIII.     p.  91.     1872. 
L.  Hermann,  P.  A.    V,  VI,  VII. 

40.  Hermann,  P.  A.     V.     1871.    p.  229  und  VI.  Bd.     p.  348.     Anm. 

( Zeitschrift  für  rat.  Med.  (3).     31.     1868.     33  und  36.     1869. 

41.  Grünhagen,  J  Die  elektromotor.  Eigenschaften  lebender  Gewebe.     Berlin  1873. 

I P.  A.    8.  Bd.     1873.    p.  419. 

42.  Grünhagen,  Funke's  Lehrbuch  der  Physiologie.     6.  Aufl.     1876.     I.     p.  498. 

43.  Du  Bois-Reymond,  Monatsberichte  der  Berliner  Acad.     1883.     XVI.     p.  343. 

44.  A.  Fick,  Centralblatt  für  die  med.  Wiss.     1867.     p.  436. 

45.  L.  Hermann,    Untersuchungen  zur   Physiol.   der  Muskeln  und  Nerven.     3.  Heft. 

p.   71.     Berlin  1868. 

46. ,  P.  A.    33.  Bd.     1884.    p.  135. 

47.  Matteucei,  Compt.  rend.     1867.     p.  65. 
^g    /  Grützner,  P.  A.     28.  und  32.  Bd. 

\  Tigerstedt,  Arbeiten  aus  dem  physiol.  Labor  zu  Stockholm.     II.  Heft. 

49.  Hoorweg,  P.  A.     LIII.  und  LIV.  Bd. 

50.  Bernstein,  Du  Bois  Arch.     1866.     p.  596  ff. 

51.  L.  Hermann,  P.  A.    VI.  Bd.     p.  560  und  VH.  Bd.    p.  32.3. 

rp    -p  ^    •        (  Untersuchungen  aus  dem  physiolog.  Institut  zu  Halle.  I.  Heft.   1888. 

'    ^  Lehrbuch  der  Physiologie.     1894. 
f —p.    1J-..-.  f  Ueber  die  peripheren  Endorgane  der  motor.  Nerven.     Leipzig  1862. 

■       ^   ^^'  {  Zeitschrift  für  Biologie.     19  und  23.     1887. 
Retzius,  Biologische  Untersuchungen.     N.  F.     III. 

J.  Gerlaeh,    Das   Verhältniss    der   Nerven    zu    den   willkürlichen   Muskeln   der 
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Ehrlich,  Deutsche  med.  Wochenschrift.     1886.     Nr.  4. 

W.  Biedermann,  W.  S.-B.     XCVI.     III.  Abth.     1887. 

Foettinger,  Onderz.  Phys.  Lab.  Utrecht.     Deel  V.     Afl.  3.     VI. 

Rina  Monti,  Rendiconti  del  R.  Instituto  Lombardo.     1891.     Ser.  2.     Vol.  25. 


Die  elektromotorischen  Wirkungen  der  Nerven.  747 

54.  Engelmann,  P.  A.     11.  Bd.     1874.    p.  463. 

55.  "W".  Krause,  Zeitschrift  für  rat.  Med.  (3).     XVIII.     p.  152.     1868. 

56.  ■W.  Kühne,  Arch.  für  patholog.  Anatomie.     29.  Bd.     p.  446.     1864. 

r,7    T.„   -D    .    T,  j     /  Monatsberichte  der  Berliner  Academie.     1874.     p.  519. 

57.  Du  Bois-Reymond,  ^'  u     »,,      j,  tt  rnc 

[  Uesammeite  Abhandlungen.     II.     p.  o9ö. 

58.  Du  Bois-Reymond ,    C.  Sachs'   Untersuchungen  am  Zitteraal  (Gymnotus  electr.). 

1881.     p.  417. 

59.  Bernstein,  Du  Bois  Arch.     1882,     p.  329  ff. 
j^  Hoisholt,  Journ.  of  Physiol.     Bd.  6.     p.  1. 

60.  l  Boruttau,  Du  Bois  Arch.     1892.     p.  454. 


Ij.  Asher,    Zeitschrift  für  Biologie.     Bd.  31.     N.  F.  13. 


48^ 


K.    Die  elektrischen  Fisclie. 


I.    Bau  und  Structur  der  elektrischen  Organe. 

Seit  den  ältesten  Zeiten  sind  die  wunderbaren  physiologischen 
Wirkungen  gewisser  Fische,  insbesondere  der  im  Mittelmeer  häutigen 
Torpedineen  und  des  den  Nil  und  andere  afrikanische  Flüsse  be- 
völkernden elektrischen  Welses  (Malopterürus  electricus)  be- 
kannt und  zum  Theil  gefürchtet.  Und  in  der  That  musste  eine 
selbst  nur  flüchtige  und  oberflächliche  Bekanntschaft  mit  irgend  einem 
Repräsentanten  dieser  kleinen  und  so  eigenthümlich  specialisirten 
Gruppe  von  Fischen  alsbald  ihre  Fähigkeit  verrathen,  bei  der  Be- 
rührung Wirkungen  zu  entfalten,  deren  Aehnlichkeit  mit  den  Erfolgen 
elektrischer  Entladungen  zuerst  Adanson  (1751)  hervorhob,  nach- 
dem bereits  viel  früher  Francesco  Redi  (1666)  in  einer  meister- 
haften anatomischen  Untersuchung  des  Zitterrochen  (Torpedo)  wahr- 
scheinlich gemacht  hatte,  dass  die  räthselhafte  Kraft  der  elektrischen 
Fische  an  besondere  Organe  geknüpft  ist,  welche  er  hier  symmetrisch 
zu  beiden  Seiten  des  Kopfes  gelegen  fand  und  ihrer  Gestalt  wegen 
als  „sichelförmige  Körper  oder  —  was  sie  vielleicht  sein  mögen  — 
Muskeln"  beschrieb.  Mir  schien  es  damals,  sagt  Redi  bei  Erzählung 
seiner  Versuche,  „als  ob  die  schmerzerregende  Wirkung  des  Zitter- 
rochen mehr  als  in  irgend  einem  anderen  Theile  in  diesen  beiden 
sichelförmigen  Körpern  oder  Muskeln  ihren  Sitz  habe".  Erst  von 
dieser  Zeit  an  datirt  eine  wirklich  wissenschaftliche  Behandlung  der 
hier  vorliegenden  Probleme.  Bis  dahin  hatte  man  sich  Jahrhunderte 
lang  begnügt,  die  so  auffallenden  und  unangenehmen  Emptindungen 
zu  erörtern,  welche  mit  dem  unvorsichtigen  Berühren  elektrischer 
Fische  verknüpft  sind  und  auch  in  der  Benennung  derselben  ihren 
Ausdruck  finden.  Sowohl  die  lateinische  Bezeichnung  „Torpedo" 
wie  die  französische  „Torpille",  die  italienische  „Tremola",  die 
altgriechische  „Narke"  für  die  Zitterrochen,  die  arabische  „Raäd" 
oder  „Raäsch"  für  den  Zitterwels  und  die  spanische  „Templador" 
für  den  südamerikanischen  Zitteraal  weisen  auf  die  betäubende  und  er- 
schütternde Wirkung  des  Schlages  elektrischer  Fische  hin,  ohne  dass  da- 
mit über  die  eigentliche  Ursache  derselben  irgend  etwas  ausgesagt  wurde. 

Die  vorahnende  Bezeichnung  der  elektrischen  Organe  von 
Torpedo    als    „Muskeln"    von    Seite    Redi 's    führte    zunächst    zur 


Die  elektrischen  Fische.  749 

Aufstellung  einer  rein  mechanischen  Theorie  ihrer  Wirkungen,  welche 
sich  am  klarsten  beiBorelli  (1685)  ausgesprochen  findet.  Er  nahm 
an,  jene  Organe  zögen  sich  mehrere  Male  schnell  hinter  einander  zu- 
sammen und  gäben  so  dem  berührenden  Gliede  eine  Reihe  von  heftigen 
Stössen,  die  einen  Krampf  zur  Folge  hätten,  gleich  dem,  der  von 
einem  Stoss  an  dem  Ellenbogen  herrührte.  Diese  Theorie  fand  all- 
gemeinen Beifall,  die  hervorragendsten  Naturforscher,  Reaumur, 
Linne  und  Hall  er  schlössen  sich  ihr  an  und  man  kann  sagen,  dass 
sie  um  das  Jahr  1750  zur  alleinigen  Herrschaft  gelangt  war  und  als 
die  einzig  mögliche  und  auch  vollständig  ausreichende  Erklärung  all- 
gemein angesehen  wurde.  Bald  nach  der  Entdeckung  der  Leydener 
Flasche  (1745)  lernte,  wie  schon  erwähnt,  Michel  Adanson  (1751), 
ein  am  Senegal  reisender  französischer  Botaniker,  hier  die  viel  kräf- 
tigeren Wirkungen  des  Zitterwelses  kennen,  dessen  Schläge  ihm,  wie 
vorher  schon  Gravesande  (Du  Bois-Reymond  4,  e  p.  127), 
sofort  durch  ihre  Aehnlichkeit  mit  Flaschenentladungen  auffielen,  mit 
denen  sie  auch  insoferne  übereinstimmten,  als  es  möglich  war,  dieselben 
durch  lange  Drähte  zu  übertragen.  Aehnliches  berichteten  holländische 
Naturforscher  aus  Surinam  von  Gymnotus,  über  welchen  die  ersten 
Nachrichten  im  Jahre  1672  nach  Europa  gelangten.  Es  wurde  fest- 
gestellt, dass  der  Schlag  durch  eine  Kette  von  mehreren  Personen 
hindurchging  und  wie  der  elektrische  Strom  nur  durch  Leiter,  nicht 
aber  durch  Isolatoren  übertragen  werden  kann.  (WiUiamson  1773.) 
Dasselbe  hatte  Walsh  schon  ein  Jahr  zuvor  zu  La  Rochelle  an 
Torpedo  festgestellt  und  damit  die  elektrische  Natur  des  Zitter- 
fischschlages zum  ersten  Male  sicher  bewiesen  (Du  Bois-Reymond 
4,  e  p.  418).  Er  zeigte  gleichzeitig,  dass  im  Momente  des  Schlages 
Rücken  und  Bauch  des  Fisches  sich  elekti'isch  different  verhalten  und 
betrachtet  demgemäss  die  „sichelförmigen  Muskeln"  Redi's  als 
elektrische  Vorrichtungen,  die  nach  dem  Willen  des  Thieres  in  Thätig- 
keit  gesetzt  werden  können.  An  einem  1775  aus  Guayana  nach 
London  gelangten  Zitteraal  (Gymnotus)  sah  Walsh  in  einem 
Stanniolspalt,  der  sich  im  Kreise  der  Entladung  befand,  auch  Funken 
überspringen,  und  konnte  diesen  Versuch  Mitgliedern  der  Royal 
Society  10 — 12  mal  nacheinander  zeigen  (3  p.  158).  Seit  dieser  Zeit 
war  die  Aufmerksamkeit  der  Forscher  auf  diesem  Gebiete  hauptsäch- 
lich darauf  gerichtet,  die  vollkommene  Identität  des  Fischschlages 
mit  dem  elektrischen  Strome  über  jeden  Zweifel  sicherzustellen. 
Cavendish  (1776),  dessen  Untersuchungen  über  Torpedo  einen 
so  wesentlichen  Fortschritt  bedeuten,  dass,  wie  Du  Bois-Reymond 
bemerkt,  erst  Faraday  wieder  denselben  Standpunkt  einnahm,  ver- 
suchte die  Wirkungen  des  Schlages  durch  gewöhnliche  Elektricität 
nachzuahmen,  indem  er  an  einem  ledernen,  mit  Seewasser  getränkten 
Modell  des  Fisches  die  den  Polflächen  der  Organe  entsprechenden 
Stellen  mit  Zinnfolie  überzog  und  durch  isolirte  Drähte  mit  einer 
Leydener  Batterie  verband.  Er  gelangte  dabei  zuerst  zu  im  Wesent- 
lichen richtigen  Anschauungen  über  die  Vertheilung  der  Spannungen 
(Stromcurven)  ausserhalb  des  Fisches  im  umgebenden  Wasser  und 
wies  nach,  wie  die  in  das  Wasser  getauchte  Hand,  auch  ohne  den 
Fisch  zu  berühren,  von  dem  elektrischen  Schlage  getrofi'en  werden 
musste,  und  zwar  um  so  fühlbarer,  je  näher  dem  Fisch.  Hierher  ge- 
hört auch  die  Angabe  van  der  Lotts  (4,  e  p.  128)  (1762),  dass  man 
einen  Schlag  durch   die  Luftblasen  erhalten  kann,    welche  der  Zitter- 


750  Die  elektrischen  Fische. 

aal  beim  Luftholen  autVirft,  sowie  die  später  von  C.  Sachs  zufällig 
erneuerte  Beobachtung,  dass  der  Wasserstrahl  aus  dem  Spundloch  eines 
Zitteraale  enthaltenden  Fasses  den  Schlag  zuleitet. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  Entdeckung  der  galvanischen 
Elektricität  und  der  daran  sich  knüpfende,  folgenschwere  Streit 
zwischen  Galvani  und  Volta  für  die  Auffassung  der  Wirkungen 
der  elektrischen  Fische,  als  der  grossartigsten  Manifestation  thierischer 
Elektricität,  nicht  ohne  Folgen  bleiben  konnte,  und,  wie  so  häufig  in 
der  Physiologie,  sieht  man  auch  hier  die  theoretischen  Anschauungen 
über  den  Mechanismus  der  elektrischen  Organe  sich  aufs  Engste  den 
herrschenden  physikalischen  Theorien  anschliessen,  Volta  selbst  ver- 
fehlte denn  auch  nicht,  auf  Analogien  zwischen  der  von  ihm  ent- 
deckten Säule  und  dem  in  der  That  auch  aus  prismatischen  Säulchen 
aufgebauten  Organen  von  Torpedo  hinzuweisen  (Collezione  dell'  Opere 
ec.  Firenze  1816,  t.  II  p.  II  p.  99),  indem  er  sogar  für  die  Säule  den 
Namen  eines  künstlichen  elektrischen  Organes  vorschlug.  Der  Durch- 
führung einer  solchen  Theorie,  der  zu  Folge  die  Elektricität  sich  durch 
Berührung  dreier  ungleichartiger  Stoffe  entwickeln  sollte,  stellten  sich 
freilich  damals  grosse  Schwierigkeiten  entgegen,  vor  Allem  die  be- 
ständige Wirksamkeit  der  Säule,  während  die  Thätigkeit  der 
elektrischen  Organe  sichtlich  der  Willkür  des  Thieres  unterworfen 
ist  Man  suchte  dieselbe  theils  dadurch  zu  umgehen,  dass  man  (wie 
Volta  selbst)  den  Fisch  beim  Schlage  gewisse  Bewegungen  ausführen 
Hess,  durch  welche  die  angenommenen,  elektromotorischen  Bestand- 
theile  seiner  Batterien,  deren  Natur  übrigens  gänzlich  im  Dunkeln 
blieb,  erst  gehörig  in  Berührung  gebracht  würden  oder  vermuthete 
(wie  A.  V.  Humboldt)  das  vom  Willen  des  Thieres  abhängige  Zu- 
fliessen  eines  sonst  fehlenden  Bestandtheiles.  Eine  besondere  und 
grosse  Schwierigkeit  schien  sich  auch  Anfangs  durch  den  Mangel  einer 
Isolirung  der  Organe  zu  ergeben,  die  selbst  noch  Valentin  (30)  zu 
Anfang  der  vierziger  Jahre  veranlasste,  den  die  Säulen  (Prismen)  des 
Organes  begrenzenden  sehnigen  Scheidewänden  die  Bedeutung  von 
Isolatoren  zuzuschreiben,  während  gleichzeitig  Schön bein  glaubte, 
dass  der  Zitteraal  sich  willkürlich  von  dem  umgebenden  Wasser 
isoliren  könne  (!). 

Für  wie  unsicher  trotz  aller  scheinbar  zwingenden  Beweise  der 
elektrischen  Natur  des  Schlages  der  Boden  galt,  auf  dem  man  sich 
bei  diesen  mehr  oder  weniger  kühnen  Speculationen  bewegte,  zeigt 
am  deutlichsten  der  Umstand,  dass  noch  1829  Humphry  Davy, 
auf  dessen  Veranlassung  sein  Bruder  John  Davy  in  Malta  an  Zitter- 
rochen ausgedehnte  Untersuchungen  anstellte,  seinen  Zweifeln  Aus- 
druck gab,  ob  die  Elektricität  der  Zittertische  mit  der  gewöhnlichen 
wirklich  identisch  sei,  und  auch  Faraday,  dem  es  beschieden  war, 
als  Einer  der  Ersten  den  mächtigsten  aller  elektrischen  Fische,  den 
südamerikanischen  Zitteraal,  in  Europa  mit  allen  Hülfsmitteln  physi- 
kalischer Forschung  zu  untersuchen,  konnte  nur  wenige  Jahre  später 
die  von  ihm  zum  Beweis  der  Einerleiheit  aller  Elektricitäten  geforderten 
acht  Wirkungen  (Funkenbildung,  thermische  Wirkung,  Anziehung  und 
Abstossung,  Ablenkung  der  Magnetnadel,  Magnetisirung  eines  Stahl- 
stabes, Wasserzersetzung,  Leitung  durch  heisse  Luft,  physiologische 
Wirkung)  Anfangs  nicht  sämmtlich  durch  den  Schlag  des  Zitteraals 
erhalten,  obschon  schliesslich  nur  eine  einzige  Lücke  übrig  blieb :  der 
Mangel  der  Leitung  durch  heisse  Luft. 


Die  elektrischen  Fische. 


751 


so    erscheint    es    erforderlich, 


Erst  Du  Bois-Reymoncl  verdanken  Avir  die  Schaffung  einer 
ebensowohl  durch  theoretische  Betrachtungen  wie  durch  eingehende 
experimentelle  Untersuchungen  gesicherten  Grundlage  der  Physiologie 
der  Zitterfische,  auf  welcher  alle  späteren  Forscher  weiter  bauten,  so 
dass  zur  Zeit  wenigstens  die  wesentlichsten  Punkte  als  sichergestellt 
betrachtet  werden  können. 

Da  alle  neueren  hierher  gehörigen  Arbeiten  nur  verständlich  sind, 
wenn    der  Bau  und   die   feineren  Structurverhältnisse    der  Organe   als 
bekannt   vorausgesetzt   werden    können, 
zunächst  diese  eingehender  zu  erörtern, 
und    es    soll    hierbei    an    die    Torpe- 
d  i  n  e  e  n  als  die  am  genauesten  bekann- 
ten   Repräsentanten    der  Gruppe   ange- 
knüpft  werden,    bei    welchen    sich    die 
Verhältnisse  ausserdem   am   einfachsten 
und  übersichtlichsten  gestalten. 

Wie  Fig.  256  a  erkennen  lässt,  welche 
die  Hälfte  der  Rückenansicht  von  Tor- 
pedo m arm 0 rata  nach  Entfernung 
der  Haut  darstellt,  liegt  jederseits  vom 
Kopfe  und  dem  Kiemengerüst  je  eines 
der  etwa  nierenförmigen  Organe,  welche 
den  stark  abgeflachten  breiten  Körper 
von  der  Rücken-  zur  Bauchfläche  völlig 
durchsetzen  und ,  von  der  Fläche  ge- 
sehen, einer  Honigwabe  gleichen,  indem 
sie  wie  diese  aus  lauter  unregelmässig 
fünf-  bis  sechsseitigen,  prismatischen 
Säulchen  zusammengesetzt  erscheinen. 
Wie  ein  senkrecht  auf  die  Ebene  der 
Körperscheibe  geführter  Querschnitt  er- 
kennen lässt,  nimmt  die  Höhe  der 
neben  einander  liegenden  Säulchen  von 
innen  nach  aussen  ab.  Sie  sind  von 
einander  durch  bindegewebige  Scheide- 
wände getrennt  und  haben ,  frisch  prä- 
parirt,  das  Aussehen  und  die  Consistenz 
einer  grau-röthlichen ,  halbdurchschei- 
nenden Gallerte. 

Um  über  den  feineren  Bau  derselben  genaueren  Aufschluss  zu 
gewinnen,  kann  man  theils  Längsschnitte  parallel  der  Säulenachse, 
theils  Flächenansichten  verwenden.  Die  letzteren  gewinnt  man  nach 
einem  zuerst  von  Sa  vi  geübten  Verfahren  sehr  einfach,  indem  man 
die  kuppenförmig  sich  vorwölbende  Querschnittsfläche  einer  Säule 
mit  der  Scheere  abkappt  und  nun  die  einzelnen  dünnen  Plättchen, 
aus  welchen  sie  aufgebaut  ist,  in  einer  indifferenten  Flüssigkeit  von 
einander  abblättert.  Diese  zarten  Scheibchen,  welche  wie  die  Münzen 
einer  Geldrolle  oder  wie  die  Platten  einer  Volta'schen  Säule  über 
einander  geschichtet  liegen  (Fig.  230),  sind  es,  die,  wie  zuerst  DuBois- 
Reymond  aussprach,  unter  dem  Einflüsse  des  Nervensystems  elektro- 
motorisch wirksam  werden.  „Die  elektromotorischen  Bestandtheile, 
aus  denen  die  Elementarketten  der  Fischsäulen  beatehen,  sind  nicht 
in    optisch    unterscheidbaren   Gebilden,    in    einander   berührenden,    un- 


Fig.    230.      Schematische    Darstel- 
lung eines  einzelnen  Säulchens  vop 
Torpedo     mit     den     zutretenden 
Nerven  (Wagner'sche  Büschel). 
(Nach  G.  Fritsch.) 


752 


Die  elektrischen  Fische. 


gleichartigen  Geweben  oder  thierischen  Flüssigkeiten  zu  suchen. 
Vielmehr  ist  der  Sitz  der  elektromotorischen  Kraft 
auch  hier  in  das  Innere  eines  morphologisch  einheit- 
lichen Gebildes  zu  verlegen,  der  jetzt  sogenannten 
elektrischen  Platte"  (Du  Bois-Reymond  4,  d.  II), 

Bei  normaler  Lagerung  in  situ  liegen  die  Platten  annähernd 
horizontal  und  nur  in  der  Mitte  etwas  gegen  den  Rücken  des  Thieres 
aufgebogen.  Nach  Behandlung  mit  Reagenzien  können  aber  an  Längs- 
schnitten mannigfache  Verlagerungen  stattlinden.  Jede  Platte  erscheint 
am  Rande,  wo  sie  sich  an  die  bindegewebigen  Scheidewände  ansetzt, 
nach  abwärts  umgekrämpt,  wobei  vorzugsweise  die  ventrale  Hälfte  be- 
theiligt ist.  (Fig.  231.)  Innerhalb  der  grösseren  Säulen  liegen  die 
einzelnen  Platten  etwas  weiter  von  ein- 
ander entfernt,  als  in  den  kürzeren.  Von 
der  ventralen  Fläche  aus  gesehen,  zeigt 
jede  reichlich  verzweigte  Nervenfasern 
und  spärliche  Capillaren ,  eingebettet  in 
eiu  gallertiges,  von  Sternzellen  durchsetztes 
Gewebe,  welches  die  Zwischenräume  der 
Platten  erfüllt  und  der  Substanz  der  Säulen 
im  frischen  Zustande  das  Aussehen  einer 
zitternden  Gallerte  giebt.  Berücksichtigt 
man  die  grosse  Zahl  der  Nervenfasern  in 
jeder  einzelnen  Platte,  so  muss  der  Nerven- 
reichthum  des  ganzen  Organes  füglich  in 
Erstaunen  setzen  und  beweist  an  sich  die 
innigen  Beziehungen  derselben  zum  Cen- 
tralnervensystem.  Nicht  minder  scharf 
prägt  sich  dies  auch  in  den  Ursprungsver- 
hältnissen der  „elektrischen  Nerven"  aus, 
die  aus  zwei  besonderen  Lappen  des  Ge- 
hirns entspringen,  welche  anderen  Fischen 
durchaus  fehlen.  Nachdem,  wie  Boll 
(5 ,  d)  gezeigt  hat ,  schon  L  o  r  e  n  z  i  n  i 
(1677)  diese  Gebilde  als  hinteres  Tuberkel- 
paar erwähnt  hatte,  ohne  ihre  Bedeutung 
zu  ahnen,  bezeichnete  sie  zuerst  A.  v. 
Humboldt  genauer  als  Ursprungscentren 
der  elektrischen  Nerven  von  Torpedo.  Nach  Freilegung  des  Central- 
organes  erkennt  man  sie  leicht  als  zwei  längliche,  dicht  an  einander 
gedrängte  Körper  von  gelblichgrauer  Farbe,  von  denen  links  und 
rechts  je  vier  Nervenstämme  ausgehen,  welche  die  Organe  versorgen. 
Nach  F  ritsch,  dem  sich  Schenk  auf  Grund  entwicklungsgeschicht- 
liclier  Studien  anschloss ,  entstehen  die  dorsalwärts  vorragenden  elek- 
trischen Lappen  aus  wuchernden,  motorischen  Vaguskernen  der  Me- 
duUa  oblongata,  welche  in  Folge  der  ausserordentlichen  Vermehrung 
der  einer  speciellen  Function  angepassten  Ganglienzellen  aus  ihrer 
ursprünglichen  Lage  am  Boden  des  vierten  Ventrikels  nach  oben  ver- 
drängt erscheinen.  Wie  Querschnitte  lehren,  handelt  es  sich  um 
mächtige  Lager  grosser  Ganglienzellen ,  deren  Axencylinderfortsätze 
direct  in  die  Fasern  der  elektrischen  Nerven  übergehen. 

Sehr    eigenartig  gestaltet  sich  das  Verhalten  und  die  Vertheilung 
der    in    das    Organ    eingetretenen    Nerven    innerhalb    der    einzelnen 


Fig.  231.     Der  Eandtheil  von 

drei    elektrischen    Platten    im 

Längsschnitt  der  Säule.    (Nach 

Kanvier.) 


Die  elektrischen  Fische. 


753 


Säulchen  oder  Prismen;  Wie  zuerst  Rud  olf  Wagner  (35) 
zerfallen  alle  Fasern  vor  ihrem  Eintritt  in  die  Platten  durch 
und  zahlreiche  Theilungen  in  eigenthümliche  Büschel  (Wag m 


zeigte, 

rasche 

sehe 


Büschel)  (Fig.  230  und  232),  deren  räumliche  Vertheilung  und  Be- 


>  o 
;l2 


«'S 

1^ 


H-3 


Ziehung   zu   den   einzelnen  Platten   später  von  August  Ewald   und 
G.  Fritsch  noch  genauer  festgestellt  wurde  (9). 

Es  ergab  sich,  dass  die  Theilfasern  eines  Büschels,  deren  Zahl 
durchschnittlich  18  beträgt,  in  einer  überaus  zierlichen  und  regel- 
mässigen Weise  über  einander   angeordnet   sind    und   von  den  Ecken 


754 


Die  elektrischen  Fische. 


der  gewöhnlich  sechsseitigen  PLatten  her  in  dieselben  eindringen,  so 
dass  jede  Platte  von  sechs  Theilfasern  versorgt  wird,  die  sich  in  ihr 
unter  reichlicher  dichotomischer  Theilung  verzweigen  (Fig.  230). 

Sobald  ein  markhaltiger  Endzweig  eines  Wagner'schen  Büschels 
die  zugehörige  Platte  erreicht  hat,  von  der  er  einen  Theil  zu 
innerviren  bestimmt  ist,  entsendet  er  beiderseits  unter  ziemlich  rechtem 
Winkel  abgehende,  ebenfalls  noch  markhaltige  Aeste,  welche  sich  nun 
ihrerseits  wiederholt  dichotomisch  theilen  oder  seitliche  Zweige  abgeben 
und  schliesslich  nach  Verlust  der  Markscheide  geweihförmige  Büschel 

markloser,  blasser  Fa- 
sern bilden,  deren 
eigentliche  Endigung 
in  der  Substanz  der 
Platte  schwierig  zu  er- 
forschen ist  (Fig.  233). 
Nicht  nur  die  dicho- 
tomischen  Theilungen 
der  markhaltigen,  son- 
dern auch  zum  Theil 
noch  die  der  mark- 
losen Endästchen  sind 
von  einer  besonders  an 
den  ersteren  sehr  ent- 
wickelten, bindegewe- 
bigen Scheide  mit  ein- 
gelagerten Kernen  um- 
hüllt. Nach  Ran  vi  er 
endet  dieselbe  ganz 
scharf  an  bestimmten 
Stellen  der  marklosen 
Endausbreitung. 

Remak  (1856) 
(27)  bemerkte  zuerst, 
dass  sich  die  feinsten 
marklosen  Endzweige 
noch  viel  weiter  ver- 
folgen lassen,  als  es  R. 
Wagner  beschrieb.  An  günstigen  Präparaten  fand  er  den  ganzen  an- 
scheinend freien  Raum  zwischen  denselben  von  blassen  scheinbar  anasto- 
mosirenden  Nervenverästelungen  angefüllt.  Kölliker  (1857)  (16,  b) 
und  später  Max  Schnitze  beschrieben  ein  wirkliches  Nervennetz, 
welches  der  Letztere  als  feinstes  Gitterwerk  mit  fast  quadratischen 
Maschen  abbildet  (31  b).  Die  überwiegende  Mehrzahl  der  späteren  Unter- 
sucher constatirte  mit  Hülfe  der  neueren  Methoden ,  insbesondere  der 
Metallimprägnation  (Gold,  Silber),  sowie  auch  an  ganz  frischen  elek- 
trischen Platten  von  Torpedo,  einen  in  allen  wesentlichen  Punkten 
gleichartigen  Modus  der  Nervenendigung,  wie  er  in  den  motorischen 
Endplatten  der  quergestreiften  Muskeln  höherer  Wirbelthiere  bekannt 
ist.  Betrachtet  man  die  Darstellung,  welche  Ran  vi  er  (26)  von 
einem  kleinen  Stück  einer  durch  Silberbehandlung  entwickelten  End- 
verzweigung der  Plattennerven  giebt  (Fig.  234)  oder  Bilder,  wie  sie  schon 
vorher  von  Ciaccio  (6),  Boll  (5),  Krause  (17),  und  ganz  neuer- 
dings wieder  von  Ballowitz  (2)    und    N.  Iwanzoff  (15)  nach  Be- 


Vig.  233.     Nervenverzweigung  an    der 
einer  elektrischen  Platte  von  Torpedo. 


ventralen    Fläche 
(Nach  Ran  vi  er.) 


Die  elektrischen  Fische. 


755 


Handlung  mit  Osmiumsäure,  Goldchlorid,  Hämatoxylin  und  Golgi's 
Methode  etc.  gegeben  wurden,  so  springt  das  Zutreffende  des  Vergleiches 
sofort  ins  Auge  und  es  ist  schwer  verständlich,  wie  G.  Fr  it seh  (12) 
die  Existenz  einer  derartigen,  terminalen  Nervenverästelung  gänzlich 
läugnen  konnte,  die,  wie  ich  mich  selbst  überzeugt  habe,  immer  schon 
im  frischen  Zustande  erkennbar  ist  und  wie  eine  riesige  Endplatte 
die  ganze  ventrale  Fläche  jeder  Platte  stetig  überzieht.  In  der  That 
kann  mit  Rücksicht  auf  die  Entwicklung  der  elektrischen  Platten  aus 
metamorphosirten,  quergestreiften  Muskelfasern  an  der  Homologie  der 
Nervenendvei'ästelungen  an  der  ventralen  Fläche  mit  den  motorischen 
Endplatten  kaum  noch  gezweifelt  werden.  Schoenlein  neigt,  wie 
er  mir  mittheilt,  neuerdings  sogar  der  Ansicht  zu,  dass  die  ganze  voll- 
entwickelte Platte  nur  der  motorischen  Nervenendplatte  entspricht. 
Schon  Rem ak  (1.  c.)  hat  die  Aufmerksamkeit  auf  eine  eigenthümliche. 


Fig.  234.     Ein   kleiner   Theil  der  End- 
verästelung der  Nerven  in  der  elektrischen 
Platte    von    Torpedo   (Silberpräparat). 
(Nach  Ran  vi  er.) 


Fig.  235.     Theil   der   Nervenverästelung 

in    einer    Torpedoplatte     mit    BoU'scher 

Punktirung.     (Nach  Ciaccio.) 


auch  von  allen  späteren  Beobachtern  gesehene,  regelmässig  angeordnete 
Punktirung  der  ventralen  Fläche  jeder  elektrischen  Platte  gelenkt, 
welche  viele  Jahre  später  von  Boll  (5)  als  ein  neues  Structurver- 
hältniss  beschrieben  wurde.  Dasselbe  besteht  in  einer  ausserordentlich 
feinen,  vollkommen  regelmässigen  und  gleichartigen  Punktirung, 
welche  unmittelbar  unter  dem  Terminalnetze  (von  unten  her  gesehen) 
liegt  (Fig.  235 ).  Die  Anordnung  der  Punkte  entspricht  vollkommen  genau 
der  Conliguration  des  Terminalnetzes,  sodass  die  Pünktchen  den  Balken 
des  Netzes  folgen  und  den  Verlauf  derselben  gewissermaassen  markiren. 
Meist  entsprechen  den  einzelnen  Netzbalken  mehrere  (zwei  bis  drei) 
unregelmässig  gestellte  Reihen  von  Punkten,  deren  Zahl  auf  einen 
Quadratmillimeter  Krause  und  Iwanzoff  auf  etwa  eine  Million 
berechnen. 

Im  optischen  Querschnitt  der  Platte  (an  Biegungsstellen)  entspricht 
der  Punktirung  eine  äussert  zarte  und  regelmässige,  senkrecht  zur 
Fläche  gerichtete  Streifung  (vergl.  Fig.  231  ce),    welche    sich  von  der 


756 


Die  elektrischen  Fische. 


ventralen  Seite  her  bis  zu  der  Grenze  des  ersten  Sechstels  der  Platten- 
dicke erstreckt  (Palissadensaum,  cilselectriques  Ranvier's) 
und  auch  bereits  vonRemak  erkannt  wurde,  welcher  die  Punkte  der 
Plattenaufsicht  als  die  Umbiegungsstellen  palissadenartig  angeordneter 
Cylinderchen  in  die  Fläche  auffasste.  Zu  derselben  Deutung  gelangte 
im  Wesentlichen  auch  Krause,  dem  zu  Folge  die  Punkte  „der  optische 
Ausdruck  von  oben  gesehener,  solider,  cylindrischer  Stäbchen  sind, 
welche  dem  Neurilemm  angehören  und  eine  Art  von  „Nägeln" 
darstellen,  mit  denen  die  abgeplatteten  Terminalfasern  angeheftet  sind". 
Boll,  Ran  vier,  Ciaccio  und  Trinchese  hielten  sie  für  die 
eigentlichen  letzten  Nervenendigungen.  Nach  Iwanzoff  hätte  man 
in  den  Palissaden  lediglich  Fortsätze  der  die  untere  Fläche  der 
elektrischen  Platten  bekleidenden  structurlosen  Membran  zu  erblicken, 
welche  dem  Sarkolemma  der  Muskelfaser  entspricht. 

Fritsch  dagegen  glaubt  sich  überzeugt  zu  haben,  dass  diese 
Punktirung,  welche  mit  Osmiumbehandlung  und  bei  der  Anwendung 
der  stärksten  Trocken-  oder  schwächerer  Immersionssysteme  schwarz 
erscheint,  „der  optische  Ausdruck  von  lauter  das  Licht  stark  brechen- 


Fig.  236.  Torpedo  ocellata.  Querschnitt  einer  elektrischen  Platte  mit  anhängen- 
dem Nerv,  l  =  dorsale  bindegewebige  Grenzschicht;  m  =  Stratum  moleculare;  p  = 
Palissadensaum  mit  Nervenendigungen;  gl  =  Stratum  granulosum;  n  =  Nerv.     (Nach 

G.  Fritsch.) 


den ,  dicht  neben  einander  gelagerten ,  kleinen  Körnchen  ist,  die  in 
einer  das  Licht  schwächer  brechenden ,  halbflüssigen  Substanz  liegen, 
welche  die  untere  Fläche  der  Platte  überzieht".  Fritsch  schlägt 
daher  vor,  diese  Schicht,  welche  mit  der  eigentlichen  Nervenendigung 
nichts  zu  thun  habe,  als  Stratum  granulosum  zu  bezeichnen. 
Ihre  Beziehung  zu  den  anderen  Schichten  der  elektrischen  Platte 
ergiebt  sich  am  deutlichsten  aus  der  Untersuchung  von  Querschnitten 
(Fig.  236). 

Nach  den  neuerdings  auch  wieder  von  Iwanzoff  bestrittenen 
Untersuchungen  dieses  Forschers  „gelingt  es,  an  besonders  günstigen 
Stellen  der  Platten-Querschnitte  feinste  Nervenfädchen  senkrecht 
zur  Plattenrichtung  an  die  Körnchenschicht  herantreten  und  zwischen 
den  Körnchen  verschwinden  zu  sehen".  Jenseits  im  Palissaden- 
saum treten  dieselben  wieder  deutlich  hervor  und  bilden  selbst 
unmittelbar  die  Grenzlinien  der  Palissaden  (Fig.  236).  Ihre  eigent- 
liche Endigung  scheint  an  der  dorsalen  Grenze  dieser  Schichte 
„in  weichen  protoplasmatischen  Körpern  zu  erfolgen,  die  im  Prä- 
parat    zu    kugelförmigen    (beerenähnlichen)    Bildungen    zusammenge- 


Die  elektrischen  Fische. 


757 


flössen  angetroffen  werden".  Jenseits  des  Palissadensaumes  folgt  das 
dorsale  („muskuläre"  Fritsch,  „metasarkoblas  tische" 
Babuchin)  Glied  der  Platte  (couche  intermediaire  Ran  vi  er 's). 
Hervorgegangen  aus  der  Umwandlung  embryonaler  Muskelsubstanz 
lässt  diese  Schicht  später  nichts  mehr  von  der  charakteristischen 
Structur  quergestreifter  Fasern  erkennen.  Krause  beschrieb  aller- 
dings in  derselben  „quergestreifte  Bogenfasern"  als  Reste  von  Muskel- 
fibrillen,  die  aber  von  andern  Beobachtern  nicht  gesehen  wurden ;  nach 
Fritsch  soll  diese  Schicht,  ähnlich  dem  Stratum  granulosum,  „aus 
kleinsten,  reihenweise  parallel  der  Säulenaxe  angeordneten  Theilchen 
zusammengesetzt  sein,  deren  Lichtbrechungsvermögen  dasjenige  der 
Zwischensubstanz  nur  äusserst  wenig  übertrifft"   (Fig.  23(3  m). 

Fritsch  ist  geneigt,  in  diesem  von  ihm  beobachteten  regel- 
mässigen Aufbau  eine  wesentliche  Stütze  der  Molekulartheorie  Du 
Bois-Reymond's  zu  erblicken,  wenngleich  er  nicht  soweit  geht, 
zu  behaupten,  dass  die  reihenweise  geordneten  Körperchen  thatsächlich 


Fig.  237.     Gymuotus  electricu,« 


„die  gesuchten  elektromotorischen  Molekeln"  sind.  Nach  Iwanzoff 
handelt  es  sich  dagegen  lediglich  um  eine  Art  von  Waben  oder 
Schaumstructur  des  Plasmas,  aus  welchem  die  „Zwischenschicht"  besteht. 
Fassen  wir  noch  einmal  in  Kürze  die  wesentlichsten  Punkte  des 
Baues  und  insbesondere  der  Innervation  der  Organe  von  Torpedo 
zusammen,  so  ergiebt  sich  als  sicher  Folgendes:  Von  jeder  der  im 
Lobus  electricus  des  Gehirns  liegenden  Ganglienzellen  entspringt  je 
ein  Axencylinderfortsatz  (analog  dem  Deiters'schen  Fortsatz  der 
Rückenmarksganglienzellen),  der  weiterhin  unverzweigt  als  Bestandtheil 
der  elektrischen  Nerven  bis  zu  einem  der  das  Organ  zusammensetzenden 
Säulchen  verläuft.  Hier  tritt  ein  plötzlicher  Zerfall  der  markhaltigen 
Faser  in  eine  grössere  Anzahl  (12  bis  20)  von  kurzen  Theilästen  ein 
( Wagner'sche  Büschel),  welche,  sehr  regelmässig  über  einander  angeordnet, 
je  eine  Platte  theilweise  versorgen.  Eingetreten  in  das  Schleimgewebe, 
welches  den  Raum  zwischen  je  zwei  Platten  ausfüllt,  theilt  sich  jede 
Endfaser  wiederholt  dichotomisch,  um  schliesslich  nach  Verlust  der  Mark- 
scheide an  der  ventralen  Fläche  der  Platte  in  einer  Weise  zu  endigen,  die 
durchaus    an    die    terminale    Verästelung    des    Axencjlinders    in    den 


758 


Die  elektrischen  Fische. 


motorischen  Endplatten  quergestreifter  Muskelfasern  erinnert.  In 
welcher  Weise  nun  die  eigentliche  letzte  Endigung  erfolgt,  ob  frei 
oder  in  der  von  Fritsch  angenommenen  Weise  innerhalb  der  Palis- 
sadenschichte,  darf  wohl  als  unentschieden  gelten,  und  sind  weitere 
Untersuchungen  erforderlich. 

Für  die  Theorie  des  Schlages  der  elektrischen  Fische  ist  die 
Einheitlichkeit  im  Aufbau  der  Organe  und  in  deren  feinerer  Structur 
von  grösstem  Interesse.  Wie  beim  Zitterrochen  sind  auch  beim 
Zitteraal  (Gymnotus  electricus)  die  Organe  bilateral  symmetrisch 
angeordnet  und  so  mächtig  entwickelt,  dass  man  in  der  That  sagen 
kann,  der  Fisch  bestehe  der  Hauptsache  nach  aus  elektrischen  Organen. 
Von  der  Gestalt  des  Fisches  giebt  die  umstehende  Fig.  237  eine  gute 

Vorstellung.  Ungeachtet  der  aalartig 
gestreckten  Form  nimmt  die  Leibes- 
höhle doch  nur  einen  sehr  kleinen  Theil 
(mit  dem  Kopfe  zusammen  nicht  ganz 
^/s)  der  Körperlänge  ein,  während  die 
vier  elektrischen  Organe  den,  wie  sich 
C.  Sachs  ausdrückt,  sonst  der  Bauch- 
höhle zukommenden  Kaum  erfüllen.  Von 
oben  gesehen,  erscheint  der  Rumpf  des 
Fisches  nach  hinten  messerartig  zuge- 
schärft. Im  Vergleich  mit  den  andern 
Zitterfischen  erreicht  der  Zitteraal  eine 
bedeutende  Grösse  (bis  155  cm  nach 
C.  Sachs,  ja  170  cm  nach  v.  Hum- 
boldt), während  die  verbreitetste  Tor- 
pedo -Art  der  europäischen  Meere  meist 
nur  20 — 30  cm,  ausnahmsweise  70  cm 
misst,  und  nur  der  den  ostamerikani- 
schen Küsten  eigene  Zitterrochen  (T. 
occidentalis,  Stör  er)  unter  Um- 
ständen die  doppelte  Grösse  erreicht 
und  wohl  als  der  umfangreichste  und 
schwerste,  wenn  auch  nicht  der  längste 
aller  elektrischen  Fische  bezeichnet 
werden  kann  (Fritsch). 

Wie  ein  Querschnitt  des  Zitteraales 
zeigt  (Fig.  238),  besteht  der  Körper 
jenseits  des  Kopfes  und  der  Leibeshöhle  zum  grössten  Theil  aus 
einer  gallertigen  durchscheinenden  Masse,  welche  jederseits  eine 
grössere  und  eine  darunter  gelegene  viel  kleinere  Anhäufung  bildet; 
beide  sind  getrennt  durch  eine  von  Muskelfasern  durchsetzte  Schicht, 
welche  DuBois-Reymondals  „Zwischenmuskelschichte"  bezeichnet 
und  die  nach  den  Untersuchungen  von  Fritsch  als  ein  Rest  der 
Muskeln  aufzufassen  ist,  aus  deren  Umbildung,  wie  Avir  sehen  werden, 
die  grossen  Organe  hervorgegangen  sind  (Fig.  238). 

Bei  genauerer  Betrachtung  sieht  man  die  Substanz  der  Organe 
von  parallel  über  einander  liegenden  bindegewebigen  Scheidewänden 
durchzogen,  welche  am  Querschnitt  von  einem  mittleren,  vertikalen 
Septuni  zum  äusseren  Umfang  des  Körpers  verlaufen.  Diese 
„Längsscheidewände",  welche  sich,  wie  die  Seitenansicht  lehrt 
(Fig.    239),    fast   durch    die   ganze    Länge    des    betreffenden    Organes, 


Fig.  238.  Querschnitt  durch  den 
Rumpf  von  Gymnotus.  gO  = 
grosses  Organ ;  kO  =^  kleines  Or- 
gan ;  Zm  =  Zwischenmuskelschicht. 


Die  elektrischen  Fische. 


759 


einschliesslich  der  Zwischenmuskelschicht  erstrecken,  grenzen  dem- 
nach flache,  horizontal  über  einander  geschichtete  Räume  ab,  deren  jeder 
mit  seinem  Inhalt  je  einem  Säulchen  des  Tor pedo-Organes  ent- 
spricht. Durch  zartere,  der  Ebene  des  Querschnittes  parallele  Septa 
(„Quer Scheidewände"),  durch  welche,  von  der  Seite  gesehen,  die 
einzelnen  Säulen  (Prismen)  fein  quergestreift  erscheinen,  zerfallen 
die  letzteren  in  dichtgedrängte,  sehr  enge  Fächer,  in  deren  jedem 
eine  „elektrische  Platte"  senkrecht  aufgehängt  ist.  Die  Ge- 
stalt jedes  Faches  und  daher  auch  der  darin  befindlichen  Platte  kann 
man  im  Allgemeinen  als  gestreckt  rechteckig,  medianwärts  mehr  oder 
weniger  sich  verschmälernd  bezeichnen. 

Als  Mittelwerth  für  die  normale  Fach  weite  des  Zitteraal- 
organes  ergiebt  sich  etwa  ^/lo  mm,  womit  ältere  Beobachtungen  von 
Hunt  er  stimmen,  der  ungefähr  240  Querscheidewände  auf  den 
englischen  Zoll  zählte,  was  etwa  0,1058  mm  Fachweite  entspi-icht. 
Beim  Zitterrochen    beträgt   diese  etwa  Vso  mm.     Der  Abstand  von  je 


Fig.  239. 


Fig.  240.     a)    Ein    Stück    aus 
mehreren     übereinanderliegen- 
den   Säulen    von    Gymnotus 
(unten  zwei  weitfächerige). 
(Nach  Pacini.) 
b)    Längsschnitt    durch     weit- 
und     schmalfächerige     Säulen 
von  Gymnotus.      (Nach   Du 
Bois-Reymond.) 


$?Pr7m 


zwei  Längsscheidewänden  (Höhe  der  Fächer)  ist  natürlich  viel  grösser. 
Es  beträgt  beim  Gymnotus  0,64  mm  (Hunter).  Die  Gesammtheit 
der  zwischen  zwei  Längsscheidewändon  enthaltenen  Fächer  mit  ihren 
bandförmigen  Platten  wird  auch  hier  als  „Säule"  bezeichnet  und  ist 
analog  den  prismatischen,  senkrecht  auf  die  Körperoberfläche  stehenden 
Säulen  des  Zitterrochenorganes.  Sämmtliche  Säulen  der  grossen  Organe 
entspringen,  wie  die  schematische  Seitenansicht  (Fig.  239)  zeigt,  hinten 
und  unten  von  der  Zwischenmuskelschicht  und  steigen  unter  spitzem 
Winkel  nach  vorn  und  oben.  Nur  die  vordersten  verlaufen  der  Axe 
des  Fisches  annähernd  parallel. 

Schon  makroskopisch  zeigt  ein  gewisser  Theil  der  beiden 
grossen  Organe  eine  besondere  Beschaff'enheit:  er  ist  dunkler,  durch- 
sichtiger und  sieht  statt  milchglasartig,  gelbgrauröthlich  aus.  Es  be- 
ruht dies  darauf,  dass,  wie  schon  Pacini  (25)  zeigte  (Fig.  240a,  &),  neben 
den  gewöhnlichen,  schmalfächerigen  Säulen  auch  solche  vorkommen, 
deren  Fächer  ausserordentlich  Aveit  sind,  was  später  Sachs  bestätigen 
konnte.  Dieses  „ S  a  c  h  s  'sehe  S  ä  u  1  e  n  b  ü  n  d  e  1" ,  welches  er  für  ein 
neues  elektrisches  Organ  des  Zitteraales  zu  halten  geneigt  war,  liegt 
im   Allgemeinen    über   der   hinteren    Hälfte   des  grossen  Organes.     Es 


760 


Die  elektrischen  Fische. 


beginnt  vorne  mit  einer  feinen  Spitze  (Fig.  239)  und  schwillt  nach 
hinten  stetig  an,  so  dass  es  bald  die  obere  Hälfte  des  Gesammtdurch- 
schnittes    der    Organe    einnimmt    und    schliesslich    hinten    das    grosse 

Organ  gänzlich  verdrängt. 
An     einem     parallel     der 
Längsachse     des     Fisches 
-.=__=.»_,_.„-^  v__^_^  geführten    Schnitt    lassen 

""S^^^v    läf^  ^"r~'^BBfc-\    ^*->iä%^        sich      allenthalben      Ver- 
V-*-*'^  1  ^^""^    1^      .^    .  "  I   l^iä^lf  Schmelzungen   der  Längs- 

scheidewände der  weit- 
fächerigen Säulen  erken- 
nen, welche  in  diesem 
Falle  hinten  und  vorne 
scharf  keilförmig  endigen 
(Fig.  240  h)\  ihr  Quer- 
schnitt ist  Spindel-  oder 
(cT^iSLf  l|^^^     ^    "^^il>  [  \^   1  gestreckt  rautenförmig. 

C  ^***«fc'  ;    ^^    J  Untersucht  man  einen 

Längsschnitt  (parallel  der 
Axe  des  Organes  und  senk- 
recht auf  die  Längsscheide- 
wände geführt)  durch  das 
elektrische  Organ  bei  star- 
ker Vergrösserung,  so  er- 
kennt man  sofort  die  Quer- 
schnitte der  bindegewebi- 
gen, zwischen  je  zwei 
Längsscheidewänden  aus- 
gespannten Quersepta  und 
die  dadurch  getiildeten 
Fächer,  in  deren  jedem 
eine  quer  durchschnittene 
elektrische  Platte  aufge- 
hängt ist  (Fig.  241).  In  Be- 
zug auf  Lage  und  Art  der 
Aufhängung  der  letzteren 
bestand  eine  wesentliche 
Differenz  zwischen  Pacini 
und  M  a  X  S  c  h  u  1 1  z  e  (31), 
wie  sich  am  besten  aus 
der  Vergleichung  der  bei- 
den Fig.  241  a,  h  ergiebt. 
Während  nach  Pacini 
die  Platte  frei  in  ihrem 
Fache  schw^ebt  und  nur  an 
den  Längsscheidewänden 
befestigt  ist,  lässt  Schnitze 
jede  Querscheidewand  (Q) 
sich  der  hinteren  Fläche  der 
zugehörigen  Platte  dicht  anschmiegen,  so  dass  nur  vor,  nicht  aber 
auch  hinter  derselben  ein  Spaltraum  frei  bleibt.  Sowohl  die  vordere 
wie  die  hintere  Fläche  der  Platte  ist  mit  Papillen  („Zotten" 
M,  Schultze's)  dicht  besetzt,    zwischen  denen  hinten  dornähnliclie 


Fig.    241.      Zwei    elektrische    Platten    von 

Gymnotus    am   Längsschnitt  des  Organes 

(wie    Fig.  240)    nach    Pacini   («)    und    M. 

Schnitze  {b). 


Die  elektrischen  Fische. 


761 


Fortsätze  (prolungaraenti  spiniformi  Pacini)  stehen,  welche  bis  zur 
hinteren  Querscheidewand  reichen  und  sich  dort  anheften.  M.  S  c  h  u  1 1  z  e 
konnte  dieselben  nicht  nachweisen,  während  C.  Sachs  Pacini's 
Angaben  bestätigte.  Dies  gielt  auch  hinsichtlich  der  von  dem  Letzteren 
behaupteten  Spaltbarkeit  der  Platten  in  eine  vordere  und  hintere 
Hälfte.  Er  fasste  die  Papillen  selbst  mit  ihren  sogenannten  „Kernen" 
(die  später  als  Sternzellen  erkannt  wurden)  als  „Zellen"  auf,  mit  welchen 
die  vordere  und  hintere  Fläche  einer  Grundmembran  (parte 
fondamentale)  besetzt  seien  (Fig.  241  a).  Nach  Sachs  lässt  der  Quer- 
schnitt der  elektrischen  Platte  von  vorne  nach  hinten  folgende  Schichten 


vordere 
,    völlig 


Papillarschicht  (Stratum  papil- 
structurlose    Schicht ,    welche 


erkennen  (Fig.  242).  Auf  die 
lare  auterius)  folgt  eine  helle 
Sachs  als  Intermediär- 
Schicht  (Stratum  interme- 
dium)  bezeichnet  und  die 
wesentlich  Pacini's  „parte 
fondamentale"  entspricht. 
Dann  kommt  eine,  abgesehen 
von  den  sie  durchziehenden 
Ausläufern  der  hinteren  Stern- 
zellen, homogen  grau  getonte 
Schicht,  die  Nerven- 
schicht (Stratum  nerveum). 
Von  dieser  gehen  die  hinteren 
Papillen  und  die  Dornpapillen 
aus,  deren  Gesammtheit  als 
Stratum  papilläre  pos- 
terius zu  bezeichnen  ist. 
An  der  Nervenschicht  endi- 
gen die  elektrischen  Nerven 
in  noch  zu  erwähnender 
Weise.  Im  frischen  Zustande 
glasartig  homogen  erscheinen 
die  Papillen  schon  in  1 — 2 
Minuten  nach  der  Entfernung 
aus  dem  lebenden  Thier  körnig 
getrübt ,  während  innerhalb 
der    Intermediärschicht    eine 

scharfe  Grenzlinie  {PL)  entsteht,  durch  welche  jene  in  zwei  etwa  gleiche 
Hälften  getheilt  sind.  In  dieser  „Paci  ni'schen  Linie",  welche  an 
Osmiumpräparaten  als  scharfer,  dunkler  Strich  in  einer  breiten,  hellen 
Zone  erscheint,  spaltet  sich  gelegentlich  die  Platte.  Zwischen  den 
vorderen  Papillen  fand  Sachs  „eine  spinnengewebähnliche  Substanz, 
die  aus  zarten,  maschenbildenden  Fäden  mit  kleinen,  kernartigen  Ge- 
bilden besteht".  Während  Pacini  Nerven  nur  auf  der  Querscheide- 
wand sah,  wo  sie  auch  Sachs  zahlreich  fand,  treten  die  Endzweige 
derselben  nach  dem  Letzteren  zwischen  den  Dornpapillen  hervor  und 
durchsetzen  den  hinteren  Spaltraum  des  Faches,  um  schliesslich  nach 
Verlust  der  Markscheide  in  der  Platte  selbst  zu  endigen. 

Die  Hinteriläche  der  letzteren  zeigt  im  Querschnitt  (an  Osmium- 
präparaten) endlich  die  zuerst  von  B  o  1 1  (bei  T  o  r  p  e  d  o)  genauer 
beschriebene  Strich  elung  (resp.  von  der  Fläche  gesehene  Punktirung). 
Die  Nervenendigung    selbst   bietet   nach  Sachs    ein  wechselndes  Bild 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  49 


Fig.  242.      Elektrische   Platte    von    Gymnotus 

im  Querschnitt  (Längsschnitt  des  Organes). 

(Nach  C.  Sachs.) 


762 


Die  elektrischen  Fische. 


„bald  mehr  an  die  Kühne' sehe  Endplatte,  bald  wieder  mehr  an  das 
Schnitze 'sehe Netz  erinnernd".  Nach  Fritsch  würden  als  die  eigent- 
lichen Träger  der  Nervenendigungen  an  der  Gymnotusplatte  die  Dorn- 
papillen  zu  bezeichnen  sein,  „an  welche  relativ  grobe  Verlängerungen 
der  Axencylinder  herantreten" ,  so  dass  jene  als  „dem  Stiel 
der  Malopterurusplatte  verwandte  Bildungen"  anzusehen  wären.  Mit 
Rücksicht  auf  die  zweifellose  genetische  Beziehung,  welche  sicher  auch 
hier  zwischen  elektrischen  Organen  und  quergestreiften  Muskeln 
angenommen  werden  muss,  darf  man  jedoch  vielleicht  die  Vermuthung 
aussprechen,  dass  die  Endigungsweise  der  Nerven  in  der  Substanz 
der  Platte  sich  wohl  ähnlich    wie  bei  Torpedo  gestalten  dürfte ,  ob- 

schon  die  bisherigen  Untersuchun- 
gen hierfür  keinerlei  sicheren  An- 
haltspunkt geben. 

Die  Platten  der  weiten  Fächer 
des  Sachs'schen  Säulenbündels  unter- 
scheiden sich  von  den  andern  haupt- 
sächlich nur  durch  die  grössere 
Länge  der  vorderen  Papillen  Fig. 
243) ,  an  denen  Sachs  ausserdem 
im  frischen  Zustande  in  der  Axe 
oder  am  Rande  mehrfach  eine  breite, 
matte  Querstreifung  und  Spuren 
■  von  Doppelbrechung  beobachtete. 

Wenn  so  das  endliche  Schick- 
sal der  Nerven  im  Erfolgsorgan 
(den  elektrischen  Platten)  noch  viel- 
fach als  unklar  bezeichnet  werden 
muss,  so  sind  wir  um  so  genauer 
über  den  centralen  Ursprung  und 
die  gröbere,  anatomische  Anord- 
nung der  elektrischen  Nerven  unter- 
richtet. 

Noch  Valentin  glaubte,  ge- 
stützt auf  eine,  wie  sich  in  der  Folge 
herausstellte,  unzulässige  Verglei- 
chung  des  Gehirnes  von  Gymnotus 
mit  dem  des  Aales,  einen  be- 
sonderen Abschnitt  desselben  nach 
Analogie  von  Torpedo  als  Lobus  electricus  und  Ursprungscentrum 
der  elektrischen  Nerven  annehmen  zu  dürfen.  Spätere  Unter- 
suchungen lehrten  jedoch  den  betreffenden  Gehirn th eil  als  das  ähn- 
lich wie  bei  dem  verwandten  Wels  (Silurus  glanis)  stark  entwickelte 
Kleinhirn  kennen  und  erwiesen  das  Rückenmark  als  nächstes 
Ursprungsgebiet  der  elektrischen  Nerven.  Max  Schnitze  war  es, 
der  zuerst  auf  die  besonders  zahlreichen  grossen  Ganglienzellen  im 
Rückenmark  von  Gymnotus  hinwies,  die  er  etwa  doppelt  so  zahl- 
reich fand,  als  bei  anderen  Fischen  und  daher  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit als  zu  den  hier  austretenden  elektrischen  Nerven  ge- 
hörig ansprach.  Du  Bois-Reymond  schloss  hieraus  ebenfalls, 
„dass  im  Rückenmark  des  Zitteraales  sich  ein  Bau  finden  werde, 
ähnlich  dem  des  Lobus  electricus  des  Zitterrochen".  Es  war  dies  um 
so  mehr   gerechtfertigt,    als    die  elektrischen  Organe  des  Gymnotus 


Fig.  243.  Ein  weites  und  zwei  enge 
Fächer  von  Gymnotus  im  Querschnitt 
gesehen  (wie  Fig.  241),  stärker  vergrössert, 
mit  den  darin  befindlichen  Platten  (p). 
(Nach  Du  Bois-Keymond.) 


Die  elektrischen  Fische.  763 

von  Intereostalnerven  versorgt  werden,  deren  grosse  Zahl  seit  Hunt  er 
stets  die  Aufmerksamkeit  erregt  hatte.  Durch  eingehende  Untersuchung 
des  von  C.  Sachs  aus  Calabozo  mitgebrachten,  conservirten  Materials 
konnte  nun  G.  Fritsch  in  der  That  zeigen,  dass  in  einem  gewissen 
Niveau  des  Rückenmarkes,  dessen  Lage  beträchtlichen  individuellen 
Schwankungen  unterworfen  ist  (zwischen  12.  bis  23.  Wirbel),  grosse, 
durch  ihren  ganzen  Habitus  wohl  charakterisirte  Ganglienzellen  zuerst 
nur  vereinzelt,  später  aber  als  geschlossene  Säule  in  Gestalt  eines  den 
Centralcanal  umgebenden,  vorne  offenen  Cylinders  auftreten,  welche 
unzweifelliaft  als  „elektrische  Zellen"  angesprochen  werden  müssen. 
„Dieselben  zeigen  den  gewöhnlichen,  multipolaren  Charakter  mit  dem 
kräftigen,  fein  granulirten  Protoplasma,  in  mehrere  breit  angesetzte 
Fortsätze  ausgezogen  und  bläschenförmigen  Kern  mit  stark  licht- 
brechenden, deutlichen  Kernkörperchen."  Die  Grösse  des  rundlichen 
Zellkörpers,  der  sich  stets  zu  einem  sehr  deutlichen  Axencylinder- 
fortsatz  auszieht,  beträgt  im  Mittel  0,051  mm.  Gewöhnliche  motorische 
Zellen   zeigen  stets  eine  mehr 

polygonale     Form     und     viel  -^^^^^^"^^S. 

mehr  entwickelte  Protoplasma-  ^  '  7j  ^-IrX 

fortsätze,  doch  lässt  sich  eine 
scharfe  Grenze  nicht  ziehen, 
da  nach  Fritsch  in  der  Höhe 
des  6. — 16.  Halswirbels  Ueber- 
gangsformen  vorzukommen 
scheinen.  Etwa  vom  30.  Wir- 
bel an  ist  die  Menge  der  elek- 
trischen Zellen  so  angewach- 
sen, „dass  der  ganze  Raum 
der  Vorderhörner  und  die 
centrale  Masse  der  grauen 
Substanz  von  ihnen  erfüllt  er- 
scheint, und  sie  selbst  eine  r^.  ^aa  r.  ,  •..  i  ,  j  t,-  , 
TT-      ,.    1  1       T>..    1  1  tiff-  ^^44.     Querschnitt    durch  das  Kuckenmark 

Verdickung  des  Ruckenmarkes  ^^n  Gymnotus  electricus.  (Nach  G. 
in    sagittaler   Richtung  veran-  Fritsch.) 

lassen.  Nur  vor  dem  Central- 
canal nähern  sich  die  Zellen  beiderseits  durchaus  nicht,  so  dass  die  Figur 
des  Querschnittes  der  Zellengruppe  einen  breiten  Halbmond  darstellt" 
(Fig.  244).  „Hier,  wo  nun  die  Ursprungsstätten  der  elektrischen 
Nerven  in  vollster  Entwicklung  erscheinen ,  bilden  auch  die  von  den 
Zellen  abgehenden  Axencylinder  auf  jeden  Querschnitt  eine  deutlich 
markirte  Fasergruppe  von  wesentlich  querem  Verlaufe.  Dieselben 
gleichen  in  ihrer  Anordnung  und  der  Art  des  Austretens  sehr  genau 
den  gewöhnlichen  vorderen  Wurzeln  anderer  Knochenfische.  Es  lassen 
sich  im  Gymnotus-Rückenmark  auch  nicht  besondere  motorische 
Wurzeln  etwa  neben  den  elektrischen  nachweisen,  sondern 
es  schli essen  sich  die  Ursprungsfasern  der  Muskelnerven 
den  elektrischen  unzweifelhaft  an"  (Fritsc h).  Dem  Umstand 
entsprechend,  dass  die  elektrischen  Organe  von  Gymnotus  sich 
bis  zur  Schwanzspitze  erstrecken,  finden  sich  Ganglienzellen  vom 
Typus  der  elektrischen  bis  zum  Rückenmarksende  hin,  doch  nimmt 
deren  Zahl  und  Grösse  hier  allmählich  ab,  und  auch  ihre  Form  gleicht 
wieder  mehr  den  gewöhnlichen  motorischen  Vorderhornzellen. 

Während  wir    es  in    den  bisher    erwähnten  Fällen   bei  Torpedo 

49* 


764 


Die  elektrischen  Fische. 


und  Gymnotus  mit  elektrischen  Organen  von  so  hoher  DifFerenzirung 
zu  thun  haben,  dass  dadurch  von  vorneherein  auch  die  kräftigsten 
Wirkungen  verbürgt  erscheinen,  kommen  bei  den  gemeinen  Rochen 
(Raja),  sowie  bei  den  Arten  der  Gattung  Mormyrus  am  Schwänze 
Organe  vor,-  welche  sich  durch  Bau  und  Anordnung  unverkennbar  den 
elektrischen  anschliessen,  deren  Wirkungen  aber  so  geringfügig  sind, 
dass  es  erst  in  neuerer  Zeit  gelungen  ist,  sie  mit  Sicherheit  festzu- 
stellen. Du  Bois-Reymond  hatte  deshalb  seiner  Zeit  vorgeschlagen, 
sie  als  „ps  endo  elektrische"  Organe  zu  bezeichnen.  Zur  Zeit 
liegt  hierfür  kein  Grund  vor,  da  es  als  sichergestellt  gelten  darf,  dass 
sowohl  Mormyrus,  wie  die  Arten  des  Genus  Raja  zu  den  ächten 
elektrischen  Fischen  zählen,  so  dass  es,  wie  schon  Babuchin 
seiner  Zeit  behauptete,  „keine  pseudoelektrisehen  Fische  giebt,  sondern 
nur  grosse  und  starke,  sowie  kleine  und  schwache  elektrische 
Fische". 


Fig.    245.      Raja    clavata,    Längsschnitt   des    elektrischen    Scliwanzorganes.      a)    in 

seinem  vorderen,  zwischen  den  Blättern  des  M.  sacrolumbalis  verborgenen  Ende  (3mal 

vergr.);    *)  aus  der  Mitte   des  Organes;   der  vorderen  Wand  jedes  Kästchens   Megt  die 

elektrische  Platte  an.     (Nach  M.  Schnitze.) 


Wie  James  Stark  zuerst  entdeckte,  liegen  die  elektrischen 
Organe  im  Schwänze  von  Raja  jederseits  neben  der  Wirbelsäule  als 
zwei  cylindrische,  vorn  und  hinten  zugespitzte  Körper  von  grau  durch- 
scheinender Beschaffenheit.  „Sie  beginnen  im  Centrum  des  M.  sacro- 
lumbalis etwa  an  der  Grenze  vom  ersten  und  zweiten  Dritttheil  des 
Schwanzes,  verdicken  sich  allmählich  und  liegen  nach  vollständiger 
Verdrängung  des  Muskels  dicht  unter  der  Haut,  die  ganze  Dicke  des 
ebenfalls  cylindrischen  Muskels  fortsetzend,  und  reichen  bis  an  die 
äusserste  Spitze  des  Schwanzes"  (Fig.  245  a,  h).  Koch  besser  als  am 
Längsschnitt  lässt  sich  ihre  Lage  am  Querschnitt  erkennen  (Fig.  246), 
wo  zugleich  die  Zusammensetzung  aus  einzelnen,  parallel  der  Axe  des 
Schwanzes  verlaufenden,  concentrisch  angeordneten  „Säulen"  deutlich 
hervortritt,  die  wie  bei  Torpedo  oder  Gymnotus  durch  binde- 
gewebige Septa  von  einander  gesondert  werden  („primäre  Scheidewände" 
M.  Schnitze 's.  31a).  Jede  Säule  zerfällt  wieder  durch  zahlreiche, 
senkrecht  auf  die  Längsaxe  gestellte  („secundäre")  Quer-Scheidewände 
in  einzelne  hinter-  einander  liegende  platte,  vierseitige  Kammern    oder 


Die  elektrischen  Fische. 


765 


Fächer,  welche  die  eigentlichen  elektromotorischen  Elemente  die 
„Platten"  (Kölliker's  „Schwammkörper"),  einschliessen.  Selbst  bei 
nur  oberflächlicher  Betrachtung  eines  Längsschnittes  muss  es  auffallen, 
wie  die  einzelnen  längsverlaufenden  Säulen  des  elektrischen  Organes 
gewissermaassen  an  Stelle  der  in  einander  gesteckten,  kegelförmigen 
Muskelsegmente  getreten  sind,  so  dass  ein  Theil  der  primären  Septa 
lediglich  eine  Wiederholung  der  sehnigen  Scheidewände  des  M.  sacro- 
lumbalis  darstellt  und  wie  diese  nach  vorne  zugespitzte  Kegel  bilden, 
welche  alle  unte  rsich  parallel  in  einander  stecken  (Fig.  245).  Von  der 
Anordnung  der  einzelnen  Fächer  in  den  Säulen  und  der  Lage  ihrer 
wesentlichen  Inhaltsbestandtheile  giebt  Fig.  247  eine  gute  Vor- 
stell uns;. 


K 


Fig.  246.     Querschnitt   von   Raja  batis. 

0  =  Querschnitt   der  Organe.     (Nach  B. 

Sanderson  und  Gotch.) 


Fig.  248.  Eaja  batis. 
Theil  eines  Kästchens  mit 
der  darin  befindlichen  Platte 
imQuerschnitt(Längsschnitt 
des  Organes).  n  =  Nerven- 
schicht; m  =  Maeander- 
schicht ;  p  =  Papillarschicht 
(Alveolarschicht).  (Nach  B. 
Sanderson   und  Gotch.) 


Fig.  247.    Längsschnitt  durch  das  elektrische 
Organ   von  Raja   batis.     Z"  =  Kästchen; 
P  =  elektrische  Platte.     (Nach  B.  Sander- 
son und  Gotch.) 


Man  sieht  die  nach  hinten  unregelmässig  begrenzten,  relativ  sehr 
dicken  Platten  der  Vorderwand  jedes  Faches  anliegen  und  etwa  ein 
Dritttheil  des  verfügbaren  inneren  Raumes  ausfüllen.  Bei  stärkerer 
Vergrösserung  erkennt  man  (Fig.  248),  dass  die  eigentliche  Platte  rings 
von  gallertigem  Bindegewebe  umgeben  und  fixirt  im  Räume  des 
Kästchens  liegt.  Die  Nerven  für  die  einzelnen  Kästchen  treten,  wie 
schon  Kölliker  (16)  angiebt,  von  der  vorderen  Wand  an  die  vordere 
ebene  oder  becherförmig  vertiefte  Fläche  der  Platte  heran  und  bilden 
hier  unter  rasch  wiederholter  Theilung  einen  reich  entwickelten  Plexus 
markloser  Fasern.  Die  eigentliche  Endigungsweise  lässt  sich  natür- 
lich nur  an  Flächenansichten  der  Platten,  d.  h.  an  geeigneten  Quer- 
schnitten   der    Säulen    untersuchen,    ist    aber    noch    nicht    hinlänglich 


ygg  Die  elektrischen  Fische. 

sichergestellt.  M.  Schultze  (1.  c.  p.  201)  beschreibt  ein  der  vorderen 
Fläche  jeder  Platte  fast  unmittelbar  anliegendes,  engmaschiges  Nerven- 
netz, welches  von  zahlreichen  Kernen  durchsetzt  wird  und  weiter 
nach  hinten  in  ein  noch  viel  feineres  Netzwerk  übergeht,  das  im 
Ganzen  eine  ähnliche  Beschaffenheit  zeigen  würde,  wie  das  von  dem- 
selben Forscher  und  K  ö  1 1  i  k  e  r  in  der  Torpedoplatte  angenommene  Netz, 
und  unmittelbar  mit  der  Substanz  der  Platte  verschmilzt.  Babuchin 
konnte  sich  von  der  Existenz  dieser  Netze  nicht  überzeugen,  und  auch 
Burdon- Sanderson  und  Gotch  (13  c  p.  142)  äussern  sich  nicht 
mit  Bestimmtheit  über  die  eigentliche  Art  der  Endigung.  Jenseits 
der  kernführenden  Zone,  in  der  sich  die  Nerven  verbreiten,  erkennt 
man  an  Plattenquerschnitten  eine  ziemlich  dicke  Schicht  von  lamel- 
löser  Beschaffenheit  (Maeander-Schicht),  deren  einzelne  Lagen  (Blätter) 
bald  parallel  und  horizontal  übereinander  liegen  (R.  batis),  bald 
vielfach  gebogen  und  wellig  gekrümmt  verlaufen  (R,  circularis). 
Daran  grenzt  unmittelbar  eine  oft  in  papillenförmige  Fortsätze  aus- 
gezogene Schicht  von  ganz  ähnlichem  Charakter  wie  die  die  Vorder- 
fläche der  ganzen  Platte  bekleidende,  kernführende  Zone,  welche  die 
hintere  Begrenzung  der  Platte  bildet  und  aus  einer  fein  grau- 
melirten,  i-eichlich  von  Kernen  durchsetzten  Plasmamasse  besteht. 

Ueber  den  Bau  und  die  Innervation  der  Mormyrus- Organe 
haben  neuere  Untersuchungen  von  G.  Fritsch  (12  i)  erwünschten 
Aufschluss  gebracht.  Auch  hier  handelt  es  sich  um  bindegewebige, 
mit  Gallertgewebe  erfüllte  Fächer  mit  darin  befindlichen  Platten, 
deren  feinerer  Bau  sich  aber  in  manchen  Punkten  abweichend  zu  ge- 
stalten scheint.  Der  Zutritt  der  Nerven  erfolgt  unter  Vermittlung 
eigenthümlicher  Verlängerungen  der  Platten  von  kolbenförmiger,  am 
Ende  kegelförmig  zugespitzter  Gestalt  („Zapfen"),  welche  Fritsch 
der  „Sohle"  an  den  motorischen  Endplatten  von  Muskeln  ver- 
gleicht. 

Entsprechend  der  Lage  der  Organe  am  Schwänze  entspringen 
auch  bei  den  Mormyriden  wie  beim  Zitteraal  die  Fasern  der 
elektrischen  Nerven  „als  breite,  unverzweigte  Axencylinderfortsätze 
von  mächtigen  Ganglienzellen,  welche  in  bestimmten  Strecken  die 
graue  Substanz  des  Rückenmarkes  gänzlich  erfüllen,  und  verlassen 
das  Centralorgan,  als  vordere  Wurzeln  austretend.  Sehr  beachtens- 
werth  ist  die  Angabe  von  Fritsch,  dass  die  mächtigen  Protoplasma- 
fortsätze dieser  Ursprungszellen  vielfach  breite,  kurze  Anastomosen 
bilden,  so  dass  die  elektrischen  Ganglienzellen,  „ein  enggeschlossenes 
wahres  Gerüst  bildend,  zu  gemeinsamer  Arbeit  verbunden  erscheinen". 
Mit  Recht  betont,  wie  mir  scheint,  Fritsch  diesen  Befund,  indem  sich 
hieraus  einmal  der  unzweifelhaft  nervöse  Charakter  der  betreffenden 
Fortsätze  ergiebt,  während  andererseits  die  Möglichkeit,  ja  Wahr- 
scheinlichkeit eines  analogen  Verhaltens  der  feinsten  Auszweigungen 
motorischer  Rückenmarkszellen  anderer  Wirbelthiere  nahe  gerückt  er- 
scheint. 

Ausgehend  von  einer  selbst  nur  grob  anatomischen  Untersuchung 
der  zuletzt  besprochenen  „pseudoelektrischen"  Organe  kann  es  kaum 
zweifelhaft  erscheinen,  dass  dieselben  quergestreiften  Muskeln  ho- 
molog und  aus  solchen  durch  allmähliche  Umbildung  hervorgegangen 
sind.  Ein  Blick  auf  den  enthäuteten  Schwanz  von  Mormyrus 
cyprinoides  möchte  diese  Vermuthung  auch  selbst  einem  anato- 
misch   nicht    besonders    geschulten    Auge    nahelegen.       Die     „zierlich 


Die  elektrischen  Fische.  767 

angeordneten,  platten  Sehnen  der  Öchwanzmuskeln  verlieren,  wie 
Fritsch  beschreibt,  an  einer  gewissen  Stelle,  d.  h,  ungefähr  dem 
Ende  der  Afterflosse  benachbart,  plötzlich  ihre  solide  Fleischunterlage 
und  spannen  sich  nun  oberflächlich  über  eine  durchscheinende,  gallertige 
Masse  hinweg,  deren  Plattenstructur  ihren  Charakter  als  elektrisches 
Organ  sofort  verräth  (Fritsch). 

Schwieriger  und  nur  an  der  Hand  der  Entwicklungsgeschichte 
und  vergleichenden  Anatomie  zu  führen  ist  der  Beweis  der  muscu- 
lären  Abstammung  der  elektrischen  Organe  bei  den  T  o  r  p  e  d  i  n  e  e  n 
und  bei  G  y  m  n  o  t  u  s. 

Zur  Untersuchung  der  ontogenetischen  Entwicklung  erweist  sich 
Torpedo  besonders  geeignet,  „da  dieser  lebendiggebärende  Fisch 
seine  Jungen  bis  zu  einem  weit  vorgeschrittenen  Stadium  des  Wachs- 
thums  bei  sich  trägt,  so  dass  die  jungen  Fischchen,  eben  geboren, 
bereits  6 — 8  cm  lang  sind  und  schon  deutliche  elektrische  Schläge 
ertheilen  können"   (Fritsch.) 

Die  grössten  Verdienste  auf  diesem  auch  für  die  Physiologie  so 
wichtigen  Gebiete  anatomischer  Forschung  hat  sich  vor  Allem 
Babuchin  (1)  und  neuerdings  G.  Fritsch  (12)  erworben,  nach- 
dem bereits  de  Sanctis  eine  freilich  vielfach  irrthümliche  Dar- 
stellung der  Entwicklungsgeschichte  von  Torpedo  gegeben  hatte. 
Für  die  „pseudoelektrischen"  Organe  von  Raja  haben  Ewart  (10) 
und  vor  Kurzem  Th.  W.  Engelmann  (8)  weitere  wichtige  Auf- 
schlüsse geliefert. 

In  Bezug  auf  die  Entwicklung  der  äusseren  Körperform  von 
Torpedo  unterscheidet  de  Sanctis  im  Wesentlichen  drei  Haupt- 
stadien: das  Stadium  squaliforme,  rayiforme  und  Torpediniforme. 
Schon  am  Ende  des  ersteren  Stadiums  lässt  sich  äusserlich  die  Anlage 
der  elektrischen  Organe  erkennen,  indem  an  den  Visceralbögen  an  der 
Stelle,  wo  sie  zur  ventralen  Seite  umbiegen,  auffällige  Anschwellungen 
auftreten,  die  sehr  bald  mit  einander  verschmelzen.  Gleichzeitig  ver- 
breitert sich  die  Rumpfscheibe,  der  Embryo  erhält  die  Gestalt  eines 
gemeinen  Rochen  (Stadium  rayiforme)  und  durch  immer  weiteres 
Wachsen  der  Scheibe  nach  vorne  schliesslich  die  charakteristisch  ab- 
gerundete Form  des  elektrischen  Rochen.  An  den  elektrischen  Organen 
des  dann  schon  weit  entwickelten,  aber  immer  noch  ungeborenen  Fisches 
erkennt  man  in  diesem  Stadium  schon  bei  Lupenvergrösserung  eine 
zierliche  Punktirung:  die  Aufsichten  der  bereits  voll  angelegten 
Säulchen  (Fritsch.) 

Auf  einer  sehr  frühen  Entwicklungsstufe  der  obengenannten 
Vorsprünge  der  Kiemenbogen  erscheinen  dieselben  zusammengesetzt 
aus  Bündeln  langgestreckter  Zellen,  welche  von  anderen  rund- 
lichen, jembryonalen  Charakters,  rings  umhüllt  sind  und  durchaus 
embryonalen  Muskelfasern  gleichen.  Schon  in  situ,  noch  besser 
aber  an  isolirten  Fasern  lässt  sich  die  zarte  Querstreifung  deutlich 
erkennen  (Fig.  249  a).  Anfangs  schmal  und  nur  ein  oder  zwei 
Kerne  enthaltend,  führen  dieselben  später  zahlreiche  Kerne  und 
schwellen  an  dem  gegen  die  Bauchseite  gerichteten  Ende  auf,  indem 
hier  durch  rasch  wiederholte  Theilungen  zahlreiche  Kerne  entstehen, 
die  alle  neben  einander  liegen  bleiben ,  während  zugleich  das  um- 
gebende Plasma  des  Endstüclvcs  an  Masse  zunimmt  und  eine  Art  von 
Quellung  erleidet  (Fig.  249  b,  c,  d).  Das  Ganze  erinnert  dann  „an  einen 
Quast,  welcher  an  einer  mit  Knoten  (Muskelkernen)  versehenen  Schnur 


768 


Die  elektrischen  Fische. 


hängt"  (Babuchin).  Quergestreifte  Fibrillen  der  Stammfaser  er- 
strecken sich  auch  in  die  blasige  Anschwellung  hinein,  welche 
Babuchin  wegen  ihrer  Bedeutung  als  allererste  Anlage  einer  elektri- 


^ 


ab  c 

Fig.  249.     Entwicklung    der    elektrischen  Platten    von 

Torpedo  aus  embryonalen  Muskelfasern.  (Nach   Ba- 
buchin.) 


^^H\ 


sehen  Platte,  als  „Plattenbildner" 
bezeichnet i  G.  Fritsch  schlägt  vor, 
sie  geradezu  als  „jugendliche 
Platten"  anzusprechen,  da  sie  unter 
fortgesetzter  Verbreiterung  direct  in 
die  endgiltige  Bildung  übergehen,  und 
glaubt  zugleich ,  die  eigenthüraliche 
Birnform  derselben  in  Babuchin 's 
Abbildungen  auf  die  quellende  Wir- 
kung der  angewendeten  Macerations- 
raittel  beziehen  zu  sollen.  Er  selbst 
findet  sie  wie  Krause  (17)  mehr 
kuchenförmig.  In  Folge  der  ungleichen 
Länge  der  einzelnen,  eine  Säulen- 
anlage zusammensetzenden  Muskel- 
fasern erscheinen  die  Plattenanlagen 
am  Längsschnitt  in  verschiedenen 
Höhen  (Fig  250). 

„Der  nicht  angeschwollene  Ab- 
schnitt der  Muskelfasern  bleibt  immer 
auf  derselben  Stufe  der  embryonalen 
EntAvicklung  und  bildet  schliesslich  einen  langen  und  schmalen,  immer 
noch  deutlich  quergestreiften  Stiel  des  inzwischen  unter  fortschreitender 


Fig.  250.  Längsschnitt  durch  eine 
embryonale  Säule  von  Torpedo  (p  = 
Plattenbildner.      (Nach    Babuchin.) 


Die  elektrischen  Fische.  769 

Kernvermehrung  sehr  in  die  Breite  gewachsenen  Plattenbildners,  dessen 
ventrale  Hälfte  aus  einem  beinahe  durchsichtigen,  von  Fäserchen  (Muskel- 
fibrillen?)  durchzogenen  Plasma  besteht,  während  die  sehr  charakteristi- 
schen, runden  Kerne  in  einer  fein  granulirten  dorsalen  Schicht  liegen 
(Babuchin  Fig.  249 e).  Eine  isolirte  Säule  aus  diesem  Stadium  zeigt 
sich  dann  aus  nicht  ganz  regelmässigen,  dicken,  kuchenförmigen 
Körpern  zusammengesetzt,  welche,  von  einander  durch  embryonale 
Zellen  getrennt,  nicht  die  ganze  Breite  der  Säule  einnehmen  und  neben 
und  übereinander  liegen."  Die  den  Plattenbildnern  nun  oft  seitlich 
ansitzenden  Stiele  (Reste  der  früheren  Muskelfasern)  werden  immer 
dünner  und  verschwinden  bald  ganz,  während  jene  selbst  schliesslich 
die  Form  sehr  dünner  Platten  annehmen  und  den  ganzen  Querschnitt 
der  Säulchen  ausfüllen.  Eine  Isolirung  derselben  ist  um  diese  Zeit 
sehr  schwierig,  da  sich  die  äusseren  Belegzellen  allmählich  zu  einer 
festen,  bindegewebigen  Hülle  um  die  elektrischen  Säulchen  zusammen- 
schliessen.  So  wenig  daher  die  völlig  ausgebildete  Säule  von  Tor- 
pedo in  ihrem  Bau  irgend  an  quergestreifte  Muskeln  erinnert,  so 
kann  doch  auf  Grund  der  eben  geschilderten  Thatsachen  an  der 
genetischen  Beziehung  beider  Gebilde  nicht  im  Mindesten  gezweifelt 
werden,  und  es  war  eine  der  bedeutungsvollsten  Entdeckungen  nicht 
nur  auf  dem  Gebiete  der  Anatomie,  sondern  auch  der  Physiologie  der 
elektrischen  Organe,  als  Babuchin  diesen  Zusammenhang  klar  stellte ; 
denn  „nirgends  in  der  organischen  Natur  ist",  wie  Engel  mann  be- 
merkt (8  p.  149),  ein  ähnlich  grossartiger,  jene  fundamentalen  Er- 
scheinungen vitaler  Erzeugung  mechanischer  und  elektrischer  Energie 
betreifender  Structur-  und  Functionswechsel  in  auch  nur  annähernd 
so  vollkommener  Weise  der  Untersuchung  zugänglich"   wie  hier. 

Leider  waren  alle  Bemühungen  von  C.  S  a  c  h  s ,  an  Ort  und  Stelle 
etwas  über  die  Embryonalentwicklung  der  Organe  von  Gymnotus 
zu  erfahren,  erfolglos  geblieben,  so  dass  man  nur  mit  Wahrscheinlich- 
keit vermuthen  darf,  dass  sie  sich  im  Allgemeinen  in  ähnlicher  Weise 
vollziehen  wird,  wie  bei  Torpedo. 

Um  so  genauer  sind  wir  dagegen  erfreulicher  Weise  über  die 
ausseiest  interessante  Entwicklung  der  an  sich  noch  nicht  so  hoch 
differenzirten  pseudoelektrischen  Organe  der  Rochen  unterrichtet. 

Hier  sind  es  nicht  mehr  unentwickelte,  embryonale, 
sondern  vollständig  diff  erenzirte,  f  unction  sfähige, 
quergestreifte  Muskelfasern,  aus  denen  selbst  noch 
„weit  ins  postembryonale  Leben  hinein"  durch  eigen- 
thümliche  Umwandlungen  die  Elemente  der  elektrischen 
Organe  entstehen. 

Mit  aller  nur  wünschenswerthen  Sicherheit  lässt  sich  zeigen,  dass 
die  oben  beschriebene  maeandrische  Schicht  der  Platte 
direct  aus  der  quergestreiften  Substanz  hervorgeht, 
und  speciell  bei  Raja  r  ad  lata,  wie  Ewart  zeigte,  auch 
im  entwickeltenThier  noch  ganz  wiegewöhnliche  quer- 
gestreifte Muskel  Substanz  aussieht.  Von  dieser  phylo- 
genetisch niedrigsten,  zu  den  durch  complicirten  maeandrischen  Verlauf 
ausgezeichneten  höheren  Formen  (R.  c  i  r  c  u  1  a  r  i  s ,  b  a  t  i  s)  kommen 
alle  Uebergänge  vor. 

Wie  schon  erwähnt,  besteht  jede  einzelne  entwickelte  Platte  von 
R  aj  a  b  a  t  i  s,  abgesehen  von  dem  umgebenden  Bindegewebe  und  den  zu- 
tretenden Nerven  und  Gefässeu,  aus  einer  nach  vorne  gelegenen  Schicht 


770 


Die  elektrischen  Fische. 


von  Plasma  mit  eingelagerten  Kernen,  welche  höchst  wahrscheinlich  der 
motorischen  Endplatte  quergestreifter  Muskeln  homolog  ist  und  in  der 
die  zahlreichen,  sich  zunächst  dichotomisch  verästelnde  Nerven  endigen. 
Darauf  folgt  die  im  Querschnitt  parallel  gestreifte  Lage  von  lamellösem 
Bau,  an  die  sich  schliesslich  die  von  Kernen  wieder  reichlich  durch- 
setzte „Alveolarschicht"  schliesst,  deren  Bau  Ewart  (10)  treffend  der 
buchtigen  Innenwand  der  Froschlunge  vergleicht.  Von  dieser  Schicht 
entspringt  ausserdem  ein  langer  stielartiger  Fortsatz,  der  sich  durch 
das  Schleimgewebe  des  Faches  nach  hinten  erstreckt,  um  in  der  binde- 
gewebigen Wand  des  Kästchens  zu  enden  (Fig.  251). 

Bei  ganz  jungen  Embryonen   von  R.  batis  lässt  sich  von  einem 
elektrischen,  als  solchen   kenntlichen  Organe  nichts  nachweisen.    Erst 


Fig.  251.     Raja  batis.     Schnitt  durch    ein  Kästchen   mit    entwickelter  elektri- 
scher Platte,     n  ==  Nervenschicht;  k  =  kernführende  Schicht;   m  =  Maeander- 
schicht;    a  =  Alveolarschicht;    mf  =  Rest    der    Muskelfaser    (Stiel   der  Platte). 
(Nach  Ewart.) 

t 

wenn  die  Länge  etwa  7  cm  beträgt,  bemerkt  man  an  horizontalen 
Längsschnitten  durch  den  Schwanz  zwischen  gewöhnlichen,  normalen 
Muskelfasern  solche,  die  als  im  ersten  Stadium  der  Umwandlung  zu 
elektrischen  Platten  befindlich  angesehen  werden  müssen  (Fig.  252  a). 
Dies  markirt  sich  Anfangs  nur  durch  eine  keulenförmige  Anschwellung 
des  Vorderendes,  an  welches  ein  Nerv  unter  reichlicher  Theilung 
herantritt,  und  eine  auffallende  Kernwucherung,  wodurch  schliesslich 
eine  Art  von  Endplatte  oder  Kappe  entsteht,  die  das  Keulenende  be- 
kleidet. Die  weiteren  Stadien  der  Umwandlung  sind  ohne  nähere 
Beschreibung  aus  den  Figuren  (Fig.  252  h,  c,  d)  verständlich,  welche 
nach  Präparaten  von  einem  älteren,  10  cm  langen  Embryo  gezeichnet 
sind.  Man  erkennt  schon  leicht  alle  wesentlichen  Theile  der  ent- 
wickelten elektrischen  Platte,  die  kernreiche,  zu  oberst  gelegene  Nerven- 
endplatte, die  kernfreie  maeandrisch  gestreifte  Lage,  deren  Structur 
die  unzweifelhafte  Beziehung  zu  der  ursprünglichen  Querstreifung  der 


Die  elektrischen  Fische. 


771 


Muskelfaser  erkennen  lässt,  und  schliesslich  die  Alveolarschicht  (r,  f), 
welche  aus  einer  Wucherung  des  Sarkoplasmas  und  der  (Muskel-) 
Kerne  an  der  Basis  der  Keule  hervorgeht,  mit  dem  schwanzförmigen 
Anhang  des  atrophirenden  Stieles  der  Platte  als  Rest  der  ursprüng- 
lichen  Faser.     Derselbe   zeigt   noch    lange   Andeutungen    von   Quer- 


i^'h. 


Fig.  252.     Raja  batis.     a  Theil  eines  Längsschnittes  durch  einen  Embryo.     Keulen- 
förmige Muskelfasern,  sich  zu  elektrischen  Platten  entwickelnd ;  b^f  weitere  Entwick- 
Inngsstadien.     (Nach  Ewart.) 


streifung  und   ist  unter  geeigneten   Umständen   selbst   noch   an  völlig 
entwickelten  Platten  zu  erkennen. 

Länger,  aber  viel  schmaler  ist  das  elektrische  Organ  von  R.  cir- 
cularis.  Dasselbe  besteht  aus  becherförmig  eingekrümmten  Platten, 
deren  Bau  im  Uebrigen  mit  dem  bei  R.  batis  geschilderten  wesent- 
lich übereinstimmt,  wo  sich  ja  auch  schon  Andeutungen  einer  becher- 


772 


Die  elektrischen  Fische. 


artigen  Einstülpung  des  Anfangs  keulenförmig  angeschwollenen  Muskel- 
faserendes erkennen  lassen. 

Die  bei  R.  batis  annähernd  parallelen  Lamellen  der  maeandrischen 
Schicht  sind  bei  R.  circularis  vielfach  gebogen,  und  auch  die  Al- 
veolarschicht  zeigt  hier  einen  verschiedenen  Bau,  indem  sie  im  basalen 


Theil  fein  radiär  gestreift  erscheint  (Fig.  253).  Den  ersten  Anfang 
der  Umwandlung  von  Muskeln  in  elektrische  Gewebe 
bezeichnet  nach  Ewart  aber  Raja  radiata,  was  sich  einerseits 
durch  den  viel  späteren  Beginn  des  Processes  und  anderei'seits  auch 
durch  die  Deutlichkeit  der  Querstreifung  der  voll  entwickelten  Platten 
verräth. 


Die  elektrischen  Fische. 


773 


Die  wichtige  Frage,  welche  Homologien  zwischen  den  Lamellen 
der  ausgebildeten  Blätterschicht  und  den  Querschichten  der  Muskel- 
fasern bestehen,  war  bis  vor  Kurzem  noch  ungelöst.  Durch  die  höchst 
sorgfältigen  Untersuchungen  von  Engelmann  ist  auch  hier  in  er- 
wünschter Weise  Licht  verbreitet  worden.  Eine  genaue  vergleichende 
Betrachtung  verschiedener  Entwicklungsstadien  der  Organe  vonRaja 
clavata  bei  einem  und  demselben  Embryo  von  7V2  cm  Länge  (Fig. 
254  a — e)  lässt  keinen  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  sowohl  die 
dunklen,  schmalen,  wie  die  breiten,  hellen  Querstreifen  der  ursprüng- 
lichen Muskelfaser  den  gleichen  Querbändern    in    der  Lamellenschicht 


Fig.  253.     Raja  circularis;    Theil    eines    Längsschnittes    durch    einen    elektrischen 

Becher."".«  =  Nerven-  und  kernführende  Schicht;  m  =  Maeanderschicht;  a  =  Alveo- 

larschicht.     (Nach  E  w  a  r  t.) 


der  fertigen  Platte  entsprechen,  indem  nicht  nur  an  Präparaten  aus 
verschiedenen  Stadien,  sondern  auch  an  einer  und  derselben!  Faser 
alle  Uebergänge  vom  „typischen  Bild  der  quergestreiften  Muskelsub- 
stanz zum  typischen  Bild  der  maeandrischen  Schicht  des  entwickelten 
elektrischen  Organes  sich  nachweisen  lassen'".  Noch  deutlicher  tritt 
die  Homologie  der  dünnen,  stark  lichtbrechenden  La- 
mellen des  elektrischen  Organes  mit  den  arimetabolen 
(isotropen)  und  die  der  dicken,  schwach  lichtbrechenden 
mit  den  metabolen  (anisotropen)  Schichten  der  quer- 
gestreiften Muskelfasern  bei  Anwendung  sehr  starker  Ver- 
grösserungen  hervor.  Bei  diesem  Umwandlungsprocess  nimmt  einer- 
seits   das    Flächenwachsthum    der    Lamellen    senkrecht    zur   Faseraxe 


774 


Die  elektrischen  Fische. 


ausserordentlich  zu,  während  andererseits  auch  die  Höhe  der 
Schichten  um  das  Doppelte  und  Dreifache  wächst.  Damit  gehen 
wesentliche  Aenderungen  im  morphologischen  und  physikalisch-chemi- 
schen Verhalten  beider  Schichten  Hand  in  Hand,  die  sich  bei  der 
Untersuchung  im  polarisirten  Licht  vor  Allem  durch  die  bedeutende 
Schwächung  des  Doppelbrechungsvermögens  äussern,  das 
bei  R.  clavata  in  den  metabolen  Schichten  „schon  fast  völlig  un- 
merklich geworden  ist,  ehe  noch  irgend  eine  andere,  auf  die  Umwand- 


e. 


[) 


Fig.  254.     Raja  clavata;  aufeinander   folgende  Stadien  der  Entwicklung  einer  elek- 
trischen Platte  aus  einer  quergestreiften  Muskelfaser.     (Nach  Engel  mann.) 


lung  bezügliche  Aenderung  zu  entdecken  ist".  Das  schon  erwähnte 
starke  Flächenwachsthum  der  Lamellen  beruht,  wie  E  n  g  e  1  m  a  n  n  er- 
wies, bis  zur  Ausbildung  der  Kästchenform  wesentlich  nur  auf  Ver- 
mehrung der  Zahl  der  Fibrillen  an  der  Peripherie  der  Lamellen,  nicht 
auf  Verdickung  der  bereits  bestehenden  oder  Verbreiterung  der  inter- 
fibrillären  Räume.  Später,  im  ausgebildeten  Organ,  ist  übrigens  von 
einer  fibrillären  Structur  der  Lamellen  überhaupt  nichts  mehr  zu  be- 
merken. 

Vergleicht  man  die  optischen  Aenderungen  der  Schichtenfolgen 
bei  der  Entwicklung  der  elektrischen  Kästchen  mit  jenen,  welche  bei 
starker   physiologischer  Verkürzung   auftreten,    so    ergeben    sich,    wie 


Die  elektrischen  Fische.  775 

Engelmann  zeigte,  auffallende  Uebereinstimmungen,  indem  einerseits 
die  arimetabolen  (isotrojien)  Lamellen  „optisch  homogener,  als  Ganzes 
stärker  lichtbrechend,  daher  fester  (wasserärmer)  werden",  während 
umgekehrt  die  metabolen  Schichten  (speciell  die  der  Querscheiben)  an 
Lichtbrechungsvermögen  verlieren,  wobei  zugleich  ihre  Doppel- 
brechung abnimmt.  Der  Betrag  dieser  Schwächung  ist  allerdings 
bei  der  Contraction  „nichtssagend  im  Vergleich  zu  dem  bei  der  Um- 
wandlung der  Muskelfasern  in  die  maeandrische  Schicht  der  elektrischen 
Kästchen".  Sie  macht  sich  ausserdem  schon  in  einem  so  frühen  Ent- 
Avicklungsstadium  geltend  (v  o  r  der  keulenförmigen  Anschwellung  des 
proximalen  Muskelfaserendes),  dass  jedes  andere  Anzeichen  der  kom- 
menden Umwandlung  noch  gänzlich  fehlt.  Auch  in  diesem  Punkte 
verrathen  die  Organe  von  Raja  radiata  ihren  phylogenetisch 
jüngeren  Zustand,  indem  hier  das  Doppelbrechungsvermögen  viel 
langsamer  und  unvollständiger  schwindet,  als  bei  anderen  Arten  der 
Gattung  (R.  batis,  clavata,  circularis).  Für  die  von  Engel- 
mann seit  lange  vertretene  Annahme,  „dass  nur  die  doppelbrechen- 
den, metabolen  Glieder  der  Muskellibrillen  Sitz  und  Quelle  der  ver- 
kürzenden Kräfte  des  Muskels  sind",  liegt  offenbar  in  dem  geschilderten 
Verhalten  bei  der  Umbildung  zum  elektrischen  Organe  eine  ganz 
wesentliche  Stütze. 

Weit  weniger  genau  als  bei  Raja  sind  wir  über  die  Entwicklung 
der  „pseudoelektrischen"  Organe  vonMormyrus  unterrichtet.  Doch 
konnte  sich  Babuchin  (1)  bei  der  Untersuchung  von  sechs  Arten 
der  Gattung  auf  das  Bestimmteste  überzeugen,  „dass  auch  hier  die 
elektrischen  Organe  aus  Muskeln  entstehen  und  nach  voller  Ausbildung 
den  Muskelcharakter  theilweise  beibehalten".  Jede  „Platte"  des  Mo r- 
myrus  besteht  aus  drei  von  einander  trennbaren  Blättern,  von  denen 
die  beiden  äusseren  „structurlos,  von  der  Innenseite  mit  einer  Schicht 
körniger  Substanz  überzogen  und  mit  unzähligen  runden  Kernen  ver- 
sehen sind".  „Das  eine  von  diesen  Blättern  ist  die  unmittelbare  Fort- 
setzung der  Scheide  der  blassen  (zutretenden)  Nervenfasern.  Das 
mittlere  Blatt  besteht  ausschliesslich  aus  platten,  sehr  dünnen  Muskel- 
fasern oder  -Bändern,  welche  dicht  neben  einander  unregelmässig  liegen. 
Jede  einzelne  Faser  ist  scharf  quergestreift,  alle  zusammen  genommen 
bilden  ein  muskulöses  Blatt,  welches  gegen  den  Rand  der  elektrischen 
Platte  hin  stärker  wird  als  in  der  Mitte  und  keine  maeandrische  Zeich- 
nung besitzt."  Es  würde  demnach  nach  Babuchin  die  elektrische 
Platte  vonMormyrus  entwicklungsgeschichtlich  nicht,  wie  bei  Tor- 
pedo oder  Raja,  einer  einzelnen  metaraorphosirten  Muskelfaser 
entsprechen,  sondern  „einem  ganzen  Bündel  aus  kurzen  Muskel- 
fasern, wie  sie  die  Seitenrumpfmuskeln  der  Fische  bilden". 

Auch  Fritsch  (12)  giebt  an,  dass  an  feinen  Querschnitten  der 
Mormyr US-Platten  ein  Gewebe  in  wechselnder  Mächtigkeit  hervor- 
tritt, „an  dem  die  complicirte  Muskelquerstreifung  in  ausserordentlich 
vollkommener  Weise  erhalten  blieb" ;  dasselbe  bildet  die  mittlere 
Schicht  jeder  Platte,  die  vordere  lässt  unter  einem  feinen  cuticularen 
Saum  eine  zarte  Längsstreifung,  analog  dem  Palissadensaum  der  Tor- 
pedoplatte, erkennen. 

Wenn  es  ontogenetisch  als  völlig  sichergestellt  betrachtet  werden 
kann,  dass  die  bisher  besprochenen  elektrischen  Organe  sämmtlich  als 
umgewandelte,  speciell  differenzirte,  quergestreifte  Muskeln  aufzufassen 
sind,    so   zeigt   andererseits  eine  auch  nur  oberflächliche,  vergleichend 


776 


Die  elektrischen  Fische. 


anatomische  Untersuchung,  dass  in  den  einzehien  Fällen  sehr  ver- 
schiedene Muskelgruppen  den  Ausgangspunkt  dieses  merkwürdigen 
Differenzirungsprocesses  gebildet  hajjen.  So  fehlt  bei  Torpedo  die 
äussere  Lage  der  kleinen  Muskeln  des  Kiemengerüstes  und  die  bei 
den  verwandten  Rochen  ausserordentlich  mächtigen  äusseren  Kiefern- 
muskeln; beim  Gymnotus  fehlt  die  tiefste  Partie  der  ventralen 
Rumpfmuskulatur  bis  auf  jenen  kleinen  Rest,  der  oben  schon  als 
„Zwischeumuskelschicht"  erwähnt  wurde,  und  hat  sich  zu  den  grossen 
elektrischen  Organen  umgebildet ,  während  die  kleinen  aus  dem 
obersten  Theil  der  inneren  Flossenträgermuskeln  hervorgegangen  sind. 
Bei  Gymna rebus  wieder  entspricht  das  elektrische  Organ  dem 
centralen  Theil  der  Seitenmuskeln,  während  bei  Mormyrus  und  Raja 
die  der  Seitenlinie  benachbarten  Theile  der  Schwanzmuskeln  das  Ma- 
terial  zur  Bildung   der  „unvollkommenen"  Organe   abgegeben   haben. 


mp 
md 


JIs 
Mi 


Fig.  255.     a)    Querschnitt   des  Schwanzes   von   Silurus   g-lanis.     b)    Querschnitt  aus 
dem  vierten  Fünftel  von  Gymnotus.     (Nach  G.  Fritsch.) 


Es  ist  demgemäss  das  Auftreten  der  elektrischen  Organe  im  Körper 
topographisch  nicht  an  eine  bestimmte  Region  gebunden,  sondern  jede 
Muskelgruppe,  deren  normale  Function  für  die  Exi- 
stenz des  Individuums  entbehrlich  erscheint,  kann  als 
gleichwerthige  Grundlage  der  Entwicklung  elektrischer 
Organe  betrachtet  werden  (G.  Fritsch  12). 

Vergleicht  man  einen  Querschnitt  durch  den  Rumpf  des  Welses, 
der  hinsichtlich  seiner  Muskulatur  dem  Gymnotus  am  nächsten 
steht,  mit  einem  solchen  des  letzteren,  so  bemerkt  man  jederseits  leicht 
die  Durchschnitte  der  vier,  für  die  Knochenfische  überhaupt  charak- 
teristischen Seitenrumpfmuskeln  (M.  laterales  propra  inferiores  et  su- 
periores,  Fig.  255  a,  b.  Ms  und  Mi  und  M.  laterales  dorsales  et  ven- 
trales, 7nd  und  mv  der  Figuren),  welche,  wie  insbesondere  die  Seiten- 
ansicht lehrt,  in  der  Längsrichtung  des  Fisches  durch  die  zickzack- 
förmig   verlaufenden  Ligamenta   intermuscularia    segmental    gegliedert 


Die  elektrischen  Fische. 


777 


erscheinen,  indem  die  einzelnen,  je  einem  Segment  entsprechenden 
Scheiben  sich  zu  Hohlkegeln  umgebildet  haben,  welche  so  zu  sagen 
in  einander  gesteckt  sind.  Eine  Complication,  wodurch  sich  der  Wels 
vor  anderen  Knochenfischen  auszeichnet,  ist  durch  das  Auftreten  einer 
Muskelgruppe  gegeben,  welche,  von  den  platten  Bauchmuskeln  ab- 
zweigend, bereits  hinter  dem  Schultergürtel  beginnt  und  rasch  sich 
verschmälernd,  als  ein  deutlich  getrennter  Muskelstreif  unter  den 
eigentlichen  Seitenmuskeln  bis  nach  dem  Schwanzende  hin  verläuft 
(M.  lateralis  imus  [me]  Fritsch),  In  der  Seitenansicht  erkennt 
man  ferner,  wie  nach  hinten  zu  die  Ligamenta  intermuscularia 
dieses  Streifens  stark  gegen  die  Horizontale  geneigt  erscheinen,  so 
dass  sich  die  kurzen,  dazwischen  ausgespannten  Muskelprimitivbündel 
wie  eng  angeordnete  niedrige  Fächer  präsentiren.  Man  sieht  nun,  ins- 
besondere am  Querschnitt,    leicht,    dass  die  Lage  der  grossen  elektri- 


KM 


Fig.   256.     Homologie  des  elektrischen  Organes  (0)  von  Torpedo  und  der  Konmuskeln 
des  gemeinen  Rochen  [KU).     (Nach  G.  Fritsch.) 


sehen  Organe  von  Gymnotus  durchaus  der  des  genannten  Muskel- 
zuges {m  e)  beim  Welse  entspricht,  der  jenem  thatsächlich  fehlt  und 
aus  dessen  Umbildung  eben  die  Organe  hervorgegangen  sind.  Mit 
nicht  minderer  Sicherheit  lässt  sich  der  Nachweis  führen,  dass  die  so- 
nannten  kleinen  Gymnotus-Organe  durch  Umbildung  eines  Theiles 
der  unteren  Flossenträgermuskeln  entstanden  sind.  Entsprechend  der 
äusserst  dürftigen  Entwicklung  der  Rückenflosse  machen  sich  am 
Querschnitt  vom  Wels  sowohl  wie  von  Gymnotinen  nur  zwei  kleine 
dreieckige  Durchschnitte  von  Muskulatur  unter  der  Rückenhaut  be- 
merkbar (Fig.  255  a,  h.  mp).  Dagegen  erkennt  man  an  der  ventralen 
Seite  der  Querschnitte  beiderseits  von  der  Medianebene  je  zwei  Systeme 
quer  durchschnittener  Flossenträgermuskeln  (äussere  und  innere, 
Fig.  255  m  p),  die  besonders  bei  Gymnotus  zahlreich  und  stark 
entwickelt  sind  und  nach  hinten  an  Zahl  und  Ausdehnung  zunehmen. 
In  derselben  Richtung  nimmt  aber  auch  das  kleine  Organ  an  Höhe 
zu,  während  die  Zahl  der  Säulen  des  grossen  umgekehrt  nach  dem 
Schwanzende  zu  abnimmt,   „indem  dieselben  sich  unten  einrollen  und 

Biedermann,   Elektropliysiologie.  50 


778  I^iö  elektrischen  Fische. 

SO  die  Seitenfläche  des  Körpers  verlassen".  In  dem  Bereiche 
nun,  wo  die  kleinen  Organe  voll  entwickelt  sind,  fehlen 
die  oberen  Bündel  der  tiefen  Flossenträgermuskeln,  so 
dass  die  genetische  Beziehung  dieser  zu  jenen  nicht  zweifelhaft  sein 
kann.  Ebenso  wenig  ist  dies  der  Fall  bei  den  Torpedineen,  wo 
die  mächtigen,  zu  einem  rundlichen  Klumpen  geballten  Beissmuskeln 
der  gewöhnlichen  Rochen  (Fig.  256  h,  KM)  fast  gänzlich  fehlen  und 
nur  auf  geringfügige  Reste  reducirt  erscheinen.  Es  handelt  sich  dabei 
hauptsächlich  um  die  äusseren,  bezw.  ventral  entwickelten  Muskeln 
des  Kiemenkorbes,  welche  das  System  der  Adductores  arcuum  und  des 
sogenannten  Constrictor  communis  superficialis  darstellen  (Fritsch), 
die  hier  ihrer  Function  nach  den  Masseteren  mit  den  Pterygoidei  und 
Temporales  entsprechen.  Insbesondere  scheint  der  Constrictor  das 
Material  zur  Bildung  des  hinteren  Organabschnittes  geliefert  zu  haben, 
während  der  vordere  breite  Abschnitt  wesentlich  aus  der  Umwandlung 
des  Adductor  y  (Vetter,  Kiemen-  und  Kiefermuskulatur  der  Fische, 
Jenaische  Zeitschr.  VIII)    hervorgegangen  zu  sein  scheint. 

Mit  Rücksicht  auf  die  geschilderten  Entwicklungsvorgänge  der 
elektrischen  Organe  ist  es  von  vornherein  nicht  eben  wahrscheinlich, 
dass  die  Zahl  der  einmal  angelegten  Elemente  (Platten  resp.  Säulen) 
im  Laufe  des  individuellen  Wachsthums  weiter  zunimmt.  Schon  1839 
behauptete  Delle  Chiaie,  „dass  die  Säulen  des  Zitterrochen  durch 
Intussusception  wachsen,  indem  sich  davon  dieselbe  Anzahl  entwickelt, 
welche  im  Embryo  in  Miniatur  existirt,  bloss  durch  deren  allmähliche 
Zunahme  an  Masse  und  Grösse".  Rud.  Wagner  vertheidigte  diesen 
Satz  dann  1847  gegen  Valentin  und  Babuchin,  dehnte  ihn 
auch  auf  die  Zahl  der  Platten  in  den  Säulen  aus  und  führte  ihn  auf 
seinen  entwicklungsgeschichthchen  Grund  zurück.  Nach  diesem  „Satze 
von  derPräformation  der  elektrischen  Elemente  würde 
die  Zahl  der  Säulen  (und  Platten)  bei  verschiedenen  Individuen  der- 
selben Species  elektrischer  Fische  innerhalb  enger  Grenzen  dieselbe 
bleiben,  mögen  die  Thiere  klein  und  jung  oder  ausgewachsen  unter- 
sucht werden. 

In  der  nachstehenden  Tabelle  (S.  779  1.  Tabelle)  hat  Du  Bois- 
Reymond  (4  e,  p.  403)  alle  bis  dahin  bekannten  Zählungen  der 
Säulen  in  den  elektrischen  Organen  von  Torpedineen  zusammen- 
gestellt. 

In  derselben  scheint  insbesondere  das  Resultat  der  Zählung  an 
dem  Foetus  von  Torpedo  ocellata  sehr  entschieden  zu  Gunsten 
des  in  Rede  stehenden  Satzes  zu  sprechen.  Doch  lassen  die  freilich 
anfechtbaren ,  abweichenden  Befunde  von  Valentin  und  G  i  r  a  r  d  i 
doch  noch  eine  Unsicherheit  zurück,  die  Anfangs  auch  Du  Bois- 
Reymond  zu  dem  Schluss  drängte,  „dass  in  verschiedenen  Individuen 
derselben  Species  ursprünglich  verschieden  viel  Säulen  angelegt  werden, 
welche  sich  dann  aber  nicht  mehr  vermehren".  Grosse,  die  Breite 
der  individuellen  ScliAvankungen  übertreffende  Abweichungen  der 
Säulenzahl,  wie  etwa  in  der  vorstehenden  Tabelle  der  Fall  von  H  u  n  - 
ter  und  andererseits  von  He  nie,  würden  natürlich  vom  Standpunkte 
der  Präformationslehre  aus  auf  Speciesverschiedenheit  schliessen  lassen. 
Fritsch  unterzog  sich  der  grossen  Mühe,  mit  Rücksicht  hierauf  das 
System  der  Torpedineen  zu  revidiren,  und  die  folgende  Tabelle 
(S.  779  2.  Tabelle)  giebt  einige  Beispiele  aus  seinen  zahlreichen  Zäh- 
lungen (G.  Fritsch  12). 


Die  elektrischen  Fische. 


779 


Tabelle  der  Säulenzahl  in  den  elektrischen  Organen  verschiedener 
Torpedineen. 


Art 

Länge 
mm 

Säulenzahl   in  dem 

linken           einen         rechten 

Organ 

Beobachter 

ßaja  Torpedo     .     .     . 

1219 
457 

520 
290 

1182 
470 
420 
480 

514 
265 

Hunter 
Girardi 

T.  Galvanii    .... 

„             „           (Foetiis)   . 

273 

82 

410 

298 

Valentin 

T.  marmorata     .     .     .  j 

!       262 
393 
230 

449 

420 

420 

R.  Wagner 
/Leukart 

Foetus  von  T.  ocellata              81       1 

mit  Dottersack    .     .     ;                                             400 

410 

) 

R.  Wagner 

Narcine    dipterygia 

61 

130 

Henle 

Zahl  der  Säulen  in  einem  elektrischen  Organ  von  Torpedineen. 


Species 

Läng 

Fisches 
mm 

3  des 

Organes 
mm 

Säulenzahl  am 
Rücken        Bauch 

Unterschied 

Torpedo  ocellata     .... 

121 

37 

487 

491 

—     4 

„         marmorata 

216 

66 

469 

536 

-  67 

„         ocellata    . 

161 

68 

406 

n                   ;i 

. 

335 

98 

379 

404 

-  25 

„                   „ 

, 

373 

114 

396 

426 

-  30 

„          marmorata 

. 

357 

123 

446 

484 

-  38 

„         ocellata     . 

405 

128 

404 

436 

-  32 

Man  ersieht  hieraus  zunächst,  dass  die  Zahl  der  Säulen  bei  dem- 
selben Individuum  an  Rücken-  und  Bauchfläche  nicht  ganz  gleich  ist, 
sondern  nicht  unerheblich  schwankt.  Es  ist  fraglich,  ob  dies  darauf 
beruht,  dass  Säulen  innerhalb  des  Organes  frei  enden  (wie  es  auch 
bei  G y m n 0 1 u s  vorkommt).  Im  Sinne  d e r  P i* ä f o r m a t i o n s  1  e h r e 
bleibt  dagegen  bei  Schwankungen  der  O  r  g  a  n  1  ä  n  g  e  n  von 

50* 


780  Die  elektrischen  Fische. 

37  — 128  mm  die  Säulenzahl  annähernd  gleich.  Das  Gleiche 
ergiebt  sich  aus  späteren  vergleichenden  Zählungen  von  Babuchin 
an  einem  42  cm  langen  Mutterthier  und  drei  Embryonen  mit  noch 
vom  Dotter  erfüllten  Bauch  von  10^/2  cm  Länge.  An  diesen  war  die 
Säulenzahl   478,    467,    443,   während    sie  an  dem  ersteren  471  betrug. 

Sonst  wohl  charakterisirte  Species  von  Torpedineen  (T.  mar- 
m  0  r  a  t  a ,  o  c  e  1 1  a  t  a ,  p  a  n  t  h  e  r  a )  zeigen  nur  geringe ,  unwesentliche 
Verschiedenheiten  der  Säulenzahl,  dagegen  bestätigte  Fritsch  die 
schon  von  Henle  beobachtete,  auffallend  geringe  Grösse  derselben 
(146)  bei  Astrape  dipterygia  und  fand  auch  bei  anderen 
N a r c i n e arten  sehr  geringe  Säulenzahlen ,  so  bei  N.  tasmaniensis 
Neuseeland  278,  N.  lingula  China  274,  N.  timlei  230,  N.  indica 
145,  Astrape  capensis  147  und  Temera  Hardwickii  139; 
dagegen  fanden  sich  ungewöhnlich  zahlreiche  Säulen  bei  einer  augen- 
fleckigen Abart  von  Torpedo  marmorata  (var.  annulata).  In 
Wien  hatte  Fritsch  Gelegenheit,  zwei  Exemplare  der  riesigen  (bis 
152  cm  langen)  amerikanischen  T,  (Gymnotorpedo)  occidentalis 
zu  untersuchen  und  fand  über  1000  Säulen  (1037),  so  dass  die  Ver- 
muthung  naheliegend  erscheint,  den  schon  oben  erwähnten  Befund 
von  Hunter  auf  ein  derartiges,  durch  den  Golfstrom  an  die  englische 
Küste  verschlagenes  Exemplar  zu  beziehen.  An  diese  grösste  lebende 
Species  schliesst  sich  in  Bezug  auf  die  Säulenzahl  T.  (Gymnotorpedo) 
hebetans  (Lowe)  an,  von  dem  das  einzige  im  British  Museum  vor- 
handene Exemplar,  obschon  nur  von  der  Grösse  einer  mittleren 
Torpedo  marmorata,  1025  Säulen  zählt.  Gleichfalls  durch  geringe 
Grösse  und  hohe  Säulenzahl  (895)  ausgezeichnet,  ist  die  seltene 
T.  (Gymnotorpedo)  californica    von   der   Westküste   Amerikas. 

Viel  grössere  Schwierigkeiten  scheinen  der  Bestimmung  der  Säulen- 
zahl bei  Gymnotus  entgegenzustehen,  was  nach  G.  Fritsch  be- 
sonders für  den  hinteren  Körperabschnitt  gilt,  wo  die  Unregelmässigkeit 
der  Anordnung  am  grössten  ist.  Die  Totalsumme  aller  Säulen  des  grossen 
Organes  scheint  nach  Fritsch's  Untersuchungen  sogar  innerhalb 
ausserordentlich  weiter  Grenzen  zu  schwanken,  indem  sie  zuweilen 
nach  Angabe  der  Autoren  die  Zahl  von  50  nicht  erreicht  und  ge- 
legentlich bis  nahe  an  100  steigt.  Die  grösste  Säulenzahl  fand  sich 
stets  bei  den  kleineren  Individuen  von  Gymnotus,  Ob  es  sich 
hierbei  um  unausgewachsene  Exemplare  handelte  oder  um  Geschlechts-, 
Rasse-  oder  Artverschiedenheiten,  muss  zunächst  unentschieden  bleiben. 

Von  grosser  theoretischer  Bedeutung  würde  auch  die  genaue  Fest- 
stellung der  Plattenzahl  in  den  Säulen  der  Organe  sein ;  leider 
sind  die  vorhandenen  Angaben  hierüber  wenig  befriedigend.  „Beim  Zitter- 
aal kommen  durchschnittlich  10  Platten  auf  das  Millimeter,  und  da  die 
Organe  eines  mittelgrossen,  1  m  langen  Thieres  etwa  80  cm  lang  sind, 
so  ergiebt  dies,  abgesehen  vom  weitfächerigen  Sachs'schen  Säulen- 
bündel, 8000  Platten  hinter  einander"  (Du  Bois-Reymond);  nach 
Valentin  nur  5150,  nach  Pacini  gar  nur  4000.  „In  einer  1" 
englisch  =  25,4  mm  hohen  Säule  eines  mittelgrossen  Zitterrochen 
zählte  Hunter  150  Platten,  Leukart  180;  Pacini,  Avelcher  als 
Säulenhöhe  40  mm  maass,  zählte  2000  Platten,  während  Valentin 
für  mittelhohe  Säulen  (von  11,3  mm)  nur  etwa  300  Platten  angiebt. 
Man  sieht,  dass  gerade  hier  die  Angaben  ausserordentlich  differiren, 
was  bei  der  Schwierigkeit  der  Zählung  selbst  mit  Zuhülfenahme  der 
besten    Conservirungsmethoden   kaum    Wunder    nehmen    kann.      Nach 


Die  elektrischen  Fische.  781 

G.  Fritsch  (12  g-.  II.  p.  1105)  beträgt  die  Zahl  der  Platten  in  einer 
13,5  mm  hohen  Säule  von  Torpedo  (Fimbrio torpedo)  marmo- 
rata  (bei  265  mm  Körperlänge)  durchschnittlich  375;  da  das  Organ 
479  Säulen  hatte,  so  betrug  demgemäss  die  Gesammtzahl  der  Platten 
179  625;  bei  T.  ocellata  mit  einer  durchschnittlichen  Säulenzahl  von 
433  (Säulenhöhe  im  Mittel  6,25  mm)  und  einer  Plattenzahl  von  380 
stellt  sich  die  Summe  der  Platten  auf  164540.  Es  stellte  sich  bei 
diesen  Messungen  ausserdem  noch  der  bemerkenswerthe  Umstand 
heraus,  „dass  an  den  niedrigen  Säulen  die  Platten  enger  zusammen- 
stehen als  an  den  hohen  Säulen  desselben  Organes",  so  dass  das 
Wachsthum  der  letzteren  sich  auch  in  dieser  Hinsicht  „als  ein  Quel- 
lungsvorgang kennzeichnet,  der  zum  Auseinanderweichen  der  Platten 
führt",  deren  Dicke  beim  Wachsen  zunimmt,  wie  bereits  Boll  fand. 
Noch  auf  eine  andere  Weise  lässt  sich  über  die  Zahl  der  Platten 
im  Torpedoorgan  Aufschluss  gewinnen.  Wenn,  wie  nicht  zu  bezweifeln 
ist,  jede  Faser  der  elektrischen  Nerven  als  Axencylinderfortsatz 
einer  Ganglienzelle  des  Lobus  electricus  aufgefasst  werden  muss,  so 
sieht  man  leicht,  dass  zwischen  der  Zahl  dieser  und  der  Zahl  der 
Platten  des  ganzen  Organes  bestimmte  und  gesetzmässige  Beziehungen 
bestehen  müssen.  Setzt  man  die  Gesammtzahl  der  Zellen  gleich  N, 
so  werden  dieselben  durch  die  ihnen  entsprechenden  N  Axencylinder, 
welche    in  je    18    Theiläste    zerfallen    und    dabei    an    den    Platten  je 

18 
6  Ecken  zu    versorgen    haben ,    N  •;><  —   =^   ^  N  Platten    innerviren. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  bietet  daher  auch  die  Zählung  der 
Ganglienzellen  des  Lobus  erhebliches  Interesse.  Nachdem  bereits 
Boll  einen  Versuch  in  dieser  Richtung  unternommen  hatte,  wobei  er 
zu  der  wohl  zu  niedrigen  Zahl  von  53  760  Zellen  gelangte ,  betrat 
G.  Fritsch  den  bei  Weitem  sichereren  Weg  der  ZählungderAxen- 
cylinder  in  den  elektrischen  Nerven,  indem  er  Photogramme 
von  Durchschnitten  der  vier  Nervenstämme  anfertigte  und  diese  aus- 
zählte. Es  ergab  sich  eine  Gesammtsumme  von  5  8  318  Nervenfasern, 
woraus  sich  durch  Multiplication  mit  3  die  Plattenzahl  zu  17  4964 
berechnet,  was,  wie  man  sieht,  mit  der  früher  mitgetheilten ,  durch 
directe  Bestimmung  gewonnenen  Zahl  17  962  5  hinlänglich  stimmt,  um 
die  obigen  Voraussetzungen  berechtigt  erscheinen  zu  lassen. 


Unter  den  elektrischen  Fischen  nimmt  der  einen  grossen  Theil 
der  Flüsse  des  centralen  Theiles  von  Afrika  bevölkernde  Zitter- 
wels (M  a  1 0  p  t  e  r  u  r  u  s  electricus),  der  Raäsch  der  Araber,  insofern 
eine  Ausnahmestellung  ein,  als  seine  mächtig  wirkenden  Batterien 
nicht  aus  der  Umwandlung  quergestreifter  Skeletmuskelfasern  hervor- 
gegangen, sondern  in  der  Haut  localisirt  sind,  die  in  Folge  dessen 
zu  einer  dicken,  durchscheinenden,  speckigen  Schwarte  umge- 
bildet ist,  welche  den  grössten  Theil  des  Rumpfes  locker  umhüllt  und 
das  Thier  plump  und  unförmig  erscheinen  lässt.  Schon  äusserlich 
verräth  sich  diese  Besonderheit  durch  parallele  Falten,  welche  die 
Haut  bei  seitlicher  Biegung  des  Rumpfes  wirft.  Auf  dem  Querschnitt 
erkennt  man  leicht,  dass  diese  Hautschwarte  den  eigentlichen  Körper 
wie  ein  Sack  umhüllt  und  von  der  Muskeloberfläche  durch  ein  äusserst 
lockeres  Gewebe  (die  sogen.  Rudolphische  Haut)  getrennt  wird,  so  dass 


782 


Die  elektrischen  Fische. 


sie  sich  sehr  leicht  abziehen  lässt  (Fig.  257).  Zwischen  der  eigentlichen 
Epidermis  und  der  die  Schwarte  innen  begrenzenden  Sehnenhaut  be- 
findet sich  eine  im  frischen  Zustande  durchscheinende,  gallertige  Masse 
von  hell  graugelblicher  Farbe,  deren  Mächtigkeit  nicht  überall  gleich 
ist  und  die  nur  an  wenigen  Stellen  ganz  fehlt.  Durch  zwei  dorsal 
und  ventral  in  der  Mittellinie  verlaufende  Längsscheidewände  wird 
(bei  älteren  Exemplaren)  die  sulzige  Zwischenmasse  symmetrisch  in 
zwei  den  Rumpf  von  beiden  Seiten  her  umfassende  Halbcylinder  abge- 
theilt,  welche  das  eigentlich  einheitliche,  wiewohl  bilateral  symmetrische, 
elektrische  Organ  darstellen,  dessen  Gewicht  nach  Fritsch  über 
^3  des  gesammten  Körpergewichtes  ausmacht.  „Nach  vorne  reicht 
es    seitlich    bis    hinter   die   Brustflosse,   oben   mit    lappenartiger  Ver- 


Fig.  257. 


Fig.  258. 

Fig.  257.     Querschnitt  durch  den 

Eumpf vonMalopterurus.  m= 

Muskeln;  0  =  Organ.     (Nach  G. 

Fritsch.) 

Fig.  258.     Ein  Hautstückchen  von 
Malopterurus     von     oben    ge- 
sehen ,     bei    Lupenvergrösserung. 
(Nach  G.  Fritsch.) 


längerung  bis  in  die  Zwischenaugengegend,  unten  bis  zum  Vorderrand 
des  Schultergürtels.  Nach  hinten:  oben  bis  zum  Anfang  der  Fett- 
flosse, unten  bis  zum  Anfang  der  Afterflosse."  Die  Dicke  ist  am 
beträchtlichsten  in  der  Mitte  des  Rumpfes  und  etwas  nach  vorne  davon 
und  nimmt  gegen  das  vordere  und  hintere  Ende  des  Körpers  all- 
mählich ab. 

In  anatomischer  Hinsicht  und  im  Vergleich  zu  allen  anderen 
elektrischen  Fischen  ist  besonders  hervorzuheben  die  völlige  Inte- 
grität der  gesammten  Skeletmuskulatur,  so  dass  Fritsch 
die  Annahme,  es  habe  sich  das  elektrische  Organ  auch  hier  aus 
Muskeln  differenzirt,  abweisen  zu  sollen  glaubt.  Da  somit  nur  Ele- 
mente der  Haut  das  Material  zur  Bildung  des  elektrischen  Organes 
geliefert  hat,  so  muss  der  Bau  derselben  etwas  genauer  geschildert 
werden. 

Bei  Lupenvergrösserungen  fällt  nach  der  von  Fritsch  (12  f) 
gegebenen  Schilderung  vor  Allem  der  Reichthum  an  kleinen  kegel- 
förmigen Zotten  auf,    zwischen  deren  Basen  rundliche  Oeffnungen  er- 


Die  elektrischen  Fische. 


783 


scheinen,  Avelche  zu  schlauchförmigen  Vertiefungen  im  Epithel  führen, 
gegen  welche  von  unten  her  mächtig  entwickelte,  als  einzellige  Drüsen 
fungirende,  zweikernige  „Kolbenzellen"  (Fig.  259),  wie  sie  ähnlich  in 
der  Haut  anderer  Fische  vorkommen,  andrängen  und  ihren  Inhalt 
schliesslich  in  die  benachbarten  epidermoidalen  Schläuche  entleeren. 
Diese  Kolbenzellen  würden  aber  hier  insofern  noch  ein  ganz  beson- 
deres Interesse  beanspruchen,  als  G.  Fritsch  ihnen  vermuthungs- 
weise  „eine  Gleichheit  der  embryonalen  Anlage  mit  den 
Elementen  des  elektrischen  Organes"  vindicirt.  Bei  der 
völligen  Unkenntniss  der  Ontogenese  des  letzteren  kann  dies  natürlich 
nur  als  eine  Hypothese  gelten,  und  muss  die  Entscheidung  weiteren 
Untersuchungen  vorbehalten  bleiben.  Ueberraschen  könnte  es  füglich 
nicht,  wenn  die  nächst  den  Muskeln  am  stärksten  elektromotorisch 
wirksamen  Elemente  (ein- 
zellige Drüsen)  auch  ihrer- 
seits im  Stande  wären,  wahre 
elektrische  Organe  zu  bilden. 
Im  Uebrigen  besteht  die  Epi- 
dermis der  Haut  des  Malo- 
p  t  e  r  u  r  u  s  aus  gewöhnlichen 
Epithelzellen  (Stachel-  oder 
Riffzellen)  und  spärlichen 
Becherzellen,  namentlich  an 
den  Seitenflächen  der  Zotten. 
In  Bezug  auf  den  feine- 
ren Bau  des  Organes  fällt 
vor  Allem  auf,  dass  eine 
regelmässige  Aufein- 
anderfolge zu  „Säulen" 
geordneter  Platten, 

wie  bei  Gymnotus,  Tor- 
pedo, durchaus  fehlt; 
ja  nicht  einmal  mit  dem  un- 
vollkommenen elektrischen 
Organ  von  Raja  und  seinen 
deutlich  reihenförmig  geoi'd- 
neten  Kästchen  lässt  sich  die 
der  Haut  von  Malopterurus 
eingelagerte ,    sulzige   Masse, 

deren  Consistenz  frisch  etwa  der  des  Glaskörpers  oder  der  Wharton'- 
schen  Salze  entspricht,  vergleichen.  Bei  genauer  Betrachtung  erkennt 
man  an  Durchschnitten  parallel  der  Hautoberfläche  oder  parallel  der 
Axe  des  Fisches  ein  zartes  Balkenwerk  unter  spitzen  Winkeln  sich 
kreuzender  Fasern,  deren  rautenförmige  Maschenräume  graulich  halb- 
durchsichtig erscheinen.  Nach  Behandlung  mit  härtenden  Reagenzien 
(Alkohol,  Chromsäure)  treten  diese  Structurverhältnisse  noch  deutlicher 
hervor.  Es  lässt  sich  zeigen,  dass  jenes  Balkenwerk  („Fächernetz", 
Bilharz)  den  Durchschnitten  von  zahllosen,  zarten,  bindegewebigen 
Membranen  entspricht,  welche  senkrecht  zur  Axe  des  Fisches,  durch 
kleine  Zwischenräume  von  einander  getrennt,  neben  einander  lavifen. 
Einerseits  gehen  sie  nach  aussen  in  die  Masse  der  Coriumfasern 
über,  nach  innen  vereinigen  sie  sich  zur  sogenannten  Sehnenhaut. 
Auf  diese   Weise   ist    das   Organ   von   unzähligen,    unter   sich   paral- 


Fig.  259.     Theil    eines    Querschnittes    durch   die 

Epidermis     von     Malopterurus.       (Nach     G. 

Fritsch.) 


784 


Die  elektrischen  Fische. 


lelen,  sämmtlich  quer  auf  die  Axe  des  Fisches  gestellten  Scheide- 
wänden durchzogen  und  in  viele  kleine,  mit  einander  nicht  communi- 
cirende,  annähernd  gleich  grosse  Hohlräume  abgetheilt  (Fig.  260).  Die 
Axen  dieser  im  Allgemeinen  linsen-  oder  doppelpyramidenförmigen 
Fächer  liegen  alle  parallel  der  Axe  des  Fisches;  ihre  Aequatorialebenen 
stehen   daher   senkrecht   auf  derselben,    so    dass   die   eine  Wand  dem 


Fig.  260.  Malo- 
pterurus  electr. 
Theil  eines  Längs- 
schnittes durch  das 
Organ,  die  durch 
bindegewebige  Septa 
begrenzten  Fächer 
{F)  zeigend,  deren 
Hinterwand  je  eine 
elektrische  Platte  an- 
liegt (P);  ^'F^  = 
Platte  mit  dem  Ner- 
venstiel. 
(Nach   G.  Fritsch.) 


AT        F 


Kopf,  die  andere  dem  Schwanzende  zugekehrt  ist.  Im  Innern  jedes 
Faches  befindet  sich  „eine  eigenthümliche,  scheibenförmige,  hautartige 
Ausbreitung",  welche  Bilharz  (21)  zuerst  als  das  eigentliche  elektro- 
motorische Element  und  als  Endausbreitung  eines  Nervenzweiges  er- 
kannte, die  elektrische  Platte,  durchaus  analog  den  nach  Bau 
und  Structur  vielfach  ähnlichen  Gebilden  der  übrigen  elektrischen 
Organe.  Jede  derselben  liegt  der  Hinterwand  ihres  Faches  dicht  an, 
während  ihre  mit  zahlreichen  Unebenheiten  versehene,  freie,  dem 
Kopfende  des  Fisches  zugewendete  Vorderfläche  durch  einen  schmalen, 


Die  elektrischen  Fische.  785 

mit  Gallertmas.se  ausgefüllten  Spalt  von  der  vorderen  Wand  des  be- 
treffenden Faches  getrennt  erscheint  (Fig.  260).  Von  vorne  gesehen, 
erscheint  jede  Platte  als  eine  ziemlich  kreisrunde  Scheibe^  deren 
Mittelpunkt  eine  flache  Hervorragung  markirt,  von  der  mehrere  radiär 
verlaufende,  erhabene  Falten  entspringen,  und  welcher  auf  der  Hinter- 
fläche eine  Einsenkung  entspricht,  aus  deren  Grund  eine  Art  von 
Stiel  entspringt,  der  mit  der  zutretenden  Nervenfaser  in  Verbindung 
steht  (Fig.  260  NP'). 

Die  Substanz  der  Platten,  deren  Durchmesser  mit  der  Grösse 
der  Thiere  zunimmt,  erscheint  im  frischen  Zustand  homogen  und 
durchsichtig  (Fig.  261).  In  regelmässigen,  ziemlich  Aveiten  Abständen 
sind  runde  Kerne  eingelagert,  welche  Babuchin  für  sternförmige 
Zellen    mit    zarten,    haarähnlichen    Au.släufern    hielt.     Nach   Fritsch 


Fl 


Fig.  261.     Malo  pterurus.     Mittlerer    Tlieil    einer    Platte  (Fl)    mit    Nervenstiel    (ne), 
stärker  vergr.     (Nach  G.  Fritsch.) 

würde  man  dagegen  jede  elektrische  Scheibe  als  einen  vielkernigen 
Protoplasmakörper  und  daher  so  zu  sagen  als  „elektrische 
Riesenzelle"   aufzufassen  haben. 

Die  zuerst  von  Remak  an  den  Torpedoplatten  gesehene  Rand- 
streifung  findet  sich  auch  an  den  Scheiben  des  Zitterwelses  und 
entsteht  nach  G.  Fritsch  durch  eine  eigenthümliche  Porosität  der 
äussersten  Schicht  der  Plattensubstanz  (Fig.  261).  Die  zwischen  je 
zwei  Porenkanälen  stehenbleibenden  „ Stäbchen'"  erscheinen  bei  starker 
Vergrösserung  wie  aus  Klümpchen  zusammengekittet.  Nach  aussen 
ist  jede  Scheibe  von  einer  cuticularen  Membran  umhüllt,  welche  sich 
unter  Umständen  an  der  Vorderfläche  stellenweise  abhebt. 

Am  klarsten  lässt  sich  nach  Fritsch  der  Aufbau  des  elektrischen 
Organes  aus  runden,  scheibenförmigen  Platten,  welche,  „wie  Trauben- 
rosinen an  ihren  Stielen'",  vermittels  ihrer  Stiele  an  den  feinsten 
Nervenverzweigungen  hängen,  bei  noch  jugendlichen  Exemplaren 
erkennen,  wenn  man  ein  Scheerenschnittchen  in  einer  conservirenden 
Zusatzfltissigkeit  (1  *^/o  Osmium)  ausbreitet ,  da  in  diesem  Falle  das 
Zwischengewebe    noch    sehr   wenig   entwickelt    ist.     Man  wird    daraus 


786 


Die  elektrischen  Fische. 


schliessen  dürfen,  dass  im  Embryo  „die  Elemente,  welche  zu  elektrischen 
Scheiben  werden,  eine  dichte  Znsammenhäufung  von  Zellkörpern 
darstellen,  zwischen  denen  eine  Intercellularsubstanz  nur  undeutlich 
angelegt  ist,  etwa  wie  die  Lagen  einzelliger  Drüsen,  welche  bei 
manchen  Insekten  auch  im  ausgebildeten  Zustand  der  Leibeswand 
anlagernd  gefunden  werden"  (Fritsch).  Die  für  die  Function  so 
wesentliche  regelmässige  Anordnung  wird  offenbar  erst  später  und  in 
den  peripheren  Theilen  des  Organes  thatsächlich  gar  nicht  erreicht. 
Dies  geht  soweit,  dass  am  hinteren  Ende  des  Organes  Platten 
gefunden  Averden,  welche  theilweise  oder  völlig  flach  zur  Körperober- 
fläche liegen  ,  also  mit  den  normal  geordneten  einen  rechten  Winkel 
bilden,  oder  gar  mit  ihren  Hinterflächen  sich  be- 
rühren. Auf  derartigen  Unregelmässigkeiten  der 
Lagerung  beruht  auch  zum  Theil  die  von  Du  Bois  - 
Reymond  constatirte  schwächere  Wirksamkeit  der 
hinteren  Organhälfte. 

G.  Fritsch  versuchte  auch  soweit  als  möglich 
über  die  Zahlenverhältnisse  der  elektrischen  Platten 
im  Organ  des  Zitterwelses  Aufschluss  zu  erlangen, 
indem  er  an  Schnitten  aus  Probestückchen  von 
bekannter  Länge  solche  Zählungen  vornahm  und 
,  durch    Multiplication    auf   die    Gesammtausdehnung 

fl^^^\  I  des    Organes    übertrug.      Es    ergab    sich    zunächst, 

ljM/^1  I  ^^^^     "^^®    Zahl    der    in    einer    Längeneinheit    des 

Organes  enthaltenen  elektrischen  Scheiben,  ver- 
glichen mit  derjenigen  eines  anderen  Zitterwelses, 
im  umgekehrten  Verhältniss  der  Organlänge  beider 
steht",  und  ferner  bei  demselben  Individuum  im 
Endabschnitt  um  etwa  20*^/0  geringer  ist  als  im 
vorderen  Theil.  Nach  Zählung  und  Schätzung  ver- 
anschlagt Fritsch  die  Gesammtzahl  der  im  Organ 
vorhandenen  Scheiben  auf  über  2  000  000.  „In 
einer  Reihe  hinter  einander  vom  Kopf-  bis  zum 
Schwanzende  lagen  etwa  1600,  in  einem  Querschnitt 
aus  der  Organdicke  rund  3000.  Bei  einem  mittel- 
grossen Zitterwels  enthält  ein  Cubikcentimeter  Organ 
etwa  14  000." 

Wie  in  vieler  Beziehung  der  feinere  Bau  des  elektrischen  Organes 
von  Malopterurus  sich  abweichend  gestaltet,  so  gilt  dies  auch,  nur 
noch  in  erhöhtem  Maasse,  bezüglich  der  ganz  eigenartigen  Innervation 
desselben.  Aus  dem  Anfangstheil  des  Rückenmarkes,  in  der  Gegend 
der  Verbindungsstelle  des  ersten  Wirbels  mit  dem  Os  occipitale 
basilare  entspringt  nach  unten,  scheinbar  aus  der  unteren  (vorderen) 
Medianspalte,  ein  anscheinend  unpaares  Nervenbündel  von  graulicher 
Farbe  (Fig.  262  we),  welches  sich  alsbald  nach  rechts  und  links  theilt 
und  aus  drei,  durch  Bindegewebe  dicht  verbundenen  Nervenpaaren 
besteht,  den  Wurzeln  des  zweiten  und  dritten  N.  spinalis  und  dem 
elektrischen  Nerv,  den  Biiharz  als  ein  neues,  zwischen  jenen  ein- 
geschobenes Element  betrachtete,  während  G.  Fritsch  neuerdings  (21) 
seine  Zugehörigkeit  zum  sogenannten  Seitennervensystem  behauptet, 
zu  dessen  Bildung  bei  allen  Fischen  Trigeminus  und  Vagus  die 
Elemente  liefern.  Die  physiologische  Bedeutung  desselben  liegt  vor 
Allem    in    der    Versorgung    des    bei    den    Fischen    ja    zu    besonderer 


Fig.  262. 


Die  elektrischen  Fische. 


787 


Entwicklung  gelangten  Hautorganes  mit  sekretorischen  und  sensorischen 
Fasern.  Der  oberflächliche  Theil  des  Seitennervensystems  vom  Vagus 
tritt,  wie  Fritsch  gezeigt  hat,  beim  Malopterurus  oberhalb  vom 
elektrischen  Nerv  dicht  hinter  dem  Schultergürtel  hervor,  um  auf 
der  Muskulatur  nach  hinten  zu  verlaufen.  Bei  vergleichender  Unter- 
suchung des  Seitennervensystemes  bei  dem  nahe  verwandten,  nicht 
elektrischen  gemeinen  Wels  (Silurus)  zeigt  sich,  dass  der  Truncus 
lateralis  vagi  nach  Verflechtung  mit  dem  Lateralis  trigemini   „in  zwei 


Fig.  263.     Hautschvvarte  von  M  a  1  o  p  t L 1  m  u  s ,  von  inntn  gesehen,  mit  den  beiden  elek- 
trischen Nerven  (ne)  und  ihren  nächsten  Verzweigungen.     (Nach  G    Fritsch.) 


Fascikeln  hinter  dem  Schultergürtel  hervortritt.  Gleich  nach  dem 
Durchtritt  sendet  er  einen  dünnen  Zweig  zur  Haut  für  die  Schulter- 
gegend, dann  einen  stärkeren,  absteigenden  Zweig  für  die  Vorder- 
extremität  und  ihre  Umgebung  und  für  die  Haut  der  Bauchgegend. 
Darauf  sondert  sich  ein  oberflächlicher  Ast,  welcher  abwärts  vom 
Seitenkanale  von  vorne  nach  hinten  zieht  und  fünf  bis  sechs  lange, 
dicht  unter  der  Haut  zur  Bauchgegend  absteigende  Zweige  aussendet." 
Alle  diese  Zweige  der  Truncus  lateralis  vagi  fehlen  nun 


788 


Die  elektrischen  Fische. 


beim  Malopter  ur  US,  und  ist  nach  Fr  itsch's  Ansicht  an  ihre 
Stelle  der  elektrische  Nerv  getreten,  av elcher  demnach 
hier  eine  Nervenverzweigung  vertreten  würde,  die  bei 
andern  Fischen  sekretorischen  und  sensitiven  Func- 
tionen vorzustehen  hat. 

In  der  That  entsendet  er  auch  unmittelbar  nach  seinen  Austritt 
aus  der  Wirbelsäule,  wie  der  Lateralis  vagi  beim  Welse,  einen  feinen 
Ast  zur  Schultergegend  und  Brustflosse,  um  weiterhin  am  Innenrande 
des  zum  Schultergürtel  gehenden  Kopfes  des  Seitenmuskels,  von  der 
Arterie  des  elektrischen  Organes  begleitet,  hervorzukommen.  Er  geht 
dann  zwischen  jenem  und  dem  geraden  Bauchmuskel  nach  hinten  und 
verläuft  nun  in  dem  lockeren  Bindegewebe  zwischen  Muskulatur  und 


Fig.  264.     Theil  eines  Querschnittes  durch  die  elektrische  Nervenfaser  von  Malopte- 
rurus.     (Nach  G.  F ritsch.) 


der  Hautschwarte,  von  der  Arterie  und  Vene  begleitet,  der  Seitenlinie 
entlang  bis  gegen  die  hintere  Grenze  des  Organes.  Beiderseits  treten 
zahlreiche  Aeste  ab,  die  nach  kurzem  Verlauf  und  ein-  bis  zweifacher 
Theilung  plötzlich  die  innere  Sehnenhaut  des  Organes  durchbohren 
(Fig.  263). 

Im  mittleren  Theile  seines  Verlaufes  besitzt  der  elektrische  Nerv 
eine  ansehnliche  Dicke,  was  um  so  bemerkenswerther  ist,  als  es  sich, 
wie  zuerst  Bilharz  fand,  um  eine  einzige  kolossale,  mark- 
halt i  g  e  P  r  i  m  i  t  i  V  f  a  s  e  r  handelt ,  welche,  aus  dem  Rückenmark  ein- 
heitlich entspringend,  sich  weiterhin  durch  fortgesetzte  Theilung  in  so 
viele  Aeste  und  Zweige  spaltet  als  Nerven  in  das  elektrische  Organ 
eindringen,  bezw.  als  Fächer  und  Platten  in  demselben  enthalten  sind. 
Die  grosse  Dicke  des  ganzen  Nerven ,  der  sich  im  frischen  Zustande 
durch  seine  eigenthümlich  silberweise  Farbe  auszeichnet,  rührt  nun 
keineswegs    von     einer     irgend    auffälligen     Grösse    der    eigentlichen 


Die  elektrischen  Fische.  789 

Primitivfaser  her,  sondern  ist  vielmehr  durch  die  mächtige  Entwicklung 
der  bindegewebigen  Scheiden  bedingt,  welche  den  Nerven  bis  in  die 
feinsten  Endverzweigungen  umhüllen,  lieber  die  Anordnung  derselben 
erhält  man  am  besten  Aufschluss  durch  die  Untersuchung  von  Quer- 
schnitten, wie  ein  solcher  der  Stammfaser  in  Fig.  264  nach  Fritsch 
abgebildet  ist.  Man  erkennt  im  Innern  den  runden  Durchschnitt 
des  0,008  mm  dicken,  von  einer  etwa  0,03  bis  0,012  mm  breiten 
Markscheide  umgebenen  Axencylinders.  Nach  aussen  davon  folgt 
zunächst  eine  breite  Zone  reticulären  Bindegewebes,  welches  Fritsch 
als  ein  Analogon  der  Henle-Schwann'schen  Scheide  auffasst  (B  ilharz  '  s 
„innere  Scheide").  Dieselbe  erfüllt  Vio  der  ganzen  Dicke  des  Stammes, 
und  lässt  sich  mit  der  Nervenfaser  leicht 


Fig.  265.     Malopterurus.     Eine  der  beiden  Eiesenganglienzellen;   «e  =  Axeneylinder- 
fortsatz.     (Nach  G.  Fritsch.) 

aus  den  nun  folgenden  concentrischen  Bindegewebsschichten  heraus- 
schälen, welche  reichlich  vascularisirt  sind.  Wie  bei  jeder  Theilung 
einer  Nervenfaser  der  Gesammtquerschnitt  der  Aeste  den  der  Stamm- 
faser erheblich  übertrifft,  so  ist  dies  natürlich  auch  beim  elektrischen 
Nerv  der  Fall,  und  Fritsch  berechnet,  dass  schon  nach  der 
Abgabe  von  nur  25  Zweigen  der  Querschnitt  des  Nerven  über  das 
Doppelte  gestiegen  ist.  Obschon  nun  der  Querschnitt  des  Axen- 
cylinders in  den  markhaltigen  Endästchen  von  kaum  messbarer  Klein- 
heit ist,  so  berechnet  sich  doch  die  Summe  der  Querschnitte  sämmt- 
licher  Nervenansätze  an  den  Platten,  die  nach  Verlust  der  Markscheide 
enorm  anschwellen,  zu  etwa  14,113  Q  mm,  so  dass  bei  einem  Flächen- 
inhalt  der  Stammfaser  von  nur  40,7151  /t  durch  die  Theilungen  und 


790  ^i*^  elektrischen  Fische. 

die  Endanschwellung  der  Gesammtquerschnitt  im  Verlauf  vom  Centrum 
zum  Organ  um  das  346  760  fache  gestiegen  Aväre  (!).  Es  dürfte  dies 
hauptsächlich  der  Zunahme  einer  interfribrillären  Zwischensubstanz 
zuzuschreiben  sein,  obschon  fibrilläre  Structur  des  Axencylinders, 
abgesehen  vom  Stiel  der  Scheiben,  gerade  hier  nicht  nachgewiesen  ist. 
An  Längsschnitten  des  Rückenmarkes,  aus  der  Gegend  des 
Ursprunges  der  beiden  elektrischen  Nervenfasern,  lässt  sich,  wie 
Bilharz  zeigte,  schon  mit  mibe waffu etem  Auge  ein  kleiner  rundlicher 
Fleck  erkennen ,  welcher  sich  von  der  umgebenden  Rückenmark- 
substanz durch  dunklere  Färbung  hervorhebt  und  bei  mikroskopischer 
Untersuchung  als  ein  multipolarer  Ganglienkörper  von  riesigen 
Dimensionen  erweist,  dessen  Axencylinderfortsatz  je  einen  elektrischen 
Nerven  bildet.  Die  beiden  Ganglienkörper  (Fig.  265)  besitzen  eine  linsen- 
förmige Gestalt,  ihr  äquatorialer  Durchmesser  beträgt  bis  0,21  mm,  ihr 
axialer  etwa  die  Hälfte.  Im  Innern  liegt  ein  grosser  bläschenförmiger 
Kern,  wie  die  Zelle  selbst,  von  ellipsoidischer  Form.  „Der  Zellenleib 
rundet  sich  gegen  die  Nachbarschaft  nirgends  mit  einem  geschlossenen 
Umriss  ab,  sondern  verlängert  sich  allseitig  in  mächtige  Protoplasma- 
fortsätze, die  sich  alsbald  in  ganz  bestimmter  Weise  krümmen,  um 
etwa  im  Abstand  des  mittleren  Durchmessers  der  Zelle  um  dieselbe 
ein  lockeres  Geflecht  zu  bilden,"  welches  sich  nach  der  Abgangsstelle 
des  Axencylinderfortsatzes  liin  dichter  gestaltet,  so  dass  hier  eine 
Art  von  durchlöcherter  Platte  entsteht  (Fussplatte  des  elektrischen 
Nerven),  von  der  der  Nerv  entspringt,  der  sich  bald  jenseits  der- 
selben mit  Mark  bekleidet.  Es  ist  dieses  Verhalten  auch  insofern 
bemerken swerth,  als  sich  daraus  mit  Sicherheit  ergiebt,  dass  die 
Protoplasmafortsätze  ganz  ebenso  wie  der  aus  ihnen  sich  entwickelnde 
Axencylinder  nervöser  Natur  sind. 


II. 

Von  diesen  stehen  naturgemäss  die  physiologischen  im  Mittel- 
punkte des  Interesses,  soweit  es  sich  wenigstens  um  die  kräftigen 
Entladungen  der  hoch  differenzirten  elektrischen  Organe  von  Torpedo, 
Gymnotus  und  Malopterurus  handelt.  Die  subjectiven,  physio- 
logischen Wirkungen  des  Fischschlages  können  sich ,  wie  Du  B  o i s - 
Reymond  ausführt,  unter  verschiedenen  Umständen  geltend  machen, 
wobei  aber,  da  jede  Wirkung  eines  thierischen  oder  pflanzlichen 
Elektromotors  immer  nur  durch  Nebenschliessung  gewonnen  ist, 
wesentlich  bleibt,  dass  Stromcurven  in  genügender  Dichte  den 
menschlichen  Körper  entweder  direct  oder  durch  Vermittlung  eines 
Leiters  von  einem  Widerstände  gleicher  Ordnung  mit  den  organischen 
Geweben,  wie  etwa  Wasser,  feuchte  Nichtleiter  u.  s.  w.  treffen.  Metall 
als  Zwischenschicht,  dessen.  Widerstand  gegen  den  der  feuchten  Theile 
verschwindet,  schützt  vor  Stromschleifen  wegen  des  Kirchhoff''schen 
Brechungsgesetzes  für  den  elektrischen  Strom,  und  man  kann  daher, 
wie  schon  Humboldt  und  Gay  Lussac  zeigten,  einen  elektrischen 
Fisch  zwischen  zwei  Metallschüsseln,  die  sich  irgendwo  berühren, 
unbehindert  durch  Schläge  tragen,  eine  Thatsache,  die  schon  der 
ältere  B  e  q  u  e  r  e  1  in  Parallele  stellte  mit  dem  bekannten  Versuch, 
die  secundäre  Zuckung  von  Muskel  zu  Nei'V  (Matteucci'sche 
Zuckung)    durch    Einschaltung    von  Blattgold    oder  Stanniol   zwischen 


Die  elektrischen  Fische.  791 

dein    primär    zuckenden     Muskel     und     dem    Nerv     des     seeundären 
Präparates  zu  hemmen  (vergl.  p.  3ü8). 

Wie  die  Wirkung  des  Schlages  beim  Zitterrochen  am  stärksten 
ist,  wenn  sich  der  menschliche  Körper  im  Kreise  der  ganzen^  hier 
senkrecht  stehenden  Säulen  befindet,  d.  h.  bei  Ableitung  von  der 
Ober-  und  Unterseite  des  Fisches,  so  wirkt  auch  der  Zitteraalschlag, 
sowie  der  des  Zitterwelses  um  so  gewaltiger,  je  weiter  auseinander 
gelegene  Punkte  des  Fisches  bei'ührt  werden  und  je  bessere  Leitung 
dem  Schlage  geboten  wird,  also  voraussichtlich  am  stärksten,  wenn 
man  das  Thier  in  der  Luft  am  Kopf  und  Schwanz  hielte.  Um  eine 
Vorstellung  von  der  Kraft  der  elektrischen  Entladungen  von  Gym- 
notus  zu  geben,  sei  erwähnt,  dass  Sachs  beim  Anfassen  eines 
kräftigen,  123  cm  langen  Zitteraales  mit  Kautschukhandschuhen 
dennoch  höchst  empfindliche  Schläge  erhielt.  Der  vollen  Wirkung 
der  Schläge  war  er  einst,  wie  er  selbst  erzählt,  zufiülig  ausgesetzt. 
„Er  war  in's  Wasser  gefallen  und  mit  völlig  durchnässten,  anklebenden 
Kleidern  eben  herausgekommen,  als  er,  durch  seine  Kautschukhand- 
schuhe geschützt,  sich  bemühte,  einen  frisch  gefangenen,  über  fünf 
Fuss  langen,  sich  heftig  sträubenden  Zitteraal  in  eine  Wanne  zu 
werfen.  Das  Thier  entschlüpfte,  fiel  ihm  auf  beide  Füsse,  so  dass  es 
mit  dem  Kopfe  das  eine,  mit  dem  Schwanz  das  andere  Bein  berührte 
und  verweilte  so  einige  Secunden.  In  dieser  Lage,  wo  Dr.  Sachs' 
Beine  gerade  einen  leitenden  Bogen  zwischen  den  Polen  der  Zitter- 
aalsäulen bildeten,  erhielt  er  eine  dicht  gedrängte  Reihe  von  Schlägen, 
die  durch  keine  in  Betracht  kommende  Nebenschliessung  geschwächt, 
bei  guter  Leitung  durch  die  nassen  Kleider,  ihn  mit  unbeschreiblicher 
Stärke  trafen.  Laut  aufschreiend  vor  Schmerz,  stand  er  wie  versteinert 
durch  den  Schreck,  ohne  sich  des  Thieres  entledigen  zu  können," 
welches  schliesslich  entkam  (Du  Bois-Reymond  4e  p.  131). 

Handelte  es  sich  hier  um  directe  Berührung  des  Fisclies  ausser- 
halb des  Wassers,  so  sind  die  Wirkungen  kaum  minder  stark  bei 
„Eintauchen  in  die  elektrische  Strömung",  wobei  die  das 
Wasser  erfüllenden  Stromcurven  den  menschlichen  Körper  treff'en. 
Bei  dieser  Wirkungsart,  für  welche,  wie  leicht  ersichtlich,  die  elektri- 
schen Organe  überhaupt  eingerichtet  sind,  erhält,  wie  schon  F  a  r  a  d  a  y 
bemerkt,  jeder  getroffene  Theil  (oder  thierische  Körper)  einen  seiner 
Grösse  ungefähr  proportionalen  Theil  der  Entladung.  Schon  in  älteren 
Berichten  ist  unter  diesen  Umständen  mehrfach  von  Hinstürzen  die 
Rede  (DuBois-Reymond  4e  p.  132).  Auch  berichtet  Sachs,  dass 
von  Zitteraalen  geschlagene  Reitthiere  jedesmal  stürzen,  daher  man 
beim  Ueber schreiten  der  Canos  seichte  Stellen  aufsucht  und  der 
vorderste  Reiter  vor  sich  mit  einem  Stocke  ins  Wasser  stösst.  „Wenn 
so  aufgejagte  Zitteraale  das  Wasser  weithin  mit  ihren  Stromcurven 
erfüllen,  erscheinen  sogleich  todte  Fische  und  Frösche  an  der  Ober- 
fläche." 

In  Bezug  auf  die  Art  der  durch  einen  nicht  zu  starken  Schlag 
bewirkten  Empfindung  bemerkt  Sachs,  dass  dieselbe  eine  „grosse 
Aehnlichkeit  mit  kurzer  Einwirkung  des  Schlitteninductoriums  bei 
Anwendung  sogenannter  Vaguselektroden  (hakenförmige  Metalldrähte) 
besitzen.  „Man  hat  die  untrügliche  Empfindung  der  Dauer, 
der  oscillirenden  Natur  des  Schlages.  Auch  beim  Zitterwels 
erscheint  nach  D  u  B  o  i  s  -  R  e  y  m  o  n  d  (4  d.  IL  p.  Gl 9)  der  Schlag  „nicht 
so  trocken,  wie  der  einer  Leydener  Flasche,    sondern  hat  mehr  etwas 


792  Die  elektrischen  Fische. 

Schwellendes;  öfters  unterscheidet  man  darin  mehrere 
Maxima." 

„Im  Vergleich  zu  ihrer  Grösse  ist  der  Schlag  der  Zitterwelse 
überraschend  heftig.  Berührt  man  Kopf  und  Schwanz  eines  in  Wasser 
befindlichen  kräftigen  Fisches  mit  dem  Zeigefinger,  so  erstreckt  sich 
der  Schlag  freilich  nicht  über  das  Mittelhandfingergelenk  hinauf. 
Ergreift  man  ihn  aber  mit  wohl  durchfeuchteten  Händen,  so  erhält 
man  einen  schweren  Schlag  bis  in  die  Ellbogen."  Ein  Oeffnungs- 
schlag  bei  ganz  aufgeschobener  secundärer  Rolle  mit  einer  Grove' sehen 
Kette  im  primären  Kreise,  durch  Handhaben  unmittelbar  genommen, 
hatte  etwa  gleiche  Stärke  wie  ein  „tüchtiger"  Fischschlag.  Von  der 
einen  Hälfte  des  elektrischen  Organes  von  Malopterurus  erhielt 
Babuchin  bei  Reizung  der  Oblongata  zufällig  einen  so  starken 
Schlag,  „dass  er  einige  Minuten  nicht  zur  Besinnung  kommen  konnte". 
Babuchin  macht  auf  den  Unterschied  aufmerksam,  welcher 
zwischen  den  durch  den  Schlag  von  Torpedo  und  Malopterurus 
bewirkten  Empfindungen  besteht.  Die  Schläge  des  ersteren  sind  so 
zu  sagen  mehr  weich,  stumpf,  die  vom  Malopterurus  schärfer, 
mehr  stechend,  penetrirend ;  kurz  gesagt,  der  Unterschied  ist  derselbe, 
wie  zwischen  den  Strömen  der  primären  und  der  secundären  Spirale 
—  zwischen  dem  Extracurrent  der  Haupt-  und  dem  Oeffnungsschlag 
der  Nebenrolle  —  des  Inductoriums.  Es  genügt,  mit  dem  Finger  die 
Spitze  eines  Bartfadens  vom  Malopterurus  zu  berühren,  um  einen 
scharfen  Stich  im  Finger  zu  empfinden.  Bei  Torpedo  geschieht  das 
nie.  Du  Bois-Reymond  weist  hierbei  daraufhin,  dass  dies  wahr- 
scheinlich auf  dem  verschiedenen  Modus  der  Innervation  der  Organe 
in  beiden  Fällen  beruhen  dürfte.  „An  der  nur  von  einer  Ganglien- 
zelle innervirten  Hälfte  des  Zitterwels-Organes  trennt  den  Schlag  der 
entferntesten  von  dem  der  nächsten  Platte  nur  der  sehr  kleine  Bruch- 
theil  der  Secunde,  dessen  die  Innervationswelle  bedarf,  um  die  Länge 
des  Organes  zu  durchlaufen.  Bei  dem  Zitterrochen-Organ  wird  (da- 
gegen) die  Dauer  der  Entladung  durch  die  Zeit  bestimmt,  deren  der 
elektrische  Lappen  bedarf,  um  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  erregt 
zu  werden.  Und  nach  dem,  was  wir  von  der  Fortpflanzung  des  Reizes 
durch  Gangliencomplexe,  z.  B.  durch  das  Rückenmark,  wissen,  kann 
diese  Zeit  eine  verhältnissmässig  beträchtliche  sein.  Dass  (aber)  der 
Schlag  um  so  schärfer,  stechender,  durchdringender  ausfalle,  je  gleich- 
zeitiger alle  Platten  schlagen,  versteht  sich  wohl  von  selbst."  Im 
Uebrigen  macht  es  einen  Unterschied,  an  welcher  Stelle  der  Torpedo- 
Schlag  einwirkt.  Wie  mir  Schönlein  mittheilt,  erregt  derselbe  an 
der  Dorsalseite  der  Finger  und  am  Handrücken  Schmerz,  während  er 
in  der  Hohlhand  bloss  „stösst".  Bei  künstlicher  Reizung  mit  Induc- 
tionsströmen  lässt  sich  das  Contractionsgefühl  der  Handmuskeln  immer 
deutlich  von  den  Hautempfindungen  sondern.  Nach  S  c  h  ö  n  1  e  i  n 
wird  es  durch  den  Torpedoschlag  niemals  hervorgerufen;  es  würde 
daraus  zu  schliessen  sein,  dass  derselbe  nicht  ausreicht,  um  durch  die 
Haut  hindurch  die  Muskeln  zu  erregen, 

Faraday  verglich  einen  mittelstarken  Schlag  des  1838  von  ihm 
untersuchten  101,6  cm  langen  Zitteraales  der  Entladung  einer  auf's 
Höchste  geladenen  Leydener  Batterie  von  15  Flaschen  mit  einer 
doppelt  belegten  Glasoberfläche  von  2,258  Quadratmeter.  Unverhält- 
nissmässig  schwächer  sind  die  physiologischen  Wirkungen  des  Torpedo- 
schlages, wenn  man  etwa  von  den  grössten  Arten  (T.  occidentalis) 


Die  elektrischen  Fische.  793 

absieht,    durch    deren  Schlag   Capitän  Atwood    mehrmals   zu    Boden 
geworfen  wurde  „wie  mit  der  Axt  gefällt". 

Um  den  Schlag  behufs  genauerer  Untersuchung  seiner  Wirkungen, 
seiner  Stärke  und  Richtung  auch  von  dem  im  Wasser  befindlichen 
Fisch  bequem  ableiten  zu  können,  bediente  sich  schon  Farad  ay  beim 
Zitteraal  zweier  sattelförmig  gekrümmter  Elektroden  (Fig.  266),  welche 
innen  metallisch ,  aussen  mit  isolirender  Substanz  bekleidet,  dem  auf 
einer  isolirenden  Unterlage  (Glasplatte)  liegenden  Fisch  an  zwei  den 
Polen  der  Organe  entsprechenden  Stellen  aufgelegt  werden,  so  dass 
der  Kautschukrand  der  Sättel  der  Glasplatte  sich  ziemlich  anschloss. 
Die  betreffenden  Segmente  des  Fisches  sind  dann  fast  so  gut  isolirt 
wie  in  der  Luft,  Mau  lässt  am  Besten  nur  so  viel  Wasser,  dass  das 
auf  dem  gläsernen  Boden  einer  flachen  Wanne  liegende  Thier  nur 
eben  bedeckt  ist.  Um  bei  den  kleineren,  schwächeren  Zitter weisen 
auch  die  zwischen  den  Sätteln  befindliche  Körperstrecke  möglichst  zu 


Fig.  26(;.  Fig.  267. 

isoHren,  verwandte  Du  Bois-Reymond  (4  d,  IL  p.  670)  Ableitungs- 
deckel von  der  Form  eines  Mumiensargdeckels  (Fig.  267),  welche,  an 
beiden  Enden  mit  Stanniol  gefuttert,  aus  Guttapercha  nach  der  Form 
der  Thiere  modellirt  wurden. 

Die  Isolation  vom  umgebenden  Wasser  war  in  diesem  Falle  so 
vollkommen,  dass  selbst  bei  Anwendung  der  noch  zu  besprechenden, 
sehr  empfindlichen  Methoden  zum  Nachweis  von  Stromschleifen  im 
Wasser  solche  beim  Schlage  bisweilen  nicht  zu  constatiren  waren. 
Zur  Ableitung  des  unter  Wasser  befindlichen  Zitterrochen  endlich 
fand  D  u  B  o  i  s  -  R  e  y  m  o  n  d  (4  g,  h)  die  in  Fig.  268  dargestellte  Einrich- 
tung am  zweckmässigsten.  Auf  dem  Boden  eines  10  cm  tiefen  und 
30  cm  im  Durchmesser  haltenden  Glashafens  liegt  ein  kreisrundes, 
mit  einer  Flanellplatte  bedecktes  Zinkblech  vom  ungefähren  Durch- 
messer der  Körperscheibe  (v  v^),  dem  ein  Streif  zur  Ableitung  nach 
aussen  angebogen  war.  Auf  dem  Flanell  liegt  der  Fisch.  Als  Ab- 
leitungsdeckel vom  Rücken  (Rückenschild)  dient  eine  nach  der  Gestalt 
des  Fisches  gebogene  Zinkplatte  mit  umgelegtem  Rand,  oberhalb 
lackirt,  in  der  Mitte  mit  einem  Holzgriff,  durch  welchen  der  andere, 
ableitende  Draht  nach  aussen  führt. 

Auf  diese  Weise  gelingt  es  leicht,  den  Schlag  abzuleiten  und 
ohne  jede  Schädigung  des  Thieres  zu  untersuchen.  Ein  sehr  worth- 
volles  und  vielfacher  Anwendung  fähiges  Hülfsmittel  ist  hierbei  in 
der   Anwendung    eines  Nerv-Muskel-Präparates    vom   Frosch   gegeben, 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  51 


794 


Die  elektrischen  Fische. 


dessen  sich  schon  1797  Galvani  und  später  auch  Matten cci  bei 
Versuchen  an  Zitterrochen  bedienten.  Du  Bois-Reymond  con- 
struirte  dann  den  sogenannten  „F  r  o  s  c  h  w  e  c  k  e  r"  (Fig.  268  F  W), 
indem  er  durch  zwei  in  das  Wasser  des  Fischbehälters  eingetauchte 
Elektroden  einen  Theil  des  durch  die  Wassermasse  sich  ergiessenden 
Schlages  ableitete  und  dem  Nerv  des  stromprüfenden  Schenkels 
zuführte,  dessen  Muskel  durch  seine  Zuckung  einen  Glockenschlag 
erzeugte,  wodurch  jede  erfolgte  Entladung  des  Organes  mit  Sicherheit 
angezeigt   wird.     Es   gelingt   auf  diese  Weise,    sehr  einfach   und   mit 

grösster  Sicherheit  die 
elektrische  Thätigkeit 
eines  im  Wasser  be- 
findlichen Fisches 
stundenlang  zu  über- 
wachen. 

Neuerdings  be- 
diente sich  Schön- 
1  e  i  n  (30)  zu  gleichem 
Zwecke  mit  bestem 
Erfolge  des  Telephons, 
dessen  eines  Ende  mit 
einer  auf  dem  Boden 
des  Fischbassins  lie- 
genden Bleiplatte  lei- 
tend verbunden  wird, 
während  der  andere 
Poldraht  in  einer  zwei- 
ten kleinerenBleiplatte 
endet,  die  ins  Wasser 
taucht.  Auch  bei 
schwachen  Thieren 
(T  o  r  p  e  d  o)  fand 
Schönlein  die  Schlä- 
ge hinreichend  kräftig, 
um  das  ganze  1  X  0,4 
X  0,3  m  messende 
Bassin  mit  telephonisch 
hörbaren  Stromcurven 
zu  erfüllen.  Man  er- 
fährt so,  dass  die  Thiere 
bisweilen  auch  ohne 
nachweisbare  directe 
Reizung  spontan  schla- 
gen, insbesondere  bei  Annäherung  anderer  Thiere,  oder  der  Auffangeplatte. 
In  der  Regel  erfolgt  aber  eine  wirksame  Entladung  nur  bei  Berührung 
oder  in  anderer  Weise  vermittelter  Erregung.  Dabei  ist  wenigstens 
beim  Zitteraal  und  nach  Du  Bois-Reymond 's  Erfahrungen  auch 
beim  Zitterwels  der  Ort  der  Reizung  für  den  Erfolg  keineswegs  gleich- 
giltig.  Besonders  unempfindlich  scheinen  an  dem  letzterwähnten  Fisch 
die  Bartfäden  zu  sein,  deren  Reizung  kaum  jemals  eine  Entladung 
bewirkt.  Auch  in  Bezug  auf  die  erforderliche  Stärke  des  einwirkenden 
Reizes  machen  sich  grosse  Verschiedenheiten  bemerkbar.  Bisweilen, 
schon    auf  den   leisesten  Eindruck  reagirend,  erfolgt  bei  Gymnotus 


Fig.  268.     Schematische    Darstellung    der  Ableitims:   des 

Schlages   von  Torpedo.     FW  =  Froschwecker.     (Nach 

Du  Bois-Reymond.) 


Die  elektrischen  Fische.  795 

anderemal  eine  Entladung  erst  auf  kräftiges  „Picken"  mit  einem 
spitzen  Körper.  Bei  Herstellung  von  Organpräparaten  von  Torpedo 
beobachtete  Schönlein  in  der  Regel  eine  Entladung  beim  Haut- 
schnitt, sowie  beim  Abtragen  der  Schädelkapsel,  besonders  wenn  ein 
Bogengang  und  der  Utriculus  getroffen  wurde.  Auch  die  Durch- 
schneidung der  Medulla  oblongata  war  von  einem  Schlage  begleitet. 

Die  verhältnissmässig  beträchtliche  Dauer  aller  spontanen  oder 
reflectorisch  ausgelösten  Entladungen  prägt  sich,  wie  schon  erwähnt, 
nicht  nur  für  die  subjective  Empfindung  deutlich  aus,  sondern  macht 
sich  auch  objectiv  bemerkbar  bei  Anwendung  der  eben  besprochenen 
Untersuchungsmethoden.  Bei  sehr  starker  Reizung  wird  sowohl  beim 
Zitteraal  wie  auch  beim  Zitterwels  der  Hammer  des  Froschweckers 
gegen  die  Glocke  gepresst  gehalten.  Beim  Malopterurus  lässt 
sich  übrigens  so  leicht  erkennen,  dass  er  gereizt  nur  selten  einmal 
schlägt.  Meist  erfolgen  2—3  Glockenschläge  bald  dicht  gedrängt, 
bald  durch  einen  längeren  Zwischenraum  getrennt.  Bei  telephonischer 
Beobachtung  fand  Schönlein  sowohl  die  Tonhöhe  wie  den  Charakter 
des  Klanges  der  natürlichen  Schläge  von  Torpedo  sehr  wechselnd. 
„Wollte  man  denselben  irgendwie  durch  Buchstabensymbole  ausdrücken, 
so  müsste  man  jedenfalls  die  Vocale  ae,  e  oder  i  dazu  wählen,  keines- 
falls o  oder  u."  Kurze  Schläge  lassen  sich,  wie  es  scheint,  am  besten 
durch  ein  auf  verschiedene  Tonhöhen  gesungenes  R  ausdrücken. 
Längere  Entladungen  scheinen  im  Allgemeinen  höheren  Tonlagen  an- 
zugehören als  kürzere. 

Im  Uebrigen  ist  die  Ausdauer  der  Fische  sehr  bedeutend.  Du 
Bois-Reymond  pflegte  seinen  Zitterwelsen  alle  zehn  Minuten  die 
Ableitungsdeckel  aufzusetzen  und  dies  anderthalb  bis  zwei  Stunden 
fortzusetzen.  „Mit  dem  Uebertragen  des  Fisches  aus  dem  Trog  in  die 
Versuchswanne  und  zurück  wurde  er  dann  11 — 14mal  gereizt;  doch 
ertheilte  er  mindestens  die  zwei-  bis  dreifache  Zahl  von  Schlägen. 
Im  Laufe  einer  solchen  Versuchsreihe  ermüdete  der  Fisch  sichtlich, 
er  erbleichte  und  beantwortete  das  Aufsetzen  des  Deckels  zuletzt  nur 
noch  mit  einem  Schlag"  (4  d.  IL  p.  618).  Auch  vom  Zitterrochen  ist  es 
bekannt,  „dass  er  minutenlang  eine  mehr  als  secundendicht  gedrängte 
Reihe  von  Schlägen  ertheilt".  Wie  mir  Schoenlein  mittheilt,  hat 
das  lebendige,  von  Blut  durchströmte  Organ  (Torpedo)  kaum  mehr 
als  1000  Schläge  im  Vorrath,  sei  es,  dass  die  Entladungen  spontan 
bei  starker,  fortgesetzter  Reizung  des  Thieres  erfolgen  oder  am  Organ- 
präparat künstlich  ausgelöst  werden.  Ersterenfalls  bedarf  nachher  das 
Thier  längerer  (mindestens  ^U  Stunde)  Erholung,  um  wieder  schlag- 
fähig zu  werden.  Das  ausgeschnittene  Organ  zeigt  dagegen  (im  Gegen- 
satz zum  Muskel)  keine  Erholung,  wenn  es  auch  nur  10  See.  anhaltend 
mit  tetanisirenden  Inductionsströmen  gereizt  wird.  Sachs'  Zitteraale 
zeigten  sich  elektrisch  unermüdlich.  Man  konnte  ohne  sonderliche 
Schwächung  200 — 300  Schläge  von  ihnen  nehmen ;  ein  Thier,  welches 
im  Laufe  einer  Stunde  schätzungsweise  150  mal  geschlagen  hatte,  sandte 
noch  immer  eine  kräftige  Erschütterung  durch  eine  Kette  von  acht 
Personen,  deren  Endglieder  es  an  Kopf  und  Schwanz  berührten  (Du 
Bois-Reymond  4e  p.  256). 

Wie  schon  erwähnt,  war  bereits  Cavendish  (1776)  durch  das 
Studium  von  untergetauchten  Modellen  des  Zitterrochens,  die  mit  einer 
Leydener  Batterie  verbunden  waren,  zu  im  Wesentlichen  richtigen 
Anschauungen  über  die  Vertheilung  der  Spannungen  an  der 

51* 


796  i^ie  elektrischen  Fische. 

Oberfläche  und  im  umgebenden  Wasser  gelangt,  von  der 
die  beistehende  schematisehe  Zeichnung  (Fig.  269)  eine  Vorstellung 
giebt.  Die  vervollkommneten  physikalischen  Hülfsmittel,  insbesondere 
die  Einführung  des  Galvanometers  in  die  Untersuchungsmethodik,  ge- 
statteten später  C o  1 1  a d 0 n  und  vor  Allem  DuBois-Reymond,  die 
Resultate  von  Cavendish  in  wesentlichen  Punkten  zu  berichtigen 
und  zu  ergänzen  (4  g,  h  p.  193),     Co  Iladon  stellte  1831  in  Bezug  auf 


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Fig.  269.     Schema  der  Stromvertheilung  ausserhalb  des  Körpers  von  Torpedo.     (Nach 

Cavendish.) 

die  Spannungsvertheilung  beim  Schlag  an  der  Obei-fläche  des  in  der 
Luft  befindlichen  Zitterrochen,  sowie  die  Richtung  und  Stärke  der 
daraus  resultirenden  Ströme  folgende  drei  Sätze  auf: 

1.  „Alle  Punkte  des  Rückens  sind  positiv  gegen  einen  beliebigen 
Punkt  des  Bauches.  Die  Stromstärke  nimmt  ab  in  dem  Maasse, 
wie  jene  Punkte  weiter  vom  Organ  liegen;  am  Schwanz  ist  sie 
fast  ganz  Null." 

2.  „Zwei  assymmetrische  Punkte  des  Rückens  oder  zwei  solche 
Punkte  des  Bauches  geben  fast  stets  einen  Strom  am  Galvano- 
meter: der  den  Organen  nähere  Punkt  ist  am  Rücken  positiv, 
am  Bauche  negativ." 

3.  Bei  Berührung  zweier  symmetrischer  Punkte  des  Rückens  oder 
des  Bauches  erhält  man  keine  Galvanometerablenkung." 

Da  die  Säulen,  deren  elektromotorische  Kraft  mit  der  Plattenzahl 
wächst,  von  dem  medialen  Rande  des  Zitterrochenorganes  nach  dem 
seitlichen  hin  um  etwa  0,6  mm  an  Höhe  abnehmen,  so  erscheint  es 
ohne  Weiteres  klar,  weshalb  man  an  dem  in  der  Luft  befindlichen 
schlagenden  Fisch  im  Sinne  von  C o  1 1  a d o n  und  Matte ucci  einen 
Strom  zwischen  medialen  und  seitlichen  Punkten  erhält,  am  Rücken 
von  jenen  zu  diesen,  am  Bauche  umgekehrt.  Wären  an  den  beiden 
Organen  alle  Säulen  gleich  hoch,  die  Organe  ausserdem  nach  der 
Medianebene  verschoben  und  dort  mit  einander  verschmolzen,  dann 
würde  die  Mitte  der  Medianlinie  am  Rücken  am  positivsten,  am 
Bauche  am  negativsten  sein.  „Denkt  man  sich ,  dass  die  Organe 
wieder  auseinanderrücken,  so  müssen,  wie  Du  Bois-Reymond  ge- 
zeigt hat,  an  jedem  Organ  die  positivsten  und  negativsten  Stellen  je 
nach  dem  Abstände  der  Organe  eine  mittlere  Lage  zwischen  dem 
medialen  Rande   und   der  Mitte   annehmen."     Es    würden    daher   auch 


Die  elektrischen  Fische. 


797 


bei  gleicher  Höhe  aller  Säulen  Spannungsdifferenzen  am  Rücken  und 
Bauche  in  gleichem  Sinne,  wenn  auch  schwächer,  vorhanden  sein 
müssen.  Dagegen  hat  die  Abnahme  der  Säulenhöhe  nach  dem  Rande 
hin  zur  Folge,  dass  die  Stellen  grösster  Positivität  und 
Negativität  an  den  medialen  Rändern  der  Organe 
liegen.  Es  giebt  daher,  wie  Du  Bois-Reymond  zeigte,  am 
Rücken  des  Zitterrochen  auch  Ströme  von  diesen  Rändern 
nach  der  Medianlinie  und  am  Bauche  umgekehrt  von 
dieser  zu  jenen.  Die  beistehende  Fig.  270  zeigt  den  Verlauf  der 
Stromcurven  an  einem  Diagramm  des  Fisches  nach  Du  Bois-Rey- 
mond. Man  sieht,  dass  dieselben  „nicht  bloss  aus  den  sogenannten 
Polflächen  ausstrahlen,  sondern  auch  die  Seitenflächen  der  Organe 
schneiden.  Sie  verlaufen  dann  sowohl  nach  innen  wie  nach  aussen 
durch   den  Körper   des  Fisches   und  füllen  weiterhin  den  Raum  aus". 


Fig.  270.     Schema  der  Stromvertheilung  ausserhalb  des  Körpers  von  Torpedo.     (Nach 
Du  Bois-Reymond.) 


Mit  Rücksicht  auf  die  Frage  der  Immunität  der  Zitterfische 
gegen  ihre  eigenen  Entladungen  ist  es  bemerkenswerth ,  dass  „die 
Ströme,  welche  am  Rücken  von  den  medialen  Rändern  der  Organe 
nach  der  Medianlinie  und  am  Bauche  umgekehrt  von  dieser  zu  jenen 
Rändern  fliessen,  nothwendig  den  Weg  durch  Hirn  und  Rückenmark 
nehmen,  und  da  dies  die  kürzeste  Bahn  zwischen  den  wirksamsten 
Theilen  beider  Organe  ist,  so  giebt  es  am  Zitterrochen  keine  stärkeren 
Ströme"  (Du  Bois-Reymond). 

Alle  diese  Erscheinungen  konnte  Du  Bois-Reymond  auch  an 
künstlichen  Modellen  nachahmen,  indem  er  Serien  von  Zink-Platin- 
Elementen  nach  Art  elektrischer  Platten  gruppirte  und  dieselben 
plötzlich  in  Wasser  versenkte,  in  dem  sich  nun  die  Ströme  nach  Art 
des  Schlages  ausbreiteten  und  in  entsprechender  Weise  abgeleitet 
wurden. 

Auch  bei  Ableitung  von  symmetrisch  gelegenen  Punkten  der 
Rücken-    oder  Bauchfläche    erhielt   Du-Bois-Reymond    an   seinen 


798  Die  elektrischen  Fische. 

Fischen  Ablenkungen  beim  Schlage,  was  wohl  auf  ungleich  starker 
Innervation  beider  Organe  beruhen  dürfte. 

Beim  Zitterwels  stellte  Du  Bois-Reymond  fest,  „dass  bei 
der  Entladung  jeder  dem  Schwänze  nähere  Punkt  des  Organes  sich 
positiv  gegen  jeden  dem  Kopf  näheren  verhält,  gleichviel  wo  der 
Punkt  am  Umfang  eines  bestimmten  Querschnittes  des  Fisches  liegt, 
ob  an  Rücken,  Seite  oder  Bauch",  so  dass  also  die  Polflächen  des 
Organes,  wie  auch  beim  Zitteraal,  am  Kopf  und  am  Schwanz  liegen. 

Aus  dem  Vorstehenden  ergiebt  sich,  dass  die  Richtung  des 
normalen  Schlages  der  Zitter fische  stets  senkrecht  auf 
die  Ebene  der  Platten  ist.  Beim  Zitterrochen,  wo  bei  normaler 
Lage  des  Thieres  die  letzteren  horizontal  liegen ,  erfolgt  demgemäss 
der  Schlag  zwischen  Rücken  und  Bauch,  beim  Zitteraal  dagegen,  in 
dessen  Organen  die  Platten  im  Allgemeinen  senkrecht  auf  die  Längsaxe, 
d.  h.  in  der  Querebene  des  Thieres  hegen,  verläuft  der  Schlag  in  der 
Längsrichtung  zwischen  Kopf  und  Schwanz  und  ebenso  ist  es  beim 
Zitteraal,  dessen  Platten  eine  entsprechende  Lagerung  zeigen. 

Eine  sehr  bemerkenswerthe  Regel  schien  sich  anfänglich  aus  dem 
schon  von  Pacini  bemerkten  Umstand  zu  ergeben,  dass  die  Nerven- 
verbreitung beim  Zitterrochen  und  Zitteraal  immer  an  jener  Fläche  der 
Platten  erfolgt,  welche  beim  Schlagen  negativ  Avird,  d.  h.  bei  Torpedo 
an  der  unteren,  beim  Gymnotus  an  der  hinteren.  Bei  dem  letzteren 
hatte  schon  Farad ay  durch  Jodkalium-Elektrolyse  den  Nachweis 
geliefert,  „dass  jeder  Punkt  des  im  Wasser  befindlichen  Fisches  oder 
seiner  nächsten  Umgebung  sich  negativ  ve);hält  gegen  jeden  am  Fisch 
davor  und  positiv  gegen  jeden  dahinter  gelegenen,  ferner  dass  die 
Wirkungen  um  so  stärker  sind,  je  weiter  auseinander  gelegene  Punkte 
man  berührt,  während  sie  bei  Ableitung  symmetrisch  zur  Sagittalebene 
verschwinden".  Es  wird  dies  verständlich,  wenn  im  Augenblick  des 
Schlages  die  vorderen  Flächen  aller  elektrischen  Platten  positiv,  die 
hinteren  negativ  sich  verhalten,  wie  Du  Bois-Reymond  auch  an 
einem  untergetauchten  Säulenmodell  aus  zusammengelötheten  Platin- 
Zink- Elementen  zeigte  (4  d.  IL  p.  683).  Der  Strom  wird  demnach  die 
Organsäulen  selbst  im  Allgemeinen  aufsteigend  (in  „positiver"  Richtung), 
d.  h.  vom  Schwänze  kopfwärts  durchsetzen. 

Da  sich  Bilharz  überzeugt  zu  haben  glaubte,  dass  auch  beim 
Zitterwels  der  Nerv  an  die  hintere  Fläche  jeder  einzelnen  Platte 
tritt,  so  schloss  er  ohne  Weiteres,  dass  die  Schlagrichtung  der  des 
Zitteraales  entsprechen  würde,  ohne  jedoch  den  Versuch  Avirklich 
anstellen  zu  können.  Du  Bois-Reymond  zeigte  dann,  dass 
entgegen  der  Erwartung  der  Schlag  im  Organe  des  Zitterwelses 
unabänderlich  vom  Kopfe  nach  dem  Schwanz  gerichtet  ist, 
also  entgegen  der  Pacini 'sehen  Regel.  Dasselbe  gilt  übrigens  auch 
für  R  a j  a. 

Es  wurde  schon  Eingangs  dieses  Capitels  erwähnt,  dass  es  bereits 
Faraday  gelungen  war,  sämmtliche  von  ihm  aufgestellte  Wahrzeichen 
einer  echten  elektrischen  Entladung  mit  Ausnahme  eines  einzigen  am 
Schlage  der  Zitteriische  (Gymnotus)  nachzuweisen.  Physiologische 
Wirkung,  Ablenkung  der  Magnetnadel,  Magnetisirung,  Funken-  und 
Wärmeerzeugung,  Elektrolyse,  Anziehung  und  Abstossung  waren  zu 
erreichen;  nur  die  Leitung  durch  heisse  Luft  (die  Flamme)  schien 
unmöglich,  eine  Thatsache,  die  schon  Cavendish  aufgefallen  war  und 
die     er    vergeblich    zu    erklären    versucht    hatte.      Wie    Du    Bois- 


Die  elektrischen  Fische.  799 

Reymond  in  der  Folge  gezeigt  hat,  handelt  es  sich  hier  um  eine 
Erscheinung,  die  nur  ein  besonderer  Fall  der  allgemeinen  Thatsache 
ist,  dass,  ungeachtet  der  unter  Umständen  enormen  Stärke  der  Ent- 
ladungen der  Zitterfische,  dieselben  doch  unfähig  sind,  selbst  nur 
geringe,  der  Abgleichung  entgegenstehende  Hindernisse  zu  überwinden. 
Dies  äussert  sich  unter  Anderem  auch  in  dem  Umstände,  dass  es  bei 
Torpedo  und  Malopterurus  nur  selten  gelingt,  sogenannte  Ent- 
ladungs-  und  Schliessungsfunken  durch  den  Schlag  zu  erhalten, 
Avährend  es  dagegen  leicht  ist,  Trennungsfunken  zu  erzielen.  Ersteren- 
falls  ist  zwischen  feststehenden  oder  einander  sich  nähernden, 
metallischen  Spitzen  eine  Lücke  da,  welche  der  Strom  bei  seiner  Ent- 
stehung überspringt,  im  letzteren  Falle  dagegen  wird  ein  Kreis,  in 
-welchem  der  Strom  fliesst,  unterbrochen.  Du  Bois-Reymond 
bediente  sich  bei  seinen  Versuchen  am  Zitterwels  eines  Funken- 
mikrometers, an  welchem  zwei  Platinspitzen  einander  bis  auf  0,01  mm 
genähert  werden  konnten,  oder  ritzte  in  aufgeklebte  Stanniolstreifen 
Spalte,  welche  sogar  nur  0,0033  bis  0,0050  mm  breit  waren.  Doch 
gelang  es  nie,  bei  mikroskopischer  Beobachtung  im  Dunkeln  einen 
Entladungsfunken  zu  sehen,  obschon  ein  auf  der  Zunge  ganz  unmerk- 
licher, inducirter  Strom  eines  Schlittenapparates  noch  bei  90  mm 
Rollenabstand  jene  Spalte  unter  Funkenbildung  übersprang. 

Dagegen  haben  Santi-Linari  und  Matteucci  am  Zitterrochen, 
Faraday  beim  Zitteraal  und  Du  Bois-Reymond  beim  Zitterwels 
Trennungsfunken  gesehen,  wenn  bei  Reizung  des  abgeleiteten  Fisches 
Quecksilber  gegen  eine  Platinspitze  geschwenkt,  oder  eine  Feile  über 
eine  andere  geschleift,  oder  endlich  ein  Zahnrad  an  einer  Feder 
vorbeigedreht  wurde.  Durch  geeignete  Anwendung  des  Froschunter- 
brechers lässt  es  sich  erzielen,  dass  der  Stromkreis  durch  die  Zuckung 
des  Froschschenkels  jedesmal  etwa  auf  der  Höhe  des  Schlages  geöffnet 
wird,  wobei  der  Trennungsfunke  mit  Sicherheit  zu  beobachten  ist. 
Entladungsfunken  zu  sehen  ist  nur  am  Zitteraal  mehrfach  gelungen. 
Schon  1773  erhielt  Hugh-Williamson  in  Philadelphia  den  Schlag 
durch  eine  Lücke  im  Kreise,  deren  Weite  er  gleich  der  Dicke  von 
double  post  paper  setzt,  doch  sah  er  nicht  den  Funken.  Walsh 
dagegen  konnte,  wie  Du  Bois-Reymond  (4  e  p.  158)  mittheilt,  „dem 
1775  aus  Guayana  nach  London  gebrachten  Zitteraal  den  Entladungs- 
funken in  einem  Stanniolspalt  so  sicher  entlocken,  dass  er  ihn  mehr 
als  40  Mitgliedern  der  Royal  Society  zehn-  bis  zwölfmal  nach- 
einander zeigte".  Auffallenderweise  ist  es  dagegen  Sachs  nicht 
geglückt,  den  Schliessungs-(Entladungs-)Funken  in  einem  Stanniol- 
spalt von  0,1  mm  zu  sehen.  Unter  diesen  Umständen  kann  es 
auch  nicht  verwundern,  dass  der  Zitteraalschlag  auch  nicht  durch 
verdünnte  Luft  geht  und  etwa  eine  Geissler'sche  Röhre  zum  Leuchten 
bringt. 

Die  Erklärung  aller  dieser,  auf  den  ersten  Blick  auffallenden 
Thatsachen  ergiebt  sich  nun,  wie  Du  Bois-Reymond  (1.  c.  p.  161) 
gezeigt  hat ,  einfach  daraus ,  dass ,  wie  schon  erwähnt  wurde ,  die 
Ströme  der  Zitterfische,  wie  überhaupt  aller  thierischen  Elektromotoren, 
immer  nur  durch  Nebenschliessung  gewonnen  sind.  „Von  zwei 
gleich  starken  Strömen,  A  und  B,  welche  in  zwei  gleich  widerstehenden 
Leitern  fliessen,  von  denen  aber  Ä  einem  unverzweigten  Kreise 
angehört,  B  durch  Nebenschliessung  gewonnen  ist,  wird  durch  Hinzu- 
fügen   eines    gleichen    Widerstandes    zum   Widerstand    der   Leiter  B 


300  I^iß  elektrischen  Fische. 

mehr  geschwächt  wie  Ä,  und  zwar  in  um  so  höherem  Grade,  je  grösser 
der  Widerstand  der  übrigen  Leitung  ist." 

„Bietet  man  also  dem  Zitterfischschlag  eine  gute  metallische 
Leitung,  so  entwickelt  sich  darin  ein  gewaltiger  Strom,  der,  rechtzeitig 
unterbrochen  im  ersten  Augenblick  eine  Lücke  trifft,  kleiner  als  man 
sie  zwischen  feststehenden  Metallen  herstellen  kann,  und  vollends 
unterstützt  durch  Induction,  diese  Lücke  leicht  in  Funken  überspringt. 
Ist  dagegen  schon  eine  Lücke  im  Versuchskreise  da,  wie  klein  man 
sie  auch  mache,  so  begiebt  sich  gar  kein  Stromzweig  in  den  Kreis, 
welcher  sie  zu  überspringen  vermöchte.  Es  ist  also  täuschender  An- 
schein, dass  der  gewaltige  Zitterfischschlag  unfähig  ist,  die  Lücke  zu 
überspringen,  denn  in  Wahrheit  verhindert  vielmehr  die  Lücke  die 
Entwicklung  des  Stromzweiges,  der  nur  bei  guter  Leitung  als  ge- 
waltiger Schlag  erscheint.  Der  gewaltige  Schlag,  von  dem 
man  das  Ueber springen  derLücke  erwartet,  ist  im  Falle 
der  Lücke  gar  nicht  vorhanden"  (innerhalb  gewisser  Grenzen 
der  Spaltweite), 

Aus  dem  Angeführten  ergiebt  sich  auch  die  Regel,  bei  allen 
Versuchen  an  Zitterfischen,  wo  es  auf  Stärke  der  Wirkung  ankommt, 
den  äusseren  Widerstand  im  ableitenden  Bogen  möglichst  zu  ver- 
kleinern. Interessant  ist,  worauf  Du  Bois-Reymond  zuerst  auf- 
merksam machte ,  die  Anpassung  der  verschiedenen  elek- 
trischen Organe  an  das  Mittel,  in  dem  sie  wirken  sollen. 
„Die  auf  Seewasser  berechneten  Zitterrochenorgane  durften  keinen 
grossen  inneren  Widerstand  haben,  konnten  aber  mit  geringerer  Kraft 
auskommen;  sie  sind  bei  grossem  Querschnitt  kurz.  Die 
auf  Süsswasser  berechneten  Organe  des  Zitterwelses  und  Zitteraales 
durften  grösseren  inneren  Widerstand  haben ,  brauchten  aber  auch 
grössere  Kraft;  sie  sind  bei  kleinem  Querschnitt  lang." 

Es  ist  von  principiellem  Interesse ,  dass  es ,  wie  Du  Bois- 
Reymond  zeigte,  leicht  gelingt,  durch  den  Fischschlag  einen  Ent- 
ladungsfunken zu  erzielen,  wenn  man  die  Induction  zu  Hülfe  nimmt, 
und  jenen  durch  die  Hauptrolle  eines  Rumkorff'schen  Inductoriums 
leitet.  Befindet  sich  dann  im  secundären  Kreise  ein  Funkenmikro- 
meter, so  sieht  man  regelmässig  zwei  Funken,  einen  grösseren  und 
unmittelbar  darauf  einen  kleineren  überspringen.  Am  Zitterrochen 
konnte  Armand  Moreau  (Du  Bois-Reymond  4d  p. 628)  auch  die 
elektroskopische  Anziehung  und  Abstossung  durch  den  Schlag  zeigen, 
indem  er  an  Stelle  der  Platin  spitzen  des  Funkenmikrometei's  zwei 
gebogene  Kupferdrähte  setzte,  von  deren  Enden  zwei  Goldblättchen 
herabhingen.  „Bei  3  mm  Abstand  war  ihre  Bewegung  im  Augen- 
blicke des  Schlages  zweifelhaft,  bei  2  mm  Abstand  zogen  sie  einander 
deutlich  an,  bei  (noch)  kleinerem  Abstände  flogen  sie  zusammen,  eine 
prachtvolle  grüne  Feuererscheinung  leuchtete  auf  und  Hess  die 
Blättchen  zusammengeschmelzt  zurück.'' 

Vielfach  bediente  man  sich  auch  der  Jodkaliumelektrolyse  an 
Stelle  des  Multiplicators,  um  über  die  Richtung  des  Fischschlages  und 
die  Vertheilung  der  Spannungen  an  der  Oberfläche  Aufschluss  zu 
erhalten.  Es  wird  dabei  einfach  der  Schlag  durch  zwei  ausgeglühte 
Platinspitzen  einem  Fliesspapierstreifen  zugeführt,  welcher  mit 
gesättigter  Jodkaliumlösung  getränkt  ist.  Du  Bois-Reymond 
(4  e  p.  163  und  7)  stiess  hierbei  auf  die  paradoxe  Erscheinung,  dass 
durch  die  Entladung  des  Zitterwelses  und,    wie  er  später  fand,    auch 


Die  elektrisclieu  Fische.  801 

des  Zitterrochen  unter  beiden  Spitzen  ein  Jodfleck  entstand,  aller- 
dings ersterenfalls  gewöhnlich  stärker  unter  der  dem  Schwanz 
entsprechenden  Spitze.  Etwas  Aehnliches  hatten  früher  weder  John 
Davy  und  Matteucci  am  Zitterrochen,  noch  Farad  ay,  Schön- 
bein und  Andere  am  Zitteraal  bemerkt,  an  welch'  letzterem  auch 
Sachs  die  Erscheinung  vermisste. 

Da  hierdurch  die  Möglichkeit  eines  Hin  -  und  Hergehens  des 
Schlages  nahegelegt  wurde,  so  schien  eine  eingehendere  Untersuchung 
erwünscht.  Dabei  ergab  sich  nun  sofort,  dass  der  „secundäre"  Jodfleck 
unter  der  negativen  Spitze  auch  durch  einzelne  Inductionsschläge 
erzeugt  wird,  wenn,  wie  es  in  der  Regel  der  Fall  ist,  der  Kreis  nach 
Aufhören  des  Stromes  noch  geschlossen  bleibt.  Er  ist  hier  zweifellos 
verursacht  durch  den  „entgegengesetzten  Strom  der  Ladungen,  welche 
die  in  Jodkaliumlösung  tauchenden  Platinspitzen  unter  dem  Einfluss  des 
Inductionsstromes  angenommen  haben".  „Ganz  ähnlich,  wie  in  einem 
Inductionskreis,  ist  der  Vorgang  bei  dem  Fisch,  Unmittelbar,  nachdem 
er  geschlagen,  bleibt  der  Kreis  noch  einige  Augenblicke  geschlossen, 
wie  schnell  man  auch  die  Sättel  aus  dem  Wasser  ziehe,  was  man  be- 
sonders rasch  zu  thun  übrigens  gar  keinen  Grund  hat.  Während 
dieser  Zeit  muss  ein  secundärer  Strom  in  umgekehrter  Richtung  des 
Fischstromes  kreisen,  welcher  nicht  allein  von  den  Ladungen  der  in 
Jodkaliumlösung  tauchenden  Platinspitzen,  sondern  auch  von  denen  der 
Platinsättel  herrührt.  Dieser  secundäre  Strom  muss  unstreitig  auch 
unter  der  früheren  Kathode,  der  neuen  Anode,  einen  entsprechenden 
Jodfleck  erzeugen"  (4  d  p.  651  f.j.  Dass  durch  den  Fischschlag  in  der 
That,  wie  ja  kaum  zu  bezweifeln,  eine  nachweisbare  Polarisation  der 
Elektroden  erfolgt,  hat  Du  Bois-Reymond  durch  besondere  Ver- 
suche nachgewiesen.  Es  wurde  hierbei  in  geeigneter  Weise  (durch 
den  Froschunterbrecher)  der  Schlagstrom  von  der  Bussole  durch  eine 
Nebenschliessung  abgeblendet,  welche  man,  um  die  Polarisation  sichtbar 
zu  machen,  nur  so  bald  als  möglich  nach  dem  Schlag  wegzuräumen  hat. 

Unvergleichlich  viel  geringfügiger,  als  bei  den  bisher  besprochenen 
eigentlichen  Zitterflschen,  sind  die  elektrischen  Wirkungen  bei  den 
früher  als  „pseudoelektrisch"  bezeichneten  Arten  (Raja  und  Mormyrus), 
wo,  wie  bei  Muskeln,  im  Allgemeinen  nur  das  Galvanometer  sicheren 
Aufschluss  giebt.  James  Stark  (vergl.  32)  wurde  zur  Entdeckung 
der  elektrischen  Organe  der  Rochen  durch  die  Aussage  der  Fischer 
geführt,  dass  man  beim  Anfassen  des  Schwanzes  eines  lebendigen 
Rochen  einen  elektrischen  Schlag  erhalte.  Mittels  des  Galvanometers 
ist  es  nun  in  der  That  leicht,  sich  von  der  ziemlich  energischen 
Wirkung  der  Organe  zu  überzeugen.  Spannt  man  einen  lebendigen 
Rochen  mit  der  Bauchseite  nach  unten  auf  ein  entsprechend  geformtes 
Brett  (von  der  Form  eines  Schlagnetzes),  taucht  man  dann  den  Rumpf 
in  Seewasser,  so  dass  nur  der  Schwanz  dem  Griffe  des  Brettes  ent- 
sprechend hervorragt,  so  kann  man  hier  leicht  zwei  unpolarisirbare 
Elektroden,  den  Enden  der  Organe  entsprechend,  anlegen.  Während 
der  Ruhe  beobachtet  man  in  der  Regel  nur  eine  unerhebliche  oder 
gar  keine  Spannungsdiß'erenz.  Dagegen  erfolgt  ganz  regelmässig  bei 
mechanischer  Reizung  der  Rückenhaut  eine  Entladung  von  solcher 
Stärke,  dass  selbst  nur  ein  kleiner  Bruchtheil  (^loo)  des  Stromes  ge- 
nügt, um  die  Scala  aus  dem  Gesichtsfelde  zu  treiben  (Burdo n-San- 
derson  und  Gotch  13  c).  In  dem  angelegten  Bogen  fliesst  derselbe 
von  dem  hinteren  zum  vorderen  Ableitungspunkt,  im  Organ  selbst  daher 


802  Die  elektrischen  Fische. 

umgekehrt  von  vorn  nach  hinten.  Bei  den  Mormy  riclen  fliesst,  wie 
Fritsch  (12  i)  feststellte,  der  elektrische  Strom  im  Körper  des  Fisches 
vom  Schwanz  zum  Kopf,  verhält  sich  daher  ebenso  wie  bei  Torpedo 
und  Gymnotus.  Exemplare  von  15  und  20  cm  Länge  bewirken,  wie 
Babuchin  bemerkt,  „kaum  merkliche  Zuckungen  angelegter,  strom- 
prüfender Froschschenkel,  während  Fische  von  40  und  50  cm  maximale, 
sprungartige  Zuckungen  hervorrufen  und  auch  für  den  Menschen  wahr- 
nehmbar sind,  wenn  auch  nicht  deutlicher,  als  von  einer  10  cm  langen 
Torpedo".  Bei  kräftigen,  ausgesuchten  Thieren  konnte  Fritsch 
mittels  des  Frosch weckers  bereits  Entladungen  constatiren,  wenn  die 
ins  Wasser  des  Behälters  getauchten  Elektroden  dem  Fisch  nur  bis 
auf  20 — 30  cm  genähert  wurden,  ohne  ihn  selbst  zu  berühren. 

Schon  A.  V.  Humboldt  hat  auf  die  Möglichkeit  einer  nur 
partiellen  Entladung  der  elektrischen  Organe  hingewiesen,  indem 
er  sich  auf  die  Beobachtung  berief,  dass  von  zwei  dem  Gym- 
notus in  nur  10 — 12  mm  Abstand  aufgesetzten  Metallstäben  nur 
der  eine  den  Schlag  aufnahm,  der  andere  nicht.  C.  Sachs  legte 
an  vier  verschiedenen  Stellen  eines  aus  dem  Wasser  genommenen 
Zitteraales  vier  Krötenschenkel.  Bei  starken  Schlägen  zuckten  alle 
vier.  Wurden  aber  schwache  Schläge  durch  Picken  der  Haut  des 
Schwanzes  erzeugt,  so  zuckten  nur  die  hinteren  Präparate.  Bei  Be- 
rücksichtigung der  Innervationsverhältnisse  der  Organe  des  Gym- 
notus werden  „Streckenentladungen"  (Du  Bois-Reymond)  der- 
selben leicht  verständlich,  während  es  ebenso  klar  erscheint,  dass  das 
Zitterwelsorgan  immer  nur  als  Ganzes  fungiren  kann.  Einen  auffallen- 
den Unterschied  in  Bezug  auf  die  Stärke  des  Schlages  fand  C.  Sachs 
an  der  vorderen  und  hinteren  Hälfte  des  Gymnotus,  und  zwar 
im  gleichen  Sinne  wie  vorher  schon  Du  Bois-Reymond  am  Zitter- 
wels (4  d  p.  630),  wo  die  vordere  Hälfte  viel  stärkere  Ab- 
lenkungen der  Bussole  erzeugte  als  die  hintere  (etwa 
im  Verhältniss  von  11:6).  Da  dieser  Unterschied,  wie  Du  Bois- 
Reymond  gezeigt  hat,  mit  wachsendem  Widerstand  des  Versuchs- 
kreises verschwindet,  so  liegt  wenigstens  beim  Zitterwels  kein  Grund 
vor,  eine  verschiedene  elektromotorische  Kraft  beider  Hälften  anzu- 
nehmen. Der  von  vorn  nach  hinten  abnehmende  Querschnitt  des 
Fisches  (beziehungsweise  der  Organe)  und  die  dadurch  bedingte 
Widerstandszunahme  in  derselben  Richtung  erklärt  das  beobachtete 
Verhalten  zur  Genüge.  Beim  Gymnotus  kommt  freilich  noch  der 
Umstand  in  Betracht,  dass  wahrscheinlich  die  hinten  gelegenen,  weit- 
fächerigen Säulen  des  Sachs'schen  Bündels  anders  elektromotorisch 
wirken  als  die  engfächerigen. 

Unter  allen  Umständen  wächst  hier  der  Schlag  mit  der 
Länge  des  Fisches,  so  dass  sich  die  Frage  erhebt,  ob  dies  auf 
einer  Abnahme  des  Widerstandes  oder  auf  einem  Wachsen  der  Kraft, 
oder  auf  Beidem  beruht.  Wie  sich  aus  einer  Vergleichung  der  Länge 
und  des  Gewichtes  verschiedener  Exemplare  ergiebt,  wachsen  die 
Zitteraale  stärker  in  die  Länge  als  in  die  Dicke,  so  dass  ihr  Quer- 
schnitt vergleichsweise  um  so  kleiner  wird,  je  länger  sie  werden.  Da 
man  annehmen  darf,  dass  sich  die  elektrischen  Organe  dabei  ebenso 
verhalten  worden,  so  nimmt  ihr  Widerstand  dem  entsprechend  langsamer 
ab,  als  wenn  die  Organe  bei  ihrem  Wachsen  sich  ähnlich  blieben,  oder 
er  wird  vielleicht  sogar  grösser  werden.  Jedenfalls  muss  die  grössere 
Stärke  des  Schlages  längerer  Fische  auf  eine  Zunahme  der  Kraft 


Die  elektrischen  Fische.  803 

bezogen  werden  und  kann  nicht  auf  Abnahme  des  Widerstandes  be- 
ruhen (Du  B 0 i s - R e y in 0 n d). 

Die  anatomischen  Verhältnisse  der  Innervation  der  elektrischen 
Organe  bei  den  verschiedenen  Zitterlischen  lassen  auch  in  Bezug  auf 
das  Zustandekommen  spontaner  (willkürlicher)  und  reflectorischer 
Entladungen  beträchtliche  Unterschiede  erwarten.  „Vom  Zitterrochen 
Hess  sich  vorhersehen,  dass  er  nach  Zerstörung  des  Lobus  electricus 
oder  der  zu  ihm  führenden  sensiblen  Nervenbahnen  nicht  anders 
mehr  schlagen  könne,  als  auf  Reizung  der  elektrischen  Nerven  oder 
des  Lobus  electricus  selber",  und  ebenso  dürfte  beim  Zitterwels  das 
Vermögen  spontaner  und  reflectorischer  Entladungen  an  das  Erhaltensein 
der  beiden  Riesenganglienzellen  geknüpft  sein.  Dagegen  gestalten  sich 
offenbar  die  Innervationsverhältnisse  der  Organe  beim  Gymnotus  mehr 
analog  der  Muskelinnervation  der  Fische  überhaupt.  Humboldt  hatte 
gefunden,  dass  man  vom  geköpften  Zitteraal  keinen  Schlag  mehr  erhält, 
so  dass,  wenn  man  ein  Thier  mitten  durchhaut,  nur  noch  die  vordere 
Hälfte  schlägt,  und  auch  die  Erfahrungen  von  C.  Sachs  schienen 
diese  an  sich  auffallende  Angabe  zu  bestätigen.  Gleichwohl  erhielt  er 
in  einzelnen  Fällen  vom  kopflosen  Rumpfe  „gewaltige  Reflexschläge", 
die  sich  sowohl  fühlbar  machten,  wie  auch  durch  starke  Bussolausschläge 
äusserten.  Die  Wirkungslosigkeit  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  erklärte 
er  daraus,  „dass  durch  Reflex  immer  nur  kleinere  Abschnitte  der 
Organe  gleichzeitig  in  Thätigkeit  gesetzt  werden,  wie  auch  beim  ge- 
wöhnlichen geköpften  Aal  auf  örtliche  Hautreizung  nur  mehr  örtliche 
Muskelzusammenziehungen  erfolgen.  Doch  erscheint  noch  eine  ge- 
nauere Untersuchung  dieser  Streckenentladungen  mittels  aufgelegter 
Froschschenkel  erforderlich. 

Sehr  charakteristisch  und  allen  Erwartungen  entsprechend  ge- 
staltet sich  dagegen  das  Resultat  der  Strychninvergiftung,  deren 
Wirksamkeit  schon  Matte ucci  und  BoU  am  Zitterrochen  erprobt 
hatten.  Auch  Marey  bediente  sich  des  Strychnins,  um  leicht  und 
sicher  reflectorische  Entladungen  am  Zitterrochen  zu  erhalten,  und  hat 
den  zeitlichen  Verlauf  des  elektrischen  S try chnintetanus 
graphisch  aufgeschrieben.  Um  die  Thiere  zu  vergiften,  löste  er  das 
Gift  im  Seewasser  ihi'es  Behälters  auf.  Am  Zitteraal  beobachtete 
Sachs  nach  Injection  von  Strychnin  mächtige  Krämpfe,  begleitet  von 
oft  wiederholten  Einzelentladungen.  Die  Reflexerregbarkeit  war  aufs 
Höchste  gesteigert.  „Leisestes  Klopfen  auf  den  Rand  der  dicken  Holz- 
wanne rief  reflectorische  Zuckung  und  Entladung  hervor." 


III.    Der  Schlag  bei  künstlicher  Reizung  der  elektrischen 
Nerven  und  der  Centralorgane. 

Wie  aus  der  Berücksichtigung  des  anatomischen  Baues  unmittelbar 
hervorgeht,  sind  unter  den  elektrischen  Fischen  der  Zitteraal,  sowie 
Raja  und  Mormyrus  am  wenigsten  geeignet  für  indirecte  Reiz- 
versuche der  Organe,  indem  die  anatomische  Anordnung  der  noch 
überdies  sehr  kurzen  elektrischen  Nerven  der  Herstellung  von  Nerv- 
Organ-Präparaten  grosse  Schwierigkeiten  bereitet.  „Am  Zitterwels  legt 
ein  Schnitt,  bei  welchem  kaum  ein  Tropfen  Blut  zu  fliessen  braucht, 
in  langer  Strecke  beide  Nerven  bloss,  welche  gleichsam  von  der  Natur 
präparirt   sind.     Aus   dem  Organ   lassen   sich   mit   der  Scheere   regel- 


804  Die  elektrischen  Fische. 

massige  Streifen  von  beliebiger  Länge  und  Breite  schneiden,  welche, 
aussen  durch  Haut,  innen  durch  Fascie  begrenzt,  ihre  Gestalt  vor- 
züglich bewahren."  Auch  am  Zitterrochen  gelingt  es,  wiewohl  nicht 
ohne  grösseren  Eingriff,  die  vier  vom  Gehirn  zum  Organ  ziehenden 
Nerven  zu  präpariren  und  der  Reizung  zugänglich  zu  machen;  dagegen 
treten  beim  Zitteraal  jederseits  vom  Kückenmark  gegen  dritthalb- 
hundert  Nerven  an  das  Organ,  „zu  kurz,  um  ihrer  eine  grössere  An- 
zahl zu  einem  Bündel  zusammenzufassen  und,  jeder  einzelne  eine  zu 
kurze  Strecke  des  Organes  beherrschend,  um  sich  mit  deren  einem 
begnügen  zu  können".     (Du  Bois-Reymond  4e  p.  187.) 

Um  an  Torpedo  die  nöthigen  Präparationen  unter  gleichzeitiger 
Controle  der  Thätigkeit  der  Organe  vorzunehmen,  empfiehlt  Schönlein 
(30)  das  Thier  auf  eine  flache  Schüssel  aus  Zink  zu  legen  und 
die  Rückenhaut  über  dem  Organ  mit  einer  zweiten,  entsprechend  zu- 
geschnittenen Zinkplatte  zu  bedecken ;  ein  mit  beiden  Belegungen 
verbundenes  Telephon  giebt  Nachricht  über  etwa  erfolgte  Entladungen. 
Nach  Durchschneidung  der  Medulla  oblongata  und  Ausbohrung  des 
Rückenmarkes  bietet  dann  die  einfache  Blosslegung  der  elektrischen 
Nerven  keine  erheblichen  Schwierigkeiten.  Etwas  umständlicher  ist 
schon  die  Darstellung  eines  nur  aus  beiden  Organen  und  ihren  zuge- 
hörigen Nerven  bestehenden  Präparates. 

Vom  Charakter,  der  Tonhöhe  und  Klangfarbe  des  natürlichen 
Torpedoschlages  bei  telephonischer  Beobachtung  war  bereits  oben 
die  Rede.  Es  ist  dabei  vor  Allem  beachtenswerth ,  dass  derselbe 
nicht  nur  für  den  Gefühls  sinn,  sondern  auch  für  das 
Ohr  im  Wesentlichen  denselben  Charakter  darbietet, 
wie  eine  rasche  Folge  von  Inductionsströmen,  so  dass 
es  bei  elektrischer  Reizung  des  Thieres  bisweilen  nicht  leicht  ist, 
im  Telephon  die  auslösenden,  stets  hörbaren  Ströme  von  dem  ausge- 
lösten Schlage  zu  unterscheiden.  Dies  ist  aber  in  Folge  einer  ausser- 
ordentlich auffallenden  Verschiedenheit  der  Klangstärke  stets  leicht 
möglich,  wenn  bei  gleichem  Rollenabstand  die  Elektroden  bald 
einem  der  elektrischen  Nerven,  bald  dem  blossgelegten  Lobus  elec- 
tricus  angelegt  werden.  Letzterenfalls  schwillt  der  Ton  plötzlich 
„zur  Stärke  des  Trompetenschalles  an".  Bei  schwacher  Reizung 
und  Anwendung  des  akustischen  Stromunterbrechers  hört  man 
dann  häufig  einen  Ton  von  gleicher  Höhe  aber  anderer  Klangfarbe. 
Bei  öfters  wiederholter  Reizung  kann  die  Tonhöhe  wechseln,  und 
zwar  während  der  Reizung  in  ganz  continuirlichen  Uebergängen. 
Auch  die  elektrische  Reizung  der  vor  dem  Lobus  gelegenen  Hirntheile 
bewirkt  gewöhnlich  einen  Schlag,  dessen  Klang  dem  der  Spontan- 
entladungen entspricht,  also  mit  der  Frequenz  der  Reizungen  keine 
Uebereinstimmung  zeigt.  Wie  F.  Röhmann  (29)  fand,  scheint  im 
Lobus  electricus  von  Torpedo  in  gewissem  Sinne  eine  Art  von 
Localisation ,  d.  h.  eine  bestimmte  Gruppirung  und  Anordnung  der 
Ganglienzellen,  gegeben  zu  sein,  indem  von  bestimmten  Stellen  des 
Lobus  aus  nur  begrenzte  Theile  des  Organes  erregt  werden  können. 
Als  charakteristisch  für  jede  spontane  (willkürliche)  oder  reflectorische 
Entladung  eines  elektrischen  Organes  darf  es  gelten,  dass  sie  Avie 
die  w  i  1 1  k  ü  r  l  i  c  h  e  M  u  s  k  e  l  c  0  n  t  r  a  c  t  i  o  n  d  i  s  c  o  n  t  i  n  u  i  r  1  i  c  h  ist 
und  aus  einer  dicht  gedrängten  Reihe  von  kurzen 
Stromstössen  („Flux  electrique",  Marey)  besteht,  deren 
jeder    einem    elementaren    E  r  r  e  g  u  n  g  s  i  m  p  u  1  s   entspricht. 


Die  elektrischen  Fische.  805 

aus    welchen     sich    eine    tetanische     Muskelcontraction 

zusammensetzt.     Du   Bois-Reymond    schlägt   daher    vor,   jede 

solche  elementare  Entladung-  als   „Theilentladung"  zu  bezeichnen, 

nicht     zu    verwechseln     mit    den    früher    erwähnten    partiellen    oder 

Streckenentladungen    des    Organes.      Die    Zahl    der   Theilent- 

ladungen,     welche,    wie    Marey     mittels    des    Marcel-Desprez' sehen 

Signalschreibers,  wie    auch   mittels    des  Capillarelektrometers  und  des 

Telephons    zeigte,    einen  Schlag  zusammensetzen,  hängt  sehr  von  der 

grösseren  oder  geringeren  Energie  ab,  mit  welcher  das  Thier  reagirt, 

und   sinkt    daher   mit   zunehmender   Ermüdung  oder  Abkühlung.      In 

der  Regel    folgen    sich   etwa  25  Stösse  mit  einer  Geschwindigkeit  von 

100  bis  200,  im  Mittel  150  p.  See.     Hieraus    ergiebt  sich  eine  Dauer 

24 
der  Gesammtentladung  von  ----   -{-  0,07"  =  0,23  See,  wenn  man  für 

die  Dauer  einer  Theilentladung  den  von  Marey  für  die  Dauer  eines 
durch  einen  einmaligen  Stromstoss  vom  Nerv  aus  erzeugten  Organ- 
schlages zu  ^'l4"  =  0,07"  annimmt. 

Die  schwirrende  Empfindung,  welche,  wie  oben  schon  erwähnt 
wurde,  der  Schlag  der  Zitterfische  oft  erzeugt,  ist  Du  Bois-Rey- 
mond nicht  geneigt,  auf  den  tetanischen  Charakter  der  Entladung 
zurückzuführen,  indem  die  Theilentladungen  sich  zu  rasch  folgen  und 
eine  Gesammtentladung  zu  kurz  dauert;  er  meint  vielmehr,  „dass 
diese  Empfindung  von  aufeinander  folgenden  Gesammtentladungen  her- 
rührt, welche  auch  halb  und  halb  verschmelzen  mögen,  so  dass 
Maxima  und  Minima  der  die  Maxima  der  Theilentladungen  ver- 
bindenden Curve  entstehen  und  so  gleichsam  eine  doppelt  tetanisirende 
Ktenoi'de  herauskommt"  (4  e  p,  239). 

Unter  den  zur  Verfügung  stehenden  künstlichen  Reizmitteln  ist 
aus  denselben  Gründen,  wie  beim  Nerv-Muskel-Präparat,  auch  hier  zum 
genaueren  Studium  der  indirecten  Organerregung  eigentlich  nur  der 
elektrische  Strom  verwendbar.  Bei  mechanischer  Reizung  (Kneifen 
und  Zerschneiden)  der  elektrischen  Nerven  von  Torpedo  hörte 
Schönlein  (30)  „ein  schabendes,  sehr  leises  Geräusch"  im  Telephon, 
zu  dessen  Wahrnehmung  schon  Ruhe  im  Experimentirzimmer  gehört. 
Zerquetschen  der  Nerven  zwischen  zwei  Glasplatten  giebt  den  gleichen 
Erfolg.  Dagegen  erwies  sich  B  a  b  u  c  h  i  n  mechanische  Reizung  der 
elektrischen  Nerven  von  Malopterurus  an  allen  Stellen  sehr 
wirksam.  „Die  Durchschneidung  der  Stammfasser,  wie  auch  ihrer 
Aeste  mit  den  schärfsten  Scheeren,  Druck,  Stich  mit  einem  Dorne 
oder  mit  einem  spitz  ausgezogenen  Glasrohr  bleibt  nie  erfolglos." 
Chemische  Reizung  (Eintauchen  in  gesättigte  Lösungen  von  Natron 
oder  Kalisalzen)  erwies  sich  so  gut  wie  ganz  unwirksam.  Bei  elek- 
trischer Reizung  wirken  einzelne  Inductionsschläge, 
wenn  überhaupt,  erst  b  e  i  s  e  h  r  h  o  h  e  r  I  n  t  e  n  s  i  t  ä  t.  Sachs 
konnte  an  einem  Nerv-Organ-Präparat  vom  Zitteraal  auch  durch  die 
stärksten  Einzelschläge  des  von  einer  Sternsäule  getriebenen  Schlitten- 
inductoriums  „keine  irgend  nennenswerthe  Wirkung  erzielen"  (4e  p.  192) 
und  fand  auch  die  Schliessung  und  Oeffnung  des  Stromes  von  vier 
Grove  in  beiden  Richtungen  unwirksam.  Sachs  scheint  dies  allein 
auf  eine  besondere  Eigenschaft  der  elektrischen  Nerven,  und  nicht 
sowohl  der  Organe  zu  beziehen,  und  schreibt  den  ersteren  eine 
„solidere  molekulare  Constitution"  und  ein  „stabileres  Gleichgewicht" 
zu,  als   den  Nerven  anderer  Thiere.     Dem  gegenüber  betont  nun  Du 


806  Die  elektrischen  Fische. 

Bois-Reymoncl  mit  Recht  die  Rolle  der  elektrischen  Platten 
der  Organe,  indem  er  auf  die  Aehnlichkeit  hinweist,  welche  zwischen 
den  Bedingungen  besteht,  unter  welchen  es  gelingt,  durch  elektrische 
Reizung  sensibler  Nerven  Reflexbewegungen  auszulösen  mit  jenen,  wo 
durch  analoge  Reizung  Entladungen  elektrischer  Organe  bewirkt 
werden.  „Leises  Tetanisiren  des  sensiblen  Nerven  löst  vom  Rücken- 
mark starke  Reflexzuckungeu  bestimmter  Muskelgruppen  aus;  starke 
einzelne  Schläge  bleiben  unbeantwortet.  Starke  einzelne  Schläge, 
welche  die  elektrischen  Nerven  treffen,  lösen  keinen  Schlag  des 
Organes  aus,  auf  leises  Tetanisiren  der  elektrischen  Nerven  antwortet 
das  Organ  mit  Tetanus.  Die  elektrischen  Platten  des  Organes 
verhalten  sich  also  gegen  die  beiden  Formen  der  Reizung  der  elek- 
trischen Nerven,  wie  die  Ganglienzellen  des  Rückenmarkes  gegen  die 
nämlichen  Formen  der  Reizung  sensibler  Nerven"  (4  e  p.  272).  Eck- 
hardt (11)  hat  übrigens  die  elektrischen  Nerven  von  Torpedo 
wiederholt  und  erfolgreich  mit  einzelnen  Inductionsschlägen,  sowie  mit 
dem  Kettenstrome  gereizt.  Letzterenfalls  beobachtete  Schönlein  (1.  c.) 
neuerdings  ein  eigenthümliches  Verhalten  von  Nerv-Organ-Präparaten 
des  Zitterrochen.  Bei  Ableitung  von  einem  Theilstück  des  Organes, 
dessen  Nerv  der  Strom  von  16  Dan.  und  6  Bunsen  zugeleitet 
wurde,  ergab  sich  „je  nach  der  Stromesrichtung  beim  Schliessen  oder 
Oeffnen  des  Reizkreises,  oder  auch  bei  beiden,  eine  einmalige 
Bewegung  der  Scala,  während  des  Stromschlusses  ausserdem 
noch  eine  dauernde  Ablenkung",  deren  Sinn  sich  als  unab- 
hängig von  der  Stromesrichtung  erwies.  Der  Verdacht  auf  Strom- 
schleifen scheint  dadurch  ausgeschlossen,  dass  Zerschneiden  mit 
Wiederzusammenlegen  der  Schnittenden,  sowie  Unterbindung  der 
Nerven  die  Ablenkungen  vollständig  beseitigt.  Eine  ausreichende 
Erklärung  dieser  an  Elektrotonus  erinnernden  Erscheinung,  die  auch 
Sachs  beim  Zitteraal  beobachtet  zu  haben  scheint  (4e  p.  189),  lässt 
sich  zunächst  nicht  geben. 

Nach  dem  bereits  Mitgetheilten  braucht  kaum  noch  besonders 
betont  zu  werden,  dass  die  viel  wirksamere  tetanisirende  Reizung 
vom  Nerven  aus,  gerade  wie  beim  Muskel,  eine  discontinuirliche 
Zustandsänderung  des  Organes,  d.  h.  im  Rhythmus  der  Reizung 
erfolgende,  wiederholte  Entladungen  bedingt,  welche  sich  zu  einem 
ächten  elektrischen  Tetanus  summiren,  wie  sich  jederzeit  leicht  durch 
den  secundären  Tetanus  eines  dem  Organ  anliegenden  oder  sonstwie  in 
den  Kreis  der  Entladungen  gebrachten  stromprüfenden  Froschschenkels 
zeigen  lässt.  Bei  Beobachtung  mit  Galvanometer  und  Fernrohr 
beschreibt  C.  Sachs  die  Erscheinung  des  elektrischen  Tetanus  (bei 
grossem  Rollenabstand)  am  Zitteraalorgan  folgendermaassen :  „Der 
Faden  geht  in  absolut  positivem  Sinne  (d.  h.  entsprechend  der  Schlag- 
richtung) langsam  in  die  Höhe,  verweilt  dort  mit  zuckenden  Be- 
wegungen nach  oben  und  nach  unten  und  sinkt  nach  kurzer  Zeit 
wieder  herab,  jedoch  nicht  bis  zum  Nullpunkt.  Es  kommt  auch  vor, 
dass  der  Faden  von  der  Höhe,  auf  der  er  zuerst  stehen  bleibt,  plötz- 
lich weiter  emporsteigt.  Beim  Aufhören  des  Tetanus  kehrt  der  Faden 
rasch  wie  losgelassen  zurück"  (4  e  p.  193).  Es  scheint,  dass  bei 
tetanisirender  Reizung  des  Organes  vom  Nerven  aus  die  schnelle 
Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Inductionsströme  für  den  Erfolg  sehr 
wesentlich  ist,  indem  möglichst  rasches,  mit  der  Hand  bewirktes 
Schliessen  und  Oeffnen  des  Kreises  von  vier  Grove  wirkungslos  blieb. 


Die  elektrischen  Fische.  807 

Auch  am  Z  i  1 1  e  r  w  e  1  s  erfolgen  nach  B  a  b  u  c  h  i  n  bei  tetanisirender 
Reizung  des  elektrischen  Nerven  discontinuirliche  Entladungen,  welche, 
je  nach  der  Lebensfähigkeit  des  Organ-Präparates,  während  längerer 
oder  kürzerer  Zeit  andauern.  „Die  Schläge  sind  für  die  Finger 
empfindbar,  und  man  bekommt  den  Eindruck,  als  ob  die  Finger  das 
Inductorium  selber  berührten." 

Im  Uebrigen  fand  Babuchin  die  elektrische  Stammfaser  von 
Malopterurus  auch  gegen  die  tetanisirenden  Ströme  im  Ganzen 
wenig  emphndlich.  Doch  scheint  dies  zum  Theil  mit  von  dem  dicken 
Perineurium  abzuhängen,  da  sich  zeigte,  dass  Ströme,  welche  die 
dicke  Stammfaser  nicht  zu  erregen  vermochten,  von  den  dünneren 
Zweigen  derselben  Wirkungen  auslösten.  Auch  Schönlein  (30) 
fand  bei  tetanisirender  Reizung  der  Organnerven  von  Torpedo 
mittels  des  Rheotoms  (zum  Zweck  der  Bestimmung  des  zeitlichen 
Verlaufes  des  Schlages)  die  Reizschwelle,  im  Vergleich  zu  der  bei 
Froschpräparaten  benöthigten  Reizstärke,  auffallend  hoch  und  ist 
geneigt,  dies  lediglich  auf  die  beträchtliche  Dicke  der  elektrischen 
Nerven  zu  beziehen.  Dieselbe  beträgt  bei  grösseren  Exemplaren  über 
4  mm,  und  der  Querschnitt  übertrifft  über  50  mal  den  eines  mittleren 
Froschischiadicus.  Schönlein  fand  in  der  That,  dass  nach  Auf- 
faserung  eines  elektrischen  Nerven,  „bis  die  Bündel  so  dünn  geworden 
sind  wie  die  Froschischiadici ,  die  Rollenabstände,  bei  welchen  man 
eben  reizen  kann,  in  denselben  Gebieten  liegen  wie  beim  Frosch", 
eine  Thatsache,  die  für  die  später  zu  erörternde  Immunitätsfrage  von 
grosser  Bedeutung  ist. 

Bei  dem  ausserordentlichen  Reichthum  der  elektrischen  Organe 
an  Nerven ,  zusammen  mit  der  noch  zu  besprechenden  relativen  Un- 
wirksamkeit des  Curare,  lässt  selbstverständlich  die  directe,  besonders 
elektrische  Reizung  einen  sicheren  Schluss  auf  eine  selbstständige 
Erregbarkeit  der  Substanz  der  elektrischen  Platten  nicht  immer  zu. 
Gleichwohl  weisen  gewisse  Erfahrungen  sicher  auf  ein  solches 
Verhalten  hin.  An  ausgeschnittenen  Säulen  vom  Zitterrochen  hat 
schon  Matteucci  erfolgreiche  Versuche  mit  directer  mechanischer 
Reizung  gemacht  (durch  Stechen ,  Schneiden  etc.).  Er  sah  dabei 
stromprüfende  Froschschenkel  zucken,  deren  Nerven  dem  Präparate 
angelegt  waren.  Du  Bois-Reymond  macht  allerdings  darauf  auf- 
merksam, dass  Matteucci  dabei,  wie  es  scheint,  stets  „irgend  ein 
sichtbares  Nervenästchen  zu  treffen  suchte". 

Am  Zitterwels  erhielt  Babuchin  (1)  beim  Zerschneiden  des 
Organes  auch  an  Stellen ,  wo  das  unbewaffnete  Auge  keine  Nerven- 
fäserchen  auf  der  inneren  Fläche  unterscheidet,  „ziemlich  starke 
Schläge",  und  ebenso  ist  es  S  a  c  h  s  gelungen,  durch  leichte  klatschende 
Schläge  mit  der  Fläche  eines  Lineals  auf  ein  im  Bussolkreis  zwischen 
unpolarisirbaren,  ableitenden  Elektroden  eingeschaltetes  (Jrganstück 
wiederholt  Ablenkungen  zu  erzielen,  deren  Grösse  unverkennbar  von 
der  Stärke  der  mechanischen  Reizung  abhing.  Dasselbe  war  auch 
der  Fall  bei  Berührung  des  Präparates  mit  einem  heissen  Löthkolben. 
Von  besonderem  Interesse  erscheint  jedoch  die  Wirkungsweise 
chemischer  Reizmittel,  da  hier  am  ehesten  erwartet  werden  durfte, 
eine  Erregung  der  Platten  unabhängig  von  den  zutretenden,  sich  in 
ihnen  verästelnden  Nerven  zu  erzielen.  Legte  Sachs  auf  die  haut- 
entblösste  Seitenfläche  des  Längsschnittes  eines  3  —  4  cm  langen, 
überall    künstlich    begrenzten   Organstückes,    das    von    seinen   beiden 


808 


Die  elektrischen  Fische. 


Querschnitten  abgeleitet  wurde,  ein  Stück  Fliesspapier,  so  trat  sofort 
eine  Ablenkung  des  Bussolmagneten  im  Sinne  des  Schlages  hervor, 
sobald  aus  einer  Pipette  Ammoniak  auf  das  Papier  gespritzt  wurde, 
das  bekanntlich  einen  starken  Reiz  für 
den  Muskel  biklet,  Nerven  dagegen  nicht 
merklich  erregt.  Benetzung  eines  Quer- 
schnittes gab  dagegen  an  demselben 
Präparate  keine  merkliche  Wirkung  (4  e 
p.  178),  Avas  wohl  darauf  beruhen  dürfte, 
dass  letzterenfalls  das  Ammoniak  nur 
schwer  durch  die  Querscheidewände  hin- 
durchdringt, während  es  leicht  „in  die 
durch  den  Längsschnitt  eröffneten  oberen 
und  unteren  Spalte  aller  unter  der  be- 
netzten Stelle  des  Fliesspapiers  gelegenen 
Fächer  eindringt". 

Um  die  Wirkung  directer  elektri- 
scher Reizung  zu  prüfen,  leitete  Sachs 
zunächst  einzelne  Inductionsschläge  mit- 
tels unpolarisirbarer  Elektroden  einem 
auf  den  Bäuschen  der  Du  Bois-Reymond'- 
schen  Zinktröge  liegenden  prismatischen 
Organstücke  in  der  Weise  zu,  wie  dies 
die  beistehende  Figur  271  versinnlicht. 
Man  sieht,  dass  hierbei  unter  allen  Um- 
ständen Stromschleifen  in  den  Bussolkreis 
einbrechen  müssen,  deren  Wirkung  an 
sich  zunächst  ermittelt  und  natürlich  bei 
Beurtheilung  der  Versuchsresultate  stets 
sorgfältig  berücksichtigt  werden  muss. 
Es  ergab  sich  hierbei  vor  Allem  die 
nicht  eben  auffallende  Thatsache,  dass 
die  Schliessungsschläge  das  Organpräpa- 
rat nicht  erregen,  Avährend  OefFnungs- 
inductionsströme  wirksame  Schläge  aus- 
zulösen vermögen.  Es  verhält  sich  also 
das  elektrische  Organ  ähnlich  wie  die 
meisten  irritablen  Substanzen.  Bemer- 
kenswerth  ist  ferner  noch,  dass,  wie  es 
nach  Sachs'  Versuchen  scheint,  dem 
Organschlag  entgegengesetzt  gerichtete 
Oeffnungsschläge  stärker  erregend  wir- 
ken, als  dem  Organschlag  gleich  gerichtete, 
was  Schönlein  bei  Versuchen  an 
Torpedo  nicht  bestätigt  fand.  Am 
schwächsten  scheinen  quer  durch  das 
Organ  gehende  Inductionsschläge  zu  wir- 
ken. Rasch  aufeinander  folgende  Induc- 
tions-(Wechsel-)Ströme  (Tetanisiren)  be- 
wirken schon  bei  einem  Rollenabstand 
starke  Ablenkungen  im  Sinne  des  Schlages,  wo  einzelne  Oeffnungs- 
schläge unter  sonst  günstigsten  Verhältnissen  noch  gar  nicht  oder  nur 
spurweise  wirken.     Es  kehrt  also  hier  dasselbe  Verhalten  wieder,  wie 


Fig.  271. 


Die  elektrischen  Fische.  809 

bei  Erregung  von  Ganglien-  und  Drüsenzellen,  sowie  allen  träger 
reagirenden  contractilen  Substanzen. 

Das  einfache  Mittel  der  Curarisirung,  welches  uns  bei  den 
Muskeln  der  meisten  Wirbelthiere  so  leicht  ermöglicht,  unter  Aus- 
schluss der  Nerven  zu  experimentiren,  versagt  leider  fast  gänzlich  bei 
den  elektrischen  (Jrganen,  indem  die  Zitterüsche  mit  den  Fischen 
überhaupt  und  insbesondere  mit  den  Rochen  die  Eigenthümlichkeit 
theilen,  gegen  Curare  relativ  immun  zu  sein,  Ist  dies  schon  bei  den 
Muskelnerven  sehr  deutlich,  so  gilt  es  in  nur  noch  viel  höherem 
Grade  von  den  elektrischen  Organen  und  ihren  Nerven,  die  noch 
viel  später  gelähmt  werden.  Bei  Anwendung  sehr  grosser  Gaben 
von  Curare  gelang  es  jedoch  Steiner  (o3)  und  später  Ran  vi  er  und 
Boll  (4e  p.  194),  wie  vordem  auch  schon  Marey,  nicht  nur  die 
Muskelnerven,  sondern  weiterhin  auch  die  elektrischen  Nerven  des 
Zitterrochen  zu  lähmen.  Begreiflicherweise  tritt  die  Wirkung  viel 
rascher  ein,  wenn  das  Gift  direct  ins  Blut  gelangt,  als  wenn  es 
subcutan  oder  in  die  Bauchhöhle  eingespritzt  wird.  So  genügt  nach 
Babuchin  ersterenfalls  1  ccm  einer  2^/o  Lösung,  um  binnen  15  bis 
20  Min.  einen  erwachsenen  Zitterrochen  vollständig  motorisch  zu 
lähmen,  während  die  elektrischen  Organe  immer  noch  reflectorisch 
erregbar  blieben ;  subcutan  war  die  dreifache  Gabe  erforderlich. 
Aehnlich  verhält  sich  nach  demselben  Forscher  auch  der  Zitter- 
wels. Schoenlein  theilt  mir  mit,  dass  zur  Erzielung  eines  voll- 
ständigen Effectes,  in  welchem  Falle  auch  die  directe  Reiz- 
barkeit der  Organe  gänzlich  aufgehoben  erscheint, 
enorme  Dosen  des  Giftes  erforderlich  sind  (15  ccm  einer  4  ^!o  Lösung 
^=  Ö  Decigramm  Curare),  auch  wenn  die  Injection  direct  ins  Blut 
(die  vorderste  Kiemenarterie)  erfolgt.  Sofort  nach  Injection  der  ersten 
5  ccm  erfolgen  mit  dem  Beginn  eines  Opisthotonus  ein  oder  zwei 
sehr  heftige  Schläge,  woran  sich  ein  schnell  abnehmender  Tetanus  der 
Organe  anschliesst.  Es  lassen  sich  aber  auch  dann  noch  lange  durch 
Berührung  schwache  reflectorische  Entladungen  erzielen ,  wenn  nicht 
eine  zweite  und  meist  noch  eine  dritte  Lijection  erfolgt,  nach  welch' 
letzterer  man  immer  noch  etwa  20  Minuten  zu  warten  hat.  Schön- 
lein ist  geneigt,  für  diese  hohe  Immunität  gegen  Curare  die  lange 
Kreislaufsdauer  verantwortlich  zu  machen.  Armand  Moreau  (23) 
konnte  eine  Wirkung  des  Curare  auf  den  elektrischen  Nerven  von 
Torpedo  nicht  constatiren.  Es  ist  leicht,  durch  subcutane  Injection 
von  etwa  V2  ccm  einer  1  "/o  Lösung  kleinere  Torpedos  völlig  zu 
lähmen,  so  dass  auf  Reizung  des  Rückenmarkes  oder  motorischer 
Nerven  keine  Spur  von  Bewegung  erfolgt ;  nichtsdestoweniger  bewirkte 
mechanische  Reizung  der  Haut  reflectorische  Entladungen  von  gleicher 
Stärke  wie  vor  der  Vergiftung. 

Am  Zitteraal  hat  Sachs  zwei  Versuche  mit  Curare  angestellt, 
aus  denen  sich  wieder  ergiebt,  dass  durch  sehr  grosse  Dosen  völlige 
Lähmung  der  elektrischen  Nerven  bewirkt  werden  kann.  Tetani- 
sirende  Reizung  derselben  gab  bei  normalem  Rollenabstand  gar  keine 
an  der  Bussole  merkliche  Wirkung,  während  directe  Reizung 
noch  sehr  starke  Ablenkungen  hervorrief,  was  auch  bei 
Einwirkung  von  Ammoniak  vom  Längsschnitt  des  Organpräparates 
aus  der  Fall  war.  Nach  dem  Gesagten  dürfen  jedoch  diese  Erfah- 
rungen   keineswegs    als    Beweise    für    die    selbstständige    Irritabilität 

Biedermann,  Elektrophysiologie.  52 


glO  Die  elektrischen  Fische. 

der  elektrischen  Platten  angesehen  werden,  welche  letztere  Schön- 
lein  auf  Grund  der  Curareversuche  lediglich  als  „Nervenendigung" 
auffasst. 


IV.    Die  zeitlichen  Verhältnisse  des  Zitterüschschlages. 

Bei  den  nahen  Beziehungen  der  Mehrzahl,  vielleicht  sogar  aller 
elektrischen  Organe  zu  quergestreiften  Muskeln  hat  es  natürlich  beson- 
deres Interesse,  den  zeitlichen  Verlauf  der  Zuckung  resp.  der  dieselbe 
begleitenden  Actionsströme  mit  dem  des  Schlages  zu  vergleichen.  Vor 
Allem  handelt  es  sich  um  die  Frage,  ob  bei  einmaliger  momentaner 
Reizung  der  dadurch  ausgelösten  elementaren  Entladung  des  Organes 
ein  Latenzstadium  entspricht  oder  nicht.  Beim  Zitterrochen  wurde 
dieselbe  zuerst  von  Marey  bejahend  entschieden.  Mittels  eines  Pendel- 
myographions  konnte  der  Kreis,  in  welchem  sich  nebst  dem  vom  Nerven 
aus  durch  einen  einzelnen  Inductionsschlag  gereizten  Organe  noch 
ein  stromprüfender  Froschschenkel  befand,  zu  beliebiger  Zeit  nach 
dem  Moment   der  Reizung   vorübergehend    geschlossen  werden,    wobei 


Fig.  272.  e  =  Muskelzuckuug  als  Marke  des  Eeizmomentes.  eg  =  Latenzstadium  der 
direct  durch  einen  Inductionsschlag-  ausgelösten  Muskelzuckung,  et  =  Latenzstadium  der 
durch  den  Organschlag  ausgelösten  Zuckung,     gt  =  Latenzzeit  des  elektrischen  Organes. 

aus  dem  Schlag  ein  ^'200"  langes  Stück  ausgeschnitten  wurde.  Dieses 
Stück,  welches  sich  am  Schenkel  als  Zuckung  bemerkbar  machte, 
konnte  also  gleichsam  längs  dem  Schlage  verschoben  werden,  so  dass 
einerseits  die  Gesammtdauer  desselben  (Vu"),  andererseits  aber  das 
Vorhandensein  einer  merklichen  Latenz  festgestellt  werden  konnte, 
indem  eine  gewisse  Verschiebung  des  auszuschneidenden  Stückes  vom 
Augenblick  der  Reizung  ab  nöthig  war,  damit  überhaupt  eine  Zuckung 
erschien.  Die  Zeit,  welche  dabei  zur  Fortleitung  der  Erregung  vom 
Nerv  bis  zum  Organ  verfliesst,  glaubte  Marey  wegen  der  Kürze 
der  Nerven  vernachlässigen  zu  dürfen. 

Ein  anderes  Verfahren  von  Marey  war  jenem  schon  früher  er- 
wähnten Versuch  von  Helmholtz  nachgebildet,  durch  welchen  der 
die  secundäre  Zuckung  auslösende  Theil  der  negativen  Schwankung 
des  Muskelstromes  bestimmt  werden  sollte.  Es  werden  zwei  Zuckungen 
eines  Froschmuskelpräparates  graphisch  verzeichnet,  deren  eine  direct 
durch    einen    Inductionsschlag    ausgelöst    wird,     während    die    andere 


Die  elektrischen  Fische.  811 

durch  den  Schlag  des  Organes  bewirkt  ist,  der  seinerseits  durch  den 
Inductionsstrom  bei  gleicher  Stellung  der  Zeichenplatte  erzeugt  wird 
(Fig.  272).  Die  Verschiebung  der  Zuckungscurven  entspricht  dem 
Latenzstadium  des  Schlages,  weniger  der  bei  der  Nervenleitung  ver- 
lorenen Zeit,  welche  wieder  vernachlässigt  wurde,  obschon  Marey 
bereits  bemerkt  zu  haben  glaubt,  dass  im  elektrischen  Nerv  die 
Erregung  sich  langsamer  als  im  Froschnerv  fortpflanzt,  was  in 
der  Folge  von  J  o  1  y  e  t  und  G  o  t  c  h  bestätigt  wurde.  G  o  t  c  h 
bestimmte  an  einem  Nerv-Organ-Präparat  den  ersten  Beginn  der 
Bussolwirkung,  wenn  einmal  an  einer  möglichst  entfernten  und  dann 
an  einer  nahe  dem  Organ  gelegenen  Stelle  des  Nerven  gereizt  wurde. 
Betrug  der  Unterschied  der  Entfernungen  13  mm,  so  begann  die 
Bussolwirkung  ^/looo"  früher  bei  Reizung  an  der  dem  Organ  näheren 
Stelle;  daraus  ergiebt  sich  eine  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  von 
6,5  m  pro  Secunde  (bei  12*^  C),  die  in  einem  anderen  Falle  zu  7,3  m 
gefunden  wurde.  Schönlein  fand  neuerdings  beträchtlich  grössere 
Werthe  (12—27  m)  und  hält  sie  überhaupt  für  gleicher  Ordnung  mit 
der  des  Frosches. 

Aus  den  erwähnten  Versuchen  von  Marey  schien  sich  eine 
Latenzdauer  des  Zitterrochenschlages  von  0,01 "  zu  ergeben,  also  ein 
Werth,  der  mit  dem  von  Helmholtz  ursprünglich  für  die  Zuckung 
des  Froschmuskels  gefundenen  übereinstimmt.  Wie  aber  hier,  so  er- 
gaben auch  spätere  Versuche  am  elektrischen  Organ,  dass,  wenn  ein 
Latenzstadium  des  Schlages  in  dem  Sinne  überhaupt  existirt,  dass  die 
denselben  bedingenden  Veränderungen  der  Plattensubstanz  erst  nach 
Beginn  der  Reizung  sich  zu  entwickeln  anfangen,  was  an  sich  nach 
Analogie  der  elektrischen  Phänomene  am  Muskel  nicht  wahrschein- 
lich ist,  dasselbe  jedenfalls  viel  kleiner  sein  müsste,  als  der  zuerst 
gefundene  Werth. 

Sachs,  welcher  mittels  einer  Methode,  die  im  Allgemeinen  der 
zweiten  Marey 'sehen  entsprach,  am  Zitteraal  experimentirte, 
musste  wegen  der  Unmöglichkeit  Organpräparate  vom  Nerv  aus 
durch  einzelne  Inductionsschläge  zu  erregen,  zur  d  i  r  e  c  t  e  n  Reizung 
durch  Oefi'nungsschläge  seine  Zuflucht  nehmen  und  bediente  sich 
ausserdem  der  Po  uillet'schen  Methode  der  Zeitmessung.  Die  Ver- 
suchsanordnung ergiebt  sich  aus  dem  beistehenden  Schema  (Fig.  273). 

Man  sieht  das  Organstück  ( VH)  zwischen  den  Thonschildern  der 
Zuleitungsgefässe  liegen,  von  welchen  Drähte  zu  der  Doppelwippe 
(DW)  führen.  Eben  dahin  führen  auch  Drähte  von  den  dem  Organ 
angelegten  unpolarisirbaren  Elektroden,  die  den  Oeffnungsschlag  der 
secundären  Rolle  (SR)  zuführen;  dieser  wird  durch  die  Helm- 
holtz'sche  Wippe  (TT^TFi)  in  demselben  Moment  durch  Oeffnung  bei 
Wi  ausgelöst,  in  welchem  durch  jene  auch  der  zeitmessende  Kreis 
bei  W  geschlossen  wird.  Bei  der  Lage  der  Doppelwippe  wie  in  B 
bleibt,  wie  man  sieht,  das  Organpräparat  ungereizt  und  der  Oeffnungs- 
schlag erregt  d  i  r  e  c  t  den  Nerven  des  Froschmuskels ;  der  zeitmessende 
Strom  ist  dabei  nur  während  der  Zeit  geschlossen,  die  über  Fort- 
pflanzung und  Latenz  der  Reizung  im  Nerv  und  Muskel  hingeht, 
indem  der  sich  contrahirende  Muskel  den  Stromkreis  der  Bussole  bei 
H  öffnet.  Im  Falle  Ä  wird  dagegen  das  Froschpräparat  durch  den 
Schlag  des  Organpräparates  gereizt  und  die  Schliessungszeit  des  Bussol- 
kreises ist  dem  entsprechend  länger  als  das  Latenzstadium  des  Schlages, 
Dasselbe  berechnet  sich  nach  der  von  Du  Bois-Reymond  für  den 

52* 


812 


Die  elektrischen  Fische. 


aperiodischen  Magneten   entwickelten  Formel  T= ^ x,    worin 

F  die  Ablenkung  durch  den  stetig  fliessenden  Strom,  (e)  die  Basis  der 
natürlichen  Logarithmen,  (x)  den  durch  den  Stromstoss  erzeugten  Aus- 
schlag und  (tmax) 
die  Dauer  dieses  oder 
eines  beliebigen  an- 
dern Ausschlages  unter 
denselben  Umständen 
bedeutet. 

So  fand  Sachs 
einen  Werth  von 
0,00350",  der,  wie  man 
sieht,  mit  dem  von 
Gad  für  das  Muskel- 
element angenom- 
menen Werth  des 
Latenzstadiums  nahe 
übereinstimmt.  Gotch 
bestimmte  dasselbe  an 
Torpedo  bei  5°  C. 
zu  0,012  bis  0,014", 
bei  20*^  C.  dagegen 
zu  nur  0,005".  Stets 
fand  er  diesen  Zeit- 
werth  bei  grossen 
Exemplaren  kleiner 
als  bei  kleinen,  was 
nicht  allein  auf  die 
grössere  Stärke  des 
Schlages  im  ersteren 
Falle  bezogen  werden 
kann.  Schönlein 
fand  bei  indirecter 
Reizung  von  Torpedo- 
präparaten mit  abstei- 
gend gerichteten  Ket- 
tenströmen mittels  des 
Bernstein'schen  Rheo- 
toms  gar  nur  ein 
Latenzstadium  von 
0,0002—0,00025  Se- 
cunden.  Da,  wie  schon 
erwähnt,  nicht  anzunehmen  ist,  dass  zwischen  dem  Moment  der  Ein- 
wirkung eines  Reizes  und  dem-  Beginn  des  der  elektromotorischen 
Folgewirkung  zu  Grunde  liegenden  chemischen  Processes  in  einer  Platte 
des  elektrischen  Organes  wirklich  eine  wenn  auch  noch  so  kurze  Zeit 
verfliesst,  so  muss  man  wohl  die  Thatsache  einer  scheinbaren  Latenz- 
zeit des  Schlages  beim  elektrischen  Organ  lediglich  auf  die  UnvoU- 
kommenheit  unserer  Untersuchungsmethoden  beziehen. 

Wie  das  Latenzstadium ,  so  scheint  auch  die  Dauer  des 
Schlages  der  elektrischen  Organe  im  Allgemeinen  eine  Grösse 
gleicher  Ordnung  mit  der  Muskelzuckung  zu  sein.     Schon  1857  zeigte 


B 


Fig.  273. 


Die  elektrischen  Fische. 


813 


dies  Du  B o i  s - R e y  m o n d  mittels  des  Froschunterbrechers,  indem  er 
dem  Nerv  des  M.  gastrocnemius  vom  Frosch  einen  vom  Schlag  des 
Zitteraalorganes  abgeleiteten  Stromzweig  zuführte,  und  durch  den 
zuckenden  Muskel  den  Bussolkreis  öffnen  Hess;  bei  zunehmender 
üeberlastuug  des  Muskels  gehen  dann  immer  grössere  Anfangsab- 
schnitte, und  wenn  man  andernfalls  durch  die  Zuckung  eine  Neben- 
schliessung zur  Bussole  wegräumen  lässt, 
immer  kleinere  Endabschnitte  des  Schlages 
durch's  Galvanometer.  „Bei  hinreichen- 
der Ueberlastung  ei-reicht  man  einen 
Punkt,  wo  im  ersten  Falle  die  Ablen- 
kung des  Spiegels  durch  den  Schlag  nicht 
mehr  wächst,  im  zweiten  bei  nicht  pola- 
risirbaren  (Ableitungs-)  Sätteln  nur  noch 
ein  schwacher  und  unbeständiger  Rest 
des  Schlages  erscheint."  Später  be- 
stimmte dann,  wie  schon  erwähnt,  avich 
Marey  mittels  des  Pendelmyographions 
die  Schlagdauer  beim  Zitterrochen  zu 
etwa  ^/i4 ".  Nach  DuBois-Reymond's 
Versuchsplan  experimentirte  Sachs  am 
Zitteraal.  Seine  Anordnung  ergiebt  sich 
aus  Fig.  274. 

Dem  im  Wasser  befindlichen  Fisch 
sind  Ableitungssättel  aufgelegt,  von  wel- 
chen Drähte  den  Strom  durch  den  Bus- 
solkreis führen,  in  dem  sich  der  Frosch- 
unterbrecher (G^ii)  befindet.  Im  Fisch- 
troge liegen  ausserdem  zwei  Kupfer- 
elektroden (EUi),  deren  Drähte  sich 
zum  Muskel  (6ri)  des  Froschweckers  und 
zu  dem  (6rii)  des  Froschunterbrechers 
gabeln.  Jener  wird  unmittelbar  gereizt, 
was  die  grosse  Stärke  des  Zitteraalschlages 
erlaubt,  dieser  (mittels  der  Reizungsröhre) 
vom  Nerven  aus.  „Bei  der  in  der  Figur 
abgebildeten  Lage  der  Wippe  bildet  der 
Hebel  des  Unterbrechers  einen  Theil  des 
Versuchskreises.  Die  ausgezogenen  Pfeile 
zeigen  den  entsprechenden  Lauf  des 
Stromes.  Bei  der  anderen  Lage  der 
Wippe  wird  der  Hebel  zur  Nebenleitung ; 
dieser  Stromvertheilung  entsprechen  die  punktirten  Pfeile." 

Eines  anderen,  sehr  mannigfacher  Anwendung  fähigen  Verfahrens 
bediente  sich  neuerdings  Gotch  bei  seinen  zahlreichen  zeitmessenden 
Versuchen  an  Torpedo.  Der  Apparat  ist  im  Wesentlichen  dem 
Du  B 0 i s -  R e y  m 0 n d  'sehen  Federmyographion  nachgebildet.  Drei 
Contacte  (K^  K,,  /ig),  welche  der  Reihe  nach  durch  den  vorüber- 
fliegenden Läufer  geöffnet  wurden,  waren  in  der  Weise  verbunden, 
wie  es  die  beistehende  Fig.  275  zeigt.  {K^)  öffnet  den  Kreis  der 
primären  Spirale  eines  Schlittenapparates,  dessen  Oeffnungsschlag  dem 
isTerven  eines  Organpräitarates  zugeführt  wird.  p]in  entsprechender 
Theil  des  ausgelösten  Schlages  kann  erst  dann  auf  die  Bussole  wirken, 


Fig.  274. 


814 


Die  elektrischen  Fische. 


wenn  durch  Oeffnung  von  {K2)  eine  Nebenschliessung  zum  Bussolkreis 
beseitigt  ist.  Endlich  wird  der  letztere  selbst  (durch  K^)  dauernd 
geöffnet;  so  dass  der  Organschlag  nur  so  lange  auf  die  Bussole  wirkt, 
als  Zeit  verfliesst  zwischen  der  Oeffnung  von  K^  und  /tg.  Der  Läufer 
durchflog  seine  Bahn  so  rasch,  dass  diese  Zeit  bis  auf  0,001 "  verkleinert 
werden  konnte. 


Fij^.  275.  Schema 
der  Versuchsanord- 
iiung'  zur  Bestim- 
mung-  der  Schlag- 
dauer des  Torpedo- 
schlages. 
(Nach  Gotch.) 


U 


Fio-.  276. 


Es  ergab  sich,  dass,  wenn  Ko  0,01"  nach  K^  geöffnet  wurde, 
während j^3  allmählich  von  K2  entfernt  werden  konnte,  die  Wirkung 
auf  das  Galvanometer  schon  ^^/looo"  nach  der  Reizung  des  Nerven 
merklich  wurde  und  nach  -^/looo  voll  entwickelt  ist.  Im  Uebrigen 
hängt,  wie  zu  erwarten  war,  die  Schnelligkeit  der  Reaction  sehr  von 
der  jeweiligen  Temperatur  ab. 


Die  elektrischen  Fische. 


815 


Wie  aus  der  beistehenden  graphischen  Darstelhmg  von  Grotch  (Fig. 
276)  zu  ersehen  ist,  in  welcher  die  Ordinatenwerthe  den  Galvanometer- 
ablenkungen, die  Zahlen  (10,  20,  30  etc.)  der  Abscisse  Tausendstel 
Secunden  und  ihr  Anfang  dem  Reizmoment  entsprechen,  erreicht  der 
Organschlag  nach  dem  Stadium  der  latenten  Reizung  äusserst  rasch 
seinen  maximalen  Werth,  der  umgekehrt  wie  die  Latenzzeit  bei  grossen 
krcäftigen  Exemplaren  (Curve  a)  bedeutend  grösser  ausfallt,  als  bei 
kleineren  (Curve  h).  Viel  langsamer  klingt  die  Wirkung  wieder  ab, 
indem  sie  allmählich  in  eine  Nachwirkung  im  Sinne  des 
Schlages  übergeht,  die  selbst  nach  einmaliger  kurz- 
dauernder Reizung  minutenlang  anhält.  Rund  würde  sich 
die  Dauer  des  Schlages  hiernach  für  kräftige  Thiere  auf  0,04 — 0,06" 
belaufen,  wenn  bei  Zimmertemperatur  mit  OefFnungsinductionsschlägen 
gereizt  wird.  Schön  lein  bestimmte  die  Schlagdauer  zu  0,008"  und 
darunter,  ein  Werth,  der  mit  dem  von  Gotch  bei  directer  Total- 
reizung eines  Säulenbündels  erhaltenen  Zahlen  gut  übereinstimmt. 

Schon  Jolyet  hatte  gelegentlich  bei  seinen  zeitmessenden  Ver- 
suchen ein  Auf-  und  Abschwanken  der  Entladung  des  Organes  bei 
Reizung  der  Nerven  mit  einem  einzelnen  Inductionsschlage  beobachtet 
und  auf  zeitliche  Verschiedenheiten  im  Beginne  des  Schlages  ver- 
schiedener Organtheile  bezogen.  Gotch  konnte  dieselbe  Erscheinung 
auch  subjectiv  wahrnehmen,  wenn  er  den  Nerven  eines  zwischen  den 
Fingern  gehaltenen  Organpräparates  mit  je  einem  raschen  Scheeren- 
schlag  durchschnitt.  In  völlig  überzeugender  Weise  liess  sich  dann 
die  wellenförmige  Gestalt  der  Entladungscurve  mit  mehrfachen  (bis 
zu  4)  Gipfeln  nach  jedem  Einzelreiz  mittels  des  Federrheotoms 
sowohl  an  grösseren  Organstücken,  wie  selbst  noch  an  Bündeln  von 
nur  wenigen  Säulen  feststellen.  Die  folgende  Tabelle  zeigt  den  Ver- 
lauf einer  solchen  Versuchsreihe  und  lässt  erkennen,  dass  etwa  ^/loo" 
nach  dem  ersten  Maximum  der  Entladung  ein  zweites  schwächeres 
und  wieder  ^/loo"  später  noch  ein  drittes  wieder  schwächeres  Maximum 
hervortritt. 


Galvano- 
meter 

Kg -Kg 

0,01" 

bis 
0,0125" 

Kg-K3 

0,0125" 

bis 
0,015" 

K2-K3 

0,015" 
bis 

0,0175" 

Kg — K3 

0,0175" 

bis 

0,02" 

Kg— K3 

0,02" 

bis 

0,0225" 

Kg— K3 

0,0225" 

bis 
0,025" 

Kg-K3 

0,025" 

bis 
0,0275" 

1 

100 

0 

+48 

+367 

+316 

+75 

+  120 

+225 

I.  Max. 

IL  Max. 

Galvano- 
meter 

Kg-Kg 

0,0275" 

bis 

0,03" 

K2-K3 

0,03" 
bis 

0,0325" 

Kg-K3 

0,0325" 

bis 
0,035" 

Kg-K3 

0,035" 

bis 
0,0375" 

Kg— K3 

0,0375" 

bis 
0,04" 

Kg-K3 

0,04" 

bis 

0,0425" 

Kg-K3 

0,0425" 

bis 
0,045" 

1 
lÖÜ 

+212 

+89 

+64 

+98 

+130 

+30 

+24 

I 

III.  Max. 


81  ü  I^ie  elektrischen  Fische. 

Noch  übersichtlicher  tritt  dies  bei  graphischer  Darstellung  hervor 
(Fig.  277). 

Auch  S  c  h  ö  n  1  e  i  n  constatirte  dieselbe  Erscheinung  bei  Unter- 
suchung des  durch  einen  einzelnen  Inductionsstrom  ausgelösten 
Torpedoschlages  mittels  des  Berns  te  in 'sehen  Rheotoms,  wobei  sich 
wieder  ein  zwei-  bis  dreimaliges  Ansteigen  und  Sinken  der  Ausschläge 
zeigte.  „Zumeist,  aber  nicht  immer,  ist  der  erste  Gipfel  höher  als 
der  zweite,  und  wenn  letzterer  der  höhere  ist,  so  sind  die  Unterschiede 
der  Gipfelhöhen  gewöhnlich  kleiner  als  im  andern  Falle.  Der  zwischen 
ihnen  liegende  Einschnitt  ist  sehr  tief  und  reicht  nicht  selten  bis  zur 
Abscisse,  ohne  jedoch  dieselbe  nach  der  andern  Seite  jemals  zu  über- 
schreiten."    Die  Dauer  der  einzelnen  Theilentladungen    ist  nur  wenig 


Fig.  277. 

verschieden.  Bemerkenswerther  Weise  erhält  man  dieselben  mehr- 
gipflichen  Curvenformen  auch  bei  gleichartiger  Reizung  des  Lobus 
electricus,  so  dass  es  fraglich  erscheint,  ob  letzterenfalls  Ganglienzellen 
oder  auch  nur  Nervenfasern  erregt  werden. 

Wirklich  einfache,  eingipfelige  Schlagcurven ,  entsprechend 
einer  einmaligen,  nicht  ose illir enden  Entladung  des  Torpedo- 
Organs  beobachtete  S  c  h  ö  n  1  e  i  n  nur  bei  Reizung  des  Nerven  mit 
einzelnen  absteigend  gerichteten  Stromstössen,  wie  sie  durch  das 
Rheotom  geliefert  werden,  wenn  in  den  Reizkreis  etwa  30  Daniell 
eingeschaltet  sind.  Bei  Reizung  mit  aufsteigenden  Kettenströmen 
fällt  vor  Allem  auf,  dass  die  Entladung  in  der  Regel  viel  später 
beginnt  und  langsamer  anwächst,  als  bei  absteigender  Stromesrichtung. 

Im  Uebrigen  hängt  der  Verlauf  der  Erscheinungen  sehr  von  der 
Länge  der  intrapolaren  Strecke  ab  und  kann  das  Latenzstadium  bei 
40 — 50  mm  Werthe  von  0,0055 — 0,004  Secunden  erreichen.  Bei 
kürzerer  interpolarer  Strecke  hebt  sich  an  der  Schwankungscurve 
häufig  ein   „Vorgipfel"   ab,    „dessen  Latenz   gegen  den  Schlag  bei  ab- 


Die  elektrischen  Fische. 


817 


steigendem  Strome  gelegentlich  Null,  oft  aber  auch  eine  gut  messbare 
Grösse  ist",  und  dessen  Entstehung  Schönlein  darauf  zurückführt, 
dass  durch  die  anelektrotonische  Hemmung  an  der  Anode  bei  jedem 
einzelnen  Stromstöss  (von  0,001 "  Dauer)  nicht  nur  die  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit, sondern  auch  die  Intensität  der  Erregung  vermindert 
Avird.  Es  war  zu  erwarten,  dass  der  durch  Nervenreizung  ausgelöste 
Schlag  eines  Organprcäparates  genügen  würde,  um  ein  zweites,  in  dem- 
selben Kreise  eingeschaltetes  Präparat  direct  zu  erregen.  Wie  die 
beistehenden  schematischen  Zeichnungen  (Fig.  278)  unmittelbar  erkennen 
lassen,  muss  dann  entweder  eine  Summation  oder  eine  Subtraction  der 
Galvanometerwirkungen  erfolgen.  Dies  ist,  wie  die  von  Gotch  mit 
Hülfe  des  Federrheotoms  ausgeführten  Versuche  zeigen,  in  der  That 
der  Fall;    regelmässig  machte    sich  die  betreffende,    durch  den  Schlag 


Fig.  278.     Erregung  eines  Organpräparates  durch  den  Schlag  eines  anderen,  vom 
Nerven  aus  gereizten.     (Nach  Gotch.) 


des  Nerv-Orgau-Präparates  bewirkte  Veränderung  (Verstärkung  oder 
Schwächung)  des  Galvanometererfolges  etwa  0,01 "  nach  dem  Maximum 
des  ersteren  bemerkbar.  Unter  diesen  Umständen  musste  man  daran 
denken,  ob  nicht  eine  Selbsterregung  des  Organes  durch  seinen  eigenen, 
irgendwie  ausgelösten  Schlag  erfolgen  kann  und  vielleicht  immer  er- 
folgt. Gotch  bezieht  in  der  That  die  oben  besprochene  Vielgipflich- 
keit  der  Schlagcurven  bei  Reizung  mit  einzelnen  Oeffnungsinductions- 
schlägen  im  Wesentlichen  darauf,  dass  der  Strom  eines  Theiles  der 
sich  in  Folge  der  Nervenreizung  entladenden  Säulen  andere  zu  einem 
nochmaligen  Schlage  anregt,  so  dass  die  späteren  Entladungen 
gewissermaassen  Analoga  der  secundären  Zuckung  Avären.  Schön- 
lein  macht  gegen  diese  Auffassung  geltend,  dass  dann  wohl  auch 
oscillirende  Entladungen  bei  kurzer  Schliessung  von  Kettenströmen  zu 
erwarten  sein  würden,  was,  wie  erwähnt,  nicht  der  Fall  ist. 


813  Dife  elektrischen  Fische. 


V.    Die  Frage  der  Immunität  der  Zitterflsche  gegen  den 
eigenen  Schlag. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Stärke  der  physiologischen  Wirkungen  des 
Schlages  der  elektrischen  Fische  muss  es  gewiss  in  hohem  Maasse 
befremdlich  erscheinen,  dass  die  mächtigsten  Entladungen,  welche 
Fische  oder  andere  Thiere  in  der  Umgebung  sofort  zu  tödten  im 
Stande  sind,  dem  Träger  der  elektrischen  Batterien  selbst  anscheinend 
nicht  das  Geringste  anhaben,  obschon  „der  Leib  eines  Zitterlisches 
zur  Aufnahme  des  Schlages  seiner  eigenen  Organe  günstiger  angelegt 
ist,  als  der  irgendwie  genäherte  Leib  eines  anderen  Thieres".  (Du  Bois- 
Reymond.) 

Schon  Humboldt  stellte  Versuche  am  Zitteraal  an,  aus  denen  die 
Unemptindlichkeit  der  Thiere  gegen  die  kräftigsten  Schläge  ihresgleichen 
hervorzugehen  schien.  Er  wählte  einen  starken  und  zwei  ganz  schwache 
Zitteraale  und  lagerte  sie  so,  dass  die  beiden  schwachen  Fische  seinem 
eigenen  Körper  den  Schlag  des  starken  Fisches  zuführten.  Die  beiden 
schwachen  Fische  blieben  völlig  unbewegt.  Er  wirft  dabei  die  Frage 
auf,  ob  etwa  die  Haut  ihnen  Schutz  gewähre  gegen  die  elektrischen 
Ströme,  eine  Meinung,  die  in  der  That  vor  Du  Bois-Reymond's 
„vorläufigem  Abriss"  fast  allgemein  verbreitet  war.  Dieser  zeigte 
zuerst  am  Zitterwels,  dass  zwei  bis  auf  ihre  Spitzen  isolirte,  durch 
Mund  und  After  eingeführte  Drähte  bei  beliebiger  Stellung  den  Schlag 
aufnehmen  und  der  Theorie  entsprechend  nach  aussen  leiten,  zum 
Beweise,  dass  wirklich  der  Schlag  durch  den  Leib  des  Fisches  geht, 
was  wunderlicher  Weise  noch  von  deSanctis  1872  bestritten  wurde. 
Ausserdem  erwiesen  sich  die  Zitterwelse  gegen  andere  elektrische 
Schläge  ebenso  wenig  empfindlich  wie  gegen  die  eigenen.  „Wechsel- 
ströme des  Inductoriums,  welche  hiesige  Flussfische  rasch  tödteten, 
spürte  der  Zitterwels  kaum;  nur  legten  sich  seine  Bartfäden  zurück, 
und  er  stellte  sich  mit  seinem  Körper  senkrecht  auf  die  Stromcurven 
kleinster  Dichte;  auch  gab  er  sein  Missfallen  dann  und  wann  durch 
Entladen  seiner  eigenen  Batterien  zu  erkennen."  Einen  sterbenden 
Zitterwels ,  der  sich  in  einem  kleinen  parallelepipedischen  Glastrog 
befand,  den  er  fast  ausfüllte,  reizte  Du  B  o  i  s  -  R  e  y  m  o  n  d  (4  d,  H.  p.  640) 
mit  dem  Schlitteninductorium  bei  übergeschobenen  Rollen  und  zwei 
Grove  im  Hauptkreis,  ohne  dass  die  ruhige  Athmung  aufhörte  oder 
ein  Schlag  erfolgt  wäre.  Ebenso  unempfindlich  erwies  er  sich  dem 
Constanten  Strom  einer  dreissiggliedrigen  Grove'schen  Säule  gegenüber, 
was  um  so  beachtenswerther  ist,  als  man  vielleicht  hätte  daran  denken 
können,  die  relative  Immunität  auf  den  zeitlichen  Vei'lauf  der  Ströme 
zu  beziehen  (etwa  wie  bei  glatten  Muskeln).  Wie  mir  übrigens 
Schönlein  mittheilt,  konnte  er  mit  einem  Inductionsapparat  von 
der  doppelten  der  gewöhnlichen  Grösse,  in  dessen  primärem  Kreise 
4  Bunsen'sche  Elemente  eingeschaltet  waren,  auch  bei  Cephalo- 
poden,  Krebsen  und  verschiedenen  Fischen  nicht  den  ge- 
ringsten Keizeffect  erzielen,  wenn  der  eine  bis  auf  die  Spitze  isolirte 
Poldraht  den  Thieren  bis  auf  1  cm  Distanz  genähert  wurde,  während 
der  andere  Pol  mit  einer  kleinen  Bodenplatte  des  Behälters  ver- 
bunden war. 

Gegen  den  eigenen  Schlag  fand  Sachs  auch  den  Zitteraal  völlig 
immun.     „Zehn  Gymnoten,"   erzählt  er,   „waren  in  der  Mitte  der  Canoa 


Die  elektrischen  Fische.  819 

(Boot)  ruhig  ausgestreckt,  fast  alle  dicht  neben  einander.  Ich  hatte 
meinen  Finger  in  der  Entfernung  von  drei  Fuss  ins  Wasser  getaucht 
und  berührte  den  Rücken  des  grössten  Thieres  unsanft  mit  einem 
Stabe.  Mehrere  urtheilsfähige  Personen  waren  beauftragt,  die  Thiere 
zu  beobachten,  jeder  ein  bestimmtes;  ich  erhielt  trotz  der  grossen 
Entfernung  einen  empfindlichen  Schlag.  Keines  der  Thiere  zeigte 
auch  nur  die  allergeringste  Spur  von  Bewegung"   (4  d  p.  267). 

Gleichwohl  ist,  wie  sich  unmittelbar  aus  dem  Vorhergehenden 
ergiebt,  diese  Immunität  keine  absolute.  B  abuchin  sah  einen  kleinen 
Zitterwels,  der  einen  grösseren  seitlich  mit  Bissen  anfiel,  sogleich  weit 
zurückfahren,  während  gleichzeitig  der  eingetauchte  Finger  einen 
Schlag  erhielt,  und  Steiner,  dessen  Beobachtungen  G.  Fritsch 
bestätigte,  sah  bisweilen  kleine  Zitterrochen,  in  Berührung  mit  grossen, 
bei  dem  Schlage  zucken.  Schönlein  (1.  c)  erM^ähnt,  dass,  wenn 
trächtige  Torpedoweibchen  nach  Entnahme  der  Embryonen  noch  lebend 
übereinander  geschichtet  werden,  niemals  Bewegungen  eines  Einzel- 
thieres  erfolgen.  „Sie  liegen  vielmehr  entweder  alle  schlaff  da  oder 
werden  alle  zusammen  plötzlich  steif,  wie  ein  Frosch,  dem  man  das 
Rückenmark  ausbohrt.  Wenn  das  geschieht,  spürt  man  auch  in  der 
Hand  deutlich  einen  Regen  von  elektrischen  Schlägen,  der  sich  durch 
den  ganzen  Thierhaufen  hindurch  ergiesst.  Hierbei  zucken  Alle 
ohn  e  Ausnahm  e."  Je  frischer  und  gesunder  ein  Thier  (Torpedo) 
ist  (Kennzeichen:  hochgewölbter  Rücken,  geringes  Hervortreten  der 
Conturen  der  Organe),  desto  sicherer  ist  nach  Schön  lein  dai'auf  zu 
rechnen,  dass  es  auf  jeden  Schlag  mitzuckt. 

Da  die  elektrischen  Nerven,  wie  durch  künstliche  Ströme,  so  auch 
durch  den  Organschlag  selbst  erregt  werden,  so  könnte  es  sich  bei  der 
relativen  Immunität  der  Zitterfische  höchstens  um  quantitative 
Unterschiede  in  Bezug  auf  die  Reizschwelle  ihrer  Nerven 
im  Vergleich  zu  den  Nerven  anderer  Thiere  handeln,  für  welche  An- 
nahme auf  den  ersten  Blick  mancherlei  Thatsachen  zu  sprechen 
scheinen,  B  o  1 1  prüfte  seiner  Zeit  vergleichend  den  Nerven  eines  Frosch- 
schenkels und  den  ersten  Spinalnerven  von  Torpedo  bei  tetanisirender 
Reizung  mit  dem  Schlittenapparat  mittels  der  von  Rosenthal  zur 
Bestimmung  des  Unterschiedes  der  Erregbarkeit  von  Nerven  und 
Muskeln  angewendeten  Methode.  Stets  erfolgte  die  Contraction  der 
Froschmuskeln  bei  grösserem,  meist  sogar  bei  viel  grösserem  Rollen- 
abstand als  die  der  Zitterrochenmuskeln.  Hierher  gehört  wohl  auch 
eine  Beobachtung  von  Humboldt,  dem  es  zu  seinem  Erstaunen 
nicht  gelang,  an  blossgelegten  Muskeln  und  Muskelnerven  des  Zitter- 
aales mittels  einer  einfachen  Kette  (Silberzink)  Zuckungen  zu  erzielen, 
obschon  dies  unter  gleichen  Umständen  an  andern  Thieren  gelang. 
Gegen  die  Versuche  von  B oll  hat  neuerdings  Schönlein  berechtigte 
Einwände  erhoben  und  sich  auch  dagegen  verwahrt,  dass  seine 
eigenen,  schon  oben  erwähnten  Erfahrungen  über  anscheinend 
sehr  schwere  Reizbarkeit  der  elektrischen  Nerven  zu  Gunsten  der 
Immunitätslehre  verwerthet  werden.  Jedenfalls  erscheinen  weitere 
vergleichende  Untersuchungen  in  dieser  Richtung  dringend  erforder- 
lich, ehe  daran  gedacht  werden  kann,  eine  ausreichende  Erklärung 
der  anscheinend  weitgehenden  Immunität  der  Zitterfische  gegen  elek- 
trische Entladungen  irgendwelcher  Art  zu  geben.  Dass  eine  solche 
wirklich  vorhanden  ist,  scheint  mir  vor  Allem  aus  dem  Verhalten 
der  stärksten  elektrischen  Fische  (Gymnotus  und  Malopter urus) 


320  Diß  elektrischen  Fische. 

hervorzugehen  j  deren  Schläge  für  andere  Thiere  tödtlich  werden 
können.  An  zum  Theil  sehr  eigenartigen  Erklärungsversuchen  hat  es 
nicht  gefehlt.  So  äusserte  Pflüg  er  seiner  Zeit  den  Gedanken,  es 
möchten  vielleicht  die  Thiere  im  Augenblicke  des  Schlages  ihre  eigenen 
Nerven  vom  Centralorgan  aus  in  einen  dem  Anelektrotonus  ähnlichen 
Zustand  herabgesetzter  Erregbarkeit  versetzen  und  so  gleichsam  gegen 
den  Schlag  stählen  können.  Indessen  würde,  abgesehen  von  anderen 
Gegengründen ,  nicht  einzusehen  sein ,  warum  dann  auch  die  Zitter- 
fische gegen  die  Entladungen  anderer  Individuen,  sowie  gegen  künst- 
liche elektrische  Ströme  „gestählt"  sein  sollten.  Eigens  zur  Prüfung 
des  Gedankens  angestellte  Versuche  von  Du  Bois-Reymond  und 
Boll  haben  denn  auch  durchaus  negative  Resultate  ergeben. 


YI.  Der  aiigel)liche  „Ruhestrom"  der 

Für  die  theoretische  Auffassung  der  Wirkungsweise  der  elektrischen 
Organe  ist  natürlich  die  Frage  von  grossem  Belang,  ob  dieselben 
schon  während  der  Ruhe  in  gesetzmässiger  Weise  elektromotorisch 
wirken,  oder  ob  dies  nur  im  Zustande  der  Erregung  der  Fall  ist. 
Es  kehrt  hier,  wie  man  sieht,  in  veränderter  Form  dasselbe  Problem 
wieder,  welches  in  Bezug  auf  den  Muskel  den  Gegenstand  jenes  schon 
früher  erörterten,  langen  und  heftig  geführten  Streites  zwischen 
Du  Bois-Reymond  und  Hermann  bildete,  der  wohl  endgültig  als 
zu  Gunsten  des  Letzteren  entschieden  angesehen  werden  kann.  Wenn, 
wie  es  feststeht,  gewisse  elektrische  Organe  als  umgewandelte,  einer 
speciellen  Function  angepasste  Muskeln  angesehen  werden  können,  so 
erscheint  es  von  vorneherein  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  Schlag  des 
Organes  nichts  weiter  darstellt,  als  den  „Actionsstrom"  des  „speciali- 
sirten  Muskels",  welcher  letztere  im  Ruhezustande  ebensowenig  nach 
aussen  wirken  dürfte,  wie  es  wirkliche  Muskeln  thun.  In  der  That 
lauten  alle  vorliegenden  Angaben  dahin,  dass  der  Ruhestrom  elektrischer 
Organe,  wenn  überhaupt  vorhanden,  äusserst  schwach  gefunden  Avird. 
Du  Bois-Reymond  selbst  fand  bereits  das  Zitterwelsorgan  in  der 
Ruhe  gänzlich  unwirksam  (4d,  II.  p.  672,  p.  718).  Es  „zeigte  weder 
etwas  dem  Muskelstrom  Aehnliches,  noch  wirkte  es  säulenartig  im 
Sinne  des  Schlages".  Nach  Eckhardt  (1.  c.)  verhält  es  sich  ganz 
ebenso  hinsichtlich  des  Zitterrochenorganes,  an  dem  Zantedeschi 
und  Matteucci  schwache  beständige  Wirkungen  im  Sinne  des  Schlages 
beobachtet  hatten.  Freilich  handelt  es  sich  auch  hier  um  relativ  sehr 
schwache  und  geringfügige  Wirkungen.  Der  Erstere  fand  alle  Punkte 
der  Rückenfläche  dauernd  positiv  gegen  alle  Punkte  der  Bauchfläche 
und  alle  dem  Gehirn  näheren  Punkte  der  ersteren  positiv,  der  letzteren 
negativ  gegen  alle  davon  entfernten.  Matteucci  setzte  einem  Stück 
Organ  im  Multiplicatorkreise  Froschgastrocnemien  entgegen,  von  denen 
sich  einer  als  schwächer,  zwei,  säulenartig  angeordnet,  dagegen  als 
stärker  erwiesen  als  das  Organ.  Er  beobachtete  ausserdem,  dass 
die  dauernden  Spannungsdifferenzen  zwischen  Rücken 
und  Bauch  fläche  „nach  jedem  dem  Präparat  durch  elek- 
trische oder  mechanische  Reizung  der  noch  damit  ver- 
bundenen Nerven  entlockten  Schlage  vorübergehend 
sich  heben"  und  bei  niederer  Temperatur  selbst  nach 
Tagen  nachgewiesen  werden  konnten. 


Die  elektrischen  Fische.  821 

C.  S a c h s ,  für  den  es,  wie  Du  Bois-Reymond  sich  ausdrückt, 
eine  der  vornehmsten  ihm  gestellten  Aufgaben  war,  das  Verhalten 
des  ruhenden  Organes  beim  Zitteraal  zu  prüfen,  beobachtete  bei  Ab- 
leitung von  beiden  Polflächen,  d.  h.  den  Querschnitten  am  Kopf  und 
Schwanzende  der  Säulen  ausnahmslos  einen  Strom  im  Sinne  des 
Schlages  („Organstrom",  Du  Bois-Reymond),  dessen  Kraft  aber 
wieder  durch  ihre  äusserst  geringe  Grösse  auffällt.  Sie  entsprach  ge- 
wöhnlich nur  der  eines  mit  Längs-  und  Querschnitt  aufliegenden 
stärkeren  Nerven  oder  schwächeren  Muskels  (0,15 — 0,03  Dan.),  obschon 
es  sich  um  Stücke  von  etwa  4  cm  Länge  und  6—7  qcm  Querschnitt 
handelte.      Da    auf    4    cm    Organlänge    etwa    400    Fächer    kommen, 

so    beträgt    für    jedes    Fach    die    Organstromkraft    nur  — ^ — -  ~    ' — 

=  0,0000375  —  0,000075  Dan.  Auch  zwischen  zwei  Punkten  des 
natürlichen  Längsschnittes  (d.  h.  dem  natürlichen  seitlichen  Umfang 
des  Organes)  zeigte  sich  ein  schwacher  Strom  im  Sinne  des  Schlages. 
Du  Bois-Reymond  leitete  nach  Ausstanzen  des  elektrischen  Lappens 
beim  Zitterrochen  entweder  von  der  Haut  der  Rücken-  und  Bauch- 
fiäche  des  vertikal  frei  aufgehängten  Fisches  ab  oder  präparirte  mit 
Scheere  und  Messer  vierseitig-prismatische  Organstücke  heraus,  die 
aus  einer  massigen  Zahl  von  Säulen  bestanden  und  an  der  Rücken- 
und  Bauchfläche  durch  ein  quadratisches  Stück  Haut  von  5 — 6  mm 
Seite  begrenzt  waren.  Ersterenfalls  zeigte  sich  stets  ein  Strom  im 
Sinne  des  Schlages.  „Er  war  am  stärksten,  wenn  die  höchsten  Säulen 
am  medialen  Rande  des  Organs  zwischen  den  (Ableitungs-)Bäuschen 
sich  befanden,  und  ward  schwächer  in  dem  Maasse,  wie  die  Bäusche 
dem  dünnei-en,  seitlichen  Rande  des  Organs  sich  näherten"  (4g).  An 
den  ausgeschnittenen  Stücken  Hessen  sich  ausserdem  auch  Spannungs- 
differenzen im  gleichen  Sinne  bei  Ableitung  von  zwei  Punkten  der 
Seitenfläche  des  Prismas  nachweisen,  deren  Grösse  mit  dem  Abstand 
der  Ableitungsstellen  zunahm.  Die  Ablenkungen  waren  aber 
im  einen  wie  im  andern  Falle  sehr  gering  (zwischen  3  und 
23  Scalentheilen) ;  auch  die  elektromotorische  Kraft  war  meist  erheblich 
kleiner  als  die  Nervenstromkraft  bei  Fischen  (0,005  —  0,013  Raoult). 
Für  die  einzelne  Platte  berechnet  hiermit  Du  Bois-Reymond  einen 
mittleren  Kraftwerth  von  0,0000117  Dan.,  also  dreimal  kleiner  als  der 
für  die  einzelne  Zitteraalplatte  bestimmte. 

Wie  vordem  schon  Eckhardt  (11),  so  glaubte  neuerdings  auch 
Gotch  (13)  diesen  schwachen  Wirkungen  während  der  „Ruhe"  keine 
irgend  wesentliche  Bedeutung  beimessen  zu  sollen,  zumal  er  dieselben 
in  Fällen  ganz  vermisste,  wo  es  sich  um  frisch  gefangene,  gänzlich 
unversehrte  Thiere  handelte.  An  zehn  Fischen  erhielt  er  bei  Ab- 
leitung von  zwei  der  Mitte  eines  Organes  entsprechenden,  einander 
gegenüber  liegenden  Punkten  der  Haut  am  Rücken  und  Bauch  sehr 
schwache  und  noch  überdies  wechselnde  Wirkungen,  welche  sechsmal 
im  Sinne  des  Schlages,  viermal  verkehrt  ausfielen,  und  seiner  Ansicht 
nach  nur  durch  Hautungleichartigkeiten  bedingt  gewesen  sein  dürften. 

So  wenig  die  Mögliclikeit,  ja  Wahrscheinlichkeit  einer  Einmischung 
von  Hautströmen,  deren  Vorhandensein  überdies  Du  Bois-Reymond 
selbst  bei  Torpedo  nachwies,  geleugnet  werden  kann,  so  muss  doch 
andererseits  auch  zugegeben  werden,  dass  unter  Umständen  (freilich 
nicht  im  wirklichen  physiologischen  Ruhezustand  der  Organe)  gesetz- 
mässige  Spannungsdifferenzen  auch  am  sonst  ganz  unversehrten  Thier 


822  Die  elektrischen  Fische. 

vorkommen  können  und,  wie  gezeigt  wurde,  thatsächlich  vorkommen, 
welche,  wie  Du  Bois-Reymond  bemerkt,  „von  derselben,  nur  viel 
schwächeren  wirksamen  Anordnung  elektromotorische  Kräfte  ausgehen, 
welche  unter  dem  Einlluss  der  Nerven  oder  bei  unmittelbarer  Reizung 
den  Schlag  erzeugt".  Unter  diesen  Umständen  ist  die  Vermuthung 
naheliegend,  dass  der  „Organstrom"  „eine  Nachwirkung  des  Schlages 
sei,  der  ja  unmerklich  in  ihn  übergeht".  Und  an  einer  anderen 
Stelle  bemerkt  Du  Bois-Reymond  hiermit  in  Uebereinstimmung, 
dass  die  Organstromkraft  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  „als  hinter- 
bleibender Theil  des  Schlages"  anzusehen  sei,  während  „das 
Sinken,  in  Avelchem  man  sie  stets  begriffen  trifft,  die  langsame  Fort- 
setzung der  ungleich  schnelleren,  aber  doch  nicht  ganz  plötzlichen 
Abnahme  des  Schlages"  darstellt.  Endlich  erklärt  Du  Bois-Rey- 
mond die  negativen  Erfahrungen  von  Gotch  betreffs  des  Organ- 
stromes unversehrter,  ruhender  Zitterrochen  damit,  dass  die  betreffenden 
Thiere  „offenbar  seit  längerer  Zeit  nicht  geschlagen  hatten,  die  Nach- 
wirkung der  letzten  Schläge  war  unmerklich  geworden,  und  deshalb 
gaben  sie  keinen  Organstrom". 

Man  sieht  leicht,  dass  hiermit  die  Präexistenz  elektromotorischer 
Kräfte  im  Ruhezustand  der  Organe  thatsächlich  geleugnet  und  die 
etwa  vorhandenen  Wirkungen  ganz  im  Sinne  von  Eckhardt  und 
Gotch  gedeutet  werden. 

Da  die  Herstellung  eines  Organpräparates  naturgemäss  nicht  ohne 
Reizung  desselben  erfolgen  kann,  so  ist  leicht  begreiflich,  dass  die 
Kraft  derartiger  Präparate  bisweilen  recht  erheblich  sein  kann. 
Schon  ein  Schnitt  durch  das  Organ  in  der  Nähe  der  von  Bauch-  und 
Rückenfläche  ableitenden  Elektroden  kann,  wie  Gotch  fand,  einen 
im  verkehrten  Sinne  zufällig  vorhandenen,  sehr  schwachen  Strom  in 
einen  etwas  stärkeren,  im  Sinne  des  Schlages  gerichteten  verwandeln, 
„Durch  weitere  Schnitte,  welche  das  abgeleitete  Stück  so  umgrenzten, 
dass  es  nur  noch  medianwärts  in  seinem  natürlichen  Zusammenhang 
blieb,  wurde  die  Kraft  im  richtigen  Sinne  noch  vermehrt,  zuletzt  bis 
zu  0,0015  Raoult.  Wurde  durch  folgeweise  geführte  transversale 
Schnitte  eine  dadurch  gewonnene  keilförmige  Scheibe  des  Organs 
mehr  und  mehr  verschmälert  und  schliesslich  durch  sagittale  Schnitte 
auf  ein  Bündel  von  nur  wenigen  Säulen  reducirt,  so  fand  sich  nach 
jedem  Schnitte  die  Organstromkraft  etwas  erhöht,  sank  aber  im 
Laufe  weniger  Minuten  wieder  tief  herab."  Die  stärksten 
Wirkungen  erzielte  Gotch  dadurch ,  dass  er  herausgeschnittene 
Säulenbündel  für  ganz  kurze  Zeit  in  heisses  Wasser  tauchte  und  zwei 
Minuten  später  von  Bauch-  und  Rückenfläche  ableitete.  Es  erreichte 
dabei  die  Kraft  (im  Sinne  des  Schlages)  Werthe  bis  zu  0,0226,  ja 
0,0336  Raoult,  sankaberwieder  binnen  einer  Viertelstunde 
auf  ganz  gewöhnliche  Grössen  herab.  Dass  es  sich  dabei 
nicht  etwa  um  hydrothermische  Wirkungen  handelte,  geht  aus  dem 
Umstände  hervor,  dass  auch  oberflächliches  Verbrühen  der  dorsalen 
und  ventralen  Hälfte  der  Säulen  die  Ki'aft  im  Sinne  des  Schlages 
steigerte. 

Auch  am  Rochenschwanz  beobachteten  B  u  r  d  o  n  -  S  a  n  d  e  r  s  o  n 
und  Gotch  (13  c)  bisweilen  einen  im  Sinne  des  Schlages  gerichteten 
„Ruhestrom"  bei  Ableitung  vom  Vordei--  und  Hinterende.  Bei 
Organpräparaten  ist  ein  solcher  meist  viel  kräftiger  entwickelt, 
besonders  nach  momentaner  Einwirkung  hoher  Temperatur  (Eintauchen 


Die  elektrischen  Fische.  823 

in  heisses  Wasser).  Jede  künstliche  oder  natürliche  Reizung  des 
Organes  bedingt  eine  mehr  oder  weniger  ausgesprochene  „Nach- 
wirkung" („after-effect")  im  Sinne  der  Schlagrichtung,  welche  nur 
ganz  allmählich  abklingt. 

Man  kann  nach  diesen  Versuchen  nicht  in  Zweifel  sein,  dass  es 
sich  hier  in  der  That  um  Folgewirkungen  einer  durch  den  (mecha- 
nischen resp.  thermischen)  Reiz  bedingten,  langsam  abklingenden 
Erregung  der  Säulen  des  elektrischen  Organes  handelt,  wobei  der 
Vorgang  in  jeder  Platte  etwa  der  nur  ganz  allmählich  schwindenden 
Negativität  einer  durch  Veratrin  veränderten  und  durch  einen  kurz 
dauernden  Reiz  erregten  Muskelstrecke  vergleichbar  sein  würde.  Es 
scheint  mir  dies  in  gewissem  Sinne  ein  mehr  anschauliches  Beispiel, 
als  das  von  Gotch  gewählte  des  gewöhnlichen  Demarcationsstromes 
des  Muskels,  obschon  ja  im  Grunde  beide  Phänomene  auf  dieselbe 
Ursache,  das  Ueberwiegen  der  Dissimilationsprocesse  über  die  gleich- 
zeitige Assimilation,  zurückzuführen  sind.  Wie  sich  beim  Muskel  die 
Dauererregung  durch  Negativität  der  betreffenden  Strecken  verräth, 
so  äussert  sie  sich  beim  elektrischen  Organ  dadurch,  dass  es  schwach 
elektromotorisch  thätig  wird  in  demselben  Sinne,  in  welchem  es  bei 
Ausübung  seiner  Function  stark  elektromotorisch  wirkt.  Wenn  Du 
Bois-Reymond  diese  Gegenüberstellung  von  Gotch  für  „logisch 
verfehlt"  erklärt,  so  würde  es  nicht  schwer  sein,  die  vorgebrachten 
Gegengründe  zu  widerlegen;  indessen  scheint  dies  kaum  nöthig,  da 
es  sich  ja  doch  im  Grunde  nur  um  die  Frage  handelt,  ob  unter  den 
erwähnten  Umständen  eine  dauernde  Erregung  des  elektrischen 
Organes  im  Sinne  des  Schlages  angenommen  werden  kann  oder  nicht, 
und  Du  Bois-Reymond  selbst  das  erstere  zugiebt.  Denn  wie 
anders  liesse  sich  sonst  der  Satz  verstehen,  dass  der  Organstrom  nur 
„eine  Nachwirkung  des  Schlages  ist,  der  unmerklich  in  ihn  übergeht", 
und  dass  er  „von  derselben  nur  viel  schwächer  wirksamen  Anordnung 
elektromotorischer  Kräfte  ausgeht,  welche  unter  dem  Einfluss  der 
Nerven  oder  bei  unmittelbarer  Reizung  den  Schlag  erzeugt".  Es 
bleibt  dann  aber,  wie  schon  Hermann  (14)  hervorhob,  vom  Stand- 
punkte der  Theorie  des  Letzteren,  soferne  man  sie  auf  die  elektrischen 
Organe  überträgt,  ebensowenig  eine  nennenswerthe  Schwierigkeit 
zurück,  wie  vom  Standpunkte  der  Du  Bois-Reymond 'sehen 
Molekularhypothese.  Im  Uebrigen  will  es  mir  scheinen,  als  ob  die 
von  Du  Bois-Reymond  so  sehr  betonte  Differenz  zwischen 
seiner  und  Gotch's  Auffassung  des  Organstromes  gar  nicht  bestünde, 
indem  die  „Dauererregung"  doch  wohl  auch  nur  als  Folge  der 
Nachwirkung  einer  vorhergehenden  wirksamen  Reizung  zu  deuten  ist. 


VII.    Die  secimdar-elektromotorischen  Erscheinungen 


Ganz  besonderes  Gewicht  legte  Du  Bois-Reymond  auf  das 
Studium  jener  Gruppe  von  elektromotorischen  Wirkungen,  welche, 
auch  an  Muskeln  und  Nerven  als  Nachwirkungen  künstlicher  Durch- 
strömung auftretend,  von  ihm  zuerst  näher  untersucht  Avurden.  Kann 
die  grosse  Bedeutung  derselben  für  die  Theorie  der  Stromeswirkungen 
nicht  bezweifelt  werden,  soweit  es  sich  um  Muskeln  und  Nerven  handelt, 
so  scheint  dagegen  der  viel  complicirtere  Bau  der  elektrischen  Organe 


824  Die  elektrischen  Fische. 

zunächst  weniger  geeignet,  imi  aus  derartigen  Versuchen  weitergehende 
Schlüsse  zu  ziehen,  wenn  man  wie  beim  Muskel  und  Nerv  annehmen 
darf,  dass  jene  Nachwirkungen  theils  als  Erregungs-,  theils  auch  wohl 
als  physikalische  Polarisationserscheinungen  aufzufassen  sind.  Wirkt 
der  eine  Strecke  des  Organes  durchsetzende  Strom,  wie  kaum  zu 
bezweifeln  ist,  polar  erregend,  und  zwar  an  jeder  einzelnen  Platte  für 
sich,  und  sind  etwa  die  bindegewebigen  Scheidewände  der  Sitz  ächter 
(negativer)  Polarisation,  so  sieht  man  leicht,  dass  bei  der  säulenartigen 
Anordnung  jener  Elemente  daraus  innerhalb  jeder  beliebigen  Theil- 
strecke  complicirte  positive  wie  negative  Wirkungen  resultiren  können, 
ja  müssen,  die  zu  entwirren  im  einzelnen  Falle  nur  schwer  gelingen 
wird. 

Als  besonders  bemerkenswerth  hatte  es  Du  Bois-Reymond 
seiner  Zeit  bezeichnet,  dass  das  elektrische  Organ  (des  Zitterwelses) 
neben  negativen,  durch  ächte,  innere  Polarisation  bewirkten  Nach- 
strömen auch  „positive  Polarisation"  zeigt,  welche  Erscheinung 
beim  Muskel  später  als  Folgewirkung  der  (Oeffnungs-)Erregung  gedeutet 
wurde.  Es  liegt  nahe,  eine  analoge  Beziehung  zum  physiologischen 
Erregungsvorgang  auch  beim  elektrischen  Organ  zu  vermuthen.  Ehe 
aber  auf  diesen  Punkt  näher  eingegangen  werden  kann,  erübrigt  es 
zunächst,  die  wesentlichsten  Thatsachen  betreffs  der  Polarisations- 
erscheinungen selbst  zu  schildern. 

Legt  man  an  ein  überlebendes  Stück  Zitterwelsorgan,  welches, 
wie  erwähnt,  für  gewöhnlich  stromlos  erscheint,  unpolarisirbare 
Elektroden  an ,  welche  zugleich  als  ableitende  und  stromzuführende 
dienen,  indem  mittels  einer  geeigneten  Vorrichtung  zunächst  ein 
Kettenstrom  von  bestimmter  Stärke  und  Dauer  zugeführt  und  gleich 
darauf  (nach  Oeffnung  des  polarisirenden  Kreises)  der  Bussolkreis 
geschlossen  wird,  wie  dies  bereits  früher  beim  Muskel  geschildert 
wurde,  so  findet  man  das  Organpräparat  in  der  Regel  vorübergehend 
elektromotorisch  wirksam  geworden  (polarisirt),  und  zwar  bei  geringer 
Stromdichte  ausnahmslos  zunächst  im  Sinne  eines  dem  Reizstrom 
entgegengesetzten,  negativen  Nachstromes.  Diese  negative  Polarisation 
findet  beim  Zitterwelsorgan  nach  beiden  Richtungen  (dem 
Schlage  gleichgerichtet  und  ihm  entgegen)  mit  gleicher  Stärke 
statt  und  wächst  mit  dem  Producte  aus  Dichte  und  Dauer  bis  zu 
noch  unerforschter  Grenze.  Die  positive  Polarisation  tritt, 
wie  beim  Muskel  und  Nerv,  immer  erst  bei  höherer 
Stromdichte  hervor  und  las  st  sich,  wie  Du  Bois-Rey- 
mond zeigte,  rein  am  sichersten  durch  kurzdauernde 
Ströme  zum  Vorschein  bringen,  da  ihre  Stärke  mit  der 
Dauer  des  Reizstromes  minder  schnell  als  die  negative  Polarisation 
wächst.  Sehr  bemerkenswerth  ist  die  ebenfalls  schon  von  Du  Bois- 
Reymond  festgestellte  grössere  Stärke  der  positiven 
Polarisation  im  Sinne  des  Organschlages.  „Unter  denselben 
Umständen,  unter  denen  der  Strom  vom  Schwanz  zum  Kopfe  negative 
Polarisation  erzeugt,  erzeugt  der  Strom  vom  Kopf  zum  Schwänze 
starke  positive  Polarisation"  (4  d  p.  206).  Wie  leicht  ersichtlich,  ist  in 
jedem  Falle,  wo  beide  Polarisationen  gleichzeitig  auftreten,  der 
jeweilig  erscheinende  wirkliche  Nachstrom,  die  algebraische  Summe  der 
beiden  entgegengesetzten  Wirkungen,  und  es  wird  leicht  verständlich, 
dass  unter  Umständen  auch  doppelsinnige  (erst  negative,  dann  positive) 
Ausschläge  oder  Oscillationen  des  Magneten  erfolgen  können. 


Die  elektrischen  Fische.  825 

Ganz  analoge  Ergebnisse  erhielt  aucli  Sachs  an  Organstreifen 
des  Zitteraales,  mit  dem  unwesentlichen  Unterschied,  dass  hier  die 
Polarisation  stets  negativ  begann ,  während  Du  B o i s - R e y m o n d 
am  Zitterwelsorgan  unter  gewissen  Umständen  rein  positive  Ausschläge 
erhielt,  was  aber  wohl  nur  auf  zu  geringer  Dichte  der  Sachs  zur 
Verfügung  stehenden  Ströme  beruhen  dürfte.  (DuBois-Reymond 
sandte  durch  Streifen  Zitterwelsorgan  von  kaum  ^/2qcm  Querschnitt 
den  Strom  von  20  bis  30  Grove.) 

In  der  Folge  fand  Du  Bois- Rey  m  ond  in  Berlin  Gelegenheit, 
derartige  Polarisationsversuche  auch  am  Zitterrochen  anstellen  zu 
können,  ohne  mit  dem  Material  besonders  sparen  zu  müssen  (4g — i). 

Zum  Verständniss  des  Folgenden  sei  bemerkt,  dass  ein  Strom  im 
Sinne  des  Schlages  als  homodrom,  im  entgegengesetzten  Falle  als 
heterodrom,  ein  dem  polarisirenden  Strom  entgegengesetzt  ge- 
richteter Nachstrom  als  relativ  negativ,  andernfalls  als  relativ 
positiv,  ein  Nachstrom  im  Sinne  des  Schlages  (also  homodrom) 
als  absolut  positiv,  andernfalls  als  absolut  negativ  bezeichnet 
wird. 

Du  Bois-Reymond  benützte  prismatische  Stücke  des  Organes, 
welchen  der  polarisirende  Strom  durch  die  mit  Haut  bedeckten  End- 
flächen zugeführt  wurde,  während  zur  Aufnahme  des  Polarisations- 
stromes ein  zweites  Paar  unpolarisirbarer  Elektroden  dienten,  deren 
Thonspitzen  dem  Präparate  zwischen  den  den  polarisirenden  Strom 
zuführenden  Thonschildern  anliegen.  Auch  hier  trat  wieder  unter  ge- 
wissen Umständen ,  namentlich  bei  kurzer  Schliessung 
stärkerer  Ströme,  eine  positive  Polarisation  hervor,  oder  es  erfolgten 
doppelsinnige  Wirkungen :  erst  negative,  dann  positive  Ausschläge. 
Stets  zeigt  sich  die  positive  Polarisation,  wie  auch  beim  Muskel,  ab- 
hängiger vom  Ueberleben,  dem  normalen  physiologischen  Zustand  des 
Präparates.  „Bei  gesunkener  Leistungsfähigkeit  bleibt  zuletzt  nur 
noch  negative  Polarisation  übrig,  doch  dauert  es  lange,  bis  die  positive 
ganz  vermisst  wird.  Ausserordentlich  auffällig  machen  sich  immer 
Beziehungen  der  Polarisation  zur  Richtung  des  polari- 
sirenden Stromes  bemerkbar."  Sachs  hatte  beim  Zitteraal  ge- 
funden, dass  „der  negative  Polarisationsstrom  stets  stärker  im  Sinne 
des  Schlages  erfolgt",  und  auch  Du  Bois-Reymond  konnte  beim 
Zitterrochen  feststellen,  dass  zwar  soAvohl  homodrome  (dem  Schlag 
gleichgerichtete)  wie  h  e  t  e  r  o  d  r  o  m  e  Ströme  (nach  längerer 
Schliessungszeit  oder  an  minder  leistungsfähigen  Präparaten)  relativ 
(d.  h.  in  Bezug  auf  die  Richtung  des  polarisirenden  Stromes)  negative 
Polarisation  geben,  aber  immer  merklich  stärker  bei  Anwendung  eines 
homodromen  Stromes.  Der  scheinbare  Widerspruch  dieser  Befunde 
und  der  ursprünglichen  Beobachtung  von  Du  Bois-Reymond,  nach 
welcher  beim  Zitterwelsorgan  die  negative  Polarisation  sich  als  unab- 
hängig von  der  Stromesrichtung  erweist,  findet  seine  Erklärung  in 
dem  Umstände,  dass  weder  beim  Zitterwels  noch  beim 
Zitterrochen  der  heterodrome  Strom  jemals  an  der 
Bussole  nachweisbare  relativ  positive  Polarisation  er- 
zeugt. Auch  doppelsinnige,  zuerst  relativ  negative,  dann  positive 
Polarisation  kommt  nur  bei  homodromem  Sti'ome  vor.  Nimmt  man 
nun  an,  „dass  beide  Ströme  in  gleichem  Maasse  relativ  negativ  polari- 
siren,  dass  aber  der  homodrome  Strom  sehr  viel  stärker  als 
der   heterodrome  oder   allein    relativ  positiv  polarisirt, 

Biedermann,  Elektrophysiologie,  53 


826 


Die  elektrischen  Fische. 


SO  dass  die  heterodrome  relativ  positive  Polarisation 
(wenn  überhaupt  vorhanden)  stets  durch  die  relativ 
negative  verdeckt  wird",  so  wird  das  Verhalten  aller  drei 
elektrischen  Fische  ein  ganz  übereinstimmendes,  und  es  erscheint  so- 
wohl das  von  Sachs  und  Du  Bois-Reymond  beobachtete  Ver- 
halten der  stärkeren  relativ  negativen  Polarisation  bei  homodromem 
Strom,  wie  auch  das  Du  Bo is-Reymond' sehe  Ergebniss  am  Zitter- 
aal verständlich,  indem  der  auf  die  Bussole  wirkende  resultirende 
Polarisationsstrom  in  verschiedenen  Stadien  eines  Versuches  sehr  ver- 
schiedene Werthe  annehmen  kann.  Die  beistehenden  Curven  sollen 
dazu  dienen,  diese  verwickelten  Interferenzwirkungen  beider  gleich- 
zeitig vorhandenen  Polarisationen,  die  sich  aus  naheliegenden  Gründen 


Fig.  279. 


nicht  wie  beim  Muskel  trennen  lassen,  zu  versinnlichen  (Du  Bois- 
Reymond  4g  p.  36).  Die  Fig.  279  stellt  (nach  D  u  B  o i  s  -  R  e y  m  o n  d) 
abgekürzt  den  Vorgang  bei  einer  Versuchsreihe  dar,  in  der  die  beiden 
Ströme  abwechselnd  durch  ein  Stück  Organ  gesandt  werden.  Die 
Abscissenaxen  sind  die  Zeit.  Die  Ordinatenaxen  in  den  einzelnen 
Abschnitten  (I,  II,  III,  IV,  welche  verschiedenen  Stadien  des  Ver- 
suches entsprechen)  entsprechen  dem  Augenblick  der  Schliessung  der 
Bussole  nach  Oeffnung  der  Säulenkreises, 

Absolut  positive  (in  der  Richtung  des  Schlages,  d.  i.  vom  Bauch 
zum  Rücken  erfolgende)  Polarisation  ist  oberhalb,  absolut  negative 
unterhalb  der  Abscissenaxe  aufgetragen.  Bei  homodromem  Strom 
(obere  Reihe  nach  aufsteigendem  Pfeil)  entspricht  Verlauf  der  Curve 
oberhalb  der  Abscissenaxe  absolut  und  relativ  positiver,  Verlauf 
unterhalb  absolut  und  relativ  negativer  Polarisation.    Bei  hetero- 


Die  elektrisclieu  Fische.  827 

dromem  Strom  (untere  Reihe  nach  absteigendem  Pfeil)  entspricht 
Verlauf  der  Curve  oberhalb  absolut  positiver  (relativ  negativer), 
Verlauf  unterhalb  absolut  negativer,  relativ  positiver  Polarisation. 
Der  auf  die  Bussole  wirkende  resultirende  Polarisationsstrom  ist  in 
jedem  Abschnitt  durch  den  schraffirten  Flächenraum  dargestellt, 
welchen  die  aus  der  algebraischen  Summation  der  beiden  Polari- 
sationen resultirende  Curve  mit  den  Coordinatenaxen  einschliesst". 
Man  sieht,  die  relativ  negative  Polarisation  ist  bei  beiden  Strömen 
gleich  gross,  während  dagegen  die  relativ  positive  Polarisation  ausser- 
ordentlich verschieden  erscheint  (vielleicht  bei  heterodromem  Strom 
ganz  fehlt).  Als  Resultirende  erscheint  am  frischen,  leistungsfähigen 
Präparat  (I)  im  Beginn  des  Versuches  in  beiden  Fällen  absolut  posi- 
tive Polarisation  (die  bei  heterodromem  Strom  zugleich  relativ 
negativ  ist)  von  ungleicher  Grösse.  In  einem  folgenden  Stadium 
kann  sich  dies  Verhältniss  der  Grösse  umkehren  (II);  endlich  wird 
die  homodrome  resultirende  Polarisation  absolut  (und  relativ)  negativ, 
aber  immer  noch  kleiner  als  die  relativ  negative  heterodrome  Polari- 
sation (III),  bis  schliesslich  bei  beiden  Stromesrichtungen  gleiche 
relativ  negative  Polarisation  resultirt  (IV).  Sachs  sah  also  offenbar 
das  Stadium  III ,  Du  Bois-Reymond  am  Zitterwels  das 
Stadium  IV. 

Das  Resultat  dieser,  sowie  späterer  Versuche  von  Gotch  (1.  c.) 
lässt  sich  kurz  dahin  zusammenfassen,  dass  Kettenströme  jeder  Stärke 
und  beliebiger  Richtung,  längere  Zeit  durch  ein  Organpräparat  ge- 
leitet, stets  relativ  negative  Nachströme  geben,  deren  Stärke  bei  homo- 
dromer  Richtung  des  polarisirenden  Stromes  stets  erheblich  grösser 
ist,  als  bei  heterod romer  Richtung.  Stärkere  homodrome  Ströme  von 
einer  gewissen  Schwelle  an  und  nur  kurzdauernd  geben  starke, 
sehr  allmählich  sinkende,  absolut  und  relativ  positive  Nachströme 
(positive  innere  Polarisation,  Du  Bois-Reymond).  Heterodrome 
Ströme  von  gleicher  Stärke  und  Dauer  geben  im  Allgemeinen 
schwächere  relativ  negative,  absolut  positive  Nachströme  (innere 
Polarisation,  Du  Bois-R  eymond). 

Da  die  Stärke  der  relativ  negativen  Nachströme  (der  negativen 
Polarisation),  deren  Ursache  vielleicht  zum  Theil  auf  physikalischer 
innerer  Polarisation  beruhen  dürfte,  vor  Allem  von  der  Schliessungs- 
dauer des  Stromes  abhängt,  so  lässt  sich  erwarten,  dass  die  so  äusserst 
kurzdaueimden ,  inducirten  Ströme  besonders  geeignet  sein  werden, 
um  bei  homodromer  Richtung  eine  gleichsinnige  Nachwirkung 
hervorzurufen. 

Welche  Rolle  die  Schliessungsdauer  auch  bei  Anwendung  von 
Kettenströmen  besitzt,  zeigt  die  folgende  Tabelle  nach  Gotch: 

Momentschluss  (7  Grove)  homodrom;  Galvanometerausschlag  -j-50  (homodrom) 

\"  Schliessung           „                  „                                   „  — 52  (heterodrom) 

Momentschluss           „                  „                                   „  -|-80  (homodrom) 

1"  Schliessung-           „                  „                                   „  — 40  (heterodrom). 

Mittels  eines  noch  zu  beschreibenden  Apparates  schickte  Gotch 
einen  Oeffnungsinductionsschlag  bald  in  der  einen,  bald  in  der  anderen 
Richtung  durch  ein  Organpräparat,  welches  sich  nebst  der  secundären 
Spirale  und  einem  Widerstand  von  10  000  Ohm  im  Bussolkreis  be- 
fand; 0,003"  nach  (Jeffnung  des  primären  Kreises  wirkte  der  volle, 
durch  die  Abgleichung  des  Inductionsstromes  erzeugte  Nachstrom  des 

53* 


828  Die  elektrischen  Fische. 

Präparates  auf  die  Bussole.  In  einem  Versuche  an  einem  Organstreifen 
von  16  mm  Lcänge  7  mm  Breite  und  2  mm  Dicke  ergaben  sich  (mit 
drei  Grove  im  primären  Kreise  und  5  cm  Rollenabstand)  folgende 
Werthe  der  Ablenkung: 

Oeffnungsschlag  heterodrom     .     150  (homodrom) 
„  homodrom  .     .     650  „ 

„  heterodrom      .180  „ 

„  homodrom .     ,     780  „ 

Wie  man  sieht,  ist  der  Reizerfolg  des  horaodromen  Stromes  sehr 
viel  stärker  als  der  des  heterodromen.  Doch  ist  dies,  wie  Gotch 
zeigte,  nicht  ausnahmslos  der  Fall.  Bisweilen  lässt  sich  ein  Unter- 
schied der  (erregenden)  Wirkung  beider  Ströme  nicht  erkennen,  oder 
es  wirkt  sogar  der  heterodrome  Strom  stärker  als  der  homodrome. 
Gotch  ist  geneigt,  dies  mit  der  von  Eckhardt  beobachteten  That- 
sache  in  Zusammenhang  zu  bringen,  dass  vom  Nerven  aus  absteigend 
gerichtete  Inductionsströme  stärker  erregend  wirken,  indem  der 
homodrome  Strom  die  Mehrzahl  der  feineren  Nerven  zweige  in  ab- 
steigender Richtung  durchfliesst.  Die  Ausnahmen  lassen  sich  dann 
vielleicht  darauf  zurückführen,  dass  gelegentlich  grössere  Nerven- 
stämmchen  im  Organpräparat  so  verlaufen,  dass  sie  vom  heterodromen 
Strom  absteigend  durchflössen  werden  und  eine  wirksame  Erregung 
bewirken. 

Mit  der  Stärke  des  Reizstromes  wächst  im  Allgemeinen  der 
galvanische  Reizerfolg  des  homodromen  Stromes  und  lässt  sich  noch 
viele  Stunden  nach  dem  Ausschneiden  des  Präparates  nachweisen, 
verschwindet  dagegen  völlig  nach  Abbrühen  desselben.  Stets  macht 
sich  auch  hier  wie  bei  indirecter  Reizung  ein  sehr  langsames,  minuten- 
lang währendes  Abklingen  der  elektromotorischen  Wii'kung  bemerk- 
bar, wie  denn  überhaupt  die  Entwicklung  und  der  zeitliche  Verlauf 
derselben  durchaus  mit  dem  durch  indirecte  Reizung  ausgelösten 
Schlage  übereinstimmt. 

Wichtig  ist  die  von  Gotch  beobachtete  Thatsache,  dass  par- 
tielle Längsdurchströmung  eines  Organpräparates  einen  Reizerfolg 
(Nachstrom)  nur  allein  innerhalb  der  durchflossenen  Strecke  auslöst, 
nicht  aber  auch  extrapolar.  Es  geht  daraus  überzeugend  hervor,  dass 
die  Erregung  sich  in  der  Längsrichtung  der  Säulen 
nicht  von  einer  Platte  auf  die  andern  überträgt.  Es 
scheint,  dass  jede  Platte  physiologisch  völlig  von  allen  anderen  isolirt 
ist  und  eine  Gesammtentladung  einer  ganzen  Säule  nur 
erfolgen  kann,  wenn  entweder  alle,  dieselbe  versorgen- 
den Nerven  gereizt  w  e  i-  d  e  n ,  oder  wenn  ein  elektrischer 
Strom  alle  Fächer  der  Reihe  nach  durchsetzt. 

Hinsichtlich  der  Deutung  des  absolut  und  relativ  positiven  Nach- 
stromes bei  Anwendung  homodromer  Reizströme  erinnert  Du  B  o  i s - 
Reymond  an  zwei  Möglichkeiten: 

1.  Hesse  er  sich,  wie  auch  der  Ruhe-(Organ-)Strom,  als  Nach- 
wirkung eines  durch  elektrische  Reizung  ausgelösten  Schlages 
auffassen ; 

2.  liesse  er  sich  im  Sinne  der  Molekulartheorie  deuten  „als  Folge 
einer  durch  den  homodromen  Strom  unmittelbar  bewirkten, 
säulenartigen  Anordnung  der  elektromotorischen  Molekeln". 

In  Bezug  auf  die  letzterwähnte  Auffassung  sei  hier  erwähnt,  dass 
Du   B  0 i s - R ey m 0 n d   zur  Erklärung   des   Plattenschlages,   d.  h.  der 


Die  elektrischen  Fische.  829 

elektromotorischen  Wirkung  jeder  einzelnen  Platte  des  Organs,  eine 
Zusammensetzung  derselben  aus  dipolaren  Molekeln  ganz  ähnlicher 
Art  ausnahm  wie  die,  welche  den  elektrischen  Erscheinungen  an 
Muskeln  und  Nerven  zu  Grunde  liegen  sollten.  Im  Zustand  der  Ruhe 
kehren  dieselben  ihre  Pole  entweder  nach  allen  möglichen  oder  zu 
zweien  nach  entgegengesetzten  Richtungen,  so  dass  ihre  Wirkung 
nach  aussen  verschwindet.  Beim  Schlage  dagegen  würden  sie 
„sämmtlich  ihre  positiven  Pole  schnell  der  Fläche  des  Organes  zu- 
kehren, von  welcher  der  positive  Strom  ausgeht".  Die  Molekeln 
denkt  sich  Du  Bois-Reymond  „als  verschiebbare  und  um  ihren 
Schwerpunkt  drehbare  Herde  einer  im  Sinne  ihrer  Axe  stattfindenden, 
chemischen  Thätigkeit,  derselben  etwa,  welche  die  Athmung  der 
Organe  ausmacht".  „Es  können  mehrere  Molekeln  hinter  einander  in 
der  Dicke  der  Platte  liegen,  so  dass  die  Organe  Säulen  von  noch 
ungleich  grösserer  Gliederzahl  wären,  als  sie  schon  vermöge  der  An- 
zahl der  Platten  vorstellen." 

Nimmt  man  beim  Organschlag  einen  plötzlichen  Uebergang  der 
dipolaren  Molekeln  aus  der  „peripolaren"  in  die  „säulenartige"  An- 
ordnung an,  so  stimmt,  wie  man  leicht  sieht,  der  sich  hier  abspielende 
Vorgang  vollkommen  mit  dem  überein,  welchen  D  u  Bois-Reymond 
seiner  Zeit  zur  Erklärung  des  (galvanischen)  Elektro tonus  markhaltiger 
Nerven  angenommen  hatte. 

Wenn  schon  bei  Muskeln  und  Nerven  von  (Drüsen-  und  Pflanzen- 
strömen gar  nicht  zu  reden)  die  Molekularhypothese  sich  als  unfähig 
erweist,  ohne  Hei-anziehung  der  gewagtesten  Hülfshypothesen  die  Ge- 
sammtheit  der  Erscheinungen  zu  erklären,  so  wird  man  in  Hinblick 
auf  die  elektrischen  Organe  als  aus  jenen  hervorgegangenen  Gebilden 
nur  um  so  mehr  Grund  haben,  dieselbe  zurückzuweisen,  zumal  sich, 
wie  mir  scheint,  vom  Standpunkte  der  „ Alterations theorie"  aus  alle 
bisher  bekannten  Wirkungen  der  Organe  ohne  irgend  erhebliche 
Schwierigkeiten  deuten  lassen,  wenn  man  nur  von  der  Grundvor- 
stellung ausgeht,  dass  unter  dem  Einfluss  der  Nervenerregung 
chemische  Differenzen  innerhalb  jeder  Platte  auftreten,  welche  zu 
einer  Spannungsdifferenz  der  beiden  Grenzflächen  in  dem  gegebenen 
Sinne  führen. 

Es  bleibt  daher  für  uns  auch  nur  die,  wie  Du  Bois-Reymond 
selbst  zugiebt  (4  g,  p.  46),  durch  die  stärksten  Gründe  gestützte  An- 
nahme übrig,  dass  die  absolut  und  relativ  positive  Polari- 
sation der  elektrischen  Organe  durch  den  homodromen 
Strom  nichts  weiter  ist,  als  die  Nachwirkung  des  durch 
denselben  ausgelösten  Schlages. 

Es  hat  sogar  grosse  Schwierigkeit,  den  homodromen  positiven 
Nachstrom  nicht  als  ein  Abklingen  einer  vorhergehenden  Erregung 
anzusehen,  selbst  wenn  man  sich  auf  den  Standpunkt  der  Molekular- 
hypothese stellen  wollte.  Da  dieser  zu  Folge  der  Schlag  an  sich 
„durch  säulenartige  Anordnung  elektromotorischer  Molekeln"  erklärt 
wird,  so  muss  man,  wie  Du  Bois-Reymond  selbst  hervorhebt, 
fragen,  „worin  denn  diese  Anordnung  und  die  durch  den  homo- 
dromen Strom  unmittelbar  erzeugte,  der  absolut  positiven  Polarisation 
entsprechende  sich  von  einander  unterscheiden  sollen,  weshalb  nicht 
letztere  stets  zu  einem  Schlag  ausarte".  Wenn  Du  Bois-Reymond 
in  der  That  an  die  Möglichkeit  denkt,  „dass  es  zwei  Zustände  geben 
könne,  welche,  obschon  beide  mit  säulenartiger  Anordnung  der  Molekeln 


830  Die  elektrischen  Fische. 

verknüpft  und  in  ihrer  äusseren  Wirkung  einerlei,  im  Innern  der 
elektrischen  Platten  verschieden  sind",  deren  einer  dem  Schlag, 
der  andere  der  absolut  positiven,  horaodromen  Polarisation  entspreche, 
so  scheint  mir  hier  eine  unvergleichlich  viel  grössere  Schwierigkeit 
vorzuliegen,  als  sich  vorzustellen,  dass,  wie  nach  Ablauf  einer  Muskel- 
zuckung am  Orte  der  directen  Reizauslösung,  noch  lange  galvanische 
Veränderungen  (Negativität)  als  Nach-  oder  richtiger  Fortwirkung 
der  Erregung  erkennbar  bleiben,  so  auch  am  elektrischen  Organ  die 
wirkliche  Entladung  (der  Schlag)  in  einem  gleichsinnigen  Strome 
abklingt. 

Man  wird  Du  Bois-Reymond  ohne  Weiteres  zugeben  können, 
dass  „nicht  jede  absolut  positive  Wirkung  Schlag  ist",  sowie  ja 
auch  nicht  jede  Muskelerregung,  wenn  sie  auch  galvanometrisch  nach- 
weisbar ist,  zu  einer  sichtbaren  Contraction  (Zuckung)  führt;  an 
frischeren  Präparaten  sah  Du  Bois-Reymond  bei  seinen  Polari- 
sationsversuchen oft  zuerst  eine  ungemein  starke  Wirkung  erfolgen, 
welche  die  Scala  aus  dem  Gesichtsfelde  schleudert,  und  in  der  man 
zweifellos  die  Nachwirkung  eines  Schlages,  wenn  nicht 
dessen  letzte  Theile  selber  erkennt.  „Dies  Phänomen,"  so  fährt 
DuBois-Reymond  fort,  „sieht  aber  ganz  anders  aus  als  die  ge- 
wöhnliche absolut  positive  Polarisation,  die  man  bei  öfterer  Wieder- 
holung des  Versuches  am  nämlichen  Präparat  unter  denselben  Um- 
ständen erhält,  indem  es  keine  der  ursprünglichen  Stärke  proportionale 
Nachhaltigkeit  zeigt."  Dies  gilt  aber  ebensowenig  hinsichtlich  der 
mechanischen  und  galvanischen  Folgewirkungen    der  Muskelerregung. 

Ist  der  absolut  positive  (homodrome)  Nachstrom  in  den  bisher  er- 
wähnten Versuchen  als  Nachwirkung  der  Erregung  des  Organpräpa- 
rates durch  den  homodromen  Strom  aufzufassen,  so  war  zu  erwarten, 
dass  er  auch  nach  kurzdauerndem  Tetanisiren  mit  Wechselströmen  in 
grosser  Stärke  auftreten  müsste.  Um  die  durch  die  Ungleichheit  des 
zeitlichen  Verlaufes  des  Schliessungs-  und  Oeffnungsschlages  der  ge- 
wöhnlichen Schlittenapparate  bedingten  Störungen  zu  vermeiden,  be- 
diente sich  Du  Bois-Reymond  einer  Saxton' sehen  Maschine, 
welche  Reihen  völlig  congruenter  Wechselströme  lieferte.  „Der  Erfolg 
war  sehr  einförmig:  Gleichviel,  wie  die  Enden  der  rotirenden  Rollen 
mit  Rücken-  und  Bauchfläche  der  Präparate  (vom  Zitterrochen)  ver- 
bunden wurden  und  gleichviel,  wie  lange  der  Tetanus  dauerte",  es 
zeigte  sich  stets  nur  ein  absolut  positiver  Nachstrom, 
„an  frischen  Präparaten  von  solcher  Stärke,  dass  unter  den  gegejbenen 
Versuchsbedingungen  die  Scala  aus  dem  Gesichtsfelde  verschwand, 
dann  schwächer  und  schwächer". 

Mit  der  positiven  homodromen  Polarisation  hängt,  wie  es  scheint, 
aufs  Innigste  der  sehr  auffallende  Unterschied  der  relativen 
Stärke  des  homodromen  und  heterodromen  Reiz  Stromes 
im  elektrischen  Organ  zusammen,  welcher  Du  Bois-Reymond 
schon  bei  seinen  ersten  Polarisationsversuchen  am  Zitterwelsorgan  auf- 
fiel. „An  frischen  Streifen  war  stets  der  absteigende  (beim  Zitterwels 
homodrome)  Strom  bedeutend  stärker,  als  der  aufsteigende  (heterodrome), 
im  Verhältniss  von  100  :  112,  116,  ja  sogar  125.  An  gekochten  und 
an  absterbenden  Streifen  verschwand  der  Unterschied."  Noch  auf- 
fälliger machte  sich  dieselbe  Thatsache  später  an  Präparaten  vom 
Zitterrochen  bemerkbar,  wo  der  homodrome  Strom  (von  30  Grove) 
mehrmals    über    doppelt    so    stark    erschien    als    der   heterodrome. 


Die  elektrischen  Fische.  831 

Dasselbe  tritt  bei  Reizung  mit  inducirten  Strömen  noch  sehr  viel 
deutlicher  hervor,  wobei  sich  zugleich  sehr  klar  die  Abhängigkeit 
der  scheinbaren  Irreciprocität  der  Leitung  im  elek- 
trischen Organ  von  der  Strom  dichte  geltend  macht.  D  u 
Bois-Reymond  „sandte  die  Oeffnungsschläge  des  Schlitteninduc- 
toriums,  dessen  primäre  Rolle  mit  Stäben  gefüllt  war,  von  Hautfläche 
zu  Hautfläche  durch  ein  (Zitterrochen-)Präparat ,  welches  zwischen 
den  Thonschilden  der  Zuleitungsgefässe  ruhte.  In  demselben  Kreis 
befand  sich  die  Bussole".  Je  ein  Schlag,  durch  Oeffnen  des  Queck- 
silberschlüssels erzeugt,  traf  das  Präparat  abwechselnd  in  homodromer 
und  heterodromer  Richtung,  In  der  folgenden  Tabelle  bedeutet  RA 
den  Rollenabstand,  die  Zahlen  entsprechen  den  auf  5000  Win- 
dungen in  20  mm  Abstand  vom  Spiegel  der  Bussole  reducirten  Aus- 
schlägen. 

RA  =  0  t  501     t  215     I  501  J  215  ;  453  t  215     I  477     \  191 

RA  =  10  cm  t    25     J    28  J    27  J    28  J    27     I    27 

RA  =  15  cm  J      7  t      7  J      7  J      7 

RA  =  0  I  453  I  227 

Man  sieht,  wie  über  eine  gewisse  Grenze  der  Strom- 
dichte hinaus  der  homodrome  (J)  Strom  viel  stärker  erscheint  als 
der  heterodrome  (J). 

Es  darf  nicht  unbemerkt  bleiben,  dass,  wie  schon  erwähnt,  auch  die 
„positive  Polarisation"  gleiche  Abhängigkeit  von  der  Dichte  des  polari- 
sirenden  (homodromen)  Stromes  zeigt.  Wie  jene  ferner  um  so  stärker 
erscheint,  je  länger  die  zwischen  den  ableitenden  Thonspitzen  be- 
findliche Säulenstrecke  und  demgemäss  die  Zahl  der  polarisirten 
Platten  ist,  so  tritt  auch  der  Unterschied  in  der  Stärke  des  homodromen 
und  heterodromen  Stromes  um  so  deutlicher  hervor,  je  grösser  die 
Spannweite  der  den  Strom  zuführenden  Elektroden  an  der  Seitenfläche 
eines  Organpräparates  ist,  so  dass  man  sagen  kann,  die  scheinbare 
Irreciprocität  der  Leitung  wächst,  wie  die  positive  Polarisation,  mit  der 
Länge  der  durchströmten  Säulenstrecke.  Auch  in  dem  Punkte  besteht 
Uebereinstimmung,  dass  die  Ueberlegenheit  des  homodromen  Stromes 
bei  Anwendung  von  Inductionsschlägen  oder  kurzdauernden  Ketten- 
strömen sehr  viel  deutlicher  hervortritt,  als  bei  längerer  Schliessungs- 
dauer. Beide  Erscheinungen  sind  ferner  an  das  Leben  geknüpft,  und 
am  gesottenen  oder  spontan  abgestorbenen  Präparat,  sowie  bei  querer 
Durchströmung  nicht  mehr  nachweisbar.  Dem  ungeachtet  soll  nach 
Du  Bois-Reymond  der  Unterschied  der  Stromstärken  bei  homo- 
und  heterodromer  Richtung  nicht  auf  ungleicher  elektromotorischer 
Kraft  im  einen  und  im  andern  Falle  beruhen,  indem  sich  der  relativ 
und  absolut  positive  Nachstrom  zum  homodromen  polarisirenden  Strom 
hinzufügt,  sondern  thatsächlich  auf  wirklicher  Irreciprocität,  d.  h. 
auf  ungleichem  Widerstand  in  beiden  Richtungen,  indem 
das  Organ  im  Sinne  des  Schlages  besser  als  im  andern 
leitet.  Es  lässt  sich  nun  nicht  verkennen ,  dass  man  sich  zu  der 
Annahme  einer  solchen  Art  der  Leitung,  „zu  welcher  bisher  nirgends 
ein  Seitenstück  bekannt  ist",  ohne  die  allerzwingendsten  Gründe  kaum 
wird  verstehen  wollen.  Nachdem  alle  Versuche,  eine  Entscheidung 
herbeizuführen,  nur  gezeigt  hatten,  dass  es  „trotz  allem  Anschein  nicht 
nöthig  ist,  zur  Erklärung  des  Thatbestandes  irreciproken  Widerstand 
anzunehmen",    glaubt    Du    Bois-Reymond    schliesslich    zwingende 


832 


Die  elektrischen  Fische. 


Gründe  hierfür  in  von  ihm  ausgeführten  Maassbestimmung-en  des 
Leitungswiderstandes  des  elektrischen  Organes  (von  Zitterrochen)  ge- 
funden zu  haben.  Es  sollte  vergleichsweise  der  Widerstand  gleich 
langer  und  gleich  dicker  prismatischer  Stücke  des  elektrischen  Organes, 
ferner  des  Froschmuskels  (parallel  der  Faserung)  und  von  Salzlösung 
(Seewasser)  verglichen  werden.  Zu  dem  Zwecke  wurden  die  betreffenden 
Körper  in  Glasröhren  von  gleichen  Dimensionen  eingeschlossen  und 
der  Länge  nach  durchströmt.  Der  Widerstand  des  Kreises,  in  welchem 
sich  nebst  dem  gefüllten  Rohre  eine  Bussole  befand,  wurde  gemessen 
durch  die  reciproke  Grösse  des  Ausschlages  des  Bussolspiegels,  den 
der  Oeffnungsstrom  eines  Schlitteninductoriums  erzeugte.  Es  ergab 
sich,  dass  ein  durch  die  Glasröhre  gezogenes  Organpräparat  selbst  bei 
homodromer    Durchströmung    in    der    Längsrichtung    der    Säulen    er- 


< ^ 


Äo  So  Si 


Fig.  280. 


heblich   schlechter  leitet,  als  Froschmuskel  parallel  der  Faserung  oder 
als  Seewasser  unter  denselben  Bedingungen. 

Würde  nun,  so  folgert  Du  Bois-Reymond,  die  Ueberlegenheit 
homodromer  Ströme  auf  positiver  Polarisation  beruhen  —  auf  einer  addi- 
tioneilen elektromotorischen  Kraft,  die  unter  Umständen  bis  zu  40  Grove 
betragen  kann  — ,  so  müssten  die  Organpräparate  im  Vergleich  zum 
Muskel  oder  zu  physiologischer  Kochsalzlösung  anscheinend  unver- 
gleichlich besser  leiten,  und  ihr  Widerstand  müsste  dem  entsprechend 
„scheinbar  gewaltig  zunehmen",  wenn  sie  mit  ihren  Lebenseigenschaften 
die  positive  Polarisirbarkeit  einbüssen.  Beides  ist  aber  nach  Du  Bois- 
Reymond's  Versuchen  nicht  der  Fall,  vielmehr  zeigte  sich  stets  das 
Gegentheil.  Ohne  diesen  Umstand  zu  berücksichtigen,  hinsichtlich 
dessen  es  schwer  ist,  sich  ohne  eigene  Untersuchungen  zu  äussern, 
versuchte  G  o  t  c  h ,  dem  sich  neuerdings  auch  S  c  h  ö  n  1  e  i  n  völlig 
anschloss ,  die  Annahme  irreciproker  Leitung  direct  experimentell 
zu  widerlegen.  Er  bediente  sich  eines  dem  „Federmyographion"  nach- 
gebildeten   Apparates,    in    welchem    der    vorbeifliegende    Läufer    suc- 


Die  elektrischen  Fische.  833 

cessive  drei  Contacte  löste,  von  denen  der  erste  (Fig.  280  Si)  den  Kreis 
der  primären  Spirale  eines  Schlittenapparates  üöiiet,  der  zweite,  S2,  eine 
Nebenschliessung  zur  Bussole  beseitigt,  auf  welche  nun  erst  der  etwaige 
Strom  des  Organpräparates  wirken  konnte,  und  endlich  der  dritte,  S3, 
den  Bussolkreis  endgültig  wieder  öffnet,  so  dass  die  Wirkung  auf  das 
Galvanometer  nur  so  lange  dauern  konnte,  als  zwischen  der  Lösung 
der  Contacte  S2  und  ^§3  Zeit  verfliesst.  Diese  betrug  in  den  ersten 
Versuchen  von  Gotch  0,02  See.  Wurde  nun  der  Contact  S2  ganz 
nahe  an  Si  gerückt,  so  dass  die  Nebenschliessung  zur  Bussole  fast  im 
selben  Augenblick  geöffnet  wird,  wie  der  inducirende  Kreis,  so  zeigte 
dieser  sowohl  bei  homod romer  wie  bei  heterodromer 
Richtung  gleiche  Stärke.  Dies  Resultat  lässt  sich  offenbar  nur 
auf  den  Umstand  beziehen,  dass  bei  Gotch's  Versuchen  der  Galvano- 
meterkreis nach  dem  Augenblick  der  Reizung  nur  ganz  kurze  Zeit 
geschlossen  blieb,  während  sich  bei  Du  Bois-Reymond's  Verfahren, 
ausser  dem  Reizstrom  selbst,  stets  auch  der  ganze  Nachstrom  des 
Präparates  durch  die  Bussole  ergoss.  Ersterenfalls  konnte  sich  daher 
dem  homodromen  Inductionsschlag  der  durch  ihn  bewirkte,  gleich- 
sinnige Nachstrom  (die  positive  Polarisation  im  Sinne  Du  Bois- 
Reymond's  nicht  hinzuaddiren ,  da  dieser  sich  nach  Gotch  erst 
nach  0,05"  entwickelt. 

Gotch  hat  diese  Untersuchungen  später  noch  weiter  ausgedehnt 
(1.  c),  indem  er  mittels  desselben  Apparates  die  Schliessungszeit  des 
Bussolkreises  vom  Augenblick  der  Reizung  ab  noch  feiner  abstufte. 
Es  stellte  sich  in  Uebereinstimmung  mit  den  schon  erwähnten  ersten 
Befunden  heraus,  dass,  wenn  die  Schliessungszeit  des  Galvanometer- 
kreises soweit  verkürzt  wurde,  dass  nur  der  Inductionsstrom  allein 
die  Bussole  beeinflussen  konnte  (S^  —  ^3  =  0"  —  0,0025"),  kein 
Unterschied  der  durch  den  homo-  und  heterodromen  Strom  be- 
wirkten Ablenkungen  hervortrat,  einen  Augenblick  später  (S2  —  ^^3 
=  0,0025  —  0,005")  beginnt  die  durch  den  Schlag  ausgelöste  elektro- 
motorische Wirkung  des  Organpräparates  sich  geltend  zu  machen  (als 
homodromerNachstrom),  die  nun  mit  weiterem  Wachsen  der  Schliessungs- 
zeit ihrerseits  rasch  zunimmt.  Der  Anschein  irreciproker 
Leitung  würde  demnach  nur  dann  entstehen,  wenn  die 
Wirkung  des  erregenden  In  du  ctions  Schlages  auf  die 
Bussole  sich  mit  der  der  ausgelösten  Erregung  des 
Organpräparates  (der  positiven  Polarisation  Du  Bois- 
Reymond's)  combinirt. 

Zu  Gunsten  dieser  Anschauung  sprechen  auch  in  sehr  über- 
zeugender Weise  die  Resultate  von  Versuchen  über  den  Einfluss 
wechselnder  Temperatur  auf  die  Folgewirkungen  der 
directen  Erregung  von  Organpräparaten.  Mittels  seines 
Federrheotoms  konnte  Gotch  leicht  zeigen,  dass  die  Stärke  und 
insbesondere  der  zeitliche  Verlauf  des  Reizerfolges  bei  Anwendung 
einzelner  homo-  und  heterodromer  Inductionsströme  ganz  wesentlich 
von  der  Temperatur  beeinflusst  wird,  und  zwar  in  dem  Sinne,  wie  es 
von  vorneherein  zu  erwarten  war,  wenn  es  sich  um  die  Auslösung 
einer  Erregung  handelt.  Wie  aus  einer  Vergleichung  der  bei- 
stehenden Curven  (Fig.  281)  hervorgeht,  welche  eine  graphische  Dar- 
stellung der  betreffenden  Versuchsresultate  geben,  indem  die  Ordinaten 
den  Galvanometerablenkungen,  die  Abscissenwerthe  der  Zeit  nach  dem 
Momente  der  Reizung  (bei  0)  entsprechen,  wird  der  an  sich  geringere 


834 

Die  elektrischen  Fische. 

150  c. 

30  C. 

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36» 

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0 

' 

n 

Fig.    281.      Graphische    Darstellung    des    Schlagverlaufes    bei    directer    Reizung    eines 

Organapparates  (Torpedo)  mit  je  einem  homodromen  (  +  )  und  einem  heterodromen  ( — ) 

Inductionsschlag   bei  15 "   und  3  °  C.     Der    schattirte    Cnrvenabschnitt    entspricht   dem 

reizenden  Inductionsstrom.     (Nach  Gotch.j 


Die  elektrischen  Fische. 


835 


Rei'zerfolg  am  abgekühlten  Präparat  ausserordentlich  verzögert  und 
beginnt  erst  lange  nach  der  Abgleichung  des  Inductionsstromes  an  der 
Bussole  merklich  zu  werden,  so  dass  ein  langes  „Latenz Stadium" 
entsteht,  während  dessen  Dauer  die  Schliessung  des  Bussolkreises 
erfolglos  bleibt.  Man  sieht  leicht,  dass  es  in  Folge  dessen  am  abge- 
kühlten Präparate  verhältnissmässig  viel  leichter  gelingen  muss,  die 
Wirkung  des  Inductionsstromes  auf  das  Galvanometer  von  der  des 
Reizeffectes  (der  angeblichen  positiven  Polarisation)  zu  trennen  und 
auf  diese  Weise  festzustellen,  ob  wirklich  Irreciprocität  der  Leitung 
besteht  oder  nicht.  In  der  That  vermochte  Gotch  nachzuweisen,  dass 
bei  derselben  Schliessungszeit  des  Bussolkreises  bei  höherer  Temperatur 
(22*^  C.)  scheinbare  Irreciprocität  hervortritt,  während  dasselbe  abge- 
kühlte Präparat  unter  sonst  gleichen  Umständen  den  Inductionsstrom 
in  beiden  Richtungen  ganz  gleich  gut  leitet,  wie  folgende  Tabelle  zeigt : 


Temperatur 

Stromesrichtung 

Schliessungszeit 

^2 ^3                   1                    S2 — S3 

0"- 0,005"                  0"-0,01" 

22«  C. 

J  homodrom 
1  heterodrom 

+338 
—290 

+475 
-  12 

8«  C. 

1  homodrom 
\  heterodrom 

+270 
—270 

+380     ■ 
—174 

Ebensowenig  Grund  zur  Annahme  irreciproker  Leitung  liegt  bei 
dem  minder  differenzirten  elektrischen  Organ  von  R  a  j  a  vor.  Bei 
directer  Reizung  eines  herauspräparirten  Organstreifens,  mit  einem 
einzelnen  Inductionsschlage,  erfolgt  nach  einem  Intervall  von  etwa 
0,005  See.  eine  einmalige  Entladung,  wobei  die  Richtung  des  Reiz- 
stromes ganz  gleichgültig  ist.  Nur  wenn  die  Schliessung  des  Bussol- 
kreises zu  einer  Zeit  erfolgt,  wo  bereits  der  Organschlag  erfolgt  ist,  tritt 
auch  hier  wieder  in  Folge  der  algebraischen  Summation  desselben  zum 
Reizstrom  der  Anschein  der  Irreciprocität  hervor.  Wenn  die  Richtung 
des  Inductionsstromes  mit  der  des  Schlages  übereinstimmt,  wächst  die 
Ablenkung  mit  der  Schliessungsdauer,  während  sie  im  andern  Falle 
abnimmt  und  eventuell  umgekehrt  erscheint  (Gotch  13c).  Unter 
diesen  Umständen  auf  die  Betrachtungen  näher  einzugehen,  welche 
Du  Bois-Reymond  bezüglich  der  teleologischen  Bedeutung  der  von 
ihm  statuirten  „irreciproken  Leitung"  der  elektrischen  Organe  anstellte, 
dürfte  kaum  am  Platze  sein. 


VIII.  Zur  Theorie  des  Zitterfischschlages. 

Ohne  hier  nochmals  auf  jene  älteren,  zum  Theil  sehr  naiven  An- 
schauungen zurückzukommen,  welche  bereits  in  der  Einleitung  zu 
diesem  Capitel  in  Kürze  besprochen  wurden  und  vom  Standpunkte 
unserer    gegenwärtigen    Kenntnisse    einer    ernsten    Widerlegung   nicht 


836  Die  elektrischen  Fische. 

bedürfen ,  soll  nur  noch  einiger  neueren  Theorien  des  Schlages  der 
elektrischen  Fische  gedacht  werden,  die  zwar  auch  als  widerlegt 
gelten  dürfen,  aber  unser  Interesse  doch  noch  in  Anspruch  nehmen, 
weil  sie  zeigen,  wie  man  die  im  Gebiete  der  Muskel-  und  Nerven- 
physiologie herrschenden  Lehren  jeweils  auch  den  elektrischen  Organen 
anzupassen  bestrebt  war. 

Im  Jahre  1873  erörterte  Boll  die  Möglichkeit,  „den  Schlag  des 
elektrischen  Organes  allein  durch  die  die  Innervation  begleitende 
negative  Schwankung  des  Nei'venstromes  zu  erklären.  Wenigstens 
müsste  bei  dieser  Anordnung  im  Momente  der  Innervation  die  Rücken- 
fläche der  elektrischen  Platte  (beim  Zitterrochen)  positiv,  die  Bauch- 
fläche negativ  elektrisch  werden,  was  in  der  That  der  Fall  ist".  Die 
freie  Endigung  der  Nervenfasern  innerhalb  der  Platten  lege  die  Frage 
nahe,  „was  unter  diesen  Umständen  dann  schliesslich  aus  der  negativen 
Schwankung  des  Nervenstromes  werden  muss,  die  den  Erregungs- 
vorgang innerhalb  der  Nervenfaser  jedenfalls  doch  v/ohl  bis  an  das 
äusserste  peripherische  Ende  begleitet,  und  ob  die  in  den  elektrischen 
Platten  von  Torpedo  (nicht  von  Malopterurus)  durch  die  anato- 
mischen Verhältnisse  der  Nervenverästelung  bedingte,  mehr  als  millionen- 
fache Multiplication  dieser  Stromschwankung  nicht  vielleicht  aus- 
reichend   befunden   wird,    den    Schlag    des  Zitterrochen   zu  erklären'". 

Wie  Du  Bois-Reymond  ausführt  (4  e  p,  276),  setzt  aber  diese 
Hypothese  vor  Allem  die  Existenz  eines  Ruhestromes  voraus,  welcher 
durch  die  nach  Art  künstlicher  Querschnitte  wirkenden  „natürlichen" 
Querschnitte  der  Nerven  in  den  Platten  verursacht  sein  würde  und  dessen 
Richtung  demgemäss  der  des  Schlages  entgegengesetzt  sein  müsste. 
Statt  eines  solchen  dauernd  vorhandenen  Stromes,  dessen  Kraft  der 
des  Schlages  entsprechen  müsste,  wenn  bei  der  negativen  Schwankung 
der  Nervenstrom  gerade  verschwände,  finden  sich  nur  unwesentliche 
Spannungsdiff"erenzen  während  der  Ruhe,  und  der  daraus  resultirende 
„Organstrom"  hat  immer  die  Richtung  des  Schlages,  als  dessen  Nach- 
wirkung wir  ihn  oben  kennen  lernten.  Du  Bois-Reymond  be- 
zeichnet es  als  „keine  schlimme"  Hypothese,  wenn  man,  um  dies  zu 
erklären,  annehmen  wollte,  „dass  die  Nervenquerschnitte  mit  einer 
parelektronomischen  Schicht  überzogen  seien,  deren  elektromotorische 
Thätigkeit  die  ihrige  nicht  bloss  aufhebt,  sondern  sogar  etwas  über- 
wiegt, und  welche  an  der  negativen  Schwankung  nicht  Theil  nimmt. 
Im  Augenblick  des  Schlages  verschwände  durch  die  negative  Schwankung 
die  Nervenstromkraft ,  und  der  Schlag  käme  zu  Stande  durch  das 
Freiwerden  der  Kraft  der  parelektronomischen  Schicht". 

Indessen  würde  sich  selbst  vom  Standpunkte  der  Molekulartheorie 
aus  eine  solche  Annahme  wegen  der  zweifellos  sehr  bedeutenden 
elektromotorischen  Kraft  des  Zitterfischschlages  verbieten ,  ganz  abge- 
sehen davon,  dass  die  Boll'sche  Hypothese  auf  den  Zitterwels  über- 
haupt nicht  passt.  Wie  die  folgenden  Erörterungen  zeigen  werden, 
handelt  es  sich  selbst  beim  Zitterrochen,  geschweige  denn  bei  den 
anderen  kräftigeren  Zitterfischen  um  sehr  bedeutende  Kraftgrössen, 
welche ,  wie  Du  Bois-Reymond  selbst  ausführt ,  schon  wegen  der 
unter  allen  Umständen  sehr  bedeutenden  Nebenschliessung  zwischen 
den  einzelnen  Nervenenden  durch  die  Boll'sche  Annahme  nicht  erklärt 
werden  können.  Beim  Zitterwels  aber,  wo  jeder  Platte  nur  ein 
Axencylinder  entspricht,  läge,  wie  Du  Bois-Reymond  bemerkt, 
selbst  unter  der  günstigsten  Voraussetzung,   „dass  die  Verbindungsstelle 


Die  elektrischen   Fische.  837 

einen  Nervenquerschnitt  mit  parelektronomischer  Schicht  enthalte  und 
dass,  was  kaum  möglich  scheint,  dieser  Nervenquerschnitt  ein  auf  die 
Wirkungsrichtung  des  Organes  senkrechtes  Flächenelement  sei",  dieses 
vereinzelt  eingebettet  zwischen  der  Masse  der  Platten,  „woraus  solche 
Schwächung  ihrer  Wirkungen  nach  aussen  folgen  würde,  dass  von  einer 
Erklärung  des  Zitterwelsschlages  durch  Schwankung  der  elektrischen 
Nervenendigungen  schon  deshalb  die  Rede  nicht  sein  kann".  Weiter 
macht  Du  Bois-Reymond  darauf  aufmerksam,  dass  vom  Stand- 
punkte der  Boir sehen  Theorie  das  Vorhandensein  der  oft  so  complicirt 
gebauten  elektrischen  Platten  in  den  Organen  keinen  Sinn  hätte  und 
ihr  Dasein  unverständlich  wäre. 

Wie  schon  früher  bemerkt  wurde ,  war  es  zuerst  Du  Bois- 
Reymond,  Avelcher  schon  1843  die  bestimmte  Ueberzeugung  aus- 
sprach, dass  es  gerade  die  letzteren  (die  damals  sogenannten  „Gallert- 
scheibchen")  sind,  welche  „im  Augenblick  der  Entladung  unter  dem 
Einfluss  des  irgendwie  in  Thätigkeit  versetzten  Nervenagens  in 
bestimmter  Richtung  elektromotorisch  werden"  und  ihre  Wirkungen 
nach  Art  der  Säule  vervielfältigen.  Nicht  die  negative  Schwankung 
des  Nervenstromes  wäre  es  also ,  welche  den  Schlag  verursacht, 
sondern  ein  Vorgang  in  den  aus  umgewandelten  Muskeln  hervorge- 
gangenen elektrischen  Platten,  vergleichbar  der  negativen 
Schwankung  des  Muskelstromes,  wie  er  vom  Standpunkte 
der  Präexistenzlehre  aus  sich  darstellt.  Nach  Du  Bois-Reymond 
hätte  man  sich  daher,  wie  schon  oben  erwähnt  wurde,  vorzustellen, 
dass  jede  Platte  zahllose  dipolar-elektromotorische  Molekeln  enthält, 
„welche  während  der  Ruhe  ihre  Pole  entweder  nach  allen  möglichen, 
oder  zu  zweien  nach  entgegengesetzten  Richtungen  kehren ,  so  dass 
ihre  äusseren  Wirkungen  sich  aufheben,  welche  aber  beim  Schlage 
sämmtlich  ihre  positiven  Pole  schnell  der  Fläche  des  Organes  zukehren, 
von  wo  der  positive  Strom  ausgeht".  Als  eine  der  wesentlichsten 
Stützen  dieser  Theorie  glaubt  Du  Bois-Reymond  den  aus  Delle 
C  h  i  a j  e  '  s  und  B  a  b  u  c  h  i  n  '  s  Lehre  von  der  Präformation  der 
elektrischen  Elemente  gefolgerten  Satz  bezeichnen  zu  müssen,  dass 
der  Seh  lag  Strom  der  Dicke  der  Platten  proportional 
zunimmt.  Da  die  elektromotorische  Kraft  mit  der  Grösse  des 
Fisches  wächst  (ob  proportional,  bleibt  allerdings,  wie  Her- 
mann 14  p.  486  bemerkt,  fraglich),  während  die  Zahl  der  Säulen 
(resp.  Platten)  unverändert  bleibt,  so  ist  eine  directe  Beziehung 
zwischen  der  Plattendicke  (d.  h.  der  Zahl  der  Molekülschichten  im 
Sinne  Du  Bois-Reymond  '  s)  und  der  Kraft  wohl  als  sicher  anzu- 
nehmen, obschon  Schönlein  dies  auf  Grund  seiner  Erfahrungen 
noch  bezweifelt  (30  p.  503).  Hiermit  steht  auch  die  geringe  Dicke 
der  Platten  der  Torpedo -Organe  9,6  j-i  im  Vergleich  zu  jenen  von 
Gymnotus  8,2  f.i  und  Malopterurus  4,8  /.<  in  Uebereinstimmung. 
Es  wurde  schon  früher  erwähnt,  dass  die  auf  Seewasser  berechneten 
Torpedo-  Organe  mit  geringer  Kraft  auskommen  können ,  während 
die  der  beiden  genannten  Süsswasserlische  bei  grösserem  inneren 
Widerstand  (grössere  Länge,  kleiner  Querschnitt)  auch  einer  wesent- 
lich grösseren  Kraft  bedürfen.  Mit  Zugrundelegung  der  obigen 
Maasse  und  unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Kraft  die  Platten 
ihrer  Dicke  proportional  ist,  findet  Du  Bois-Reymo  nd  (4  e  p.  286) 
das  Verhältniss  der  Kraft  des  ganzen  Zitteraal-  zu  der  des  Zitter- 
rochenorganes  wie  128  :  1. 


838  Die  elektrischen  Fische. 

Dass  die  Molekularhypothese  in  derselben  Form,  in  welcher  sie 
für  Muskeln  und  Nerven  aufgestellt  wurde,  auch  genügen  würde,  um 
die  Kraft  der  elektrischen  Organe  befriedigend  zu  erklären ,  zeigen 
folgende  Erwägungen  Du  Bois-Reymond' s  (1.  c.  p.  288  f.):  „Die 
Kraft  einer  dipolaren  Molekel  aus  einem  regelmässigen  Forschmuskel, 
wie  sie  durch  Nebenleitung  geschwächt  zur  Erscheinung  kommt,  ist 
der  doppelte  Potentialunterschied  zwischen  Aequator  und  Polen  des 
Muskels,  etwa  0,15  D.  Setzen  wir  sie,  um  sicher  zu  gehen, 
=  0,10  D.  Die  Dicke  der  Zitteraalplatte  mit  Inbegriff  der  Papillen, 
welche  wir  auch  als  elektromotorisch  ansehen,  ist  zur  Dicke  der 
Zitterrochen-Platte  =  8,2  :  9,(3  =  8,5  :  1 ;  in  jener  liegen  8,5  mal  mehr 
Molekeln  hinter  einander  als  in  dieser.  Nur  zwei  Molekeln  hinter 
einander  in  der  Zitterrochenplatte  liefern  schon  eine  Gesammtkraft 
von  400  X  2  X  0,10  D  =  80  D,  was  völlig  reichen  dürfte.  Beim 
Zitteraal  aber  erhalten  wir  dann  den  formidablen  Werth  von 
6000  X  17  X  0,10  D  =  10200  D." 

Nach  Bestimmungen  von  S  c  h  ö  n  1  e  i  n  (1.  c.)  beträgt  bei  Torpedo 
die  höchste,  bisher  überhaupt  beobachtete  elektromotorische  Kraft  des 
Schlages  zwischen  30  und  31  D.  Es  lassen  sich  derartige  Messungen 
entweder  in  der  Weise  ausführen,  „dass  man  die  durch  den  Organ- 
schlag erzeugten  Ablenkungen  mit  denen  einer  Anzahl  Daniell's 
vergleicht,  welche,  unter  Hinzufügung  eines  dem  Organwiderstaude 
annähernd  gleichen  Widerstandes,  an  Stelle  des  Organs  in  den  Kreis 
des  Instrumentes  aufgenommen  werden,  oder  man  muss  compensiren" 
(S  c  h  ö  n  1  e  i  n ). 

Pechnet  man  nun  mit  G.  Fritsch  die  Plattenzahl  bei  Torpedo 
0  cell  ata  zu  370,  bei  T.  marmorata  zu  380  pro  Säule,  so  ergiebt 

sich     für    jede    einzelne    Platte     eine    Kraft    von   -^^ ^^--  D    ^= 

o70  —  ooO 
0,081—0,084  D. 

Werthe,  welche  unzweifelhaft  ganz  anderer  Ordnung  sind,  als  die 
für  die  elektromotorische  Kraft  von  Kaltblüternerven  gefundenen, 
welche  stets  unter  0,025  D  bleiben.  Dagegen  ist  es  sehr  bemerkens- 
werth  und  kaum  zufällig,  dass  „die  Zahlen  für  die  elektromo- 
torische Kraft  des  Plattenschlages  und  die  maximale 
negative  Schwankung  des  Muskels  nicht  bloss  von 
derselben  Ordnung,  sondern  identisch  sind",  woraus 
Schönlein  (1.  c.  p.  501)  den  Schluss  zieht,  dass  „das  Substrat, 
an  welchem  sich  der  Schlag  des  elektrischen  Organes 
von  Torpedo  vollzieht,  ausschliesslich  mit  dem  Substrat 
zu  identificiren  ist,  an  welchem  sich  im  Muskel  die 
negative  S  c  h  w  a  n  k  u  n  g  v  o  11  z  i  e  h  t"  *).  Die  Vorstellung  aber,  dass 
es  sich  beim  Schlag  um  Lageänderungen  präformirter ,  elektromoto- 
rischer Molekeln  handelt,  erscheint  unter  allen  Umständen  ausge- 
schlossen, wenn  man  berücksichtigt,  dass  die  meisten  elektrischen 
Organe  nichts  weiter  sind  als  umgewandelte  Muskeln,  und  in  Bezug 
auf  letztere  die  Molekulartheorie  widerlegt  hält. 

Es  kann  natürlich  nicht  meine  Aufgabe  sein,  an  dieser  Stelle,  wo 
es  sich  lediglich  um  eine  möglichst  übersichtliche  Zusammenstellung  der 


*)  Neuerdings  hält  dagegen  Schönlein  die  elektrische  Platte  nur  für  „Nerven- 
endigung" (analog  der  motorischen  Endplatte).  Die  elektromotorische  Substanz  des 
Muskels  sei  ganz  verschwunden  (was  übrigens  bei  Raja  sicher  nicht  der  Fall  ist). 


Die  elektrischen  Fische.  839 

bisher  bekannt  gewordenen  Thatsachen  der  Physiologie  der  elektrischen 
Fische  handelt,  über  die  Intentionen  des  Begründers  der  Alterations- 
theorie hinauszugehen  und  etwa  den  Versuch  zu  wagen,  von  diesem 
Standpunkte  aus  die  Erscheinungen  zu  erklären.  Indessen  möchte  ich 
doch  der  Ueberzeugung  Ausdruck  geben,  dass  die  Hermann' sehe 
Theorie  sich  nach  meinem  Ermessen  dem  neuen  Gebiete,  das  ja  so  zu 
sagen  nur  Altes  in  neuem  Gewände  enthält,  ganz  ebenso  gewachsen 
zeigen  wird,  wie  dies  bezüglich  der  Drüsen-  und  Pflanzenströme  der 
Fall  gewesen  ist. 

Da  von  diesem  Standpunkte  aus  den  chemischen  Processen 
innerhalb  der  eigentlich  activen  Substanz  der  elektrischen  Organe 
ein  hervorragendes  Interesse  zukommt,  so  mögen  noch  einige  kurze 
Bemerkungen  hierüber  Platz  flnden,  zumal  der  Vergleich  mit  dem 
entsprechenden  Verhalten  quergestreifter  Muskeln  naheliegt,  die  ja 
so  zu  sagen  das  Material  zur  Entstehung  der  elektrischen  Organe  ge- 
liefert haben. 

Dass  die  Thätigkeit  des  ersteren  mit  chemischen  Processen  Hand 
in  Hand  geht,  ergiebt  sich,  abgesehen  von  anderen  Erfahrungen, 
.schon  aus  der  bekannten,  zuerst  von  D  u  B  o  i  s  -  R  e  y  m  o  nd  beobachteten 
Thatsache  der  Verschiedenheit  der  Reaction  des  ruhenden  und  des 
irgendwie  gereizten,  sowie  des  todtenstarren  Muskels.  Die  Säuerung 
ist  letzteren  Falls  so  auffallend,  dass  sie  selbst  bei  Anwendung  minder 
empflndlicher  Methoden  stets  leicht  und  sicher  nachweisbar  ist.  Dass 
dies  beim  elektrischen  Organ  (von  Torpedo)  sich  wesentlich  anders 
verhält,  ergiebt  sich  aus  den  mehrfach  widersprechenden  Angaben  der 
Autoren,  welche  diesem  Gegenstande  ihre  Aufmerksamkeit  zuwandten. 
Boll  (5a),  welcher,  wie  seiner  Zeit  Du  Bois-Reymond,  die 
Reaction  mit  Lakmuspapier  prüfte,  fand  dieselbe  beim  nicht  ge- 
reizten Organ  (Torpedo)  stets  deutlich  alkalisch ,  und  alle  späteren 
Untersucher  stimmten  ihm  hierin  bei  (vergl.  Th.  Weyl  36  b.  W. 
Marcuse  20).  Nicht  dieselbe  Uebereinstimmung  besteht  dagegen 
bezüglich  der  Angaben  über  eine  postmortale  Säuerung.  Während 
Boll  und  Weyl  sich  von  dem  Eintreten  einer  solchen  überzeugt  zu 
haben  glauben,  leugnet  dies  Marcuse  auf  das  Bestimmteste. 
M.  Schnitze  wiederfand  schon  die  elektrischen  Organe  frisch  ge- 
tödteter  Zitterrochen  constant  stark  sauer,  was  sowohl  Funke  wie 
auch  Du  Bois-Reymond  nach  Analogie  des  Muskels  auf  eine  dem 
Tode  vorhergehende  erschöpfende  Anstrengung  der  Organe  durch  oft 
wiederholte  Entladungen  zu  beziehen  geneigt  waren.  Hiermit  steht 
nun  wieder  das  Resultat  von  Versuchen  in  directem  Widerspruch,  bei 
welchen  durch  Strychninvergiftung ,  oder  durch  directe  Reizung  des 
Lobus  electricus,  ohne  oder  mit  Ausschluss  der  Blutcirculation  ein 
möglichst  hochgradiger  Ermüdungszustand  herbeigeführt  werden  sollte, 
Boll  fand  gar  keinen,  Marcuse,  welcher  durch  Titrirung  die 
Reaction  des  Alkoholextractes  unter  Benutzung  von  Lakmuspapier 
bestimmte,  nur  einen  sehr  geringen  Unterschied  zwischen  dem  gereizten 
und  nicht  gereizten,  durch  Nervendurchschneidung  ausgeschalteten 
Organ  im  Sinne  einer  etwas  grösseren  Acididät  des  letzteren. 

R  ö  h  m  a  n  n  (29) ,  welcher  ganz  neuerdings  diese  Untersuchungen 
in  der  zoologischen  Station  in  Neapel  wieder  aufnahm,  bediente  sich 
einer  zuerst  von  D  res  er  (Cbl.  f.  Physiol.  I.  1887  p.  195)  für  den 
Muskel  angegebenen  Methode,  welche  auf  der  Eigenschaft  des  Säure- 
fuchsins beruht,  mit  dem  Alkali    der   Gewebsflüssigkeit   eine    farblose 


840  Die  elektrischen  Fische. 

Verbindung  zu  bilden,  die  schon  durch  ganz  schwache  Säuren  (selbst 
Kohlensäure)  wieder  unter  Rothfärbung  zerfällt.  „Reizt  man  (beim 
Frosche)  nach  Aufhebung  der  Circulation  den  N.  ischiadicus  einer  Seite 
intermittirend  tetanisch  (nachdem  vorher  Säurefuchsin  injicirt  wurde), 
so  erfolgt  (nach  10  bis  15  Min.)  eine  lebhafte  Röthung  des  gereizten 
Schenkels,  welche  auf  Grund  der  chemischen  Eigenschaften  des 
Säurefuchsins  ein  Beweis  für  die  Säurebildung  im  thätigen  Muskel 
ist"  (D  res  er).  Röhmann  konnte  nun  ein  ähnliches  Verhalten  auch 
am  elektrischen  Organ  constatiren,  indem  bei  einer  mit  Fuchsin 
injicirten,  mit  Strychnin  vergifteten  oder  vom  Lobus  aus  anhaltend 
gereizten  Torpedo  nach  Entfernung  der  Haut  das  durch  Nerven- 
durchschneidung ausgeschaltete,  ruhende  Organ,  farblos  oder  nur  ganz 
blassrosa  war,  während  das  gereizte  Organ  stets  blassrosabis  pfirsichblüth- 
roth  erschien.  Es  darf  hiernach  als  erwiesen  gelten,  „dass  bei  der 
Erzeugung  der  Elektricität  innerhalb  der  elektrischen 
Platten  Stoffveränderungen  eintreten,  welche  zur 
Bildung  einer  geringen  Menge  von  sauren  Substanzen 
führen".  Dagegen  fand  Röhmann  ebensowenig  wie  Marcus  e 
die  stickstoffhaltigen  Extractivstoffe ,  oder  die  im  Aetherextract 
enthaltenen  Substanzen  vermehrt.  Eine  Betheiligung  der  Kohlehydrate 
(Glycogen)  an  der  Elektricitätserzeugung  scheint  dadurch  ausge- 
schlossen, dass  nach  Maren  se  das  elektrische  Organ  weder 
Glycogen  noch  ein  ähnliches  Kohlehydrat  enthält. 

„Es  scheint  vielmehr,  als  ob  eine  den  Eiweisskörpern  nahe- 
stehende Substanz  die  Kraftquelle  für  die  Elektricität  ist  und  dieselbe 
unter  Bildung  von  in  Aether  löslichen  Säuren  liefert"  (Röhmann). 
Bemerkenswerth  ist  es  vor  Allem,  dass  nach  den  vorliegenden  Versuchen 
„die  Erzeugung  des  elektrischen  Schlages  von  Torpedo 
unter  Verbrauch  einer  nur  äusserstgeringen  Menge  von 
potentieller  Energie  zu  erfolgen  scheint",  was  ja  übrigens 
für  die  Muskelarbeit  ebenfalls,  wiewohl  nicht  im  gleichen  Maasse,  gilt. 


LITERATUR. 

1.  Babuehin,   a)  Med.  Centralblatt.     1870.     Nr.  16  und  17. 

b)  Med.  Centralblatt.     1872.     Nr.  35. 

c)  Med.  Centralblatt.     1875.     Nr.  9,  10,  11. 

d)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1876. 

e)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1877. 

f)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1882. 

g)  Med.  Centralblatt.     1882.     Nr.  48. 
h)  Du  Bois  Arch.     1883. 

2.  B.  Ballowitz,  a)  Arch.  für  mikr.  Anat.     42.  Bd.     1893. 

b)  Anatomischer  Anzeiger.     Bd.  IX.     Nr.  5  und  6.     1893. 

3.  Bilharz,  Das  elektr.  Organ  des  Zitterwelses.     Leipzig  1857. 

4.  Du  Bois-Reymond,  a)  Quae    apud    veteres    de    piscibus   electricis   extant    argu- 

menta.    Diss.  inaug.     Berol.  1843. 

b)  Monatsberichte  der  Berliner  Academie.     28.  Jan.  1858. 

c)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1859. 

d)  Gesammelte  Abhandlungen.     I  und  II.     Berlin  1877. 

e)  Dr.  C.  Sachs  Untersuchungen  am  Zitteraal,  mit  zwei  Abth. 

von  G.  Fritsch.     Leipzig  1881. 


Die  elektrischen  Fische.  841 

f)  Sitzungsber.  der  Berliner  Acad.     1881  und  1882. 

g)  Sitzungsber.  der  Berl.  Acad.     1884.     XIV.     p.   181  ff. 
h)  Sitzungsber.  der  Berl.  Acad.    1885.    p.  86  u.  p.  691. 

i)  Sitzungsber.  der  Berl.  Acad.     1888.     XXII.     p.  531. 
k)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1887.     p.  50. 

5.  F.  Boll,    a)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1873. 

b)  Med.  Centralblatt.     1873. 

c)  Arch.  für  mikr.  Anat.    X.     1874. 

d)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1874. 

e)  Monatsber.  der  Berliner  Academie.     1875. 

f)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1876. 

6.  Ciaecio,   a)  S.  Richiardi   und   G.  Canestrini   Archivio   per   la  Zoologia.     Serie  II. 

vol.  II.     Fase.  I.     1870. 

b)  Moleschotts  Untersuchungen  zur  Naturlehre.     XI.     4.     1874. 

c)  Lo  Spalanzani,  Eivista  etc.     Anno  XIII.     Fase.  X.     1875. 

d)  Rendiconti  dell'  Aeademia  delle  scienze  dell'  Istituto  di  Bologna.     1875. 

e)  Memorie  dell'  Aeademia  delle  scienze  dell'  Istituto  di  Bologna.     1877. 

Ser.  3.     T.  VIII. 

f)  Journ.  de  micrographie.     1878  und  1888.     Ann.  XII.     Nr.  14. 

g)  Rendiconti  Acad.  Sc.  Istit.  Bologna.     1878/79. 

7.  Delle  Chiaje,  Atti  del  R,  Istit.  dell'  Incoraggimente   alle  Scienze  nat.  di  Napoli. 

VI.     1840. 

8.  Th.  W.  Engelmann,  Pflügers  Arch.     57.  Bd.     1894. 

9.  Ewald,  Ueber  den  Modus  der  Nervenverbreitung   im  elektr.  Organ   von  Torpedo. 

Habilit.-Schrift.     Heidelberg   1880. 

10.  J.  C.  Ewart,  a)  Proceed.  R.  Soc.  London.     Vol.  44.     1888. 

b)  Philosoph.  Transact.  R.  Soc.  London.  Vol.  179.     1888. 

c)  Philosoph.  Transact.  R.  Soc.  London.  Vol.  183.     1892. 

11.  C.  Eckhardt,  Beiträge  zur  Anat.  und  Physiol.     Bd.  I.  Giessen  1858. 

12.  G.  Fritseh,   a)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1884. 

b)  Sitzungsber.  der  Berl.  Acad.     1884. 

c)  Die  elektr.  Fische   im  Lichte  der  Descendenzlehre.     Samml.  wiss. 

Vorträge  von  R.  Virchow  und  Holtzendorf.     1884. 

d)  Sitzungsber.  der  Berl.  Acad.     1885  und  1886. 
.    .                  e)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1886. 

f)  Die  elektr.  Fische.     L  und  IL  Abth.     Leipzig  1887  und  1890. 

g)  Sitzungsber.  der  Berl.  Acad.     1889. 
h)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1890. 

i)  Sitzungsber.  der  Berl.  Acad.     1891.     (Mormyriden.) 

13.  P.  Gotch,  a)  Philosoph.  Transact.     Bd.  178.     1887.     p.  510. 

b)  Philosoph.  Transact.     Bd.  179.     1888. 

c)  Burdon  Sanderson  und  Gotch,  Journ.   of  Physiol.     IX. 

14.  L.  Hermann,  Pflügers  Arch.     26.  Bd.     1881.     p.  486. 

15.  N.  Iwanzoff,  Der  mikr.  Bau  des  elektr.  Organes  von  Torpedo.     Moskau  1895. 

16.  A.  KÖUiker,  a)  Zootomischer  Bericht.     1849.     (Ueber  Mormyrus  longi  pinnis.) 

b)  Verh.  der  physik.-med.  Ges.  in  Würzburg.     1857.     T.  VIII. 

17.  Krause,    a)  Internat.  Monatsschr.  für  Anat.  und  Physiol.     1886.     Bd.  III. 

b)  Internat.  Monatsschr.  für  Anat.  und  Physiol.     1887.     Bd.  IV. 

c)  Internat.  Monatsschr.  für  Anat.  und  Physiol.     1891.     Bd.  VIII. 

d)  Sitzungsber.  der  Berl.  Acad.     XXXVIII.     1886. 

18.  P.  Leydig,  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1854.     (Schwanzorgan  von  Raja.) 

19.  Lorenzini,  Osservazioni  intorni  alle  Torpedini.     Firenze  1678. 

20.  Marcuse,  a)  Melanges  biologiques  Acad.  de  Sc.  de  St.  Petersbourg.     T.  II.     1859. 

b)  Memoires  del  Acad.  Imp.  St.  Petersbourg.    T.  VII.     Nr.  4.     1864. 
B  i  e  d  e  r  m  a  n  u ,  Elektrophysiologie.  54 


842  Die  elektrischen  F'ische. 

21.  Marey,  a)  Compt.  rend.     1872.     2.     LXXIII. 

b)  Compt.  rend.     1877.     22  janvier. 

c)  Compt.  rend.     Tom  88.     Nr.  7.     1879. 

d)  Physiologie  experimentale.     1877.     p.  1 — 63. 

22.  Matteueei,    a)  Traite  des  phenomenes  electro-physiol.  des  animaiix.     Paris  1844. 

b)  Compt.  rend.     1847.     T.  XXIV.     Nr.  301. 

c)  Compt.  rend.     1865.     T.  LXI. 

23.  Moreau,  Annales  des  sc.  naturelles.     1862.     T.  XVIII. 

24.  Muskens,    Tiydschrift   der    Nederlandsche    Dierkundige    Vereenigxing.     2*^  Serie. 

Deel  IV.     Aflevering  I.     Nov.   1893. 

25.  Pacini,    Sulla  struttura  intima  dell  organo  elettrico  del  Gymnoto  e  di  altri  pesci 

elettrici.     Firenze  1852. 

26.  Ranvier,  a)  Le^ons  sur  l'histol.  du  Systeme  nei-veux.     T.  II.     Paris  1878. 

b)  Traite  technique  d'histologie.     II.  Ed.     Paris   1888. 

27.  Remak,  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1856. 

28.  Ch.  Bobin,  a)  Annales  des  sc.  nat.     1847.     3te  ser.     VII. 

b)  Journ.  de  Tlnstitut.     Nr.  645.      1846.     Paris.     T.  XIV. 

c)  Compt.  rend.     Vol.  XXII.     p.  821. 

d)  Journ.  de  l'Anat.  et  de  la  Physiol.     1865.     Vol.  II. 

29.  F.  Eöhmann,  Du  Bois  Arch.     1893.     Heft  V. 

30.  Sehoenlein,  Zeitschrift  für  Biologie.     Bd.  31.     N.  F.  13. 

31.  M.  Schultze,  a)  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.     1858  und  1862. 

b)  Abhandlungen    der    naturforsch.    Ges.   zu   Halle.     Bd.  IV  und  V. 
1858  und  59. 

32.  James  Stark,  Edinb.  K.  Soc.  Proceed.     1844-45.     Vol.  2. 

33.  J.  Steiner,  Das  amerikanische  Pfeilgift  Curare  etc.     Arch.  für  Anat.  und  Physiol. 

1875.    p.  158. 

34.  G.  Valentin,  R.  Wagners  Handwörterbuch.     Bd.  I.     1842. 

35.  R.  VjTagner,  Ueber  den  feineren  Bau  des  elektr.  Organes  im  Zitterrochen.     Göt- 

tingen 1847. 

36.  Weyl,  a)  Med.  Centralblatt.     1882.     Nr.  16. 

b)  Du  Bois  Arch.     1883.     1884. 

c)  Zeitschrift  für  physiol.  Chemie.     VII.     1883. 


L    Elektrische  Vorgänge  im  Auge. 


Wenngleich  in  der  Sinnesphysiologie  der  subjectiven  Beobachtung 
und  Analyse  der  Empfindungen  unter  allen  Umständen  die  erste 
Stelle  unter  den  Hülfsmitteln  der  Forschung  wird  eingeräumt  werden 
müssen,  so  verdienen  doch  gewiss  auch  die,  wiewohl  spärlichen 
0  b  j  e  c  t  i  V  e  n  Merkmale  der  Sinnesthätigkeit  alle  Beachtung.  Freilich 
haben  sich  die  grossen  Erwartungen,  welche  man  seiner  Zeit  an  die 
Entdeckung  des  Sehpurpurs  und  seiner  durch  Licht  bewirkten 
Bleichung  knüpfte,  bisher  nicht  erfüllt,  und  auch  die  neueren  Versuche 
von  König  und  v.  Kries,  diesem  „Sehstoff"  eine  ausschlaggebende 
Rolle  zuzuweisen,  dürften  wohl  als  gescheitert  zu  betrachten  sein. 

Neben  der  „Photochemie"  der  Netzhaut  nehmen  dann  die  elektro- 
motorischen Wirkungen  und  deren  durch  Lichtreizung  hervorzurufenden 
Veränderungen  das  Interesse  in  hervorragendem  Maasse  in  Anspruch. 

Schon  1849  wurde  Du  Bois-Reymond  dazu  geführt,  das 
elektrische  Verhalten  der  peripheren  Ausbreitung  des  Sehnerven  im 
Auge  zu  untersuchen,  als  es  sich  darum  handelte,  die  beim  Muskel 
angenommene  Identität  des  künstlichen  und  „natürlichen"  Querschnittes 
auch  für  den  Nerven  zu  erweisen.  Bei  Ableitung  vom  künstlichen 
Querschnitt  oder  einem  in  der  Nähe  desselben  gelegenen  Punkt  des 
natürlichen  Längsschnittes  des  Opticus  und  der  Aussenfläche  (insbe- 
sondere der  Hornhaut)  eines  von  Muskeln  möglichst  gereinigten 
Fischbulbus  erwies  sich  der  Nerv  stets  negativ  gegen  den  Augapfel. 
Es  schienen  sich  somit  die  natürlichen  Nervenenden  ebensowenig 
negativ  zu  verhalten,  wie  die  Sehnenenden  der  Muskelfasern. 

16  Jahre  später  hat  dann  Frithiof  Holmgren  (1)  diese  Ver- 
suche wieder  aufgenommen  und  sich  dabei  hauptsächlich  des 
Froschauges  bedient.  Er  bestätigte  hinsichtlich  des  „Ruhestromes" 
durchaus  Du  Boi  s-Reymond '  s  Angaben,  fand  aber  ausserdem  bei 
Ableitung  vom  hinteren  Theile  des  Bulbus  und  vom  Sehnerv  den 
ersteren  schwach  negativ  gegen  den  letzteren.  „Wenn  also  die  eine 
Elektrode  in  fester  Berührung  mit  dem  Sehnerv  bleibt,  die  andere 
aber  bewegt  wird  und  einmal  die  hinteren  Theile  des  Bulbus,  ein 
anderes  Mal  die  Hornhaut  berührt,  so  hat  man  im  ersteren  Falle  das, 
was  Holmgren  die  schwache  Anordnung  nannte,  wobei  der  Sehnerv 
positiv  ist  gegen  den  Augapfel,  und  im  letzteren  Falle  die  „starke 
Anordnung",    wobei     der    Opticus    gegen    die     Cornea    sich    negativ 

54* 


g44  Elektrische  Vorgänge  im  Auge. 

verhält."  Mit  Recht  betont  Holmgren,  class  man  die  Retina  eben- 
sowenig wie  etwa  den  Muskel  kurzweg  als  den  „natürlichen  Quer- 
schnitt" der  zugehörigen  Nerven  betrachten  darf,  indem  dieselbe  ein 
in  anatomischer  wie  physiologischer  Hinsicht  vom  Nerv  ganz  ver- 
schiedenes Endorgan  darstellt,  welches  möglicherweise  für  sich  allein 
elektromotorisch  zu  wirken  vermöchte,  wie  es  unter  gewissen  Um- 
ständen der  Muskel,  oder  wie  es  auch  Drüsen  thun.  Will  man  dann 
in  Anlehnung  an  Du  Bois-Reymond's  Auffassung  noch  von 
natürlichem  Quer-  und  Längsschnitt  sprechen,  so  würde  als  der  erstere 
die  ganze  äussere  mosaikartige  Retinafläche  zu  bezeichnen  sein,  welche 
an  die  Chorioidea  grenzt,  während  die  nach  dem  Glaskörper  ge- 
wendete innere  Begrenzungsfläche  (Opticusfaserschicht)  als  natürlicher 
Längsschnitt  gelten  müsste.  Holmgren  stellte  sehr  genau  die  Ver- 
theilung  der  Spannungen  an  der  Oberfläche  des  Bulbus  fest,  bemüht, 
„die  Natur  der  Retinaströme  in  Uebereinstimmung  mit  dem  Du  Bois- 
Reymond '  sehen  Gesetze  des  Muskelstromes  zu  bringen".  Ohne 
ihm  hierbei  in  Einzelheiten  zu  folgen,  sei  nur  erM'ähnt,  dass,  wie  schon 
aus  dem  elektromotorischen  Verhalten  des  ganzen  Auges  zu  schliessen 
war,  auch  an  der  isolirten  Retina  Spannungsdifi'erenzen  im  Sinne 
eines  „einsteigenden"  (d,  h.  von  aussen  nach  innen  gerichteten) 
Stromes  hervortreten,  was  im  Sinne  Du  Bois-Reymond's  so  ge- 
deutet wird,  dass  der  natürliche  Querschnitt  (die  Stäbchen  und 
Zapfenenden)  sich  negativ  zum  natürlichen  Längsschnitt  (der  inneren 
Netzhautfläche)  verhält. 

Die  Unzulässigkeit  einer  derartigen  Auffassung  leuchtet  aber  sofort 
ein,  wenn  man  den  Bau  der  Retina  berücksichtigt,  der,  wie  Kühne 
und  Steiner  mit  Recht  bemerken,  „überall,  in  der  äussersten  Schicht 
ausschliesslich,  ganz  andere  Dinge  zeigt,  als  freie  Nervenenden  und  in 
keinem  anderen  Niveau  etwas,    das  solchen  Enden  nur  ähnlich  sähe." 

Kühne  und  Steiner  (3)  verwendeten  bei  ihren  ergebniss- 
reichen Untersuchungen  ganz  vorwiegend  die  isolirte  Froschnetzhaut, 
welche  sich  mit  völliger  Erhaltung  ihrer  Lebenseigenschaften,  mit 
oder  ohne  Pigmentepithel,  aus  dem  Augengrunde  wie  aus  einer  Schaale 
herausheben  lässt  und,  auf  einen  halbkugelig  abgeschmolzenen  Glas- 
stab gestülpt,  der  Berührung  mit  ableitenden  Elektroden  leicht  zugäng- 
lich gemacht  werden  kann.  Liegt  die  Stäbchenseite  nach  aussen  und 
werden  verschiedene  Punkte  derselben  abgetastet,  so  findet  man  stets 
einen  starken  Strom  zwischen  Opticuseintritt  und  Peripherie,  indem 
sich  der  erstere  positiv  gegen  jeden  andern  Punkt  dieser  Retinafläche 
verhält.  Umgekehrt  verhält  sich  bei  Ableitung  von  der  Faserseite 
(Innenfläche)  der  Opticuseintritt  stark  negativ  zu  jedem  Punkt  der 
Peripherie.  In  Uebereinstimmung  mit  Holmgren  beobachteten  ferner 
auch  Kühne  und  Steiner  bei  gleichzeitiger  Ableitung  von  der 
Aussen-  und  Innenseite  der  frischen  Retina  einen  „einsteigenden" 
Strom,  indem  sich  die  erstere  negativ  zur  letzteren  verhält.  Die 
Retina  wurde  hierbei  in  der  Weise  zwischen  die  Elektroden  gebracht, 
„dass  die  untere  Elektrode  mit  einem  nach  aufwärts  gekrümmten, 
kugelig  gekneteten  Knopfe  der  Membran  zur  Stütze  diente,  während 
die  andere  die  entgegengesetzte  Retinafläche  mit  einer  stumpfen  Spitze 
berührte".  Die  Stärke  dieses  Stromes,  die  Anfangs  sehr  beträchtlich 
war,  nahm  rasch  ab  und  verging  zuweilen  schnell  und  gänzlich, 
während  sie  sich  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  längere  Zeit  auf  mittlerer 
Höhe  erhielt. 


Elektrische  Vorgänge  im  Auge.  845 

In  viel  höherem  Maasse  als  der  Retinastrom  an  sich  nehmen 
dessen  Schwankungen  bei  Einwirkung  von  Licht  das  Interesse  in 
Anspruch.  Auch  hier  verdanken  wir  Holmgren  die  ersten  grund- 
legenden Beobachtungen,  indem  er  nachwies,  dass  derRetinastrom 
stets  eine  positive  Schwankung  zeigt,  wenn  Licht  in 
das  vorher  dunkel  gehaltene  Auge  fällt,  oder  wenn  das- 
selbe wieder  entfernt  wird.  Dies  war  beim  Frosche 
ausnahmslos  der  Fall,  dagegen  würde  nach  Holmgren  bei  Reptilien 
(Schlangen),  Vögeln  und  Säugethieren  dem  Lichteinfall  eine  negative, 
der  darauffolgenden  Verdunkelung  eine  positive  Schwankung  ent- 
sprechen. Auch  blosse  Intensitätsänderungen  der  Beleuchtung  bilden 
einen  wirksamen  Reiz. 

Unabhängig  von  Holmgren  hatten  auch  zAvei  englische  Forscher, 
D  e  w  a  r  und  M '  K  e  n  d  r  i  c  k ,  gefunden ,  dass  bei  Belichtung  der 
Augen  von  Wirbelthieren  (aus  allen  Classen),  sowie  von  Crustaceen 
eine  positive  Schwankung  erfolgt,  welche  einer  Zunahme  der  elektro- 
motorischen Kraft  des  Ruhestromes  im  Betrag  von  3  —  IQ^l'o  entspricht. 
In  einem  Theil  der  Versuche  erfolgte  die  Ableitung  (beim  Frosch) 
nicht  allein  vom  Bulbus,  sondern  von  diesem  und  einem  Theil  des 
Gehirns,  das  durch  den  Sehnerven  mit  jenem  noch  in  Zusammenhang 
stand.  Auch  dann  erfolgte  bei  Lichteinfall  eine  starke  positive 
Schwankung,  Ebenso  bei  der  Taube,  wenn  vom  Lobus  opticus  und 
der  Cornea  des  gekreuzten  Auges  abgeleitet  wurde.  Die  Schwankung 
wird  in  diesem  Falle  fast  doppelt  so  gross,  wenn  beide  Netzhäute 
gleichzeitig  belichtet  werden  und  fehlt  auch  nicht  ganz  bei  Ableitung 
vom  Lobus  und  der  Hornhaut  des  gleichseitigen  Auges,  Bei 
Anwendung  farbigen  Lichtes  erwies  sich  Gelb  am  meisten  wirksam, 
dann  folgten  der  Reihe  nach  Grün,  Roth  und  Blau.  Dewar  und 
M'Kendrick  glaubten  sich  endlich  auch  davon  überzeugt  zu  haben, 
dass  zwischen  Reizstärke  und  Reizerfolg  Beziehungen  bestehen,  welche 
dem  Fechner'schen  Gesetze  folgen. 

Kühne  und  Steiner  (1.  c.)  bedienten  sich  Anfangs  bei  ihren 
Versuchen  eines  in  drei  Abtheilungen  getheilten  Dunkelzimmers,  in 
dessen  beiden  vorderen  Dritteln  sich  das  Galvanometer  mit  Fernrohr 
befand,  während  in  dem  noch  freien  Raum  das  Augenpräparat  nebst 
den  Beleuchtungslampen  aufgestellt  waren.  Bei  späteren  Versuchen 
wurde  das  Galvanometer  mit  Zubehör  in  einem  hellen  Zimmer  aufge- 
stellt, während  die  Elektroden  und  Beleuchtungsvorrichtungen  in  einem 
benachbarten,  absolut  dunkelen  Zimmer  sich  befanden.  Zur  Belichtung 
diente  ein  Gas-Argand-Brenner ,  der  in  50  —  75  cm  Entfernung  von 
dem  Präparate  aufgestellt  war.  Ein  Gehülfe  bewirkte  auf  Commando 
durch  Auf-  oder  Zudrehen  der  Lampe  die  plötzliche  Belichtung  oder 
Verdunkelung  der  Retina,  Die  Ableitung  von  der  inneren  und 
äusseren  Fläche  der  Netzhaut  erfolgte  nunmehr  mittels  entsprechend 
geformten  Thonelektroden,  die  nach  einem  Vorschlag  Engelmann  '  s 
mit  Froschlunge  überzogen  waren.  Jede  hinreichend  intensive 
undplötzlicheBeleuchtung  mitblauem,  grünem,  gelbem, 
rothem  oder  weissem  Lichte  erzeugt  dann  eine  namhafte, 
mehrsinnige  (complicirte)  Schwankung  des  Retina- 
stromes, sowohl  an  der  pur  pur  haltigen,  wie  an  der 
purpurlosen  Netzhaut.  Der  Verlauf  der  Erscheinung  gestaltet 
sich  an  einer  purpurhaltigen  Dunkelretina  in  typischen  Fällen  (Fig.  282) 
derart,  dass  im  Momente  der  Belichtung  eine  positive  Schwankung  be- 


846 


Elektrische  Vorgänge  im  Auge, 


ginnt  (h  c),  schnell  ihr  Maximum  erreicht  und  hierauf  rasch  in  die  negative 
Schwankung  übergeht,  welche  letztere  ihr  Maximum  während  der 
Dauer  der  Belichtung  erreicht  {(Je),  einige  Zeit  auf  diesem  Punkte  verharrt, 
um  dann  äusserst  langsam  dem  Nullpunkte  zuzustreben,  auch  wenn 
die  Beleuchtung  ganz  constant  bleibt.  Im  Momente  der  Verdunkelung 
erfolgt  dann  neuerlich  eine  plötzliche  positive  Schwankung  (ef),  die  als 
die  Folgewirkung  eines  zweiten,  durch  das  Verschwinden  des  Lichtes 
bedingten  Reizes  aufzufassen  ist.  Wir  hätten  es  demnach  hier  mit 
einem  dem  elektrischen  in  gewissem  Sinne  vergleichbaren  Modus  der 
Reizung  zu  thun.  Wie  dort  das  Entstehen  und  die  Dauer  des 
Stromes  einerseits,  dessen  Verschwinden  andererseits  erregend  wirkt, 
so  gilt  auch  das  Gleiche  hinsichtlich  der  Lichtreizung  der  Netzhaut, 
deren     Erfolg     sich      am     Galvanometer 

^^^^  durch    eine    erste    doppelsinnige    (positiv 

f  I^^^H  dann  negativ)    und    eine   zweite   einfache 

m^^l  (positive)  Schwankung    des  Ruhestromes 

In^^l  verräth.     Von  wesentlichem  Einfluss  auf 

H^^B  tlie    Intensität    der     retinalen     „Actions- 

IBi^l  ströme"    scheint    nach    den   Erfahrungen 

ll^^^l  von  Kühne  und  Steiner  das  Vorhan- 

I^^^H  densein  oder  Fehlen    des  Sehpurpurs    zu 

^ i^^^H  sein,    indem    sich   in   beiden  Fällen 

^^^^B  ^^^      Schwankungen      nicht     nur 

i^^^H_0        ihrer    Grösse    nach    verschieden 

verhalten  und  bei  ungebleichten 
Netzhäuten     für     gleiche     Reize 


Fig.  282. 


o 

^^1^ 

1 

ll 

1 

Fig.  283. 


Fig.  284. 


bedeutender  sind,  als  bei  gebleichten,  sondern  auch 
ihrer  Natur  nach  (qualitativ)  verschieden  erscheinen. 
Bei  „Hellfröschen",  d.  h.  solchen,  welche  stundenlang  im  Freien  der 
Wirkung  des  vollen  Tageslichtes  ausgesetzt  waren,  fehlt  nämlich  der 
positive  Vorschlag  der  den  Lichteinfall  begleitenden  negativen 
Schwankung  vollständig,  oder  erscheint  nur  eben  angedeutet.  Das- 
selbe Verhalten  zeigen  nach  Kühne  und  Steiner  auch  die  Netz- 
häute von  Winterfröschen  trotz  tagelangem  Dunkelaufenthalt  in 
geheizten  Räumen. 

Ist  im  Falle  einer  nicht  gebleichten  Dunkelretina  der  Ruhestrom 
gering    und    die    negative    Schwankung    bei    Belichtung    nur    massig 


Elektrische  Vorgänge  im  Auge. 


847 


Bulbus 


entwickelt,  so  erfolgt  in  der  Regel  mit  dem  Kommen  des  Lichtes 
sogleich  nach  dem  positiven  Vorschlag  Umkehr  des  Stromes,  die 
während  der  Dauer  der  Belichtung  anhält  (Fig.  283).  Anderenfalls 
(bei  starkem  Ruhestrom)  handelt  es  sich  oft  nicht  um  eine  wirk- 
liche negative  Schwankung,  sondern  nur  um  ein  mehr  oder  weniger 
beträchtliches  Decrement  des  vorhergehenden  positiven  Vorschlages 
(Fig.  284). 

Sehr  oft  ist  der  Ruhestrom  vom  Momente  des  Auflegens  an  in 
raschem  Sinken  begriffen.  Es  kann  dann  geschehen,  dass  derselbe 
nicht  nur  bis  auf  Null  sinkt,  sondern  sich  sogar  umkehrt.  Die 
photoelektrischen  Schwankungen  werden  hierdurch  nur  insofern  beein- 
flusst,  als  die  einzelnen  Phasen  dann  sä mmtlich  entgegen- 
gesetzte Vorzeichen  erhalten,  während  Eintritt,  Folge,  Verlauf 
und  Grösse  derselben  keinerlei  Ver- 
änderungen erleiden.  Die  drei 
Schwankungen  erhalten  demgemäss 

der  Reihe  nach  die  Zeichen 1 , 

statt  wie  normal  -j-  —  +. 

Der  Umstand,  dass  die  drei 
Phasen  des  durch  vorübergehende 
Belichtung  bewirkten  retinalen 
Actionsstromes  an  empfindlichen 
Präparaten  auch  hervortreten,  wenn, 
wie  bei  Anwendung  von  elektrischen 
Funken,  die  Dauer  des  Lichtein- 
druckes nur  eine  momentane  ist, 
beweist,  dass  die  mittlere  negative 
Phase  nicht  etwa  nur  als  Folge 
dauernder  Beilchtung  angesehen 
werden  kann,  indem  gerade  sie  es 
ist,  welche  an  minder  erregbaren 
Präparaten  bei  instantanen  Licht- 
reizen allein  hervortritt. 

Bemerkenswerth  ist  noch,  dass, 
wie  in  der  Folge  S.  Fuchs  (4)  fand, 
„der  durch  den  elektrischen  Funken 
hervorgerufene  erste  (positive)  An- 
theil  der  Stromesschwankung  un- 
vergleichlich rascher  verläuft,  als 
bei  Belichtungen    von  nicht  instan- 

taner  Dauer".  Es  darf  hierin  ein  wesentliches  Argument  dafür  erblickt 
werden,  „dass  wir  die  (photoelektrischen)  ScliAvankungen  als  Ausdruck 
des  Erregungsvorganges  in  der  Sinnessubstanz  auffassen  dürfen"  (S. 
Fuchs). 

Jede  irgend  erhebliche  Intensitätsschwankung  der  Beleuchtung 
bewirkt  gleichgültig,  ob  sie  im  positiven  oder  negativen  Sinne  erfolgt, 
eine  positive  Schwankung  des  Ruhestromes,  was  sich  bei  Ableitung 
von  der  isolirten  Retina  durch  zuckende  Bewegungen  verräth,  wenn 
durch  ruckweises  Auf-  oder  Zudrehen  des  Gashahnes  die  Flamme 
heller  oder  dunkler  gemacht  wird,  „und  wie  unser  Auge  über  eine 
gewisse  Intensitätsgrenze  hinaus  solche  Steigerungen  nicht  mehr 
wahrnimmt,  so  versagen  kurz  vor  Erreichung  der  grössten  Helligkeit 
auch  die  Bewegungen  am  Galvanometer"   (Kühne  und  Steiner). 


Netzhaut 


848  Elektrische  Vorgänge  im  Auge. 

Erstaunlich  ist  die  Empfindlichkeit  der  Retina  selbst  für  die  ge- 
ringsten Lichtspuren  (Glimmen  einer  Cigarette,  Bescheinen  mit 
phosphorescirenden  Pulvern) ,  so  dass  man  auf  Grund  der  Versuche 
von  Kühne  und  Steiner  wohl  sagen  kann ,  das  Galvanometer 
reagire  auf  dieselben  Lichtintensitäten,  „welche  auch  in  unserem 
Auge  deutliche  Empfindung  erzeugen".  Wird  die  Belichtung  auf 
eine  kleine,  möglichst  begrenzte  Stelle  der  Netzhaut  beschränkt,  so 
erfolgt  nichtsdestoweniger  an  jeder  davon  entfernt  gelegenen  anderen 
Stelle  die  photoelektrische  Schwankung,  sei  es,  dass  Stromzweige  von 
dem  direct  belichteten  Gebiete  ausgehen,  oder  dass  es  sich  um  die 
Folge  einer  Diffusion  des  Lichtes  in  der  Netzhaut  handelt. 

Von  dem  geschilderten  Verlauf  der  photoelektrischen  Schwankung 
an  der  isolirten  Netzhaut  unterscheidet  sich  die  Erscheinung  am  un- 
versehrten ganzen  Bulbus  vor  Allem  dadurch ,  dass  bei  mög- 
lichster Leistungsfähigkeit  des  Präparates  die  zweite  negative 
Phase  der  Schwankung  beim  Kommen  desLichtes  fehlt, 
so  dass  zwischen  der  ersten  positiven  Anfangs-  und  der  zweiten 
ebenfalls  positiven  Endschwankung  der  Strom  selbst  bei  minutenlanger 
Belichtung  des  Auges  einen  völlig  gleichbleibenden  Zuwachs  erfährt. 
Dem  Verhalten  isolirter  Netzhäute  entsprechend,  gestaltet  sich  die 
Schwankung  nur  bei  Verwendung  verletzter,  ermüdeter  oder  ab- 
sterbender Bulbi,  worauf  wohl  auch  gewisse  Befunde  von  DcAvar  und 
M'Kendrick  zu  beziehen  sein  dürfen. 

Ferner  sind  in  Folge  der  ungünstigeren  Ableitungsbedingungen  die 
Schwankungen  des  Bulbusstromes  viel  kleiner  und  können  nach  vor- 
ausgegangener starker  Belichtung  sogar  schon  gänzlich  fehlen,  wenn 
die  dann  isolirte  Netzhaut  noch  mächtige  Actionsströme  liefert. 

Es  hat  sich  herausgestellt,  dass  die  erwähnten  Differenzen  der 
photoelektrischen  Schwankungen  des  Bulbus  und  der  isolirten  Retina 
lediglich  auf  eine  bei  der  Präparation  nicht  zu  vermeidende  Alteration 
der  letzteren  zu  beziehen  sind,  indem  möglichst  vorsichtige  Halbirung 
des  Auges  in  eine  vordere  und  hintere  Hälfte  an  dieser  letzteren, 
selbst  nach  Entfernung  der  Linse,  das  Auftreten  der  mittleren 
negativen  Phase  noch  nicht  veranlasst,  die  aber  nach  dem  Abfliessen 
des  Glaskörpers  oder  Zerrung  der  Netzhaut  sofort  zum  Vorschein 
kommt.  Dies  ist  auch  am  ganzen  unversehrten  Bulbus  der  Fall, 
wenn  die  Erregbarkeit  bei  längerem  Liegen  (in  Folge  von  Kohlen- 
säureanhäufung) allmählich  abnimmt.  Der  positive  Vorschlag  der 
Dojjpelschwankung  wird  dann  immer  kleiner  und  fällt  schliesslich 
ganz  weg. 

Sehr  auffällig  sind,  wie  schon  H  o  1  m  g  r  e  n  fand,  die  D  i  f  f  e  r  e  n  z  e  n 
der  photoelektrischen  Schwankungen  an  den  Netzhäuten 
verschiedener  Thiere.  Sowohl  bei  Reptilien  (V i p e r a  Berns), 
wie  bei  Vögeln  (Huhn)  und  Säugethieren  (Kaninchen,  Hund)  zeigten 
die  uneröffneten  Bulbi  an  Stelle  der  zweiphasischen ,  beide  Mal 
positiven  Schwankung  des  Froschauges  bei  Beginn  und  Ende  der 
Belichtung,  ersterenfalls  stets  eine  negative,  letzterenfalls  eine  positive 
Schwankung  des  Dunkelstromes.  Da,  wie  erwähnt,  ein  gleichartiges 
Verhalten  sich  auch  an  absterbenden  oder  ermüdeten  Froschaugen 
herausstellt,  so  konnte  man  daran  denken,  die  geringere  Resistenz- 
fähigkeit der  Warmblüteraugen  zur  Erklärung  heranzuziehen,  von  der 
Voraussetzung  ausgehend,  dass  in  möglichst  normalem  Zustande  unter- 
sucht,   auch    diese    einen    gleichen    Charakter    der    photoelektrischen 


Elektrische  Vorgänge  im  Auge.  849 

Schwankungen  darbieten  wie  der  Frosch.  Dem  scheint  aber  einerseits 
die  Erfahrung-  zn  widersprechen,  dass  sich  in  einzelnen  Fällen,  wie 
z.  B.  bei  der  Taube,  deren  lange  Stäbchen  und  Zapfen  wie  bekannt 
sehr  haltbar  sind,  die  Netzhaut  selbst  isolirt  noch  sehr  gut  zum  Ver- 
suche verwenden  und  wenigstens  die  negative  Anfangsschwankung 
sehr  deutlich  erkennen  lässt,  besonders  wenn  die  Temperatur  der 
Umgebung  künstlich  erhöht  wird  (Kühne  und  Steiner),  Anderer- 
seits kann  als  Einwand  auch  das  Verhalten  der  Reptilien  und  vor 
Allem  der  Fischaugen  gelten. 

Am  Auge  der  Fische  hatte  Ho  Imgren  gar  keine.  De  war  und 
M'Kendrick  nur  sehr  unbefriedigende  Resultate  durch  Lichtreizung 
erzielen  können.  Dagegen  gelang  es  K  ü  h  n  e  und  Steiner  sowohl 
am  unversehrten  BuIIjus,  wie  insbesondere  an  der  isolirten  Retina 
mehrerer  Fischarten  (Perca  fluv. ,  Esox  lue  ins,  Leuciscus 
und  Cyprinus  barbus)  erfolgreiche  Versuche  anzustellen. 

Während  sich  der  Ruhe-(Dunkel-)Strom  im  Wesentlichen  ganz 
ebenso  verhält,  wie  beim  Frosch,  am  unversehrten  Bulbus  am  grössten, 
an  der  isolirten  Netzhaut  am  kleinsten  und  oft  auch  verkehrt  gefunden 
wird,  gestalten  sich  die  photoelektrischen  Schwankungen  nach  Art 
und  Verlauf  wesentlich  verschieden  (Fig.  285).  Am  Bulbus  entspricht  dem 
Beginn  der  Lichtreizung  eine  positive,  sehr  langsam  wachsende 
und  erst  gegen  das  Ende  rasch  zum  Maximum  ansteigende  Schwankung, 
welche  zu  einer  während  der  Dauer  der  Lichtwirkung  anhaltenden 
Zunahme  des  Ruhestromes  führt,  worauf  bei  Entziehung  des  Lichtes 
wieder  eine  nur  viel  schwächere  positive  Schwankung  folgt.  Dagegen 
liefert  sowohl  eine  hintere  Augenhälfte,  wie  auch  die  isolirte  Netzhaut 
eine  primäre  negative  Schwankung,  an  die  sich  unmittelbar  eine 
positive  schliesst,  welche  den  Ruhestrom  über  seinen  ursprünglichen 
Werth  mehr  oder  weniger  erheblich  steigert.  Dem  Aufhören  des 
Lichtreizes  entspricht ,  wie  beim  Frosch  eine  neuerliche  positive 
Schwankung  von  erheblicher  Grösse.  Ist  die  Netzhaut  irgendwie 
alterirt,  so  erreicht  der  Ruhestrom,  während  der  Dauer  der  Belichtung, 
nach  Ablauf  der  negativen  Anfangsschwankung  nicht  seine  anfängliche 
Höhe,  und  schliesslich  bleibt  an  ermüdeten  oder  absterbenden  Präpa- 
raten jedes  Decrement  der  negativen  Schwankung  ganz  weg,  so  dass 
diese  letztere  den  einzigen  ReizefFect  darstellt. 

Van  G  e  n  d  e  r  e  n  -  S 1 0  r  t  (5)  hatte  seiner  Zeit  gefunden ,  dass 
die  von  ihm  entdeckten  Bewegungen  (Lageänderungen)  der  Netzhaut- 
zapfen, sowie  auch  Pigmentverschiebungen  im  Netzhautepithel  nicht  nur 
bei  directer  Lichtwirkung  auf  das  betreffende  Auge,  sondern  auch 
bei  Belichtung  des  andern,  ja  beim  Frosch  sogar  nach  Reizung  der 
Haut  entfernter  Körperstellen  durch  Licht  hervorzurufen  sind,  woraus 
zu  folgern  sein  würde,  dass  im  Opticus  nicht  nur  sensible,  sondern 
auch  centrifugalleitende  (retinomotorische)  Nervenfasern  enthalten  sind. 
Wie  Engelmann  (5)  zeigte,  lassen  sich  auf  dieselbe  Weise  reflec- 
torisch  auch  Veränderungen  des  elektromotorischen  Verhaltens  des 
Bulbus  erzielen.  Bei  Ableitung  von  der  Mitte  der  Cornea  und  einem 
hinter  oder  doch  nahe  dem  Aequator  gelegenen  Punkte  der  oberen 
Bulbushälfte  eines  Dunkelfrosches  traten  jedesmal  sehr  deutliche 
Stromesschwankimgen  auf,  wenn  das  andere  Auge,  bei  völligem  Licht- 
abschluss  vom  beobachteten,  belichtet  wurde.  Dies  war  auch  noch  nach 
Entfernung  der  Haut,  sowie  der  Gaumenschleimhaut,  wiewohl  in 
geringerem    Grade    der  Fall.     Als  Unterschied   gegenüber    den  photo- 


850  Elektrische  Vorgänge  im  Auge. 

elektrischen  Schwankungen  bei  directer  Belichtung  ergab  sich  nur 
Fehlen  der  zweiten  positiven  Phase  bei  plötzlicher  Verdunkelung, 
Nach  Opticusdurchschneidung  fehlte  jeder  galvanische  Effect  der 
anderseitigen  Beleuchtung.  Auch  durch  chemische  Reizung  (Auflegen 
eines  Kochsalzkrystalles  auf  die  Netzhaut  des  einen  geöffneten  Bulbus) 
Hessen  sich  am  andern  Auge  Schwankungen  des  Ruhestromes  von 
erheblicher  Grösse,  zunächst  im  positiven,  dann  im  negativen  Sinne 
erzielen. 

Ausgehend  von  den  Erfahrungen,  welche  K  ü  h  n  e  und  Steiner 
bei  ins  tan  tan  er  Belichtung  der  Netzhaut  machten,  versuchte  es 
neuerdings  Sigm.  Fuchs  (4),  den  zeitlichen  Verlauf  der 
photoelektrischen  Schwankungen  am  Fr  ose  hange  ge- 
nauer festzustellen  und  dadurch  zugleich  zu  ermitteln ,  ob ,  wie  zu 
vermuthen  war,  die  Erregung  des  Sehnervenapparates  und  somit  auch 
die  durch  sie  bedingte  Lichtempfindung  spcäter  auftritt  als  der  sie 
auslösende  Reiz.  Mittels  des  Bernstein '  sehen  Rheotomes  wurde 
einerseits  eine  Folge  von  Oeffnungsfunken  als  adäquate  Reize  der 
Netzhaut  erzeugt,  während  andererseits  in  einem  variablen  Momente 
nach  jedesmaliger  Lichtreizung  der  Bussolkreis  geschlossen  werden 
konnte.  Es  konnte  auf  diese  Weise,  wie  man  leicht  sieht,  Gestalt 
und  zeitlicher  Vei-lauf  der  Schwankungscurve  ganz  ebenso  ermittelt 
werden,  wie  bei  Untersuchung  der  negativen  Schwankung  des  Muskel- 
oder Nervenstromes.  Die  Versuche  erfolgten  natürlich  bei  compen- 
sirtem  Dunkelstrom.  In  Betreff  der  Grösse  der  elektromotorischen 
Kraft  dieses  letzteren  hatten  schon  Kühne  und  Steiner  einige 
Angaben  gemacht,  und  zahlreiche  derartige,  nach  dem  Poggendorff- 
Du  Bois-Reymond'schen  Compensationsverfahren  ausgeführte  Bestim- 
mungen verdanken  wir  S.  Fuchs,  welcher  annähernd  gleiche  Werthe 
fand  wie  vordem  schon  Kühne  und  Steiner. 

Die  Constanz  derselben  während  eines  einzelnen  Versuches  war 
hinlänglich  gross,  um  sicher  zu  sein,  dass  während  desselben  die  Be- 
dingungen sich  nicht  wesentlich  änderten.  Jeder  der  Rheotomver- 
suche  wurde  nun  damit  begonnen,  „dass  der  Funke  in  dem  Momente 
übersprang,  in  welchem  die  Oeffnung  des  Retinakreises  im  Rheotom 
geschah.  Die  so  charakterisirte  Schieberstellung  ist  gewissermaassen 
als  der  Nullpunkt  anzusehen,  von  welchem  jederzeit  das  Experiment 
entweder  ausgeht,  oder  zu  welchem  es  zurückkehrt".  Es  war  dann 
niemals  eine  Einwirkung  auf  das  Galvanometer  zu  constatiren,  indem 
die  photoelektrische  Schwankung  während  der  Zeit  eines  ganzen 
Umlaufes  (0,2564  See.)  abgelaufen  war.  Es  zeigte  sich  weiterhin 
durchwegs,  „dass  zwischen  dem  Reizmoment  und  dem  merkbaren 
Beginn  des  positiven  Theiles  der  Schwankung  eine  messbare  Zeit 
(0,0005  —  0,0060  See.)  vergeht,  worauf  der  positive  Vorschlag  rasch 
sein  Maximum  erreicht,  dann  schnell  wieder  absinkt,  um  in  den 
negativen  Theil  der  photoelektrischen  Schwankung  überzugehen. 
Tritt  dieser  letztere  allein  auf,  ohne  positiven  Vorschlag,  so  lässt 
sich  auch  dann  ein  deutliches  Stadium  der  latenten  Reizung  (von 
0,0004 — 0,0064  See.)  erkennen,  welchem  zunächst  ein  schwächerer 
Antheil  (negativer  Vorschlag)  folgt,  an  den  sich  die  eigentliche  negative 
Hauptschwankung  schliesst.  Das  Maximum  der  Dauer  des  positiven 
Vorschlages  beträgt  nach  Fuchs  0,0181  See,  das  Minimum 
0,0070  See.  Die  Dauer  des  negativen  Vorschlages  liegt  (bei  alleinigem 
Auftreten  der  negativen  Schwankung)  zwischen  0,0029  und  0,0105  See. ; 


Elektrisclie  Vorgänge  im  Auge.  85 1 

die  Zeit  bis  zum  Maximum  der  negativen  Schwankung  beträgt  0,0089 
bis  0,0352  See. 

Man  kann  die  Frage  aufwerfen,  welche  Theile  (Schichten)  der 
Netzhaut  an  dem  Zustandekommen  der  elektrischen  Spannungs- 
differenzen vorwiegend  oder  ausschliesslich  betheiligt  sind.  Das  aus- 
schliessliche Vorkommen  negativer  Schwankung  am  Stamme  des 
Sehnerven  bei  Lichtreizung  des  Auges,  lässt  mit  ziemlicher  Sicher- 
heit schliessen,  dass  auch  die  vordere  Faserschichte  sich  gleichartig 
verhalten  wird,  und  dass  demnach  die  den  compHcirten  photoelek- 
trischen Schwankungen  der  Retina  zu  Grunde  liegenden  Processe 
ihren  Sitz  in  Schichten  haben,  die  nicht  weiter  als  bis  zur  Ganglien- 
lage nach  vorne  reichen.  Dass  auch  diese  letztere  selbst  nicht 
wesentlich  betheiligt  sein  kann,  scheint  sich  aus  dem  Umstände  zu 
ergeben,  dass  Netzhautpräparate  von  Warmblütern  im  Allgemeinen 
ausserordentlich  vergänglich  sind  und  ihre  photoelektrische  Reaction 
selbst  dann  rasch  einbüssen,  wenn  der  ganze  Augengrund  untersucht 
wird.  Man  darf  dies  wohl  auf  die  bekannte  Empfindlichkeit  gang- 
liöser  Elemente  für  alle  Störungen  ihres  normalen  Stoffwechsels 
beziehen.  Um  so  bemerkenswerther  ist  die  grosse  Wid  ers  tands- 
fähig keit  der  Vogel reti na.  Hier  gelang  es  Kühne  und 
Steiner,  selbst  an  der  isolirten  Netzhaut  (der  Taube)  gute  Erfolge 
zu  erzielen,  was  wohl  nur  der  bekannten  Haltbarkeit  der  langen 
Stäbchen  und  Zapfen  der  Taubenretina  zuzuschreiben  sein  dürfte,  da 
kaum  anzunehmen  ist,  dass  45  —  50  Min.  nach  der  Isolirung  noch 
Ganglienzellen  oder  Nervenfasern  in  der  Netzhaut  erregbar  wären. 
Man  kommt  daher  noth wendig  zu  der  Annahme,  dass  auch  hier 
epitheliale  Elemente  (die  eigentlichen  Sinneszellen) 
Träger  der  elektromotorischen  Wirkungen  sind,  was  um 
so  weniger  Bedenken  erregen  kann,  als  in  ihnen  nachweislich  die 
durch  Licht  bewirkten  Veränderungen  entstehen.  Nach  Kühne  und 
Steiner  würde  es  sich  aber  nicht  sowohl  um  die  in  den  Aussen- 
gliedern der  Sehzellen  ablaufenden  primären  photochemischen  Processe, 
die  Veränderung  der  hypothetischen  Sehstoffe  durch  Licht  handeln, 
sondern  vielmehr  um  die  Folgen  der  Erregung  des  „in  den  Lmen- 
gliedern  der  Sehzellen  enthaltenen  Protoplasmas  durch  photochemische 
Zersetzungsproducte". 


LITERATUR. 

1.  F.  Holmgren,    Untersuchungen   aus  dem  physiol.  Institut  der  Universität  Heidel- 

berg.    Bd.  III.     p.  278. 

2.  Dewar  und  M.'Kendrick,  Transact.  of  the  R.  Sog.  of  Edinburgh.     Vol.  27.    p.  141. 

3.  Kühne  und  Steiner,    Untersuchungen   aus    dem  physiol.   Institut  der  Universität 

Heidelberg.     Bd.  III  und  IV. 

4.  Sigm.  Fuchs,  Pflügers  Arch.     56.     1894.     p.  408. 

5.  Th.  W.  Engelmann,  Beiträge  zur  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane. 

H.  V.  Helmholtz  zum  70.  Geburtstag  gewidmet.     1891. 


Sachregister. 


Absterben  des  Muskels  77 ;  Einfluss  auf 
die  Erregungsleitung  129 ;  auf  die  Erreg- 
barkeit 156,  186;  Beziehung  zum  Mus- 
kelstrom 288,  293,  300;  zum  Actions- 
strom  326,  331;  der  Nerven,  sichtbare 
Erscheinungen  517 ;  Reaction  535;  elek- 
trische Erregbarkeit  516;  Beziehung  zum 
Nervenstrom  640. 

Abtödtung,  Einfluss  localer  A.  auf  die 
polare  Erregung  durch  den  Strom  186, 
576. 

Abwechslungen  (Alternativen),  Volta'- 
sche,  am  Muskel  249;    am  Nerven  571. 

Abgleiehung,  innere,  des  Muskelstromes 
283 ;  des  Nervenstromes  707. 

Actinosphaerium ,  elektrische  Reizung 
256. 

Actionsströme  der  Muskeln  307  ff. ;  am 
lebenden  Menschen  333,  335;  am  Herzen 
337;  Untersuchungsmethoden  313,  318, 
341,  348,  350 ;  phasische  und  decremen- 
tielle  325  f. ;  bei  indirecter  Reizung  327 ; 
Theorie  320 ;  wahrscheinliche  Bedeutung 
der  Nerven  650;  physische  667;  bei 
reizbaren  Pflanzen  455. 

Addition  latente  100. 

Aesthesodische  Substanz  495. 

Aether,  Wirkung  auf  den  Muskelstrom 
306;  auf  die  Actionsströme  383;  auf 
Drüsenströme  403;  auf  Nerven  493. 

Alkalien,  Wirkung  auf  Muskeln  90,  189. 

Alternativen,  s.  Abwechslungen. 

Alterationstheorie,  Hermann's  300.  723. 

Ammoniak,  Wirkung  auf  die  secundäre 
Erregung  von  Muskel  zu  Nerv  351;  auf 
die  polare  Erregung  an  Nerven  577. 

Amoeben,  elektrische  Reizung  260. 

Anabolische  (katabolische)  Nerven 
368. 

Anästhetica,  Einfluss  auf  die  elektro- 
motorischen Wirkungen  der  Muskeln 
306,  383;  auf  Centralorgane  505. 

Anelektrotonus,  s.  Elektrotonus. 


Anfangszuckung,  113,  269;  am  Herzen 
115. 

Anfrischen  des  Querschnittes,  Wirkung 
auf  den  Muskelstrom  293. 

Anode,  Begrift'  der  physiologischen  A.  180 ; 
Bezieliung  zur  Oeffnungserregung  184, 
541,  559;  Hemmungswirkungen  202, 
220,  226,  561;  scheinbare  Schliessungs- 
erregung an  der  A.  202,  228,  574;  ano- 
dische Schliessungserregung  bei  Protisten 
258;  Erregbarkeit  246,  564;  anodische 
(positive)  Polarisation  an  Muskeln  und 
Nerven  379,  708. 

Anodonta,  Schliessmuskel;  Tonus  86; 
elektrische  Reizung  161,  200. 

Anschwellen,  lawinenai-tiges ,  der  Er- 
regung 520. 

Athmung,  Einfluss  auf  die  elektromoto- 
rischen Wirkungen  von  Blättern  444. 

Auge,  Reizung  durch  den  Kettenstrom 
615  ff. 

Augenströme  843  ft'. 

Axencylinder,  Structur  479;  Bedeutung 
469,  490 ;  Beziehung  zum  polarisirbaren 
Kern  der  Nervenfaser  706. 

Axialstrom,  bei  Nerven  639. 


B. 


Becherzellen ,  elektromotorische  Wir- 
kungen 403. 

Beuge  (und  Streck-)muskeln,  specifische 
Erregbarkeit  523,  531,  556. 

Blätter,  elektromotorisches  Verhalten  442. 

Blutegel,  elektrische  Reizung  des  Haut- 
niuskelschlauches  210;  elektromotorische 
Wirkungen  der  Haut  406. 

Büschel,  Wagner'sche,  bei  Torpedo  753. 


c. 

Capillarelektrometer  341. 
Catelektrotonus,  s.  Elektrotonus. 


•Sachregister. 


853 


Cathode,  Leitungshemmung  252,  568; 
Erregbarkeit  238,  245,  563. 

Cephalopoden,  Muskelzellen  12. 

Cnidarier,  Epithelmuskeln  8. 

Compensator,  runder  286. 

Contraetion,  Veränderung  der  optischen 
Eigenschaften  des  Muskels  42;  rhythmi- 
sche bei  Reizungmitdem  Kettenstrom  168; 
rhythmische  bei  chemischer  Reizung  91. 

Contractionsw^elle ,  verschiedene  Ge- 
schwindigkeit 130;  Länge  143. 

Contractur  76. 


D. 


Darm,  elektrische  Reizung  212  fif. 

Darstell  uns,  photographische  der  Actions- 
ströme  342,  349. 

Dauer  des  Stromes,  Einfluss  auf  die  er- 
regende Wirkung  152,  545. 

Deerement  der  Contractionswelle  im 
Muskel  127 ;  Fehlen  am  lebenden  Men- 
schen 336. 

Degeneration  markhaltiger  Nerven  517; 
Beziehung  zum  Nervenstrom  640. 

Demarcationsfläche  288,  300. 

Demarcationsstrom  274,  637. 

Dionaea  muscipula  446;  Reizbewegun- 
gen 448;  Schwankung  des  Blattstromes 
455. 

Dissimilirung  (und  Assimilirung)  der 
lebenden  Substanzen  71. 

Doppelbrechung  des  Muskels  39. 

Doppelmyograph  150. 

Drüsen,  elektromotorische  Wirkungen  392. 


E. 


Echinus,  elektrische  Erregung  der  Mus- 
keln 204. 

Einschleichen  in  die  Kette  165,  549. 

Einschnürungen,  Lantermann'sche  477. 

Elektricität,  Wirkung  auf  Muskeln  149  ff. ; 
auf  Nerven  540  ft'. ;  auf  Protisten  255  ff. ; 
Widerstand  der  Muskeln  172;  der  Ner- 
ven 704;  allgemeines  Gesetz  der  Er- 
regung 164,  540;  Erregung  durch  con- 
stanten  Strom,  bei  centripetalen  Nerven 
544;  bei  centrifugalen  Nerven  542;  Ein- 
fluss der  Stromesrichtung  171,  554,  556; 
der  Dichte  180,  185;  der  Länge  der 
Reizstrecke  566. 

Elektroden,  unpolarisirbare  Muskel-E. 
150;  zur  Ableitung  des  Schlages  elek- 
trischer Fische  793. 

Elektromotorische  Kraft,  Messung  285 ; 
der  elektrischen  Organe  838. 

Elektrotonus,  polare  Erregbarkeitsände- 
rungen am  Muskel  240,  561,  572,  707; 
galvanische  Erscheinungen  670;  secun- 
därer  E.  673;  erregende  Wirkungen  an 
Nerven  674;  Etablirung  und  zeitlicher 
Verlauf  675,  681;  Nachwirkungen  245, 
249,  564,  708;  Verschiedenheit  des  An- 


und  Catelektrotonus  672,  682;  an  mark- 
losen Nerven  683;  physiologischer  E.  an 
markhaltigen  Nerven  688 ;  Bedeutung  der 
Markscheide  673;  physikalischer  und 
physiologischer  E.  694;  Einfluss  der 
Anaesthetica  694;  Theorie  698;  wellen- 
förmiger Ablauf  701;  Verhalten  bei  der 
Erregung  712;  Einfluss  der  Strecken- 
länge 672. 

Endigung  der  Nerven  in  Muskeln  732; 
bei  Wirljellosen  735;  Typen  der  Endi- 
gung 742. 

Endplatten  an  Muskeln  733. 

Entartungsreaction  156,  233. 

Entladungshypothese  739:  modificirte 
741. 

Epithelmuskeln  8. 

Ermüdung  des  Muskels  71;  locale  durch 
den  elektrischen  Strom  191;  der  Nerven 
534;  elektrischer  Organe  795. 

Erregbarkeit,  directe  des  Muskels  59; 
verschiedener  Muskeln  49;  specifische  der 
Beuger  und  Strecker  531;  Verhalten  beim 
Absterben  71;  Einfluss  der  Circulation 
81;  der  Temperatur  83;  der  Ermüdung 
71:  des  galvanischen  Stromes  236  ff. ; 
des  Querschnittes  194;  der  Vertrocknung 
365;  des  Glycerins367;  chemischer  Sub- 
stanzen 89;  specifische  der  Muskeln  und 
Nerven  519;  locale  Unterschiede  an 
Nerven  519;  Verhalten  beim  Absterben 
517;  am  Querschnitt  520;  Einfluss  des 
galvanischen  Stromes  s. Elektrotonus; 
Einfluss  der  Kälte  541;  des  Wasserver- 
lustes 582:  directe  des  Rückenmarkes 
508;  der  Scheerennerven  des  Krebses  524; 
der  elektrischen  Nerven  von  Torpedo  807 ; 
der  Nerven  glatter  Muskeln  532;  gang- 
liöser  Elemente  533. 

Erregung  des  Muskels  durch  den  eignen 
Strom  278 ;  des  Nerven  durch  den  eignen 
Strom  641;  secundäre  von  Muskel  zu 
Nerv  308,  351  ff.;  secundäre  von  Muskel 
zu  Muskel  363 ;  dauernde  E.  centripetal- 
leitender  Nerven  544. 

Erregungsleitung  in  glattmuskeligen 
Organen  141;  im  Herzen  138;  im  Nerven 
485;  Beziehung  zur  Erregbarkeit  494; 
in  gangliösen  Elementen  497,  499; 
Theorie  731. 

Erregungszeit  der  Nervenendorgane  im 
Muskel  743. 

Erscheinungen,  secundär-elektromotori- 
sche  an  Muskeln  376 ff. ;  an  Nerven  707; 
an  elektrischen  Organen  823. 


F. 


Fallrheotom  302. 
Federrheotom  813. 
Felder,  Cohnheim'sche  der  Muskeln  24. 
Fische,  elektrische  748  tt'. 
Flagellaten,   elektrische  Reizung. 
Fledermaus,  Muskelfasern  27;  Zuckungs- 
verlauf 53. 


854 


Sachreo:ister. 


Form  der  Stromschwankung,  Einfluss  auf 
die  Nervenerregung  551. 

Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der 
Reiz-  und  Contractionswelle  im  Muskel 
125  ff.,  319;  der  Erregung  im  Nerven 
491,  496;  im  Dionaenblatt  463. 

Frosohliaut,  elektromotor.  Verhalten  392. 

Froschunterbrecher  812. 

Frosch  Wecker  794. 


Galvanotropismus  bei  Protisten  262, 264. 

Ganglienzellen,  Erregungsleitung  in  den- 
selben 497;  Einfluss  des  Strychnins  501 ; 
der  Temperatur  505;  der  Blutbeschatfen- 
heit  506 ;  kurzdauernde  Reize  533 ;  elek- 
trische G.  von  Gymnotus  763;  von  Ma- 
lopterurus  789. 

Gastrocnemius,  elektromotorische  Wir- 
kungen 276. 

Gefassnerven,  Erregbarkeit  532. 

Gefrieren  von  Muskeln  88. 

Geschmack,  elektrischer  611. 

Gesetz,  allgemeines  der  Erregung  164; 
der  vitalen  Eigenströme  der  Nerven  und 
Muskeln  301;  des  Muskelstromes  274; 
von  Ritter- Valli  517;  der  Präformation 
elektrischer  Elemente  778. 

Gipfelzeit  und  Gipfelhöhe  98. 

Glycerin,  Wirkung  auf  Muskeln  367. 

H. 

Hautströme  beim  Frosch  393;  Verhalten 
bei  Nervenreizung  419  ;  bei  Warmblütern 
437;  beim  Menschen  333. 

Haemoglobin  in  Muskeln  28. 

Hemmungserscheinungen ,  anodische 
bei  Muskeln  202;  am  Darm  212;  am 
Herzen  220;  am  quergestreifte  Muskel 
227;  bei  Reizung  der  Scheerennerven 
des  Krebses  526,  602. 

Hemmungsnerven,  elektrische  Reizung 
545. 

Herz,  Contractionswelle  1-38;  Reizwelle 
338;  Stromlosigkeit  im  unversehrten 
Zustande  292;  positive  Schwankung  des 
Demarcationsstromes  bei  Vagusreizung 
369 ;  Verhalten  des  Demarcationsstromes 
293;  secundäre  Zuckung  vom  H.  aus 
337,  357,  363;  Actionsströme  338;  Bau 
der  Muskelfasern  20 ;  Zuckungscurve  49 ; 
Einfluss  der  Reizstärke  60;  Einfluss  der 
Spannung  67;  elektrische  Reizung  167, 
220;  verschiedene  Erregbarkeit  derHem- 
mungs-  und  Beschleunigungsnerven  529. 

Hippocampus,  Flossenmuskeln,  Bau  25. 

Holothurien,  Muskeln,  elektrische  Rei- 
zung 201. 

Hydra,  Neuromuskelzellen  7. 

I. 

Idiomuskuläre  Contraction  129,  177, 
147,  193,  332. 


Immunität  der  Zittei-fische  gegen  den 
eigenen  Schlag  818. 

Increment,  Satz  vom  polarisatorischen  I. 
713. 

Indifferenzpunkt  563,  576. 

Inductionsströme ,  Wirkung  auf  Mus- 
keln 101,  154,  156,  184;  auf  Nerven 
546;  auf  Protisten  255,  260;  auf  Gang- 
lienzellen 533. 

Influenz,  Einfluss  auf  die  unipolare  Er- 
regung 631. 

Innervation,  willkürliche  118. 

Inseriptiones  tendineae  195. 

Insecten,  ^Muskeln,  Bau  30;  Contractions- 
ersclieinungen  42;  Zuckungsverlauf  54; 
Tetanus  107,  113;  Ermüdung  77;  Nerven 
471;  Fortpflanzung  der  Contraction  133, 
140. 

Interferenz  von  Erregung  im  Nerven 
627;  zwischen  Mu.skel-  und  Reizstrom 
280;  zwischen  Nerven-  und  Reizstrom 
645. 

Irradiation  der  Erregung  in  Central- 
organen  500. 


K. 


Käfer,  Muskelbau  29;  Zuckungsverlauf  54. 

Kälte,  Wirkung  auf  Muskeln  82;  Einfluss 
auf  den  Muskelstrom  289;  die  Nerven- 
leitung 493;  die  Erregbarkeit  der  Nerven 
541 ;  die  Reflexerregbarkeit  505. 

Kalisalze,  Einfluss  auf  Muskeln  94 ;  auf 
die  polare  Erregung  189;  auf  die  elektro- 
motorischen Wirkungen  302. 

Kathode,  Begriff  der  physiologischen  181. 

Keimpflanzen ,  elektromotorische  Wir- 
kungen 444. 

Kernleiter,  Bedeutung  für  den  galvani- 
schen Elektrotonus  699,  705. 

Kettenströme,  Wirkung  auf  Nerven  539 ; 
auf  Protisten  257 ;  auf  Muskeln  149. 

Kinesodie,   kinesodische  Substanz  509. 

Kochsalz,  Wirkung  auf  Muskeln  89 :  auf 
Nerven  585. 

Kohlensäure,  Wirkung  auf  Nerven  494. 

Körner,  interstitielle  des  Muskels  28. 

Krebs,  Muskelnerven  471,  735. 

Krebsnerven,  Reizung  mit  den  Ketten- 
strom 600;  En-egbarkeit  524;  Hemmimg 
des  Muskeltonus  durch  Erregung  der  K. 
526. 


L. 


Länge  der  durchflossenen  Nervenstrecke, 
Einfluss  auf  die  Erregung  566. 

Latenzstadium  48 ;  der  negativen  Schwan- 
kung 320;  des  Muskelelementes  63;  Ab- 
hängigkeit von  der  Reizstärke  62;  der 
Oeff"nungserregung  des  Muskels  164; 
Abhängigkeit  von  der  Stromdichte  186; 
bei  indirecter  Reizung  von  Krebsmus- 
keln 606. 


Sachregister. 


855 


Lawinenartiges  Anschwellen  der  Er- 
regung im  Nerven  520. 

Leitung  der  Erregung  im  Muskel  123; 
der  Reizwelle  319;  im  Herzen  338;  der 
Erregung  im  Nerven  484;  Grundgesetze 
der  Nervenleitung  485,  488 ;  Wesen  der- 
selben 731;  Doppelsinnigkeit  488;  Ge- 
schwindigkeit 491;  in  den  Centralorga- 
nen  497;  irreciproke  im  elektrischen 
Organ  830. 

Leitungswiderstand,  galvanischer  der 
Muskeln  und  Nerven  172,  555,  704.  ^  ^ 

Leitungsvermögen  der  Muskeln  123; 
elektrntonisclie  Veränderungen  desselben 
im  Jkluskel  251 ;  doppelsinniges  488,  503: 
des  Nerven  im  Elektrotonus  567. 

Lichtreizung,  negative  Schwankung  am 
Opticus  durch  L.  661. 

Lobus,  electricus  von  Torpedo  752. 

Lücke,  Phänomen  der  L.  624;  der  Oeff- 
nunffszuckungen  648. 


M. 


Magenschleimhaut,  elektromotor.  Wir- 
kungen 425. 

Malopterurus,  elektrisches  Organ  788; 
elektrische  Nerven  786,  788 f.;  doppel- 
sinniges Leitungsvermögen  489. 

Markscheide  476;  Bedeutung  für  den 
Elektrotonus  673. 

Mensch,  phasische  Actionsströme  335; 
Hautstrom  333,  437;  Actionsströme  des 
Herzens  345. 

Methode,  stroboskopische,  Benützung  zur 
Analyse  des  Tetanus  348. 

Microphon  114. 

Mimose,  Reizbewegungen  451;  Schwan- 
kungen des  Blattstromes  464. 

Molekeln,  peripolare  297. 

Moleculartheorie,  elektrische  des  Mus- 
kels 297;  des  Nervenprincipes  714;  des 
Elektrotonus  698;  des  elektrischen 
Schlages  der  Zitterfische  836. 

Monopolare  Reizmethode  198. 

Mormyrus,  elektrisches  Organ  766 ;  Ent- 
wicklung 775. 

Muscheln,  Schliessmuskel  58,  86,  152, 
163,  199. 

Muskeln,  glatte  18,  79;  quergestreifte  2; 
flinke  und  träge  50,  57;  rothe  und 
weisse  52;  Contraction  41,  46;  micro- 
scopisches  Verhalten  41 ;  zeitlicher  Ver- 
lauf 47  ;  natürliche  M.-Contraction  119; 
Fortpflanzung  der  Contractionswelle  124; 
pulvmere  Muskeln  195. 

Muskelsäulchen  17,  21,  26. 

Muskelstrom,  ruhender274,302 ;  schwache 
Längsschnittsströme  275;  elektromotori- 
sche Kraft  285;  Erlöschen  293 ;  Verhalten 
des  unversehrten  Muskels  294 ;  negative 
Schwankung  310;  positive  Schwankung 
368;  Erregung  durch  den  M.  278,  308, 
363;  Neigungsströme  278. 

Muskelton  116,  118. 


Muskeltonus  86.  201,  227,  526,  602. 
Myographien  47. 
Myogramm  48. 
Myoneme  der  Infusorien  3. 


Nach  Schwankung,  positive  bei  Nerven- 
reizung 652,  655. 

Nachw^irkungen  des  galvanisch.  Stromes 
an  Muskeln  377;  erregende,  s.  Oefftiungs- 
erregung;  hemmende  220,  245;  erreg- 
barkeitsändernde  245,  249. 

Natronsalze,  Wirkung  auf  Muskeln  90, 
91,  189. 

Negative  Schwankung  des  Muskel- 
stromes 310,  315,  331,  337;  des  Nerven- 
stromes 650  ft'. 

Neigungsströme  277. 

Nerven,  Bau  469;  marklose  472;  Thei- 
lungen  485,  490,  753,  787;  elektrische 
von  Torpedo  7.57;  künstliche  Reizung 
803,  805;  Reizschwelle  805,  807,  819. 

Nervenstrom  637;  markloser  Nerven 
638;  Einfluss  des  Absterbens  640;  der 
Auffrischung  641 ;  Selbsterregung  durch 
den  N.  642 ;  negative  Schwankung  650  ff. ; 
positive  Schwankung  652,  6-55;  bei 
Reizung  mit  dem  Kettenstrom  651. 

Netzhautströme  843. 

Neurokeratin  478. 


0. 

Oeffnungsdauercontraction  160,  180, 
200. 

Oefifnungserregung  der  Nerven,  ab- 
hängig vom  Querschnitt  581. 

Oefinungs  -  (Schliessungs  -)  Induetions- 
schläge,  Verschiedenheit  der  physio- 
logischen Wirkung  546,  550. 

OeflFnungshemmung ,  anodische  und 
kathodische  am  Herzen  225. 

Oeffnungstetanus  542,  560,  585,  597. 

Oeffnungszuekung.  verspätete  584;  Ein- 
fluss der  Alkoholljehandlung  der  Nerven 
5S6 ;  der  Kalibehandlung  592 ;  der  Polari- 
sation 595;  Verschiedenheit  der  Oeff- 
nungszuckungen  598 ;  scheinbare  bei 
Nerveureizung  647,  709;  bei  Muskel- 
reizung 281. 

Organe,  elektrische,  Beziehung  zu  Mus- 
keln 767,  776;  directe  Reizbarkeit  807; 
chemische  Reizung  807;  Curarewirkung 
809;  Reaction  840;  Ruhestrom  820; 
secundär-elektromotorische  Erscheinun- 
gen 823. 

Orthorheonom  von  Fleischl  551. 


Palaemon  squilla,  Nervenfasern  479. 
Paramaecium. ,     galvanotropische     Er- 
scheinungen 262. 


856 


Sachregister. 


Parelectronomie  289,  290,  292. 

Pelomyxa,  elektrische  Reizung-  259. 

Petromyzon,   Nervenfasern  481. 

Periode,  refractäre  am  Herzen  111. 

Pflanzenströme  441,  465. 

Platten,  elektrische,  der  Organe  der  Zitter- 
fische 752,  760;  Nervenendigungen  754, 
762;  Zahlenverhältniss  780. 

Polare  Wirkungen  des  elektrischen  Stro- 
mes an  Muskeln  174, 183 ;  an  Nerven  559 ; 
am  Herzen  196,  220;  an  Protisten  258; 
an  Eizellen  264;  kurzdauernder  Ströme 
620. 

Polarisation,  galvanische,  des  Muskels 
238;  der  Nerven  708;  Einfluss  auf  die 
Oeffnungserregung  709 ;  morphologische 
von  Eiern  265;  innere  376:  von  Kern- 
leitern 699;  positive  der  Muskeln  377; 
der  elektrischen  Organe  824. 

Pole,  Begriti'  der  physiologischen  P.  181. 

Polystomella,    elektrische  Reizung  258. 

Porret'sches  Phänomen  am  Muskel  233. 

Pouillet'sehe  Methode  der  Zeitmessung 
491. 

Präformation  der  elektr.  Elemente  778. 

Präexistenzfrage,  mit  Bezug  auf  den 
Muskelstrom  288. 

Pressen  der  Muskeln,  Einfluss  auf  die 
secundäre  Erregung  von  Muskel  zu 
Muskel  363. 

Protisten,    elektrische  Reizung  255. 

Pseudoelektrische  Organe  764. 

Pseudopodien,  "Verhalten  bei  elektrischer 
Reizung  256. 


Querdurehströmung  von  Muskeln  171; 
von  Nerven  554. 

Querschnitt,  künstlicher,  Beziehung  zum 
Muskelstrom  274;  Einfluss  auf  die  polare 
Erregung  durch  den  Strom  186,  576; 
auf  die  Oeffnungserregung  283,  580;  auf 
die  Erregbarkeit  520,  575. 

Querstreifung  der  Muskeln  34;  imcontra- 
hirten  Zustand  41 ;  physiologische  Be- 
deutung 33. 

Quer  widerstand  der  Muskeln  172;  der 
Nerven  704. 


R. 


Baja,  elektrisches  Organ  764;  Entwick- 
lung 769;  Organschlag  801;  Ruhestrom 
822. 

Reaction  des  thätigen  Muskels  839 ;  des 
elektrischen  Organes  839. 

Reflexe,  durch  elektrische  Reizung  aus- 
gelöst 531,  533. 

Reflexzeit  498,  502. 

Reize,  mehrfache,  Wirkung  auf  Nerven 
627. 

Reiz  welle  im  Muskel  319;  Verhältniss 
zur  Contractionswelle  321. 


Rheonom  von  Fleischl  551. 

Rheotaehygraphie  318,  329. 

Rheotom,  Bernstein's  Differential-R.  313. 

Rhizopoden,  elektrische  Reizung  256, 

Rochen,  s.  Raja. 

Rückenmark,  anatomisches  5 15;  Reaction 
535;  directe  Erregbarkeit  508;  Einfluss 
von  Giften  501;  elektromotor.  Verhalten 
638,  661;  von  Gymnotus  763. 


s. 


Salpen,  Muskeln  16. 

Sarkoplasma  25,  58,  77,  109. 

Säulen  der  elektrischen  Organe  752,  759, 
764;  Zahlenverhältniss  779. 

Säurung  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit 
839;  des  elektrischen  Organes  839. 

Schildkröte,  Muskeln  53. 

Schlag  der  Zitterfische,  physiologische 
Wirkungen  790;  Ableitungsmethoden 
793;  Yertheilung  der  Spannungen  796; 
Richtung  798;  Funkenbildung  799; 
elektrolytische  Wirkungen  800 ;  Strecken- 
entladungen 802;  reflectorische  Ent- 
ladungen 803;  Strychninwirkung  803; 
Charakter  der  spontanen  Entladungen  804 ; 
Theilentladungen  805;  zeitliche  Verhält- 
nisse 810;  Nachwirkungen  815;  oscilla- 
tori.scher  Charakter  815;  electromotori- 
sche  Kraft  838. 

Schleimhautströme  394,  425. 

Schliessmuskel  von  Muscheln  58;  Tonus 
86;  Contraction  152,  160,  163;  polare 
Erregung  190;  elektromotor.  Wirkungen 
294 ;  secundär  elektromotorische  Erschei- 
nungen 387;  indirecte  Erregung  528. 

Sehliessungsdauercontraction  157, 
176. 

Sehliessungstetanus  541 ;  secundäre 
Unwirksamkeit  359. 

Schrägstreifung  an  Muskeln  13. 

Schwankung,  negative,  des  Muskel- 
stromes 310,  315;  am  Herzen  337; 
Theorie  331;  des  Nervenstromes  650; 
Bedeutung  657;  bei  nicht  elektrischer 
Reizung  658;  bei  centraler  Reizung  660; 
bei  Reizung  von  Sinnesnerven  661;  zeit- 
liche Verhältnisse  664;  an  marklosen 
Nerven  666;  des  Hautstromes  bei  Rei- 
zung secretorischer  Nerven  412;  des 
Blattstromes  von  Dionaea  455. 

Secretionsnerven,  Erregung  durch  S.- 
Kettenstrom  609. 

Secretionsströme  392,  413,  437;  beim 
Menschen  333. 

Secundäre  Elektrodenstellen,  Einfluss 
auf  die  polare  Erregung  217. 

Secundäre  Erregung  von  Muskel  zu 
Nei-v  308,  337,  352;  von  Muskel  zu 
Muskel  363;  von  Nerv  zu  Nerv  668. 

Spannung,  Einfluss  auf  die  Muskel- 
zuckung 65. 

Speicheldrüsen,  elektromotorische  Wir- 
kungen 434. 


Sachregister. 


857 


Spinalganglien,  Leitungszeit497  ;Trophi- 
sclie  Function  518. 

Steilheit  der  Stromesscbwaukung;  Ein- 
fliiss  auf  die  Nerven crregung  546,    549. 

Stromlosigkeit  unversehrter  Muskeln  291. 

Stromesscli  wankungen,  erregende  Wir- 
kung auf  Muskeln  151,  244;  erregende 
Wirkung  auf  Nerven  540,  623. 

Stromverzvreigung  in  körperlichen  Lei- 
tern 295. 

Strömungseurven  295;  beim  Schlag  der 
Zitterlische  796. 

Stromstärke,  Einfluss  auf  die  Zuckungs- 
höhe 59. 

Strychnin,  Wirkung  auf  die  centrale 
Erregungsleitung  501 ;  Empfindlichkeit 
verschiedener  Thiere  504. 

Superposition  von  Zuckungen  98. 


T. 


Telephon  als  Kheoscop  350,  360,  794. 

Temperatur,  Einfluss  auf  Muskeln  82, 
86,  129 ;  auf  den  Muskelstrom  289 ;  auf 
Nerven  541;  auf  Drüsenströme  398 ;  auf 
die  Nervenleitung  492;  auf  die  Actions- 
ströme  der  Nerven  667. 

Tetanus,  Begriff  und  Entstehung  97; 
rhythmischer  112;  natürlicher  118; 
Strychnintetanus  121;  functionell  ver- 
schiedener Muskeln  107;  des  Herzeus 
110;  galvanische  Erscheinungen  310; 
secundärer  vom  Muskel  aus  310;  vom 
Nerven  aus  668;  paradoxer  674;  elek- 
trischer 804,  806. 

Tonus  glatter  Muskeln  86;  des  Herz- 
muskels 88. 

Torpedo,  elektrisches  Organ  751;  Ent- 
wicklung desselben  767. 

Treppe  60. 


Unipolare  Wirkungen  630. 
Unterstützung,  Einfluss  auf  die  Muskel- 
zuckung 104. 
Ureter,  elektrische  Reizung  215. 


V. 


Vagus,  Erregung  durch  den  Kettenstrom 
544;  Wirkung  auf  das  Herz  369. 

Veratrin,  Einfluss  auf  quergestreifte 
Muskeln  92,  227. 

Vorticellen,  Stielmuskel  5. 


TJ. 


U eberleben    glatter    Muskeln    79;    der 
Nerven  576;  der  Netzhaut  851. 


w. 


Wasserentziehung,  Wirkung  auf  die 
Erregbarkeit  von  Muskeln  363  f. ;  von 
Nerven  542;  auf  die  Haut  401,  408. 

Wassersturre  304. 

Würmer,  Muskeln  10;  elektr.  Reizung 
des  llautumskelschlauches  206 ff. 


Zell  ströme,  Theorie  432. 

Zellenleitung   bei   glatten  Muskeln  144. 

Zitteraal  (Gymnotus)  758;  elektrisches 
Organ  759;  Rückenmark  763. 

Zuckung ,  secundäre  vom  Muskel  .  aus, 
Einfluss  der  Spannung  des  primären 
Muskels  352;  bei  directer  Reizung 
des  primären  Muskels  854;  Einfluss  der 
Lage  der  secundären  Nerven  355;  Ein- 
fluss der  Reizsummation  358;  ausgelöst 
durch  Schliessungs-  und  OefJriungs- 
tetanus  359  und  vitale  Tetani  359; 
Paradoxe  674;  isotonische  und  isometri- 
sche 70. 

Zuekungsgesetz  bei  indirecter  Reizimg 
glatter  Muskeln  609 ;  bei  Reizung  secre- 
torischer  Nerven  609 ;  centripetalleitender 
Nerven  610;  höherer  Sinnesnerven  611. 

Zweizipfel  versuch,  Kühne's  365,  489. 


•mann,  Elektrophysiologio. 


55 


Pierer'sclie  Hofbuchdruckerei.     Stephan  Geibel  &  Co.  in  Altenburff.